„Ein Wolf im Palais Cardinal?“ von Armand-Jean-du-Plessis

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Kapitel „Ein Wolf im Palais Cardinal?“

„Ein Wolf im Palais Cardinal?“, „Monsieur Rochefort seid Ihr völlig von Sinnen?“. Der Gesichtsausdruck Seiner Eminenz Kardinal Richelieu, des Ersten Ministers von Frankreich, war schwer zu deuten. Man hätte die Miene als steinern bezeichnen können. Selbst in der Stimme konnte Rochefort diesmal nicht erkennen, was der Kardinal wirklich aussagen wollte. „Nun eigentlich nicht wirklich, Eure Eminenz“, war dann die kurze Erwiderung des Grafen.

 

„Nicht wirklich völlig bei Sinnen, hmm… das ist ein zumindest ein Anfang!“ Da waren sie wieder, die beißende Ironie und der Spott in der Stimme Richelieus. Aber damit konnte Rochefort umgehen. Bei Hofe brachte diese Ironie, die auch manchmal in Sarkasmus umschlug, die Höflinge zur Verzweiflung, aber der Graf von Rochefort war dies längst gewohnt und damit konnte er umgehen. Er war selbst im Laufe der Jahre zu einer Art Meister der Ironie geworden. „Nun ein wenig von Sinnen vielleicht, da ich immer noch für Eure Eminenz arbeite, aber in diesem Fall geht es darum, dass Luna nur ein halber Wolf ist.“

 

„Luna heißt sie also oder Selene auf Griechisch – die Strahlende, seid Ihr Euch sicher, dass dies ein passender Name ist? In der Stimme des Kardinals war nun etwas weniger Schärfe. Bei der Erwähnung des Wortes „Luna“ lugten zwei riesige, fast fledermausartige Ohren hinter dem bordeauxroten Canapé des Kardinals hervor. Dann raste ein Fellbündel auf Richelieu zu und mit einem riesigen Satz landete der Welpe im Schoß der Kardinals und wollte sich gerade in die Rüschenärmel des Ersten Ministers verbeißen. Doch mit einer Schnelligkeit, die man Richelieu nicht zugetraut hätte, zog er seine Hand weg und mit einer weiteren blitzschnellen Bewegung bugsierte er Luna auf den Schoß des neben ihm sitzenden Grafen von Rochefort. Dort angekommen biss diese herzhaft in den Lederkoller des Stallmeisters. „Nein!“ befahl Rochefort mit kräftiger Stimme, nahm das Tier vom Schoss und setzte es auf den teuren, orientalischen Teppich des Kardinals. Es folgte ein wütendes, dann fast weinerliches Winseln des kleinen Halbwolfes. Wie konnten die beiden nur eine Aufforderung zum Spielen ablehnen, und man hatte sie ja auch gerufen – wie ungerecht!

 

„Jetzt erklärt mir, wie Ihr an das kleine Ungeheuer gekommen seid und warum ich auch nur im Entferntesten daran denken sollte zu gestatten, dass so eine kleine Bestie im Palais Cardinal bleiben darf! Und sehr umsichtig von Euch einen Lederkoller zu tragen!“ Die Worte waren streng, aber Rochefort sah für einen kurzen Moment ein amüsiertes Aufblitzen in den Augen des Kardinals. Der Graf war immer schon ein ausgezeichneter Menschenkenner gewesen, eine Eigenschaft die ihm bei seiner eigentlichen Beschäftigung als Leiter des Geheimdienstes Seiner Eminenz mehr als einmal das Leben gerettet hatte. „Fast gewonnen“, dachte er bei sich, aber hütete sich auch nur eine Miene zu verziehen. Richelieu würde es sofort bemerken und damit war jeder noch so kleine Vorteil verspielt.

 

„Nun, Eure Eminenz wissen, dass ich gerade von einer Inspektion meiner Güter zurück bin. Im Zuge dieser Reise habe ich einen alten Freund der Familie wieder getroffen, einen Nachbarn, den Vicomte de Chizey. Er gilt, nun, als etwas verschroben. Er hat sich seit dem frühen Tod seiner Gattin völlig aus der Gesellschaft zurückgezogen und lebt nur für die Erforschung der Wildtiere. Er hat riesige Flächen mit Zäunen umgrenzt und studiert das Leben der Wölfe, Bären, Luchse und anderer Wildtiere. Er hat auch mehrere Bücher geschrieben, sie aber nie veröffentlicht. Seinen Pächtern und Bauern ersetzt er jeden Schaden, den die Raubtiere verursachen und jede Art von Jagd ist auf seinem Gebiet strengstens verboten. Wölfe haben es ihm besonders angetan und er studiert auch die Unterschiede im Verhalten dieser Tiere im Vergleich zu seinen Hunden. Im Normalfall sind Wölfe sehr scheue Tiere und kommen mit Hunden nicht in Berührung, aber vor ein paar Monaten hatte sich eine Wölfin verletzt und wurde vom Rudel verstoßen. Der Vicomte hat sie wochenlang gepflegt und wohl eine Läufigkeit zu spät bemerkt. Tja und jetzt gibt es ein paar Halbwölfe….

 

Dieser de Chizey war mir auf Anhieb sympathisch, obwohl ich ihn nur aus Erzählungen meines Vaters kannte. Ich bin zwei Tage länger geblieben als ich ursprünglich wollte und mit dem Vicomte durch sein Revier geritten und habe stundenlang in den Verstecken ausgeharrt, die extra errichtet wurden um die Wildtiere möglichst ungestört beobachten zu können. Ich muss zugeben, ich war wohl in den letzten zehn Jahren nicht so entspannt wie in diesen drei Tagen. Ich habe dem Vizegrafen auch davon erzählt, wie traurig ich gewesen bin, als Robyn, mein Irischer Wolfshund, letztes Frühjahr friedlich eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht ist.“ Für einen ganz kurzen Augenblick stockte der Redefluss von Rochefort und unwillkürlich begann er Luna zu streicheln, die jetzt friedlich zu Rocheforts Füßen lag, doch dann setzte er fort. Kardinal Richelieu bemerkte dies sogleich und sein Blick wurde ein wenig nachdenklich.

 

„Ich konnte natürlich nicht länger bleiben, die Berichte aus Paris waren sehr deutlich. Beim Abschied hielt mir der Vicomte de Chizey einen Welpen vor die Nase: Die ist für Euch, keine Widerworte, ich erkenne, wenn eine Tierseele zu einer Menschenseele passt. Sie ist die Aufmerksamste vom ganzen Rudel, ihr entgeht nichts in ihrer Umgebung. Da, nehmt, mit acht Wochen können sie von der Mutter weg und ich kann nicht auch noch anfangen Wolfshybriden zu züchten.

 

Zuerst wollte ich trotzdem ablehnen, aber nun sitze ich hier, Monseigneur, und streichle meine kleine Luna. Ich, die „wandelnde Klinge des Kardinals“, werde sentimental bei einem Welpen!“ Bei den letzten Worten war Rochefort etwas lauter geworden und Luna spitzte die Ohren und versuchte herauszufinden wie denn wohl Grafenfinger schmeckten, wenn man an ihnen zu kauen begann.

 

Kardinal Richelieu musterte seinen Geheimdienstchef erneut. „Mein guter Rochefort, die Liebe ist das größte Geschenk, das Gott uns in seine Güte hat zukommen lassen. Ohne sie würden wir vor Verzweiflung in den schwärzesten aller Abgründe fallen. Und die Liebe ist so vielfältig wie die Schöpfung selbst. Auch die Zuneigung zu den uns Menschen anvertrauten Tieren erhellt unsere Seele ein wenig und Ihr wisst, dass Menschen wie Ihr und ich jeden hellen Punkt auf unserer Seele sehr gut gebrauchen können. Daher behaltet Eure Luna und sie kann in Eurer Abwesenheit auch im Palais bleiben, für alle Schäden, die sie verursacht, kommt Ihr natürlich auf, so wie das der Vicomte ja auch tut und eines noch: Wenn sie beginnt ernsthaft meine Katzen zu jagen, dann habt Ihr ein ernsthaftes Problem!

 

So, aber jetzt zu etwas weitaus Unerfreulicherem. Der königliche Bruder Gaston ist wieder aktiv…“

Kapitel Eine finanzielle Angelegenheit!

„Ah, Monsieur le Comte, gut dass Ihr wieder da seid!” Nur mühsam erhob sich Hector aus seinem gepolsterten Stuhl.  Seine klaren blauen Augen bildeten einen offensichtlichen Kontrast zu seiner sich krampfhaft an einen silbernen Stock klammernden Gestalt. Rocheforts Miene verfinsterte sich augenblicklich als er bemerkte, wie schwer es Hector fiel aufzustehen. Der Privatsekretär von Kardinal Richelieu war um den Jahreswechsel fast einem feigen Schussattentat zum Opfer gefallen und erholte sich nur sehr langsam. Wahrscheinlich würde die Verletzung niemals ganz abheilen. Trotz düsterer Gedanken waren die Worte des Comte extrem freundlich: „Mein lieber Hector, wie oft muss ich Euch noch sagen, dass Ihr nicht aufstehen sollt, wenn ich ins Zimmer komme. Also setzt Euch wieder und berichtet mir, warum ich zu Euch kommen sollte.“ Einen Schmerzenslaut unterdrückend, ließ sich Hector zurück auf seinen Lehnstuhl sinken. „Monsieur le Comte sind zu gütig, aber ich weiß, was sich gehört, und ein einfacher Sekretär hat sich zu erheben, wenn ein Graf den Raum betritt“, war die kurze Erwiderung. „Von wegen einfacher Sekretär, mein lieber Chevalier, aber lassen wir das ... was wolltet Ihr? Ihr wisst doch, dass ich am Weg zu Seiner Eminenz bin.“ Rochefort wirkte jetzt leicht verwundert.

„Nun, eigentlich ist es mir nicht gestattet dem Kardinal vorzugreifen, aber Seine Eminenz möchten eine finanzielle Angelegenheit mit Euch besprechen und eines noch: Übt Euch ein wenig in Contenance und bedenkt, dass der Erste Minister von Frankreich  bisweilen eine etwas seltsame Art von Humor besitzt. Mehr kann und darf ich nicht sagen.“ Mit diesen Worten wendete Hector seinen Blick ab und begann sich auffällig seinen in makellosen Reihen aufgestapelten Berichten zu widmen. Schließlich war er auch Rocheforts Stellvertreter im Geheimdienst von Richelieu und seine Arbeit schien nie ein Ende zu finden. Der Graf von Rochefort wusste, dass Hector in dieser Angelegenheit nichts weiter sagen würde, zu groß war dessen Respekt vor dem Kardinal. Also verließ er, noch kurz grüßend, das Arbeitszimmer und begab sich am schnellsten Weg zu Richelieu. Natürlich ließen ihn alle Wachen passieren. „Schon ein wenig seltsam“, dachte Rochefort bei sich, „ eine finanzielle Angelegenheit?“ Finanzen waren so gut wie nie ein Thema zwischen dem Comte de Rochefort und Kardinal Richelieu. Die Grafschaft Rochefort warf gute Gewinne ab, da der Comte seine Ländereien sorgsam verwaltete und sein Geld auch nicht bei Hofe verprasste. Oft benötigte er nicht einmal die Rente, die er als Stallmeister Seiner Eminenz bezog, und die Ausgaben auf seinen Reisen als Geheimdienstchef waren niemals übertrieben und selbst da steuerte Rochefort oftmals wie selbstverständlich Gelder aus eigenen Ressourcen bei.

Ein kurzes Klopfen, dann trat Rochefort flotten Schrittes in das Arbeitszimmer des Ersten Ministers ein. Der Comte wurde hinter vorgehaltener Hand „Die wandelnde Klinge des Kardinals“ genannt, seine Reaktionen waren die eines der besten Fechter von ganz Europa und doch war er diesmal fast einen Augenblick zu langsam. Bevor er noch den Kardinal begrüßen konnte, schoss mit atemberaubender Geschwindigkeit ein wolfsgraues Fellbündel hinter einem Canapé hervor, jaulte entzückt, sprang an dem leicht verdutzen Stallmeister empor und begann ihn begeistert mit spitzen Welpenzähnen zu zwicken und mit krallenbewehrten Pfoten zu kratzen. Luna, die kleine Halbwölfin, war ganz außer sich vor Freude ihr „Herrchen“ wieder zu sehen. Blitzschnell hatte Rochefort Luna abgestreift und versuchte ihr mit strengen Kommandos Einhalt zu gebieten. Erst nach dem vierten energischen „Nein!!“ reagierte das Energiebündel endlich und ließ von Rochefort ab. Nun eigentlich nicht ganz –  mit einem letzten Zuschnappen erwischte sie noch einen Bommel vom Rüschenhemd des Comte, zog daran so heftig, dass dieser abriss und verschwand blitzschnell mit ihrer Beute wieder unter dem Canapé.

Kardinal Richelieu hatte die Szenerie aufmerksam beobachtet, fast könnte man meinen, mit einer gewissen Befriedigung. „Nun dann können wir also in medias res gehen, mein lieber Rochefort, so setzt Euch doch.“ Mit diesen Worten deutete Richelieu auf den Sessel an seinen Schreibtisch und nahm gleichzeitig ein Schriftstück, das vor ihm gelegen hatte, und platzierte es im Blickfeld seines Gegenübers. Auch ein kleines, mit einer Lilie verziertes, Tintenfässchen und eine Schreibfeder stellte er dazu. „Wie Eure Eminenz wünschen.“ Rochefort nahm Platz und begutachtete das Schriftstück. Es war sehr fein und äußerst präzise geschrieben, ohne dass man aber Eigenheiten einer Handschrift erkennen konnte. Es wirkte wie gedruckt. Der Stallmeister des Kardinals vermutete, dass wohl Hector dies auf Diktat des Kardinals verfasst hatte. Beim Lesen des Textes legte sich die Stirn des Comte in Falten. Er wirkte etwas verwundert, vielleicht sogar verärgert. Denn es handelte sich um einen Schuldschein. Der darin benannte Schuldner war er selbst. „Für die von ihm zu verantwortenden Schäden“, war eine Passage und als Pfand für die zu bezahlende Schuld war Rocheforts Stadthaus in Paris angeführt, samt Garten und Nebengebäuden, alles genau aufgelistet mit Anschrift und exakter Beschreibung. Am auffälligsten aber war die Zeile mit der geschuldeten Summe. In ihr war ein Abstand vor den Worten „ ..... tausend Livres“, der beträchtlich war, also in den man „zwanzig“ oder gar „zweihundert“ einsetzen konnte.

„Ich denke, Ihr benötigt noch eine kleine Erläuterung, Monsieur.“, ließ sich Richelieu mit leicht süffisantem Unterton in der Stimme vernehmen und läutete eine kleine goldene Glocke, die auf seinem Schreibtisch stand. Sofort erschien ein Lakai in der Livree des Kardinals durch eine kleine Tapetentür im Zimmer. „Die Kurzfassung des Berichts.“, wies der erste Minister den Lakaien an. Dieser holte einige papierene Seiten aus seinem Ärmel und begann:

„18. Juli: Das Tier genannt „Luna“ scheint sich an den Exerzierübungen der Garde Seiner Eminenz zu erfreuen und beteiligt sich daran in wölfischer Art. Dabei werden drei Uniformhosen, zwei Rüschenhemden und der neue Brokatkassack mit handgestickten Seidenverzierungen des Gardehauptmanns erheblich beschädigt.

22. Juli: Trotz der angeordneten Bewachung des Halbwolfes gelangt selbiger während der Vorbereitungen zum Empfang des Spanischen Botschafters in die Küche des Palais Cardinal und verschlingt neben 3 Wachteln auch 2 Pfund exklusive weiße Piemont-Trüffel. Der Maître de Cuisine kann nur mühsam davon abgebracht werden den Dienst bei Seiner Eminenz zu quittieren.

25. Juli: Die zeitweilige Verwahrung von Luna bei den Jagdhunden Seiner Eminenz erweist sich als unwirksam. Nach einem Ausflug in die Stallungen und ausgiebigem Wälzen in Pferdedung besucht das Tier die herzogliche Wäscherei und macht mehrere Garnituren seidener Bettwäsche unwiederbringlich unbrauchbar.

1. August: Ein Kammerdiener hört verdächtige Geräusche aus dem Souvenirzimmer des Ersten Ministers von Frankreich. Da dieses zu jeder Tages- und Nachtzeit verschlossen ist, wird die Wachmannschaft alarmiert. Der diensthabende Offizier beschreibt wie folgt: „Als ich das Zimmer betrat, versuchte der Wolf gerade eine Katze auf die Vorhänge des Zimmers zu jagen. Wie sich später herausstellte, handelte es sich um „Attila“, den Kartäuserkater Seiner Eminenz, ein Geschenk von Pater Josef.  Dabei wurden die Vorhänge sowohl durch Katzen- als auch durch Wolfskrallen stark in Mitleidenschaft gezogen. Danach schien sich der Kater seiner Kampffähigkeiten zu besinnen, fauchte, machte einen Buckel und führte eine Attacke gegen den jungen Wolf. Dieser schien ob der Gegenwehr zuerst verwundert und eingeschüchtert, ging dann aber seinerseits zum Gegenangriff über. Das daraus resultierende Gefecht dauerte mehrere Minuten. Meine Männer und ich versuchten, leider vorerst vergeblich, die Kontrahenten zu trennen. Die Schlacht forderte neben einigen Leichtverletzten unter meinen Kameraden, vor allem durch Kratzwunden, zu meinem größten Bedauern auch Opfer an der Einrichtung. Zwei Teetassen aus China, angeblich Originale von der Reise Marco Polos, gingen zu Bruch. Ebenso wurden die Kristallpokale mit den güldenen Fleur-de-Lys Wappen von der Kommode gefegt und weisen beide jetzt deutlich sichtbare Sprünge auf. Da diese ein Geschenk Seiner Majestät Ludwigs XIII. anlässlich der Ernennung Seiner Eminenz zum Herzog von Richelieu waren, biete ich in diesem Zusammenhang meinen Rücktritt an. Auch der Renaissancegobelin, ein Geschenk des venezianischen Botschafters, weist jetzt deutliche Krallenspuren auf. Erst mit Hilfe eines Kübels Brunnenwassers konnte der erbitterte Kampf beendet werden.“

Es folgt eine Auflistung kleinerer Zwischenfälle mit dem  Halbwolf Luna …“

„Ich denke, wir haben genug gehört.“ Mit einer Handbewegung des Kardinals war der Lakai entlassen und er verschwand so schnell, wie er gekommen war. „Nun, ich glaube, Ihr versteht das vor Euch liegende Papier jetzt etwas besser, Monsieur le Comte“, bemerkte Richelieu mit gespielter Strenge. Rochefort hatte den Bericht mit unbewegter Miene verfolgt. Zuerst wollte er unterbrechen, doch dann erinnerte er sich an Hectors Bemerkung mit der Contenance. Richelieu wollte dieses Schauspiel also zu Ende spielen. Nun gut, dann würde er eben mitspielen. Daraus entwickelte sich folgender Dialog:

„Monsieur verstehen den Ernst der Situation.“

„Aber voll und ganz, Eure Eminenz.“

„Hauptmann Jussac ist erbost wegen seines Kassacks ...“

„Der Herr Hauptmann hat es nicht zuletzt mir zu verdanken, dass er diesen Posten innehat und vor kurzem von Seiner Majestät  zum Comte erhoben worden ist…“

„Akzeptabel … die Trüffel für das Bankett…“

„...wurden vom Maître de Cuisine sicherlich durch exquisite andere Köstlichkeiten ersetzt, die den Spanischen Botschafter wohl begeistert haben, und der Maître wird von mir dafür eine meiner besten Flaschen Bordeaux erhalten, die er so gerne trinkt.

„ Ausgezeichnet … die Bettwäsche…“

„…ist ersetzbar und kaum der Rede wert.“

„Hmmm, nun ja, aber das Teeservice…“

„…hat Eure Eminenz immer als eine Frechheit bezeichnet, eine Fälschung, auf die der Erzbischof von Reims wohl hereingefallen ist, da Marco Polo kein Porzellan aus China mitgebracht hat.“

„Mag sein…aber doch nicht ohne Wert… und die Kristallpokale Seiner Majestät…“

„ …haben Eure Eminenz selbst ins Souvenirzimmer verbannt, um diese ´protzige Hässlichkeit ´ nicht mehr sehen zu müssen.“

„Ihr habt ein ausgezeichnetes Gedächtnis, Monsieur, aber wertvoll waren sie dennoch…“

„…aber nicht unersetzlich.“

„Zugegeben, das nicht gerade, aber ich mochte den Renaissancegobelin sehr…“

„…weswegen ich auch die besten Handwerker von Paris beauftragen werde ihn so zu restaurieren, dass nicht einmal die ursprünglichen Künstler den Unterschied bemerken würden.

„Trotzdem werdet Ihr Euch zusätzlich zu all Euren Aufgaben auch Eurer Luna widmen und ihr Manieren beibringen.“

„ Der Wunsch Eurer Eminenz ist mir Befehl, aber können wir jetzt zu meinem Bericht über Gaston kommen?“

Luna, die, als ihr Name laut ausgesprochen wurde, aufmerksam geworden war, lugte neugierig hinter dem Canapé hervor, ihre riesigen, fast fledermausartigen Ohren steil nach oben gerichtet…

Kapitel Wohl keine Komödie!

Die Sicherheitsmaßnahmen im Palais Cardinal waren exorbitant. Man hätte meinen können, man sei in der Bastille, dem berüchtigten Pariser Staatsgefängnis, und nicht im luxuriösen Gebäudekomplex des Ersten Ministers von Frankreich, Kardinal Richelieu. Alle der fast zweihundert Kardinalsgardisten hatten Dienst. Über die Dienerschaft war eine Ausgangssperre verhängt worden. Jede Lieferung ins Palais wurde penibel überprüft. Selbst die Gärten waren durchsucht worden.

Doch die illustren Gäste im Inneren bekamen von all dem wenig mit. Man speiste vorzüglich. Suppen und Gebratenes, Sülzen und Pasteten, Fischgerichte und Mehlspeise, es mangelte an nichts. Die Musik war exklusiv, auch wenn für den heutigen Abend kein Tanz vorgesehen war. Statt des Tanzes würde es eine Vorführung einer Commedia dell’arte der berühmten Schaustellergruppe der Fideli unter Giambattista Andreini geben. Kardinal Richelieu hatte die Truppe eigens aus Venedig, der Heimatstadt seines Ehrengastes, kommen lassen. Dieser, Seine Exzellenz, Alvise Contarini, Sonderbotschafter der Republik Venedig, sollte sich besonders gut amüsieren. Und bis jetzt tat der Botschafter dies, so wie die anderen sehr exklusiven Gäste auch.

Nur einer wirkte eher verdrossen. Von einem Balkon aus betrachtete der Comte de Rochefort die Szenerie. Er war ganz in Schwarz gekleidet, nur bei genauerer Betrachtung waren die feinen Silberfäden zu erkennen, mit denen das Gewand durchwirkt war. Es wirkte so düster wie seine Stimmung. Dieses Fest war ein hohes Sicherheitsrisiko. Gesandte und Botschafter aus Spanien, England, Österreich und anderen, kleineren Nationen waren geladen worden. Und die Diplomaten waren gar nicht die eigentliche Gefahr. Aber sie hatten selbstverständlich zahlreiche Dienerschaft zum Fest mitgebracht, von Kammerzofen für die Gattin, über Kutscher und Leibdiener, bis hin zu bewaffneten Leibwächtern. Rochefort hatte dafür gesorgt, dass diese gesamte Entourage nicht die herrschaftlichen Räume betreten durfte und das hätte fast einen Skandal ausgelöst, weil die Gattin des bayrischen Gesandten darauf bestanden hatte, ihre Friseurin in die Salons mitzunehmen.Nun, man hatte sich geeinigt, dass das eigens hergerichtete Ankleidezimmer wohl reichen müsste.

Genau genommen war noch jemand nicht besonders glücklich. Ein leises Winseln drang aus dem heute nicht benutzten kleinen violetten Salon. Luna, die kleine Halbwölfin, war sogar äußerst unzufrieden. Nun gut, sie hatte einen riesigen Knochen vor sich liegen und an dem hatte sie auch eine Zeit lang herumgekaut, aber das reichte doch nicht auf Dauer um sich zu beschäftigen. Das ganze Palais war voller interessanter Gerüche. Seltene Speisen, fremdartige Parfums und Duftöle vermischten sich mit dem Geruch vieler unbekannter Menschen. Sogar der Geruch eines fremden Hundes war dabei. Das war wohl nur einer dieser kleinen weißen Schoßhunde, aber Luna wollte alles beschnüffeln. Doch sie war hier eingesperrt worden. Das war unfair und ungerecht. Sie hatte ihre Empörung deutlich gezeigt, in dem sie sich auf dem Sofa erleichtert hatte, obwohl Rochefort sich die Zeit genommen hatte einen langen Spaziergang mit ihr zu machen. Man hatte alles Zerbrechliche aus dem Salon entfernt und so musste sie sich damit begnügen, die Stühle und den Tisch anzunagen. Dann kam sie auf die Idee ihr Rudel zu rufen, also den Kardinal, seinen Geheimdienstchef Rochefort, Bernadette, die Zofe, die immer das Fressen brachte, und Christian, den Pagen, der sie immer gern kraulte. Sie war jetzt fast sechs Monate alt und das Heulen ging schon recht gut und laut. Irgendjemand würde sie schon hören.

Das Fest strebte seinem Höhepunkt entgegen – dem Auftritt der Komödianten. Zwei Höflinge tuschelten, dass es schon lange keine Commedia dell’arte in Paris mehr gegeben habe. In seiner Jugend hatte König Louis XIII. diese Art der Unterhaltung geliebt, genauso wie seine Mutter Maria de Medici. Bis 1622 war die Vorgängerkompanie der Fideli ein ständiger Gast am Pariser Hof gewesen. Man munkelte, dass dies 600 Livre im Monat gekostet haben soll. Doch Kardinal Richelieu hatte dem ein Ende gesetzt- er bevorzugte die Förderung des französischen Theaters. Doch für Sonderbotschafter Alvise Contarini war eine Ausnahme gemacht worden. Er war schließlich der Architekt des Bündnisses zwischen Frankreich und der Republik Venedig. Auch dass Frankreich die Schweden unterstützte, sollte seine Idee gewesen sein.

Die Vorstellung begann. Auftritt des Pantalone, ein reicher venezianischer Kaufmann mit brauner Maske, einem schwarzen Umhang und einem Ziegenbart, sowie seiner Tochter Isabella in einem knallroten Rock und weißer Bluse. Das Stück verlief wie viele andere. Der Dottore mit schwarzer Maske und Knollennase, kugelförmiger Stirn und roten Wangen, weißer Halskrause sowie schwarzer Jacke war der Gegenspieler, der Übles wollte, insbesondere die Liebe zwischen Isabella und ihrem Flavio zerstören um selber die schöne Isabella zu freien. Die Intrigen wurden durch die Zanni durchgeführt, die Dienerschaft der beiden Herren. Da war einerseits Arlecchino, der Spaßmacher mit lustigen Maske und Hut und einem Mantel, der aus bunten Flicken bestand, und andererseits Brighella mit schwarzer Maske und weißer Dienerkleidung.

Rochefort war inzwischen wieder in der Nähe von Kardinal Richelieu als er eine Berührung an seinen Beinen verspürte. „Wie ist das kleine Untier aus dem versperrten Salon entkommen?“, dachte der Geheimdienstchef und wollte Luna am Kragen packen. Doch diese schien das zu ahnen und verschwand blitzschnell zwischen den Sitzreihen. Rochefort grummelte. Hoffentlich machte die kleine Halbwölfin keinen Ärger.

Der Graf von Rochefort war nicht sehr an der Komödie interessiert, im Grunde mochte er das Theatervolk nicht besonders. Er hatte sogar angewiesen, dass sie Requisiten wie Dolche und Knüppel bei der Vorführung nicht verwenden durften, auch wenn das zu manchen der Rollen dazugehörte. Brighella und Arlecchino hatten sich inzwischen verbündet. Arlecchino würde Pantalone mit seinen derben Späßen ablenken und Brighella den Dottore mir Jonglierkunststücken. Derweilen sollten Isabella und Flavio heimlich heiraten. Das Geschehen verlagert sich hin zur ersten Reihe, damit Kardinal und Ehrengäste die Kunststücke besser sehen konnten. Brighella jonglierte mit mehreren keulenartigen Kegeln.

Plötzlich war ein tiefes Knurren aus dem Publikum zu hören. Dieser Geruch gefiel der kleinen Luna nicht. Mit einem Satz war sie zwischen den Sesselreihen hervorgesprungen und auf Brighella zu. Sie tat, was sie noch nie vorher getan hatte und biss mit aller Kraft in die Hand des erschrockenen Brighella. Rochefort wollte noch dazwischen gehen, aber er kam zu spät. Polternd fielen die Jonglierkeulen zu Boden. Dabei zerbrach eine dieser Keulen oder besser, sie bestand eigentlich aus zwei Teilen, die auseinander fielen. Ein Stilett polterte aus dem Kegel. Einem genauen Beobachter wie Rochefort entging auch nicht, dass aus der einen Hälfte der Jonglierkeule eine Flüssigkeit tropfte. Das Stilett, in seinem Ursprungsland Italien auch „Misericordia“ (lat. „Barmherzigkeit“) genannt, war wohl darin eingetaucht gewesen. Blitzschnell hatte Rochefort nun seinen Stiefeldolch gezogen, denn sein Rapier hatte er vor dem Festsaal platzieren müssen – verfluchte Étiquette. Aber auch mit einem Dolch an der Kehle und mit den Zähnen eines Halbwolfs in der Hand verbissen war Brighella schnell ausgeschaltet und von der Kardinalsgarde abgeführt.

Rochefort und Richelieu waren am nächsten Tag zu einer Besprechung zusammen gekommen. „Woher konnte Luna das wissen oder war das Zufall oder gar göttliche Fügung?“ Kardinal Richelieu blickte fragend zu seinem Geheimdienstchef. „Nun, Eure Eminenz, Wölfe haben einen sehr feinen Instinkt, wenn es darum geht, dass ihr Rudel in Gefahr ist. Und der Vicomte de Chizey, der Wolfsforscher, von dem ich Luna habe, hat mir erzählt, dass Wölfe und sogar Hunde Aggression riechen können.“ Rochefort kraulte der jungen Halbwölfin den Bauch, was diese sichtlich genoss. „Denkt Ihr, dass der Anschlag mir galt oder Botschafter Contarini?“, war die nächste Frage des Ersten Ministers. „Wir werden es aus dem Geschmeiß herausbringen, das verspreche ich Euch Monseigneur“, erwiderte Rochefort, „allerdings hat Hector herausgefunden, dass die Truppe vor ein paar Wochen in Brüssel gastierte und…“. „…und dort leben die Mutter des Königs und der Thronfolger Gaston im Exil“, ergänzte Richelieu säuerlich. „Eine letzte Frage, bevor wir mit den Unterlagen beginnen. Ich dachte, Ihr hattet Luna sicher verwahrt, wie ist sie entkommen?“ „Nun, entweder war es die göttliche Fügung, von der Eure Eminenz vorhin gesprochen haben oder ein gewisser Page hat die Salontüre aufgesperrt, weil Luna so laut geheult hat“, erwiderte Rochefort lächelnd. Kardinal Richelieu nahm die Arbeitsmappe aus der Schublade seines riesigen Schreibtisches. „Dann sagen wir, es hat sich gut gefügt, dass der Page wie Ihr und ich zum gleichen „Wolfsrudel“ gehören. – Nun, man hat mir schon Schlimmeres nachgesagt!

Kapitel Wolfsjagd

In den königlichen Privatgärten der Tuilerien herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Schließlich stand die große Herbstjagd des Königs bevor. Und die Höflinge und Günstlinge des Pariser Hofes nutzen die immer noch angenehm wärmende Sonne um zu flanieren und allerlei Dinge im Vorfeld zu besprechen. Der Ort für die königliche Jagd war seit kurzem bekannt: Zuerst nach Évreux und dann in die Wälder rund um Versailles. Seit der König Ländereien der Gondi dort hinzuerworben hatte, war es auch ein prächtiges Jagdgebiet geworden.

Der Comte de Rochefort lauschte dem Geplapper nur nebenbei, denn er hielt Ausschau nach dem Mann, mit dem er sich treffen wollte. „Es mag ja ein gutes Jagdgebiet sein, aber ein Schloss mitten im Wald – ist das nicht ein wenig unpassend?“ „Zum Glück gibt es das ursprüngliche Jagdschloss ja nicht mehr!“ „Wie recht Ihr habt, es war so klein, dass es nicht einmal Räumlichkeiten für die Königin enthielt!“ „Ja, da kann ich Euch nur zustimmen, François de Bassompierre hat es einmal als ein armseliges Schloss, bei dem nicht mal ein einfacher Edelmann Neid empfindet, bezeichnet, nicht wahr?“ „Vielleicht solltet Ihr nicht die spitzen Bemerkungen des Marquis de Bassompierre wiederholen - wegen solcher Witzchen sitzt er seit zweieinhalb Jahren in der Bastille.“ „Ja, aber wohl wegen seiner Bemerkungen über Richelieu und nicht über das königliche Jagdschloss.“ „Mag sein, aber die Spitzel des Kardinals sind überall und außerdem ist das alte Schloss ja abgerissen worden und Hofbaumeister Philibert Le Roy errichtet dort eine dreiflügeligen Schlossanlage.“ „Die soll aber doch noch gar nicht fertig sein, wie man hört.“ „Da mögt Ihr durchaus Wahres gehört haben, jedoch der Mittelteil ist bereits fertig gestellt und auch der Westflügel. Man ist zuversichtlich, dass der Ostflügel nächstes Jahr fertiggestellt ist und dann eine festliche Eröffnung gefeiert werden wird.“ „Also ist der Großteil bereits bewohnbar, das ist beruhigend. Erinnert Ihr Euch noch daran, wie der König vor Jahren darauf bestand bei Versailles zu jagen und es noch nicht mal das alte Jagdschloss gab – er übernachtete doch tatsächlich in einer Mühle – man stelle sich vor – Seine Majestät in einer Mühle!“ „Die Jagdleidenschaft Seiner Majestät ist legendär, aber Fortuna hatte ein Einsehen und die Zeiten haben sich ja geändert.“ „Aber ja, die Zeiten haben sich geändert und morgen brechen die vierzig Wagen mit der Möblierung aus den drei königlichen Depots auf, um das Schloss für die Jagd einzurichten.“ Merde, ich muss meine Dienerschaft noch anweisen. Meine Gattin hat angedroht nicht zu erscheinen, wenn ihre Frisierkommode nicht mitkommt.“ „Aber mein Lieber, Ihr verwöhnt Eure Gattin – es ist doch nur eine chasse à courre.“

Endlich kam der erwartete Besucher, obwohl „Besucher“ war der falsche Ausdruck... Rochefort war bereits angewidert von dem Gespräch der „Hofschranzen“, wie er sie gerne bezeichnete. Und Jagden liebte er auch nicht besonders – schon gar nicht eine Parforcejagd, also eine Hetzjagd wie die chasse à courre. Auch Luna, die Halbwölfin, war bereits etwas gelangweilt. Sie mochte es nicht sehr ruhig zu liegen, hier war doch ein ganzer Park voller Gerüche und die vielen tollen bunten Bänder, die von den Leuten hingen, da konnte man sich doch nach Herzenslust darin verbeißen. Herrchen war manchmal ein richtiger Spielverderber. Sie wusste nicht, wie gerne Rochefort sie losgelassen hätte um Höflingsgewänder zu jagen – oh ja, nur zu gerne, aber Luna war jetzt sieben Monate alt und richtig groß geworden – in der Dämmerung konnte man sie schon durchaus für ein gefährliches Raubtier halten. Sie jetzt los zu lassen würde Ärger bedeuten und Rochefort wollte im Moment keine Aufmerksamkeit. Für einen Augenblick war der Geheimdienstleiter von Kardinal Richelieu abgelenkt bei dem höchst erheiternden Gedanken, wie Luna die Höflinge in Panik versetzen würde und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das nützte die Halbwölfin aus um den herankommenden Mann auf ihre Weise zu begrüßen. Sie stürzte sich auf den überraschten Musketier, stellte sich auf die Hinterpfoten, warf ihn dabei fast um, und begann dann genüsslich an seinem prächtigen Kasack zu kauen. Dabei hatte d'Artagnan noch Glück, dass er seinen breitkrempigen schwarzen Hut mit weißer Plumage und der Leutnantskokarde noch rechtzeitig mit der Hand hatte auffangen können. Die Straußenfedern hätte Luna in Sekundenschnelle zerbissen. Es dauerte doch ein paar Augenblicke, bis die beiden Männer Luna beruhigt hatten. Noch vor einigen Jahren hätte der Gascogner diesen Vorfall genutzt, um ein Duell zu provozieren, aber einerseits ließ sich Rochefort nicht auf Duelle ein und andererseits war aus der Abneigung der ersten Zeit fast so etwas wie Freundschaft zwischen den beiden Männern entstanden.

„Nun, ich bin zu spät und habe dies Art von Begrüßung wohl verdient“, meinte der Leutnant der Musketiere daher nur. „Ich sehe da einige Höflinge, die ein derartiges Willkommen eher verdient hätten“, war die Erwiderung des Mannes in Schwarz mit einem verächtlichen Blick auf die „Hofschranzen“. „Ich fasse mich kurz, denn Ihr seid im Dienst und auch ich habe noch einige Verpflichtungen. Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten, diese große Herbstjagd bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. Es werden neben den Majestäten und dem Kardinal ja zahlreiche Personen vom Hochadel und auch ausländische Diplomaten teilnehmen. Zu meinem Bedauern werde ich zumindest am ersten Teil der Jagd nicht teilnehmen können und wahrscheinlich wird auch Hauptmann Jussac von der Garde Seiner Eminenz abwesend sein. Daher wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Reibereien zwischen den Garden  und den Musketieren verhindern würdet. Der Kardinal war sehr deutlich bei seinen Worten an seine Garde und er würde es sehr schätzen wenn auch Ihr Eure Männer im Zaum halten würdet. Es geht hier nicht um Rivalität, sondern um die Sicherheit Frankreichs.“ D'Artagnan zögerte nur kurz. Hauptmann Treville war zwar nach wie vor für eine „gesunde Konkurrenz“ zwischen den beiden Garderegimentern, aber es war bedeutend friedlicher geworden seit der Zeit der Diamantnadelaffäre. War das wirklich schon sechs Jahre her? „Natürlich stimme ich Euch zu, Monsieur Rochefort. Ich werde auf mögliche Heißsporne unter meinen Männern einwirken.“ Hatte er das wirklich gesagt? Und sogar mit Überzeugung? Innerlich seufzte d'Artagnan kurz – wo waren die Zeiten geblieben? Aber mit Macht kommt Verantwortung und als Leutnant hatte man andere Verpflichtungen... „Wenn Ihr es nach Eurem Dienst schafft, noch in meinem Stadthaus vorbeizuschauen, warten ein paar ausgezeichnete Flaschen Wein aus dem Keller des Kardinals auf Euch und wir könnten noch ein paar Details besprechen…“ Rocheforts Abschiedsworte hallten noch einige Zeit nach, als der Leutnant der Musketiere wieder seinen Dienst aufnahm.

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Zwei Wochen später sehnte sich d'Artagnan nach diesem Abend zurück, der Wein war ausgezeichnet gewesen, das Kaminfeuer wohlig warm und selbst das Gespräch mit Rochefort fast wie unter Kameraden. Die königliche Jagd hingegen verlief dagegen äußerst ungemütlich. Quartier gab es nur für die allerhöchste Gesellschaft und selbst ein Leutnant der Musketiere musste sich oft mit einem Zelt begnügen. Nun, daran war er gewöhnt, aber dass seine Männer nicht genug zu essen bekamen, war geradezu lächerlich bei der Menge an Wild, die der Adel niedermetzelte. Schuld daran war dieser widerliche Dujardin. Wie war dieser Emporkömmling bloß zu einem Titel des „Maitre du Interieur“ im Louvre gekommen? Und dann seine Idee eines Saales der Trophäen der Herbstjagd. Jedes einzelne erlegte Tier wurde ihm vorgelegt und er entschied, ob es ausgestopft werden sollte. Der Vorgang dauerte 2-3 Tage, da er bei besonderen Stücken gleich mit der Vorpräparation begann. Inzwischen verdarben große Teile des Wildes. Aber es blieb dabei, jedes einzelne Stück musste zur Begutachtung vorgelegt werden. Am liebsten hätte der Leutnant diesen Kerl selbst ausgestopft. Das verbliebene Fleisch ging natürlich an die königliche Tafel und der halbe Tross hungerte oder nahm sich von den Bauern der Umgebung, was sie fanden.

Der Ärger, der dadurch entstand, war beträchtlich. Der immer wieder einsetzende Regen und der teilweise eisige Wind taten ihr Übriges um die Stimmung bei den Garden zu verschlechtern. D'Artagnan hatte alle Hände voll zu tun, um sein Versprechen gegenüber Rochefort einzuhalten und keine ernsthaften Streitereien zwischen den Männern entstehen zu lassen. Aber selbst die Hofgesellschaft hatte fast genug von der Jagd und alle kamen zum Leutnant der Musketiere um sich zu beschweren. Da waren die Hofdamen, deren Kleidung nicht richtig trocknete, die Diplomaten, die sich eine private Audienz beim König erhofften, die Höflinge, die sich ihre Hinterteile wund geritten hatten und selbst die Kämmerer und höheren Dienstboten baten ihn um dies und das, da sie ständig von ihrer Herrschaft angewiesen wurden „wichtige“ Dinge zu beschaffen. Verdammt, er war nicht das Kindermädchen der Hofgesellschaft, sondern für die Sicherheit des Königs zuständig! Die Kardinalsgarde war auch nur bedingt eine Hilfe. Ja, sie hatte sich pflichtbewusst in die Sicherheitsmaßnahmen integriert, aber darüber hinaus geweigert mehr zu tun. Man sei ja nur das zweite Garderegiment Seiner Majestät und in erster Linie für die Sicherheit des Ersten Ministers, Kardinal Richelieu, zuständig. Für Galanterien seien die Musketiere in Blau ja sonst so gerne zu haben... Nur der König amüsierte sich prächtig bei der Jagd.

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Ah, endlich wieder so richtig laufen! Luna war begeistert und voller Energie. Da nahm sie es sogar in Kauf, dass Herrchen auf diesem, wie er es nannte, „Pferd“ ritt. Na gut, dieses Tier war wirklich schnell, aber es war auch größer. Die Wälder rochen toll nach Beute, aber Herrchen schien es ziemlich eilig zu haben. Aber es würde sich sicher noch eine Gelegenheit ergeben... Dort in der Ferne waren seltsame Geräusche, zuerst ein lauter langer Ton, so eine Art Tröten, dann war da Hundegebell, von vielen Hunden. Die Halbwölfin spitzte die Ohren und richtete die Nase in den Wind. Da vorne musste es Beute geben und die kam ja direkt auf sie zu – was für eine Gelegenheit!

Rochefort war weniger begeistert. Er hatte diese Abkürzung genommen um möglichst rasch zum königlichen Lager zu kommen. Doch anscheinend war er jetzt zwischen die Treiber und die Jagdgesellschaft gekommen. Innerlich fluchte er, da preschte schon allerlei Getier aus dem Dickicht, voller Panik vor den Treibern und Hunden. Und Luna war jetzt natürlich auch nicht mehr zu bändigen. Sie hörte auf keines seiner Kommandos und sprang ein Reh an, das anscheinend einen leicht verletzten Huf hatte. Der Rest der Tiere bog scharf links ab und Rochefort hatte Mühe sein Pferd ruhig zu halten. Die Halbwölfin hatte ihre Beute gerade erlegt, als die Hunde ankamen. Sofort stellte Luna ihre Nackenhaare auf und stellte sich. Ein tiefes Wolfsgrollen klang wie: „Wagt es ja nicht meiner Beute zu nahe zu kommen!“ Die gesamte Meute stoppte ab. Sie begann Luna zu verbellen, aber so richtig nähern wollte sich keiner der Jagdhunde ohne Kommando. Es war so eine Art Patt. Dann kamen die Treiber. Einer von ihnen wollte den Hunden einen Befehl geben, doch plötzlich sah er einen gebieterisch aussehenden Mann, hoch aufgerichtet auf seinem Pferd. „Zurrrückziehen“, knurrte Rochefort laut und es klang dem Knurren des Halbwolfes gar nicht so unähnlich. Erschrocken wich der Mann einige Schritte nach hinten. Die anderen Treiber versuchten inzwischen mühsam ihre Hunde zu beruhigen. Das dauerte eine ganze Weile, das Wild war inzwischen über alle Berge und eine enttäuschte Jagdgesellschaft wartete an diesem Tag vergebens darauf, dass ihnen die Tiere einfach vor die Nase getrieben wurden. Luna war die einzige, die heute Beute gemacht hatte!

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Kardinal Richelieu hatte sich in eine Schreibstube zurückgezogen, die er sich extra hier im Jagdschloss von Versailles hatte einrichten lassen. Für den Ersten Minister von Frankreich schien die Arbeit niemals ein Ende zu nehmen, insbesondere wenn zahlreiche Diplomaten an einer königlichen Jagd teilnahmen. Solch eine Gelegenheit durfte man nicht verstreichen lassen. Die politische Situation war äußerst angespannt und den Luxus von Erholung konnte Richelieu sich nicht leisten. In seiner Jugend hatte gern an Jagdritten teilgenommen. Doch diese höfische Art, Tiere sich zutreiben zu lassen, fand der Kardinal fast unchristlich und auch ein wenig langweilig. Als der Comte de Rochefort den kleinen Raum betrat, blickte Richelieu auf. „Ah, Monsieur le Comte, ich habe Euch erwartet. Ich soll Euch von Seiner Majestät streng zurecht weisen und Euch strikt anweisen, Euren Wolf im Zaum zu halten, damit die Jagd Seiner Majestät nicht wieder gestört wird. – So, das wäre hiermit erledigt, kommen wir zu wirklich wichtigen Dingen. Gebt mir einen kurzen Bericht über Eure Mission auf Chateau La Forêt d’Évreux.“ Rocheforts Miene, die bei den Eingangsworten noch freundlich gewesen war, versteinerte sich augenblicklich. „Ich fürchte, der Bericht wird nicht so kurz, Eure Eminenz.“ Luna, die wie selbstverständlich mit Rochefort durch die Tür geschlüpft war, begutachtete inzwischen die Fransen am Teppich der Schreibstube. Fransen, wie herrlich, die konnte man einzeln ausreißen und im Raum verteilen – fein, dann würde es nicht langweilig werden.

Doch sowohl Rocheforts Bericht als auch der heimliche Angriff auf den Teppich durch die junge Halbwölfin wurden unterbrochen. Ein Sekretär des Kardinals betrat den Raum, nachdem er nur kurz geklopft hatte. Der Kardinal blickte ihn aufmerksam an. Wenn einer seiner Vertrauten fast ohne Ankündigung eintrat, musste es wichtig sein. „Verzeiht, Eure Eminenz, die Störung, aber es gibt einige Aufregung bei Hofe.“ „Sprecht“, war die einzige Erwiderung von Richelieu. „Es werden drei junge Hochadelige vermisst. Sie sind von der heutigen Jagd nicht zurückgekehrt. Nun könnten die jungen Herren auch einen Ausflug gemacht haben, aber zumindest bei einem von ihnen wäre das sehr ungewöhnlich und da auch die Tochter des holländischen Gesandten betroffen ist…“ „Mademoiselle Lieke ist auch dabei?“ unterbrach ihn der Geheimdienstchef, „das ist in der Tat ungewöhnlich. Ich werde mich um die Angelegenheit persönlich kümmern.“ „Die königlichen Musketiere sind bereits ausgerückt und man bittet um die Unterstützung der Garde Seiner Eminenz und die Herzogin von…“ Weiter kam der Sekretär wieder nicht, abermals wurde er von Rochefort unterbrochen: „Schon gut, ich sagte doch, ich werde mich persönlich darum kümmern und ich habe eine bessere Idee als eine Horde Gardisten, die nachts im Wald herum stolpern. Luna, lass das und komm mit!“

„Lasst ausrichten, dass meine besten Leute sich der Sache annehmen, meine Garde aber bleibt vor Ort – und lasst die Wache verdoppeln, das könnte auch eine Ablenkung sein.“ Die Worte des Kardinals waren sehr bestimmt und es folgte ein kurzer Blick des Einvernehmens mit Rochefort. Als der Comte rasch den Raum verließ, folgte Luna ganz brav, allerdings, wenn man genau hinsah, hingen da ein paar Fransen in ihrem Maul…

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Rochefort hatte rasch sein Pferd gesattelt und war an die Stelle geritten, wo die Gruppe junger Leute angeblich zuletzt gesehen worden war. Dort war bereits Leutnant d'Artagnan dabei, Suchtrupps der Musketiere mit Laternen in alle Richtungen ausschwärmen zu lassen. „Müsst ihr Musketiere unbedingt immer auf den Spuren herumtrampeln?“ waren seine Begrüßungsworte in mildem Spott. „Euch auch eine schöne, ruhige Nacht, mein Herr, aber bei dieser Finsternis und nach der Jagd heute könnte man sowieso keine Spuren sehen“, erwiderte der Musketier. „Sehen wohl nicht“, gab Rochefort zurück, „aber es gibt andere Möglichkeiten“ und er deutete auf Luna neben ihm. Dann zog er etwas unter seinem Wams hervor, beugte sich zur Halbwölfin herab und ließ sie daran schnuppern. D'Artagnan hätte zu gerne erspäht, was es war. Ein Brief? Ein Taschentuch? Es war einfach zu finster um es zu erkennen.

Luna schnüffelte, dann kam der Befehl „Such, Luna, such!“ Ah, ein Spiel! Das hatte Herrchen schon länger nicht mit ihr gespielt. Toll, mitten in der Nacht durch den Wald toben und jemand finden, der sich versteckt hatte! Hmm, der Geruch war unbekannt, aber nicht unangenehm, aber hier waren tausende Gerüche, das war schwerer als sonst, aber vielleicht gab es ja dann auch eine bessere Belohnung. Und hier war der Geruch, also los! Und wie es losging. Luna beschleunigte wie rasend und bog ab ins Gebüsch. Rochefort seufzte. Vielleicht hätte er sie doch vorher an die Leine nehmen sollen, aber die Zeit drängte, also trieb er sein Pferd an. D'Artagnan war einen Augenblick verblüfft, aber dann folgte er Rochefort so schnell er konnte.

Es war einer der schwersten Ritte, die Rochefort jemals gemacht hatte. Zwar war er auch schon tagelang durchgeritten, bei Wind und Wetter, aber das war etwas anderes. Nachts im Wald bei diesem Tempo war gefährlich. Sein Pferd war natürlich von ihm trainiert und besonders trittsicher, aber herunterhängende Äste, verborgene Wurzeln und andere Hindernisse lauerten überall. Er durfte aber den Anschluss an Luna nicht verpassen, sie aber auch nicht zurückrufen. Denn sonst könnte sie die Lust am Spiel verlieren, sie war ja kein ausgebildeter Fährtenhund. Zum Glück verlief die Spur bald aus dem Wald hinaus. Auch der Gascogner hielt tapfer mit, auch wenn er deutlich zurückgefallen war. „Oder doch kein Glück!“ dachte der Comte de Rochefort, denn es ging nach Westen Richtung Étang puant. Und rund um den „Stinkenden Teich“ war ein Sumpfgebiet, das wohl noch lange nicht trocken gelegt werden würde. Ausgerechnet das Sumpfgebiet und das bei fast völliger Dunkelheit, denn Wolken hatten sich über den Himmel verteilt. Noch war die Wolkendecke nicht ganz geschlossen, aber es sah nicht gut aus.

Luna aber setzte unbeirrt ihr Suchspiel fort. Wasser, Schlamm und finster war es auch, Herrchen hatte sich diesmal eine wirkliche Herausforderung ausgedacht. Hoppla, die Spur war weg, nein, doch nicht, nur dieser kleine Schlammbach war im Weg, kein Problem… Und jetzt wurde es wirklich schwer, die Spur war nicht mehr da. Luna blieb stehen und schnüffelte. Doch, da war ein Hauch einer Spur, so ähnlich, wie wenn man einer Person folgte, die in einem dieser kleinen Holzhäuser fuhr, wo Pferde angespannt wurden – hießen wohl „Kutschen“ oder so. Aber am Wasser? Also eine Wasserkutsche. Da kann man eine Spur ja nur mehr erahnen! Und es roch nach Blut, kein Beuteblut, das war ein Mensch! Mehrere Menschen und Pferde, so wie vorher, aber die Spuren der Menschen und Pferde waren nicht mehr auf dem gleichen Weg wie der Geruch, dem sie folgen sollte.

D'Artagnan und Rochefort waren von ihren Pferden abgestiegen. Beiden war die Anstrengung der nächtlichen Verfolgung anzusehen. Gerade kam der volle Mond hinter einer Wolkenbank hervor. Der Sumpf wirkte gespenstisch und abweisend. Den Leutnant fröstelte – sicher nur der kalte Schweiß vom anstrengenden Ritt, aber er riss sich zusammen. Er konnte sich doch vor Rochefort keine Blöße geben. Aber auch diesem war etwas mulmig, nicht wegen der möglichen Gefahr für sich, in solchen Situationen war er eiskalt, aber diese Sümpfe waren tückisch, ein Jugendlicher in der Nacht war hier sicher in tödlicher Gefahr. Luna schien unsicher geworden zu sein an dieser Stelle. Im Mondlicht waren im schlammigen Untergrund deutlich Hufabdrücke zu sehen. Sie führten hierher, aber auch seitlich am Sumpf vorbei wieder weg. In den Sumpf führte hingegen keine Spur. Rochefort stutzte. Warum sollte jemand zum Moor reiten und dann daran vorbei. Das ergab keinen Sinn. Auch d'Artagnan hatte die Abdrücke entdeckt. „Das kann noch nicht lange her sein. Da ist kein Wasser in den Abdrücken. Nichts wie hinterher“, meinte der Leutnant der Musketiere, „solange das Mondlicht hält, haben wir eine Chance sie einzuholen.“ „Wartet noch ein wenig, diese Ungeduld der Gascogner scheint Ihr immer noch nicht abgelegt zu haben. Erstens ist Luna sich nicht sicher und diesen Pferdespuren könnte sie leicht folgen und zweitens stimmt hier etwas nicht. Seht doch hier, das schaut aus als hätte man etwas ins tiefere Wasser geschliffen. Jetzt haben wir ein echtes Problem, das sieht nach einem Boot aus.“ Rochefort blickte nachdenklich in das Moor. „Möglich, es könnte sein, dass sie die Pferde zur Ablenkung weggetrieben haben, oder einer hat sie weggeführt. Übrigens, sieht das nach mehr als drei Pferden aus, fast doppelt so viele. Die Sache gefällt mir immer weniger“, stimmte d'Artagnan zu. „Und was jetzt?“.

„Ich denke, Luna hat diese Frage gerade beantwortet“, erwiderte Rochefort grimmig. Die junge Halbwölfin war in das schlammige Wasser gesprungen, aber nach ein paar Metern wieder an eine begehbare Stelle geklettert, hatte geschnüffelt und war weiter gerannt. Gerade begann sie wieder am brackigen Wasser zu schnüffeln und immer so weiter. In dieser Nacht lernte Rochefort einige Flüche aus der Gascogne, die er noch nicht kannte, aber d'Artagnan blieb bei ihm als der Graf tiefer in den Sumpf eindrang, immer hinter Luna her, die mal kurz schwamm, dann wieder über eine festere Stelle lief. Nach einer gefühlten Ewigkeit erblickten die beiden ein Licht, nachdem sie eine mit Buschwerk bewachsene Stelle durchquert hatten.

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„So, meine jungen Freunde, Euer Ende ist nah. Die Sünden der Väter fallen auf ihre Kinder zurück. Niemand betrügt mich um meinen Lohn oder nennt mich einen Scharlatan.“ Die drei gefesselten Adeligen blickten mit Entsetzen auf den Mann vor ihnen und seine zwei bewaffneten Spießgesellen. Jetzt waren sie wieder Kinder, die vor Angst laut schreien wollten, wenn da nicht diese schmutzverkrusteten Knebel gewesen wären. Längst waren dies nicht mehr die jungen Gecken, die spielerisch um ein hübsches Amsterdamer Mädchen buhlten und sie zu einem kleinen Ausritt in der Dämmerung überredeten. Sie hatten es auch schon vielfach bitter bereut, auf die Schmeicheleien des Maitre du Interieur hereingefallen zu sein und auf seine schönen Worte vom romantischsten Ort, den man sich vorstellen konnte, wenn man nur etwas wagemutig sei. „Habt Ihr gewusst, dass man im Norden Deutschlands Leichen in den Mooren gefunden hat, die fast unversehrt waren und sie sollen schon viele Jahrzehnte dort gelegen haben. Nicht ganz so elegant wie meine Präparate, aber die Launen der Natur kommen an meine Kunst eben nicht heran. Leider fehlt mir die Zeit Euch richtig auszustopfen, so müsst Ihr Euch damit begnügen durch das Moor konserviert zu werden, aber für meine Rache soll es mir genügen.“ Die jungen Leute versuchten sich in ihren Fesseln aufzubäumen, aber die Lederbänder waren feucht gewesen und schnürten sie unbarmherzig ein. Das war ihr Ende – die Halunken lachten und machten sich bereit ihre Opfer im Sumpf zu versenken.

Dann brach die Hölle los. Aus dem Sumpf sprang mit Riesensätzen ein haariges Untier heran und auf die arme Lieke zu. Geifer tropfte von seinen Lefzen. Dem Ungeheuer folgten zwei Kreaturen aus Schlamm und Morast. Sie stürmten ebenfalls auf die kleine Sumpfinsel. Für einen Augenblick waren die Assistenten von Dujardin geschockt und ließen ihre Gefangenen los. Als die Schurken zu ihren Waffen greifen wollten, war es schon zu spät. Die Schlammmonster waren bereits bei ihnen und sie hauchten innerhalb weniger Sekunden ihr verbrecherisches Leben aus. Blut tropfte von den Klingen und vermischte sich mit dem Morast. Lieke schien mehr Glück zu haben. Zwar war sie von der Bestie angesprungen und auch umgeworfen worden, aber dann begann diese ihr liebevoll das Gesicht abzuschlecken, freudig zu jaulen und schwanzwedelnd um eine Belohnung zu bitten.

Monsieur Dujardin wandte sich in Richtung des Bootes, das am anderen Ende der kleinen Insel lag. Soweit sollte er aber nicht kommen. Mit einer flinken Bewegung zog Rochefort einen Wurfdolch aus seinem Ärmel und dieser traf den Fliehenden zwischen die Schulterblätter. Ein zweiter Dolch, aus dem Stiefel gezogen und geworfen, beendete die Flucht endgültig. Der nun wohl ehemalige Maitre du Interieur taumelte noch zwei, drei Schritte und versank im gurgelnden Schlund des Étang puant. D'Artagnan hatte inzwischen die Jugendlichen von ihren Fesseln befreit und die beiden Jungen bedankten sich überschwänglich bei ihm. Der große Held und Musketier – Leutnant der Königsgarde, Retter der Unschuldigen und Beschützer von Frankreich! „Das ist wieder typisch“, dachte Rochefort leicht säuerlich. Doch dann sah er, wie Lieke auf die Knie sank, die völlig verschlammte Luna umarmte und sie an sich drückte. Luna erwiderte die Zärtlichkeit, in dem sie die junge Holländerin erneut abschleckte. „Ich weiß, warum ich die kleine Lieke immer mochte, mein Instinkt hat mich noch nie betrogen“, dachte der Comte de Rochefort bei sich, „sie erkennt die wahren Helden!“

Kapitel Einbrecher und Ausbrecher

„Nun, hattet Ihr nicht die Wache an den Zäunen der Gärten seiner Eminenz? Euch sollte bewusst sein, dass, bis die Mauern zur Gänze fertiggestellt worden sind, der Schutz an dieser Stelle oberste Priorität hat.“ Die Stimme von Rochefort klang nun durchaus bedrohlich. Die Wintersonne war im abendlichen Paris bereits untergegangen und in der Dämmerung wirkte der ganz in Schwarz gekleidete Stallmeister von Kardinal Richelieu wie ein schwarzer Wolf kurz vor dem Sprung. Im Allgemeinen waren die Gardisten Richelieus dafür bekannt, dass sie vor nichts und niemanden zurückschreckten, doch d´Bartand wich unwillkürlich einen Schritt zurück und nahm Haltung an.

„Es war keine wirkliche Sicherheitslücke, Monsieur le Comte. Niemand Unbefugter hätte die Gärten Seiner Eminenz betreten können“, erwiderte er, aber in seiner Stimme klang etwas Unsicherheit mit. „Hmm, keine Sicherheitslücke also“, grollte der Graf de Rochefort, „meine Luna kann also völlig ungestört den Zaun untergraben, ein Loch, das so groß ist, dass durchaus auch ein Mann durchschlüpfen kann, ungesehen aus den Gärten entwischen und unbemerkt in Richtung Louvre traben und Ihr meint, das wäre also keine Nachlässigkeit während Eurer Wache.“ „So habe ich das natürlich nicht gemeint, es ist nur so, dass Luna sehr leise sein kann und mit ihrem Wolfsfell sehr gut getarnt ist und…“ Zu mehr kam d´Bartand nicht, denn Rochefort fiel ihm ins Wort und das war doch ungewöhnlich, denn der Geheimdienstchef von Frankreich war für seine Ruhe und Souveränität bekannt. „…und Ihr denkt, ein möglicher Einbrecher oder gar Attentäter wäre besonders laut und in bunte Farben gekleidet, wenn er sich Zutritt zu den Gärten Seiner Eminenz verschaffen möchte?“

„Wenn Euer Gnaden das so sehen wollen, dann möchte ich um Entschuldigung bitten und ich werde meine Aufmerksamkeit in Zukunft verdoppeln.“, versprach der Gardist umgehend. „Seine Gnaden möchten dies genau so sehen und ich hoffe es wird nicht notwendig sein, dass ich Leutnant de Valmorin bitte, eine Untersuchung einzuleiten.“ Rocheforts Tonfall war nun weniger scharf. Vielleicht lag es daran, dass Luna, die kleine Halbwölfin, inzwischen neugierig herbeigeeilt war, da ihr Name öfters gefallen war. Liebevoll hatte sie begonnen, die Hand des Stallmeisters von Kardinal Richelieu abzulecken und Rochefort hatte dabei wie automatisch angefangen ihr den Kopf zu streicheln. Aber vielleicht hatte der Comte auch nur sein Ziel bereits erreicht und der Gardist würde in Zukunft wachsamer sein. D´Bartand jedenfalls war heilfroh, nochmals glimpflich davon gekommen zu sein. Der neue Leutnant de Valmorin war berüchtigt jede noch so geringe Nachlässigkeit streng zu ahnden. Obwohl er von kleiner Gestalt war, flößte er seinen Untergebenen einen gehörigen Respekt ein. Und was passieren könnte, wenn Luna wirklich bis zum Louvre gelaufen wäre und einer von diesen Tölpeln von Musketieren auf sie geschossen hätte, wagte sich der junge Gardist erst gar nicht auszudenken. Selbst Kardinal Richelieu hatte inzwischen eine große Zuneigung zu Luna entwickelt. Nein, besser nicht darüber nachdenken...

Zwei Tage später stapfte Gardist d´Bartand etwas missmutig über die nächtlichen Kieswege des Palais Cardinal. „Schon wieder Parkdienst“, dachte er bei sich, „ob das eine Art Bestrafung war, oder wollte man prüfen, ob er jetzt aufmerksamer war als vor ein paar Tagen?“ Der Dienst im nächtlichen Garten war um diese Jahreszeit recht unbeliebt. Der Jänner zeigte sich in Paris von seiner unfreundlichsten Seite. Ständiger Nieselregen, Temperaturen um den Gefrierpunkt und ein eisiger Nordostwind konnten einem schon die gute Laune verderben. Die Nässe und Kälte krochen auch in die wärmste Kleidung und im Nu war man klamm gefroren. Ja, im Mai war so eine Nachtwache in den Gärten ein Vergnügen. Überall die duftenden Rosen, die der Kardinal so mochte und teilweise sogar selbst züchtete, die laue Frühlingsluft und vielleicht verirrte sich ja dann und wann sogar eine junge Hausangestellte des Palais in den Garten im Wonnemonat Mai. Jetzt im Jänner wäre man über Dienst am Tor schon zufrieden, denn dort gab es ein überdachtes Torhaus und man war vor Wind und Wetter weitgehend geschützt. D´Bartand setzte seine Runde weiter fort. Die rotgefärbte überlange Straußenfeder, auf die er so stolz war, hing wie ein nasser, dünner Fetzen von seinem breitkrempigen Hut. Da erblickte der Gardist eine Bewegung aus dem Augenwinkel. Ein dunkler Schatten lief die Mauer entlang und in Richtung der schmiedeeisernen Umzäunung. „Wie ist diese kleine Canaille denn schon wieder aus dem Haus entkommen? Na warte, diesmal entwischt du mir nicht. Ich will nicht schon wieder Ärger bekommen“, und flotten Schrittes folgte d´Bartand der unternehmungslustigen Luna.

Auch Luna war etwas missmutig. Das Rudel war schon wieder ohne sie unterwegs. Dabei waren sie ja eigentlich nur in dem riesigen Haus schräg gegenüber. Herrchen und der rote Anführer, vor dem sogar Herrchen Respekt hatte, hatten keine Pferde genommen, das hatte sie genau gesehen. Sie waren nur mit einigen roten Männern nach drüben gegangen. Sie hatte ihren Geruch noch in der Nase. Nein, sie waren nicht so weit weg. Aber sie hatte man da gelassen. Vielleicht gingen sie ja wieder zu dem komischen Mann, vor dem alle so taten, als ob er der oberste Anführer war, obwohl er gar nicht danach roch. Egal, sie wollte auch dort hin. Vielleicht waren ja diese Jagdhunde nicht in ihren Zwingern. Mit ein paar von den  jüngeren konnte man gut Raufen, Zwicken und Nachrennen spielen. Oder man konnte die kleinen Schoßhündchen ärgern und sie so lange zum Kläffen bringen bis sie fast heiser waren. Auch gab es dort einen schönen Teich. Luna liebte jede Art von Wasser. Am liebsten natürlich schlammige Brühen. Bei diesem Wetter würde es rund um den Teich ganz tollen Schlamm geben, in dem man sich wälzen konnte. Sie musste nur dorthin kommen. Wenn sie erst einmal dort war, dann würde sie schon dafür sorgen, dass man sie nicht wieder weg schicken würde. Sie konnte ja ganz lieb dreinschauen und auf armen Welpen machen. Auch wenn sie jetzt schon recht groß war, wirkte das beim Rudel immer noch sehr gut. So leicht war es aber nicht von hier weg zu kommen. Fast überall ging dieser dumme Zaun bis tief in die Erde und das Tor war fest verschlossen. Nun, vielleicht hinter dem Gärtnerhäuschen. Dort hatte sie schon öfters Geräusche unter der Erde gehört. Dort würde der Boden weicher sein und es war recht nah am Zaun. Und los ging es. Flott hinter das Gärtnerhaus getrabt und eine passende Stelle am Zaun ausgekundschaftet. Und da waren ja auch wieder diese Geräusche unter der Erde. Also Mäuse, Kaninchen oder Maulwürfe waren das nicht. Diese Laute kannte die kleine Halbwölfin gut. Man kennt schließlich die Geräusche, die Beute macht. Luna war jetzt neugierig geworden. Das konnte interessant werden. Zum Glück war sie eine geschickte und schnelle Gräberin.

Als d´Bartand um die Ecke des Gärtnerhauses bog, traute er seinen Augen kaum. Luna buddelte nicht nur in der Erde, wie er erwartet hatte, nein, sie steckte bereits mit dem halben Oberkörper unter der Erde. Jetzt zog sie an etwas Holzartigem, dann ein Rumpeln und sie war ganz unter der Erde verschwunden. Der Gardist lief sofort zu der Stelle, wo Sekunden vorher noch die kleine Halbwölfin gewesen war. Dort klaffte eine tiefe Öffnung im Boden und ein lautes, überraschtes Quietschen war zu vernehmen. Aber das war nicht nur ein Loch, es war eine Art niedriger Tunnel, der sogar mit Balken abgestützt worden war. Einer dieser Balken fehlte jetzt beziehungsweise befand sich im Maul einer überaus überraschten Luna. Dann ließ sie das Holzstück fallen und begann zu knurren. Von irgendwo her im Gang kam ein erstickter Schrei, dann ein unflätiger Fluch als Erwiderung. D´Bartand überlegte kurz. Verstärkung holen? Alarm schreien? Abwarten und beobachten? Die Zeit für unauffälliges Verhalten schien vorbei, also kletterte der Gardist einfach in das Loch. Lichtschein kann von der einen Seite und eine Gestalt kauerte dort und hielt drohend einen Spaten in Richtung Luna. Diese hatte begonnen ein tiefes, bedrohliches Knurren von sich zu geben, ihre Augen funkelten im Licht der Laterne gespenstisch grün. Da hörte d´Bartand ein Geräusch von der anderen Tunnelseite. Blitzschnell drehte er sich um, sah eine weitere Gestalt und reagierte sofort. Die Pistole aus dem Gürtel gezogen und ein Schuss gellte durch die Nacht. Das Rapier wäre auch sinnlos unter diesen beengten Verhältnissen gewesen und gleichzeitig war das ein ausgezeichnetes Alarmsignal. Bei einem Schuss am Gelände des Palais Cardinal konnte man sicher sein, dass in allerkürzester Zeit ein Dutzend Kardinalsgardisten hier waren. Auch Luna ging jetzt zum Angriff über. Dieser Spaten schien keine Spielaufforderung zu einem „Zieh-am-Holzstück-Spiel“ zu sein und der Mann roch nach Aggression, Wut und Angriffslust. Fast ansatzlos sprang sie den Mann an und verbiss sich in seinen Arm und der Schurke war fast schon ausgeschaltet. Auf der anderen Seite war der Kampf ebenfalls bereits entschieden. Im engen Gang konnte der Schuss praktisch nicht fehlgehen.

Kardinal Richelieu schenkte seinem Stallmeister persönlich noch etwas von dem süßen, spanischen Wein ein, den sie beide so mochten. Sie saßen gemeinsam in einer gemütlichen Ecke von Richelieus Arbeitszimmer in bequemen Ohrensesseln. Gerade hatte d´Bartand das Zimmer verlassen, nachdem er persönlich Seiner Eminenz Bericht erstattet hatte. Auch Luna war natürlich im Zimmer und wirkte äußerst zufrieden. Das lag daran, dass nicht nur das Rudel wieder beisammen war, auch der riesige Fleischknochen an dem sie genüsslich kaute, hatte seinen nicht unerheblichen Anteil daran. „So viel Aufwand hat bisher noch niemand getrieben um in mein Palais einzudringen, das ist bedenklich“, meinte der Kardinal nachdenklich." „Der Fall wird lückenlos aufgedeckt werden, das verspreche ich Eurer Eminenz“, erwiderte Rochefort grimmig. „Leutnant de Valmorin verhört bereits persönlich die Schurken und ich denke, wir werden sehr bald erste Ergebnisse über die Hintergründe haben. Auch die Gärtner werden befragt. Schließlich hätte der Tunnel wahrscheinlich im Gärtnerhäuschen enden sollen. Ein Mitwisser oder Helfershelfer ist daher leider sehr wahrscheinlich. Auch dies wird bald geklärt werden, Eure Eminenz.“ Kardinal Richelieu nahm nun auch einen kleinen Schluck vom schweren Wein. „Ausgezeichnet, und ich bin auch mit diesem jungen Gardisten durchaus zufrieden. Es hat sich ausgezahlt, dass Ihr ihm ins Gewissen geredet habt.“ Nun war selbst der abgebrühte Geheimdienstchef ein wenig erstaunt. Selbstverständlich hatte Rochefort niemand davon erzählt, dass er mit d´Bartand über Lunas Ausbruch aus dem Garten geredet hatte. Das wäre nicht seine Art gewesen. Aber es war ein geflügeltes Wort, dass es nichts in Frankreich gab, das Richelieu nicht erfahren würde. Der Comte de Rochefort lächelte sanft und begann sich leicht zu entspannen.

 

Kapitel Winterfreuden

Schnee, Schnee, Schnee! Luna, die junge Halbwölfin, war begeistert. Es war ja so toll. Die vielen Gerüche, die da haften blieben, großartig! Und man konnte sich darin wälzen. Ja, und genau das tat sie auch ausgiebigst. Immer und immer wieder. Der Schnee war so angenehm kühl und erfrischend und man konnte den Geruch auch ein wenig auf sich selbst übertragen, da blieb er länger in der Nase. Die netten kühlen Temperaturen waren auch gut zum Laufen und Herumtollen. Fressen konnte man die weiße Pracht natürlich auch, es prickelte so fein auf der Zunge und am Gaumen und löschte den Durst. Die Flocken tanzten im Wind. Es war herrlich, dass das Rudel endlich wieder einen Ausflug raus aus der Stadt unternahm.

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Schnee, Schnee, Schnee! Verdammt, nahm das denn kein Ende? Der Wind trieb dem Reiter immer mehr dichte Flocken ins Gesicht. Er war schon völlig durchgefroren, selbst der dicke Wollmantel hatte seine Wirkung als Kälteschutz verloren. Er durfte keine Zeit verlieren, die Depeschen waren dringend. Darum hatte er auch nicht die üblichen Tagesetappen reiten können, wo an den großen Straßen fast immer Herbergen waren. Und dazwischen nur Eis und Schnee. Ach, ja und Kälte natürlich. Die Decke hatte letzte Nacht praktisch kein Schutz geboten und bei dem Schneetreiben war es so stockfinster gewesen, dass an ein Weiterreiten nicht zu denken gewesen war.

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Schnee, Schnee, Schnee! Endlich gab es genug davon. Niemand wusste mehr, wer zuerst die Idee gehabt hatte,  aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Der Pariser Hof auf Schlittenfahrt, welch prächtige Abwechslung. Die feine Gesellschaft hatte ihre Prunkschlitten herausputzen lassen. Es war ein Fest für die Augen, die Schlitten waren auf das Aufwendigste verziert, mit Figuren aus der Antike, natürlich nur edelste Hölzer, und an Blattgold hatte man auch nicht gespart. Andere Schlitten wiederum zierten aufwendige Tierschnitzereien, Adler, Löwen, sogar Elefanten. Wer nur Hirsche oder Wildschweine als Motiv hatte, wurde fast belächelt. Auch Elfenbein war großzügig verwendet worden. Dazu kam das aufwendige Zaumzeug für die Schlittenpferde, meist mit Silber verziert, und sogar bestickte Schabracken mit den Wappen der Adelsfamilien für jedes einzelne Schlittenpferd waren zu sehen, obwohl für Zugpferde Schabracken eher unüblich waren. Aber es waren ja auch keine gewöhnlichen Pferde. Der Madrider Sonderbotschafter fuhr mit vier Karthäuserschimmeln vor seinem Schlitten und der Wiener Gesandte hatte ebenfalls vier Schimmel, Kladruber aus bester Zucht.

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Schnee, Schnee, Schnee! „Genau unter diesen Massen von Schnee sollte man die ganze aufgeblasene Hofgesellschaft begraben“, dachte sich Rochefort, während er den Tross an Schlitten von seinem Pferd aus beobachtete. Dick eingehüllt in Biberpelze aus La Nouvelle-France und ständig Alkohol ins sich hineinschüttend, wie feiste Kröten mit falschem Fell – so sah der Stallmeister und Geheimdienstchef von Kardinal Richelieu den Pariser Adel und die ausländischen Diplomaten. Er selbst war zweckmäßig in Wolle und Leder gekleidet, selbstverständlich in Schwarz gehalten. Dieses nass-kalte Wetter behagte ihm nicht. Er selbst war abgehärtet und weitaus Schlimmeres gewöhnt, aber der Kardinal hatte gestern zu husten angefangen und besorgt blickte Rochefort durch den Schneefall zum Schlitten Seiner Eminenz hinüber. Richelieus Schlitten war nicht ganz so prächtig wie manch anderer, dafür hatte er eine Überdachung und wurde von sechs Friesenrappen gezogen, auf die Rochefort mit Stolz blickte. Die Aufzucht dieser Pferde hatte er neben all seinen anderen Aufgaben selbst überwacht, zwei waren sogar ein Geschenk von Generalissimus Wallenstein, auch wenn das bei Hofe besser nicht bekannt würde. Doch neben dem Gesundheitszustand des Ersten Ministers von Frankreich war Rochefort auch über die Verspätung des angekündigten Boten besorgt. Hoffentlich lag das nur am Wetter; es war einfach zu viel Schnee in letzter Zeit gefallen und die Wege nur schwer passierbar. Die Botschafter von Spanien und Österreich würden nach der großen Schlittenwettfahrt morgen vom König empfangen werden und Kardinal Richelieu brauchte dringend die Depeschen, die dieser Kurier überbringen sollte. Die Botschafter würden den französischen König bedrängen, die französischen Truppen vom Rhein abzuziehen. Doch die schriftlichen Bitten der elsässischen Städte, sich unter französischen Schutz stellen zu dürfen, würden den Ausschlag geben, dass Ludwig XIII. weiterhin die offensive Politik Richelieus unterstützte. Wenn, ja wenn, die Briefe noch rechtzeitig eintreffen würden!

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Irgendwie waren diese Schneekutschen lustiger als die normalen. Das lag vielleicht daran, dass sie die weiße Pracht gehörig aufwirbelten, wenn sie fuhren. Es war eine Freude ihnen nachzurennen. Sie waren zeitweise sogar recht schnell, nicht so schnell natürlich wie eine echte Luna, aber schnell genug, dass es Spaß machte sie einzuholen. Nur der „Schwarze Leitwolf“ war nicht immer begeistert, wenn sie mit den – „Schlitten“ hießen sie wohl – um die Wette lief. Immer wieder rief er sie zurück. Dabei wurde sie doch kaum müde von dem bisschen Laufen und Jagen ging im Moment nicht gut, da die vielen Menschen die Beute verscheucht hatten. Ah, jetzt war Herrchen zum „Roten Alphawolf“ in so einen Schlitten gestiegen, also nichts wie nach.... Hmm, aber lange hatte das nicht gedauert und jetzt stieg er wieder aus und blieb zurück.

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Rochefort hatte sich nach kurzer Unterredung mit Kardinal Richelieu entschlossen, dem Boten entgegen zu reiten. Der Bote und sein Pferd waren wahrscheinlich inzwischen erschöpft und der Stallmeister des Kardinals war ausgeruht und hatte ein frisches Pferd. Kurz überlegte er, ob er Luna zurücklassen sollte, aber bei diesem Schneetreiben konnte er sowieso nicht im vollen Tempo reiten und die Halbwölfin schien überhaupt nicht müde zu sein. Natürlich bestand die Gefahr, den Boten in der anbrechenden Dunkelheit zu verfehlen, aber von Norden her gab es nur eine Straße und diese würde der Mann wohl nehmen.

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Weiter würde er heute nicht mehr kommen. Er war nun auf der Spur des königlichen Trosses, aber sein Pferd war völlig erschöpft. Selbst der Hafer, den er immer als Kraftreserve dabei hatte, konnte jetzt nichts mehr ausrichten. Und auch er selbst war fast am Ende seiner Kräfte. Es war sinnlos durch die Nacht zu stolpern, sein Pferd würde zusammenbrechen und zu Fuß war es aussichtslos. Die nächste Poststation war fast zwei Tagesritte entfernt, da war der Tross wahrscheinlich näher. Der dichte Schneefall hatte selbst die Spuren der schweren Proviantschlitten fast völlig zugeweht. Aber da vorn war ein Licht, vielleicht ein Bauernhof. Etwas Wärme würde so gut tun...

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„Luna, hier! Bleib! Platz!“ Aber die Kommandos waren zwecklos, die Halbwölfin raste in die Dunkelheit. „Verdammt, ich hätte sie doch nicht mitnehmen sollen“, dachte Rochefort missmutig bei sich, „für so etwas habe ich jetzt keine Zeit, soll sie doch jagen, sie wird schon wiederkommen.“ Doch dann war ein Bellen zu hören, das offensichtlich nicht von Luna stammte. Es war tiefer und klang verärgert. Neugierig geworden wendete Rochefort sein Pferd vom Weg ab und folgte dem Bellen. Das erwies sich als Fehler. Es gab zwar eine Art Pfad, doch den konnte man in der Dunkelheit schlecht erkennen. Gar nicht erkennen konnte man, dass daneben eine mit Schnee gefüllte Grube war. Auch Rocheforts Pferd bemerkte dies einen Augenblick zu spät und knickte weg. Kopfüber stürzte der Graf in den Schnee. Die Landung war weich und er rollte sich auch geschickt ab, aber sofort merkte er, dass etwas nicht stimmte. Sein Pferd hatte weniger Glück gehabt und sich am rechten Vorderbein verletzt. Dann wurde es ein wenig turbulent. Zuerst kam Luna angelaufen, um ihm besorgt das Gesicht abzuschlecken, während er aufstand, um sich die Verletzung des Pferdes anzuschauen, dann war da ein kleines zotteliges Pony, nein, es bellte und war wohl ein riesiger Hund, dann lief auch noch eine Gestalt mit einer Heugabel und einer Laterne  auf ihn zu und, Moment, da war noch jemand und der hatte eine Pistole…

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Einige Minuten später saß Rochefort in einer gemütlichen Bauernstube am warmen Kamin. In seiner Hand hielt er ein Glas heißen Wein. Neben ihm saß der königliche Bote und gegenüber die Bauersleute. Zu ihren Füßen lagen Luna und Atlas, die sich ständig ein wenig zwickten und kniffen, aber sonst recht friedlich waren. Am oberen Treppenabsatz, der ins zweite Stockwerk führenden Holzstiege lugten drei Paar Kinderaugen hervor und beobachten die Szene. Es war wohl ein glücklicher Zufall, dass Luna Atlas gerochen hatte und sie daher zu diesem Bauernhof gelaufen war. Oder hatte sie die Hühner gerochen und Atlas hatte ihr klar gemacht, dass das keine Beute für sie war?

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Am nächsten Morgen strahlte die Wintersonne vom Himmel herab und auch der Wind hatte sich gelegt. Der Schnee glitzerte wie tausend Diamanten im Sonnenlicht, doch Rocheforts Miene war finster. Er hatte jetzt zwar die wichtigen Depeschen, aber was nützte das? Sein eigenes Pferd war zu schwer verletzt, um es reiten zu können, auch wenn zum Glück nichts gebrochen war. Und das Pferd des Boten hatte sich über Nacht nicht erholt. Es war fraglich, ob es sich je wieder ganz erfangen würde. Die Bauersleute hatten nur einen Ochsen für den Pflug und den Karren. Der Schlittentross hatte sicher früh und lange bei der nahegelegenen Burg eine Nachtrast eingelegt. Aber nahegelegen war eben relativ. Zwanzig Kilometer waren zu Fuß im Schnee eine weite Strecke und die Zeit drängte. Die Kinder der Bauern hingegen waren blendender Laune. Sie tollten mit Luna im Schnee herum und fuhren mit ihren kleinen Rodeln um die Wette einen Hügel hinunter. Da kam ihm eine Idee...

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Also doch, warum nicht früher? Spuren der Schlitten verfolgen und sie einholen! Gestern hatte man das Spiel noch verboten. Aber Herrchen machte es heute besonders schwer. Er hatte ihr das Geschirr umgelegt und auch die Leine genommen. Normalerweise mochte sie das nicht besonders, denn Geschirr und Leine bedeuteten „brav sein“ und nicht rennen. Aber heute war das anders. Herrchen hatte sich auf so einen ganz kleinen Schlitten gesetzt und hielt die Leine fest. Sie sollte so schnell laufen, wie sie nur konnte. Na, das konnte er haben. Sie würde als auch noch den Schlitten ziehen müssen beim Rennen. Na, kein Problem für eine Luna!

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Das Gelände war eben, oft sogar leicht abschüssig. Trotzdem – 20 Kilometer waren keine Kleinigkeit und so dachte Rochefort zum wiederholten Male bei sich: „Woher nimmt sie bloß die Kraft und die Ausdauer? Und diese Geschwindigkeit?“ Es kam dem Geheimdienstchef fast so vor, als wäre Luna so rasch wie ein Pferd. Das war natürlich Unsinn, aber die Schnelligkeit war trotzdem beeindruckend. Und die kleine Halbwölfin schien kaum müde zu werden. Sie war so rasant, dass Rochefort oft Mühe hatte mit den Füßen den kleinen Schlitten zu steuern. Zweimal war er bereits vom Weg abgekommen und im hohen Schnee stecken geblieben. Aber Luna schien das nichts auszumachen.

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Jawohl, da vorn waren die Schlitten, sehr gut, jetzt wäre sie doch fast müde geworden, war doch recht anstrengend. Und es gab auch ein paar neue kleinere mit nur einem Pferd davor. Und sie hatten Glöckchen und Schellen. Also nochmal volles Tempo. He, die fuhren ja teilweise nebeneinander – das war ein Rennen! Und sie hatten ohne sie angefangen, das ging ja gar nicht. Na, denen würde sie zeigen, wie schnell eine Luna sein kann!!

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„Geschafft, und noch rechtzeitig – das Rennen der Einzelschlitten ist noch im Gange“, dachte Rochefort erleichtert, „haben diese albernen Hofvergnügen auch mal einen Sinn.“ Doch dann beschleunigte die junge Halbwölfin noch mal. Sie war jetzt wirklich so schnell wie ein galoppierendes Pferd. Und natürlich nahm sie keine Rücksicht, weder auf die Hofdamen, die ihre Favoriten anfeuerten, noch auf die Teilnehmer des Rennens und schon gar nicht auf den Comte hinter sich auf der Kinderrodel. Kreischend wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen stoben die Gesellschafterinnen der Königin auseinander, als die rasende Luna durch sie hindurchpreschte. Auch zwei der Rennschlittenpferde erschraken und stiegen hoch. Zwei Teilnehmer weniger… Rochefort wurde es jetzt sogar etwas mulmig. Eigentlich war es ein tolles Gefühl so über den Schnee zu gleiten und die Geschwindigkeit berauschte ihn zusätzlich. Aber da waren die Hufe der Pferde und die Kufen der größeren Schlitten... Und fast hatte Luna die vordersten Rennschlitten eingeholt. Vielleicht sollte man sein Glück nicht herausfordern und da war eine hohe Schneewechte…

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„Und dann habt Ihr auch noch das Schlittenrennen des Adels gewonnen?“

„Nicht ganz, Eure Eminenz, ich bin abgesprungen, als Luna mitten ins Rennen hineingelaufen ist.“

„So, so, aber sie war doch als erste im Ziel, oder?“

„Das ja, aber sie hatte auch keinen Ballast mehr zu ziehen und war so eine Art Quereinsteigerin!“

„Trotzdem hat sie den ersten Preis wohl verdient.“

„Ihr scherzt, Eure Eminenz, was soll Luna mit der Gunst einer Königlichen Privataudienz anfangen? – Und ich verzichte dankend.“

„Nun, die Audienz wird in der Königlichen Küche stattfinden und ich denke Luna wird zufrieden sein…“

Kapitel Ein perfekter Plan

„Das ist Euer genialer Plan?“, der Mann mit den leicht schiefen Zähnen verzog verächtlich die Mundwinkel. „Ihr glaubt wirklich, dass dieses „Ablenkungsmanöver“ ausreicht, um an den Sicherheitsvorkehrungen eines Kardinal Richelieu vorbeizukommen?“
„Bursche, du vergisst mit wem du sprichst. Mein Plan beruht auf wochenlanger Beobachtung durch meine Leute. Und die einmalige Gelegenheit, dass dieser Verräter von Kardinal auf Monate, vielleicht Jahre sein Palais verlässt, darf man nicht verstreichen lassen. Das Petit Luxembourg ist keine Festung wie das Palais Cardinal. Die gesamte Kardinalsgarde kann dort gar nicht Quartier nehmen und es hat auch eine viel übersichtlichere Baugestaltung. Es wurde in den letzten Wochen für die Bedürfnisse von Richelieu umgestaltet und ich konnte zwei Leute von mir in die Reihen der Hilfskräfte einschleusen. Die Lage des Archivs ist mir inzwischen bekannt und ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass die wichtigsten Papiere übersiedelt wurden.“
Der junge Mann hatte sich in Eifer geredet und bemerkte nicht, wie skeptisch sein Gegenüber immer noch war. Er begann mit Händen und Füßen zu gestikulieren. Fast hätte er mit dem Ärmel seines teuren Spitzenhemdes die Gläser von dem kleinen Beistelltischchen gewischt und immer mehr begeisterte er sich für die Details seines „perfekten Planes“.
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Luna begann die neue Umgebung zu erkunden. Natürlich hatte sie bei den vorigen Besuchen bereits so einiges erschnüffelt, aber heute hatte man ihre Schlafdecke hierher übersiedelt und auch das restliche Rudel schien hier eine neue große Höhle zu beziehen. Einige Gerüche waren natürlich vertraut. Da war der große Ledersessel des roten Leitwolfes, an dem sie sich als Welpe die Zähne geschärft hatte, einiges, was „Kleidung“ genannt wurde, weil manche Rudelmitglieder wohl froren, da sie ja so ein kärgliches Fell hatten – und natürlich die Holzpuppe, die ihr Herrchen, der Schwarze Wolf,  Luna als Kauspielzeug geschenkt hatte. Die Puppe hatte einen Strick um den Hals und es war ein tolles Spiel mit Herrchen damit um die Wette zu ziehen. Er nannte die Puppe „Gaston“ und lächelte dabei immer ein wenig grimmig.
Aber wenn man jetzt für längere Zeit bleiben würde, dann musste man natürlich alles genau erkunden. So, gut, hier ging es also zur Küche, gar nicht so weit weg – recht praktisch. Ah, hier oben schliefen die niederrangingen Mitglieder des Rudels, Bernadette, die Zofe, die immer das Fressen brachte, und Christian, der Page, der das Privileg hatte Luna zu kraulen. Nun noch den Garten inspizieren, wo waren die besten Plätze um Knochen für den Notfall zu vergraben und wo lieber doch nicht, weil der rote Leitwolf sonst einen Tobsuchtsanfall bekam wegen irgendwelcher unnützer Stachelpflanzen namens „Rosen“.
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Wie so oft, wenn eine Veranstaltung in der Umgebung des Kardinals stattfand, war der Graf de Rochefort doppelt vorsichtig. Man würde also diesmal „alfresco“ speisen. Im Grunde hatte der Geheimdienstchef von Richelieu nichts dagegen im Freien zu speisen, im Gegenteil, er liebte die Natur. Hier fühlte er sich wohl und auch der Schöpfung näher. Allerdings war ein gepflegter Park nicht gerade das, was Rochefort unter freier Natur verstand. Und es waren Planen gespannt worden, quer durch den Park des Petit Luxembourg, damit die erlauchten Gäste nicht zu viel Sonne abbekamen. Außerdem wurden natürlich die Speisen direkt aus der Küche angeliefert, auf silbernen Platten, und der Wein in gläsernen Kristallkaraffen serviert. Die seidenen Pölster für die Höflinge taten ein Übriges dazu, dass der Stallmeister von Kardinal Richelieu verächtlich die Stirn runzelte.
 
Aber wie immer war Rochefort auch um die Sicherheitslage besorgt. Hier im Ausweichquartier war alles nicht so übersichtlich. Manchmal ärgerte sich der Graf über die Ideen seines Dienstherrn. Ein Theater ins Palais Cardinal einbauen, einen gesamten Flügel dafür umbauen und gleich die Bildergalerie auf die doppelte Größe erweitern und wenn man schon dabei war, alle Böden erneuern, und so weiter. Das würde fast zwei Jahre dauern. Hier hatte man nicht einmal richtige Stallungen und kaum Platz für ein Drittel der Garde. Und das Palais konnte man in der Zwischenzeit ja auch nicht unbewacht lassen. Schließlich waren dort neben der enormen Kunstsammlung von Kardinal Richelieu auch das Hauptarchiv des Geheimdienstes und das fast ebenso große Archiv mit Staatspapieren des Kardinals. In das Petit Luxembourg war nur das Notwendigste und Aktuellste übersiedelt worden. Mit dem Kardinal war nicht zu reden gewesen. „Was sein muss, muss sein!“, hatte er gesagt und die Debatte einfach beendet.
Wenigstens war dies ein eher kleineres Fest, mit unter hundert Gästen fast intim. Da würde man auch mit reduzierter Garde als Bewachung auskommen. Trotz zunehmender Hitze wie so oft ganz in Schwarz gekleidet, schlenderte Rochefort durch den Garten. Natürlich nicht zum Vergnügen, er kontrollierte zum wiederholten Male mögliche Sicherheitslücken, die Aufmerksamkeit der Kardinalsgarde und natürlich die feiernden Gäste.
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„So ernst, mein Lieber, Ihr solltet Euch auch ein wenig amüsieren.“ Mit diesen Worten hatte sich einfach eine bezaubernde Schönheit bei dem Grafen geschickt eingehängt und begann mit ihm zu flanieren. Das war natürlich Mylady de Winter, wer sonst hätte es gewagt sich so frivol und doch gleichzeitig so elegant dem Comte de Rochefort zu nähern. „Eine hinreißende Begleitung habt Ihr schon, jetzt fehlt nur ein Glas exquisiten Weines für Eure andere Hand“, und schon winkte sie einem Diener, der sogleich das Gewünschte brachte. Für das geübte Auge wirkte Rocheforts Lächeln ein wenig gequält, doch für ein paar Höflichkeitsfloskeln reichte es – man hatte ja ausgezeichnete Manieren, auch wenn man gern den Unnahbaren spielte.
„Gibt es auch einen wichtigen Grund für diesen angenehmen Spaziergang, Mylady?“, fragte dann Rochefort, immer noch sehr höflich. „Nun mein Guter, vielleicht interessiert Ihr Euch für etwas Hofklatsch. Da ist zum Beispiel der junge Baron de Baseile, charmant, von edler Geburt und recht ansehnlich. Aber man hört, er sei in den falschen Kreisen unterwegs, nur durch Glück nicht direkt in den letzten Umsturzversuch von Gaston verstrickt, da er just zu dem Zeitpunkt an einem Fieber litt, und jetzt begierig etwas zu unternehmen. Und er soll versucht haben, sich sogar mit der Pariser Unterwelt einzulassen…“ Die Gräfin de Winter erzählte all dies in einem leichten Plauderton, als unterhalte sie sich über die neueste Mode. Sogar ihre Gesten und die Haltung des Fächers zeigten an, dass sie sich über Belanglosigkeiten unterhielten.
Der Comte de Rochefort war bei den letzten Worten natürlich aufmerksam geworden. Er kannte den jungen Baron nicht persönlich, aber er stand auf der Gästeliste des kleinen Festes. Sein Blick wanderte über den Park. Noch waren nicht alle Besucher eingetroffen. Daher schlenderte er mit Mylady im Arm zum Zeremonienmeister Seiner Eminenz. Ein kurzer Blick auf dessen Liste überzeugte ihn, dass der Baron de Baseile noch nicht hier war. Bei den Festen von Kardinal Richelieu wurde immer sehr genau darüber Buch geführt, wer anwesend war und wer nicht.
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Luna schnüffelte inzwischen auf der anderen Seite des Parks. Aus der Küche und aus der Parkmitte strömten allerlei unterschiedliche Gerüche auf sie zu. Ah, heute war also „Restetag“ – köstlich, das war einer dieser Tage, wo die Menschen im Freien die unterschiedlichsten Speisen zu sich nahmen und dann Teile davon achtlos wegwarfen – wie dumm Menschen doch manchmal waren. Andererseits war diese Dummheit auch ein Vorteil für eine geschickte Pirscherin wie Luna. Diverse nur halb abgenagt Knochen, Pastetenkrusten mit Füllung, sogar Lachsstücke hatte es beim letzten „Restetag“ gegeben. Luna schleckte sich in freudiger Erwartung schon mal mit ihrer langen Zunge ums Maul. Doch dann drang ein anderer Geruch zu ihr vor und sofort waren die Leckereien vergessen.
 
„Mein Auftritt beginnt“, dachte der Baron de Baseile. Elegant entstieg er der Kutsche, glättete noch einmal kurz sein mit Goldfäden durchwirktes Wams aus feinster chinesischer Seide. Seine Aufmachung entsprach eher der bei einem Ball bei Seiner Majestät Ludwigs XIII., als bei einer kleinen Festivität im Garten. Sein Ensemble war fast formvollendet, von den goldenen Straußenfedern bis zu den mit glitzernden Steinen besetzten Schuhen, die wohl eher für einen Tanzsaal bestimmt waren. Einige Damen klappten ihre Fächer auf und der Hofklatsch verstummte für einen Moment. Neid und Bewunderung spiegelte sich auf den Gesichtern so mancher Höflinge.
Rochefort hingegen musste unwillkürlich an George Villiers, den ehemaligen Herzog von Buckingham, denken, diesen widerlichen englischen Angeber und Gecken. Doch dann veränderte sich die Szenerie. Ein livrierter Diener brachte einen Hund aus der Kutsche des Barons. Welch ein Kontrast! Es war ein seltsam räudig wirkender Mischling. Ein breites, kurzes Maul, wie die Bulldoggen, die man in England bei Tierhetz-Spektakeln verwendete, aber der Körperbau eines Wolfes, das Fell fast schwarz, aber nicht glatt, sondern zerzaust, sodass man nicht sagen konnte, ob Teile davon herausgerissen worden waren oder es eine Laune der Natur war. Das Tier stieß ein heiseres Knurren aus, pure Aggression, und war von dem Diener fast nicht zu bändigen. Die dünne Lederleine schien auch viel zu schwach um den Hund zu halten. Die am nächsten stehenden Höflinge traten unwillkürlich ein paar Schritte zurück.
 
Ein fremder Wolf im Revier und er schien ausgehungert und sogar krank zu sein. Das war nicht tolerierbar! Luna näherte sich zuerst noch vorsichtig, doch resolut. Sie hatte ihr Fell gesträubt. Der dunkle Haarkamm bildete ein Linie vom Nacken über den gesamten Rücken bis hin zur Schwanzspitze. Die Rute der Halbwölfin war waagrecht in der Luft. Dann ließ sie ein tiefes Knurren verlauten, welches das allerletzte Gespräch im Park zum Verstummen brachte. Eine junge Comtesse fiel in Ohnmacht und landete in einer großen Schüssel mit Wein, Rosenblüten, Fichtennadeln und Honig. Was zu einem anderen Zeitpunkt vielleicht Heiterkeit oder milden Spott verursacht hätte, fand jetzt kaum Beachtung. Alles blickte wie gebannt auf die bevorstehende Konfrontation. Selbst die Kardinalsgardisten waren wie erstarrt. Der Eindringling hatte auf die Drohgebärde nicht angemessen reagiert. Luna spannte jeden Muskel ihres voll durchtrainierten Körpers an. Aus heißer Wut wurde eiskalter Kampfeswille. Die Halbwölfin stürmte los, mit einer Kraft und Geschwindigkeit, dass die Zuseher den Atem anhielten.
Ein zufriedenes Lächeln umspielte die Lippen des Barons de Baseile. Er zückte sein Spitzentaschentuch und betupfte ganz leicht seine Stirn. Der Diener ließ darauf die Bestie von der Leine; er hätte sie aber so wie so kaum mehr halten können.
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Auf der dem Geschehen abgewandten Seite schlich inzwischen ein Mann mit leicht schiefen Zähnen durch den Park. Er war ebenfalls als Diener des Barons angekommen, doch sein Ziel war nun die Fensterfront im Innenhof des Anwesens. Er war skeptisch gewesen, aber bis jetzt schien der Plan aufzugehen. Bis hin zum letzten Gardisten starrten alle auf die beiden Hunde. Flink huschte er zu der Fensterreihe, die er sich eingeprägt hatte. Und Fortuna schien ihm noch dazu gewogen. Da war ein Fenster nicht ganz geschlossen. Kleine Mauervorsprünge reichten dem Mann voll und ganz. In wenigen Augenblicken war er oben beim Fenster und er stieg sofort hindurch. Doch dann erwartete ihn eine unliebsame Überraschung. Am Fenster war eine Zofe gestanden und durch den Vorhang nicht zu sehen gewesen. Es war Bernadette, die ans Fenster geeilt war, weil sie ihre geliebte Luna draußen so böse knurren gehört hatte. Sie stieß einen Schrei aus, halb aus Verblüffung, halb aus Angst. Der Eindringlich reagiert sofort. Er packte Bernadette und hielt ihr den Mund zu. Brutal schlug er sie nieder und vergewisserte sich, dass sie bewusstlos war. Kurz dachte er daran seinen Dolch zu ziehen und sein Werk zu vollenden. Aber wozu Zeit verschwenden, vielleicht hatte ja doch jemand den Schrei gehört. Er hatte noch Arbeit vor sich und schnell blickte er sich um. Wenn er sich auch umgehört hätte, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass es im Park schon wieder still geworden war...
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Luna wusste, dass sie sich nicht auf einen langen Kampf einlassen durfte. Das war kein Rangordnungskampf mit Imponiergehabe, sondern eine Auseinandersetzung auf Leben und Tod. Und der Gegner war sehr kräftig, wenngleich wahrscheinlich nicht so schnell und wendig. Wenn er aber einmal zugebissen hatte, würde der wohl entweder nicht mehr loslassen oder aber zumindest eine fürchterliche Wunde reißen. Daher war die Taktik klar. Mit einem Hechtsprung über mehre Meter schoss die Halbwölfin auf ihren Gegner zu. Dann vollführte sie eine Art Rammstoß, den die menschlichen Zuschauer kaum mitbekamen, so schnell ging alles. Auch der Bulldoggenmischling war für einen winzigen Augenblick überrascht. Das genügte – der Gegner hatte seine Kehle nicht gedeckt. Dann hört man ein Knacken und ein entsetztes Aufjaulen.
Der junge Baron erbleichte. Er hatte erwartet einen minutenlangen Kampf zu sehen. Das war doch die Hauptablenkung! Außerdem hatte er sich auf ein blutiges Spektakel gefreut. Und dann auf das Gesicht dieses aufgeblasenen Rochefort, wenn seine geliebte Luna zerfetzt am Boden lag. Welche Genugtuung – die Liebe zu Tieren, Hunden wie Pferden, war doch der Schwachpunkt der „wandelnden Klinge des Kardinals“! Und jetzt war alles nach ein paar Sekunden vorbei und diese verdammte Halbwölfin schien sogar unverletzt. Wofür hatte er diesen räudigen Köter trainieren lassen in den finsteren Hinterhöfen von Paris, wenn der nicht einmal ein paar Sekunden durchhielt. Was für eine Verschwendung.
Doch Vorsicht, Rochefort kann auf ihn zu. „Ihr seid verhaftet wegen Gefährdung Seiner Eminenz und der anwesenden Gäste“, knurrte der Graf und er klang jetzt auch fast wie ein Wolf. „Was fällt Euch ein?“, erwiderte de Baseile erbost und seine Hand glitt wie von selbst zum Rapier. Das erwies sich als Fehler. Vielleicht nicht ganz so schnell wie zu vor Luna, aber viel zu schnell für den jungen Baron, reagierte der Comte de Rochefort. Blitzartig zog er sein Rapier, aber in ungewöhnlicher Weise. Ein gerader Angriff, direkt aus der Ziehbewegung ohne Drehung und der Griff des Rapiers donnerte ins Gesicht des überraschten Gegners. Die Engländer nannten das „Pommel strike“. Die Technik war uralt, galt aber inzwischen als ungalant und wurde jetzt eher im Straßenkampf verwendet. Effektiv war sie aber trotzdem. Wieder war ein Knacken im Park zu hören, diesmal war es die Nase des Barons, der daraufhin wimmernd zu Boden ging. Ein Schwall von Blut ergoss sich über die teure Kleidung des Gecken und auch die Kardinalsgarde war schon bereit ihn abzuführen.
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Wo aber war Luna abgeblieben? Der Halbwölfin blieb keine Zeit ihren tödlich verwundeten Gegner zu beobachten. Da war ein leiser Schrei gewesen. Ein Hilfeschrei eines Rudelmitgliedes! Zwar war das wohl ein niederrangiges Rudelmitglied, aber eindeutig war da Angst in dem Schrei gewesen. Heute musste sie also erneut beweisen, wie sie mit Gefahren für das Rudel umging. Sofort waren die Ohren wieder angelegt und volles Tempo! Spätestens jetzt war klar, dass Fortuna doch nicht auf den Einbrecher herablächelte. Für Luna reichte nämlich eine kleine Gartenbank, die an der schattigen Fassade der Hauswand stand um als Absprungbasis zu dienen. Und schon war sie durch das Fenster. Der Eindringling kniete gerade an einer Truhe mit komplexem Schloss, als er sich wegen eines Geräusches umdrehte und eine wütende Halbwölfin mit blutigem Maul erblickte. Der Mann war ein Profi. Er wusste sofort – der Dolch war keine Option. Der wertvolle mit Intarsien verzierte Kasten war seine einzige Chance. Blitzschnell war er auf dem hohen Schrank. Dort kauerte er auch noch, als ihn kurze Zeit später die Kardinalsgarde „rettete“.
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„Eure Eminenz, das Gartenfest kann jetzt gerne fortgesetzt werden.“ Rochefort verbeugte sich kurz vor dem Ersten Minister Richelieu. „Ich bitte aber mich zu entschuldigen, ich denke unsere beiden Gefangenen werden noch heute über alle Hintergründe ihres Vorhabens gerne berichten.“ Und auf den kurzen fragenden Blick des Kardinals fügte er kalt lächelnd hinzu. „Nun, ich werde sie zusammen mit Luna besuchen…“

Kapitel Schwanensee

„Nach Asche, Pfingsten, Kreuz, Luzei, gedenke, dass Quatember sei.“ Und es war eine der vier Quatemberfastenzeiten und zwar jene, die nach dem Fest zu Ehren der heiligen Luzia am 13. Dezember angesetzt war. Seine Majestät Ludwig XIII war ein religiöser Mann und eine Fastenzeit war selbstverständlich einzuhalten, auch wenn es in der Adventzeit besonders schwer erschien. Aber es wäre nicht die französische Hofgesellschaft gewesen, wenn man nicht eine Lösung für das „Problem“ parat gehabt hätte: Ein vorweihnachtliches Winterfest in den Hortillonages von Amiens. Honoré d’Albert, Herzog von Chaulnes, Gouverneur der Picardie und Marschall von Frankreich wurde die Ehre zuteil, der Gastgeber zu sein. Seine Besitzungen lagen nördlich von Paris und waren selbst im Winter gerade noch gut erreichbar. Die Hortillonages waren ein sumpfiges Gebiet, von zahlreichen Kanälen durchzogen, die seit dem Mittelalter für Obst-und Gemüseanbau genutzt wurden. Dieser Wasserreichtum war der eigentliche Grund für die Festlichkeit. Es gab dort zahlreiche Fischteiche und kleinere Flüsse voller Karpfen, Forellen, Hechte und anderer Speisefische. Diese sollten der adeligen Gesellschaft über die Fastenzeit hinweg helfen. Dutzende Diener, Fischer und Köche waren vorausgeschickt worden um alles vorzubereiten. Aufwendige Fischgerichte waren kreiert, Meeresfrüchte aller Art von der nahen Küste herbeigeschafft worden und natürlich wurden Froschfänger und Schneckensammler in die Feuchtgebiete geschickt.

Die Halbwölfin Luna bekam von all der Hektik und den Vorbereitungen nur wenig mit. Für sie war nur wichtig, dass es endlich wieder raus aus der Stadt ging und das mit dem gesamten Rudel. So richtig toben, rennen, jagen –  ja, das war das wahre Leben. In den Gärten und Parkanlagen von Paris ging das oft nicht so richtig. Der schwarze Wolf Rochefort war lange weg gewesen und in seiner Abwesenheit gab es keine langen Ausflüge. Natürlich hatte sie auf eigene Faust Erkundungen durchgeführt, aber seltsamerweise war das beim restlichen Rudel unbeliebt. Etwas sonderbar war, dass diesmal die Jagdhunde nicht mitdurften. Natürlich waren diese einer Luna nicht gewachsen, weder an Ausdauer noch an Stärke, aber sie zu necken und mit ihnen um die Wette zu laufen war trotzdem sehr nett. Zum Glück war ihre Sorge unbegründet, dass diese ekelhafte Leine zum Einsatz kam, denn manchmal war dies so, wenn der rote Leitwolf mit seiner Kutsche fuhr. Diesmal hatte aber Rochefort zum Kardinal gemeint: „Eure Eminenz, Ihr habt gesagt, Ihr wolltet Eure Ruhe und etwas Frieden auf der Reise. Könnt Ihr Euch etwas Besseres vorstellen als eine freilaufende Luna, die bei Eurer Kutsche patrouilliert und mich, der neben der Kutsche reitet?“ Richelieu hatte fast etwas spöttisch gelächelt und die Leine war kein Thema mehr gewesen.

Die Tische an der herzoglichen Tafel bogen sich vor Köstlichkeiten. Pilzcremesuppe mit Schnecken, Forellenpastete, Karpfen in Aspik, Lachstörtchen, Froschschenkel in Knoblauchsauce, Hummer und Flusskrebse, dazu die edelsten einheimischen Weine und natürlich auch solche aus Italien. „So sind mit dem Fasten alle Getränke vereinbar, welche nur zur Stillung des Durstes oder zur Förderung der Verdauung dienen, wie Bier, Wein, Kaffee, Tee, Limonade, Zuckerwasser, aber nicht solche Getränke, welche nur Speisen in flüssigem Zustande sind und zur Ernährung dienen, wie Milch.“ Mit dieser Regel konnte der französische Adel gut leben. Auch ein paar Schildkröten und natürlich etliche Austern und Muscheln hatte man herbeigeschafft, ebenso Hummer und Krabben.  Da Wasservögel, die sich von Fischen ernährten, ebenfalls als Fastenspeise galten, war auch die Population an Wasserhühnern, Haubentauchern und Reihern stark dezimiert worden. Und selbstverständlich war Brot gestattet und wer konnte es den Köchen in der Vorweihnachtszeit übel nehmen, wenn im Brot exotische und einheimische Früchte, verschiedene Nüsse, Mandeln, Honig und exklusive Gewürze waren. Darum musste man es noch lange nicht „Kuchen“ nennen.

Trotz der vielen Reste, die von den Tischen fielen, begann sich die Halbwöfin ein wenig zu langweilen. Eine ordentliche Jagd hatte es nicht gegeben, auch war das Gebiet zu wenig bewaldet gewesen um richtig große Beute zu finden. Nun gut, es gab viele Fischabfälle, auf denen man sich wälzen konnte. Das verströmte einen sehr angenehmen intensiven Geruch. Aber wenn man diesen Geruch nicht ausnutzen konnte, um sich an eine Beute heranzuschleichen, war es nur der halbe Spaß. Am Abend gab es eine Art Suchspiel. Eine Dame, die alle „Herzogin“ nannten, hatte etwas versteckt, das man „Smaragdcollier“ nannte. Bedienstete in bunten Gewändern rannten wild durcheinander wie ein Hühnerhaufen. Auch die blauen und die netten roten Umhangträger beteiligten sich emsig an dem Suchspiel. Selbst der schwarze Wolf schien sich suchend umzublicken. Man hatte versucht Luna in das Spiel einzubinden. So ein Suchspiel war ja eine nette Abwechslung. Doch auch die Herzogin schien sich in etwas gewälzt zu haben, das Parfum hieß. Der Geruch war penetrant süßlich und wenig appetitlich. Hatte Luna „gewälzt“ gedacht? – nein, gebadet hatte sie wohl darin! Und die Halbwölfin erinnerte sich, dass eine Zofe das Zeug auch noch mit einer Flasche versprüht hatte. Die Möbel stanken danach, alles, was die Herzogin berührt hatte, und das waren zahlreiche Gäste beim Tanz gewesen, selbst die Gläser und Teller hatten den Gestank angenommen. Nun, Luna hatte also zahlreiche Dinge gefunden, die nach Herzogin rochen, aber man schien nicht zufrieden zu sein. Ein Smaragdcollier war nicht darunter und als man wollte, dass sie nach Personen suchte, die nach Herzogin rochen, fand sie zwei Herzöge, acht Grafen, fünf Bischöfe, etliche niedere Adelige, ein paar Musketiere und Kardinalsgardisten und dutzende Dienstboten.

Rochefort, der sich zu Anfang noch etwas von Lunas Spürnase versprochen hatte, war sehr bald klar, dass man so nicht weiterkommen würde und betrachtete die Bemühungen mit zunehmendem Amüsement. Zwar konnte man so einen Diebstahl nicht auf die leichte Schulter nehmen, aber die „Resultate“ die Luna präsentierte, erheiterten ihn. Die Hofgesellschaft wurde nicht müde, die Halbwölfin mit Leckereien zu versorgen, damit sie die Spur aufnahm. Und Luna spielte natürlich mit. Der Graf hatte auch als einer der wenigen Gäste erkannt, dass das teure Parfum der Herzogin großzügig überall versprüht worden war. Er versuchte daher, sich an die Ereignisse zu erinnern. Bei der Eröffnung hatte Charlotte-Claire-Eugénie d'Albert d'Ailly, duchesse de Chaulnes, das Collier sicher noch getragen. Als Gastgeberin war sie immer im Mittelpunkt des Geschehens gewesen und hatte das Fest nicht zwischendurch verlassen. Da er wie immer für die Sicherheit des Ersten Ministers Kardinal Richelieu zuständig gewesen war, hatte der Graf von Rochefort auch die Gäste beim Bankett beobachtet, wie sie die Fasttage verhöhnten und Essen in sich hineinstopften, als gäbe es kein Morgen mehr. Da hatte die Herzogin ihre Smaragde immer noch gehabt. Dann konnte sie das teure Schmuckstück nur beim Tanzen verloren haben, oder besser gesagt, jemand hatte es geschickt an sich gebracht. Ziemlich dreist und dann kam eigentlich nur jemand von Adel in Frage. Die Tänze hatten natürlich viele Partnerwechsel, Hand-und Armtouren, es konnte fast jeder gewesen sein, der mitgetanzt hatte. Rochefort seufzte innerlich. Das waren fast zweihundert Verdächtige, so würde er ebenfalls nicht weiterkommen. Es war ja auch nicht seine Angelegenheit, obwohl – ein adeliger Trickdieb, der geschickt genug war bei Tanz ein Collier zu stehlen, war schon interessant und ein wenig Besorgnis erregend.

Plötzlich kam Gemurmel auf. Rochefort unterbrach seine Überlegungen und warf einen Blick in die Runde. Luna hatte wieder eine Spur aufgenommen und trabte auf eine Person zu. Diesmal aber schienen auch der dümmste Höfling und die nach Anerkennung gierenden Möchtegerndetektive zu erkennen, dass man so nicht weiterkam, denn Luna lief in Richtung des Königs! Der Graf erinnerte sich, dass Seine Majestät selbstverständlich der Gastgeberin die Ehre eines Tanzes gewährt hatte. Also hatte auch dieser einen Hauch des unseligen Parfums abbekommen. Zwei dienstbeflissene Musketiere traten zwischen Ludwig XIII und die junge Halbwölfin, um den Weg zu versperren. Der Geheimdienstchef des Kardinals war nicht besorgt um den König und auch nicht um Luna. Aber die Musketiere konnten verletzt werden, wenn sie so dumm waren Luna anzugreifen, obwohl sie sich nur friedlich schnuppernd näherte. Rochefort konnte diesen Ärger nicht gebrauchen. Daher kam ein kurzes: „Luna – hierher!“, und sofort blickte die Angerufene auf und rannte auf ihn zu. Mit atemberaubender Geschwindigkeit, aber geschickt ein paar aufkreischenden Hofdamen ausweichend, raste sie auf den Stallmeister Seiner Eminenz zu, bremste ab und blickte ihn an. Sie musste nicht lange warten, da erhielt sie ein Stück getrockneten Fisch. Dieser war beim Hofbankett nicht so beliebt gewesen, bei Luna aber umso mehr. Dann ließ sie sich auch noch vom vielleicht gefährlichsten Kämpfer Frankreichs streicheln und sogar den Bauch kraulen. So manche adelige Dame klappte ihren Fächer auf, in der Fächersprache ein Zeichen der leichten Empörung, und doch seufzte die eine oder andere hinter ihrem Fächer beim Anblick des stattlichen Mannes, der seine Wölfin liebkoste.

Tags darauf stand ein Ausflug zu den Wiesen und Weihern auf dem Programm. Und es waren ein paar späte Gäste eingetroffen. Unter ihnen war der Sondergesandte von Christian IV, König von Dänemark und Norwegen. Dieser war nach Frankreich gekommen um wieder einmal auf die Wichtigkeit seines Königs hinzuweisen, der immer mehr an politischer Bedeutung verloren hatte seit dem schmählichen Frieden nach den militärischen Niederlagen gegen Tilly und Wallenstein und dem immer mehr an Einfluss gewinnenden Schweden.

Der Gesandte und seine Politik waren Luna klarer Weise völlig egal, sogar Rochefort hatte ihn fast gänzlich ignoriert. Wenn da nicht das Gastgeschenk für den König gewesen wäre. Das Gastgeschenk hieß Eyk und war ein zweijähriger Jämthundrüde. Natürlich wusste Luna nicht, dass dieser aus Jämtland stammte, einer Region die seit Jahren wechselseitig von Schweden und Dänemark beansprucht wurde und er als Zeichen der Größe Dänemarks dienen sollte. Wichtig war, dass er beachtliche 65 cm Schulterhöhe hatte und knapp über 30kg wog, ein graues wolfsähnliches Fell und Zeichnung besaß und dass er gerne wild spielte. Es war ein Toben und Zwicken, ein Balgen und Hetzen, Rennen und Springen, als die beiden sich begegneten. Dem Sondergesandten wurde Angst und Bange und er glaubte, die beiden würden sich zerfleischen. Rochefort klärte ihn auf, dass sich die Tiere anscheinend gut verstanden und sich so begrüßten. Das wäre ein gutes Zeichen, denn Luna akzeptiere als Spielpartner nur gesunde, kräftige Hunde. Der Botschafter war nicht ganz überzeugt, als er Luna und Eyk zähnefletschend im Sumpf toben sah, meinte aber, diese Hunde wären auf die Jagd auf Elche und sogar Bären und Luchse gezüchtet worden und es gäbe sie seit der frühen Wikingerzeit. Der Graf erwiderte lächelnd, dass dies eine lange Ahnenreihe sei, Wölfe aber wohl seit biblischer Zeit Jäger wären.  

Endlich mal ein Spielkamerad, der nicht gleich winselte, wenn man ihn herzhaft zwickte. Luna war begeistert. Man konnte ihn auch rempeln und knuffen und er hielt toll dagegen. Daher begann sie sogar mit ihm das „Du bist meine Beute, ich bin deine Beute – Spiel“, bei dem man sich gegenseitig jagte und versuchte dem jeweils anderen ins Hinterteil zu zwicken. Sie war etwas schneller, aber Eyk war sehr wendig und konnte durchaus mithalten. Und er war ausdauernd und zäh. Fein, Luna würde das auch stundenlang aushalten, mal rennen, dann wieder zwicken, eine kurze Erfrischung im Teich, dann den anderen umwerfen und drüber rollen und so weiter. Die beiden waren unermüdlich. Während die Hofgesellschaft ob des erstaunlich warmen Wetters überlegte, ob man ein Picknick wagen könne, mit genügend Feuerschalen ringsum, dachten die beiden Raufbolde nicht an eine Pause. Einige Zeit später forderte Eyk Luna zu einer echten Jagd heraus. Und er begann gleich, in dem er einem Hasen nachjagte. Er war erfolgreich, was Luna ein wenig ärgerte. Sie hatte den Hasen natürlich auch gerochen, aber der  Jämthund hatte die Jagd eröffnet und war losgestartet und hatte sich so einen Vorsprung verschafft. Also musste neue Beute her. Hmm – was war denn das dort drüben im See? Dort schwammen zwei weiße Langhalsvögel. Die Sorte kannte Luna noch nicht. Aber sie waren groß und schienen eine fette Beute zu sein. Also ab ins Wasser und nichts wie ran. Dann bemerkte sie, dass das Wasser gar nicht so ruhig war. Es war nämlich ein angelegter Teich mit einem Wehr und einem Abfluss, der in die Somme mündete. Und das Wehr war gerade geöffnet worden um den Teich auszufischen. Karpfen im Blätterteig, Wels vom Grill und Pastete vom Hecht standen heute auf der Speisekarte der adeligen Hofgesellschaft. Es entstand eine starke Strömung und die junge Halbwölfin musste sich anstrengen dagegen anzuschwimmen. Noch dazu verhielt sich die Beute seltsam. Statt zu fliehen, schwammen die beiden Schwäne auf sie zu. Sie zischten wütend und signalisierten Kampfbereitschaft. Luna war verwundert. Noch nie hatte sich ein Vogel gestellt. Sie waren zwar recht groß, aber Vögel flohen doch immer. Diese hier aber nicht. Sie plusterten sich auf und flatterten mit den Flügeln. Luna erkannte, dass es gefährlich werden konnte. Die Strömung war sehr hinderlich und die Schwäne waren im Vorteil, da sie fast vollständig über dem Wasser waren und mit ihren langen Hälsen und spitzen Schnäbeln hatten sie eine große Reichweite. Gerade als sie überlegte, ob sie nicht doch angreifen sollte, ertönte ein Ruf von Rochefort. Er befahl sie zurück. Kurz zögerte sie trotzdem, doch dann kehrte sie um, natürlich nicht, weil sie den Kampf nicht gewonnen hätte, sondern nur weil ein ranghöheres Rudelmitglied sie gerufen hatte. Das würde auch Eyk akzeptieren.

„Sagt Abbé, Schwäne sind doch Wasservögel und sie fressen auch Fische, nicht wahr?“, war die Frage eines jungen Gecken an seinen Beichtvater. Der Abbé bejahte die Frage, nicht ohne auf die Tugend der Mäßigung hinzuweisen. Diese letzten Worte aber trafen auf taube Ohren. Der Adelige ließ sich schon eine Jagdarmbrust von einem Lakaien reichen. Rochefort hatte das Gespräch mitangehört. Das Umgehen der Fastengebote kümmerte ihn wenig, aber Luna war noch nicht ganz aus der Schusslinie. Also trat er rasch heran, nahm dem verdutzten Höfling mit einer geschmeidigen Bewegung den Bolzen weg und wandte sich an den Diakon. „Steht über den Schwan nicht im dritten Buch Mose im Kapitel 11: Unter den Vögeln sollt ihr ihn verabscheuen - man darf ihn nicht essen?“ Der überlegte kurz und erwiderte dann: „Denn ich bin der Herr, euer Gott. Erweist euch als heilig, und seid heilig, weil ich heilig bin. Verunreinigt euch daher nicht selbst.“ Verunsichert bekreuzigte sich der Geck und bedankte sich sogar bei Rochefort, während dieser bei sich dachte: „Jetzt hat es doch einen Vorteil, wenn der Dienstherr ein Kardinal ist, man wird bibelfest, ob man will oder nicht.“

Während Luna etwas außer Atem ein Gebüsch am Ufer erreichte, war dort gerade ein Mann sehr beschäftigt. Auch er war wenig begeistert, dass der Teich abgelassen wurde. Aber nicht die Strömung störte ihn, sondern das rasche Absinken des Wasserspiegels. Dadurch war ein gewisser Beutel, der an einen Faden gebunden war, nicht mehr unter Wasser sondern baumelte  bereits über der Wasseroberfläche und das war gar nicht gut.  Er hatte sich sehr vorsichtig umgesehen um unbemerkt ins Buschwerk zu gelangen. Dann nahm er vorsichtig den Beutel. Nur auf den Teich hatte er nicht so genau geachtet. Darum bemerkte er die Halbwölfin erst, als sie triefend direkt neben ihm auftauchte. Sie hatte die Stelle gewählt, weil dort das Ufer flach war und man gut an Land gehen konnte. Er erschrak fürchterlich. Sie hatte ihn also doch gerochen und entlarvt! Er hob einen Ast auf und versuchte auf Luna einzuschlagen. Das aber bekam ihm schlecht. Nicht nur, dass Luna geschickt auswich, sie fletschte die Zähne und ließ ein tiefes Knurren verlauten. Als der Chevalier den Prügel nicht losließ, ging sie zum Angriff über. Einen Schmerzensschrei später hielt sich der Höfling die blutige Hand mit der anderen. Er versuchte zu fliehen, doch da wurde er von Eyk angesprungen und zu Fall gebracht. Er landete genau vor den Füßen des Grafen von Rochefort, der herbeigeeilt war und Mühe hatte zu verhindern, dass der Mann weiter attackiert wurde. Luna gehorchte zwar, aber Eyk gab nur äußerst widerwillig nach. Er war schließlich ein Prachtexemplar von einem Rüden und wollte sich vor Luna beweisen. Dann fiel der Blick von Rochefort auf einen aufgerissen Beutel, aus dem es im Sonnenlicht strahlend grün hervorleuchtete. Weitere Adelige und Musketiere kamen schnell herbei. Auf die Frage, ob der Chevalier de Scélérat nicht einen Arzt brauche, antwortet der Graf nur süffisant: „Ich denke, zuerst braucht er ein paar Stricke für seine Hände als Fesseln und dann kann man von mir aus seine Wunde versorgen.“

„Diesmal hat Eure kleine Heldin aber eher Glück als Geschick gehabt“, meinte Kardinal Richelieu am abendlichen Kamin. Er hatte sich früh zurückgezogen, denn er war kein Freund von Völlerei und die beiden letzten Tage waren anstrengend gewesen. „Eure Eminenz, solltet Ihr als Priester dies nicht eher als Fügung bezeichnen?“, war die Replik des Grafen von Rochefort. „Gut pariert und Ihr sollt erstaunliche Bibelkenntnisse haben, so hört man“, erwiderte der Kardinal. „Aber Eyk kann nicht auf Dauer bleiben. Er ist ein Geschenk an Seine Majestät“, meinte der Erste Minister weiter. Luna und Eyk schliefen friedlich Seite an Seite, zusammengerollt, satt und zufrieden. Der Geheimdienstchef zögerte etwas mit seiner Antwort: „Man wird sehen, wie Eyk behandelt wird. Luna und ich werden ihn öfters besuchen. Unser geliebter König verliert leicht das Interesse an etwas und ich werde es nicht zulassen, dass solch ein Tier in einem Zwinger endet.“ Und es klang so, als würde Rochefort es ernst meinen, egal, ob der Jämthund ein königliches Geschenk mit Symbolkraft war…

 

Kapitel Ein neuer Morgen

Das war keine gute Idee gewesen. Rochefort blickte besorgt in die dichter werdenden Nebelschleier des Lac de Constance. Instinktiv rückte er sein verstärktes schwarzes Lederwams mit den zahlreichen Metallnieten zurecht. In dieses Wams waren die wichtigen Papiere sorgsam eingenäht worden. Anweisungen von Kardinal Richelieu, sowie Unterstützungszusicherungen mit dem Siegel des Königs. Sie waren für Konrad Widerholt bestimmt, den Kommandanten der Festung Hohentwiel. Es war wichtig, dass Widerholt bei der Stange gehalten wurde. Natürlich bei der französischen Flagge, denn die Festung kontrollierte fast ganz Oberschwaben. Und die Raubzüge von Konrad Widerholt erstreckten sich über ganz Südwestdeutschland und er war auf Entführung und Lösegelderpressung spezialisiert. Ein moderner Raubritter, dachte der Graf von Rochefort bei sich, und dabei soll er ein glühender Anhänger des protestantischen Christentums sein. Nun, wie auch immer – er war ein erklärter Feind der Habsburger und hielt diese ganz schön auf Trab. Darum war eine offizielle Zusicherung, dass Frankreich ihn unterstützte, auch so wichtig. Aber dieses schwankende Boot zu nehmen, um den Bodensee zu überqueren, wie die Einheimischen die riesige Wasserfläche nannten, war vielleicht doch nicht der ideale Plan gewesen.  Bis vor wenigen Augenblicken hatte der Comte de Rochefort noch den Anblick genossen. Die spiegelglatte Oberfläche des Sees in der Morgendämmerung, die leichten Nebelschwaden, die über das Wasser zogen – es war wie ein Bild aus einer anderen Welt gewesen, einer friedvollen, fast feengleichen Welt. Das hatte sich schlagartig geändert, als ein Schiff aus dem Nebel aufgetaucht war. Die Flagge machte es deutlich, es gehörte zur kaiserlichen Flottille unter dem Kommando von Oberst Christoph Karl Waldburg-Wolfegg. Verdammt, was tat dieses Schiff um diese Uhrzeit mitten auf dem Lac de Constance?

Noch jemand fühlte sich gar nicht wohl auf dieser schwankenden Nussschale, die man Fischerboot nannte. Luna, die Halbwölfin, zitterte am ganzen Körper. Oh, wie sie schwankenden Untergrund hasste. Kein sicherer Boden um abzuspringen und es wird einem sogar etwas schwindlig.  Der Schwarze Wolf musste verrückt geworden sein sich in ein solches Ding zu begeben. Luna hatte sich mit aller Kraft gesträubt um ihm klar zu machen, welcher Irrsinn das sei. Sie hatte sogar seine Autorität ganz kurz in Frage gestellt und ihn angeknurrt und geschnappt. Natürlich nur in die Luft um ihren Protest zu zeigen. Dann hatte man versucht sie mit Futter in dieses schwankende Ungetüm zu bringen. Lächerlich, so dumm war sie doch nicht. Das war fast eine Beleidigung. Außerdem war dies hier ein ausgezeichnetes Jagdgebiet – hier gab es mehr Beute als einen Fleischknochen. Sie war doch zudem eine ausgezeichnete Schwimmerin, wenn schon über das große Wasser, dann doch bitte aus eigener Kraft, das war doch viel sicherer und besser. Doch schließlich hatte man ihr diese Riemen angelegt, die eigentlich für das lustige Schlittenziehspiel gedacht waren, und sie einfach zu dritt in dieses Boot gehoben. Dass zwei der Männer wohl noch wochenlang ihre Bisswunden versorgen mussten, war nur ein kleiner Trost, weil jetzt saß sie in diesem verflixten Ding. Natürlich hatte sie nur die beiden Helfer angegriffen und nicht den Rudelführer. Diese beiden Unverschämten würden nie wieder versuchen, eine Luna gegen ihren Willen anzuheben. Das hatte sie ganz deutlich an ihren schreckgeweiteten Augen gesehen, aber auch dies war nur eine kleine Genugtuung. Jetzt ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Das hasste Luna ebenfalls, einzelne Schüsse waren ja noch in Ordnung, selbst wenn sie die nicht mochte. Sie hatte ja empfindliche Ohren und hörte alles viel deutlicher als diese Zweibeiner. Aber dieses Geräusch tat wirklich weh. Und das Boot begann noch viel stärker zu schwanken. Langsam wurde es wirklich unheimlich, dabei hatte eine stattliche Halbwölfin doch sonst nie so etwas wie Angst...

Der Kapitän des kaiserlichen Schiffes muss wahnsinnig sein, dachte Rochefort bei sich, als er sich krampfhaft an der schmalen Reling des Fischerbootes versuchte festzuhalten.  Warum lässt er eine Kanone abfeuern. Er hätte es noch verstanden, wenn sie aufgebracht worden wären, oder man ihnen signalisiert hätte, das kleine Segel zu streichen. Aber ohne Warnung mit Kanonen auf ein Fischerboot zu schießen? Wusste man, dass er mit wichtigen Papieren unterwegs war? Suchte man einen Spion oder Verräter? Aber selbst das war kein hinreichender Grund um zu feuern. Und Warnschuss war das auch keiner gewesen. Die Kugel war nur knapp am Boot vorbeigegangen und hatte dieses fast zum Kentern gebracht. Da ertönte ein weiterer Knall und diesmal wurde das Fischerboot getroffen. Hinten beim Ruder splitterte Holz, der Fischer, den Rochefort angeheuert hatte, war wohl sofort tot, als er von der Wucht der Kanonenkugel von Bord gerissen wurde. Innerhalb weniger Sekunden war alles mit Wasser vollgelaufen, dann stellte sich das Boot auf, das Gewicht des kleinen Mastes genügte das Kentern einzuleiten und es versank wie ein Stein.

Zuerst überkam die Halbwölfin Panik, noch so ein Knall und die Welt wurde plötzlich schräg. Doch dann war da überall Wasser. Damit konnte sie umgehen. Mal ein wenig wegpaddeln von diesem unnützen Ding. Sie hatte es ja gewusst. Warum hatte man nicht auf sie gehört? Das Wasser war auch gar nicht so kalt. Und jetzt erst mal umsehen. Das Boot ging gerade unter, gut so. Das würde nicht mehr schwanken und einen schwindelig machen. So, jetzt noch mit dem Schwarzen Wolf ans Ufer schwimmen, sich abbeuteln. Dann könnte man ja vielleicht doch noch diesen Fleischknochen zerbeißen. Aber wo war der Rudelführer? Es roch nach Blut, aber nein, der Geruch stimmte nicht, das war er nicht. Luna begann zu suchen. Keine Geruchsspur zu finden und dieses weiße Zeugs, das man Nebel nannte, wurde immer dichter. Natürlich waren Menschen keine so guten Schwimmer wie sie, jedoch sich über Wasser halten sollte man sich doch können. Ob der Anführer verletzt war? Tauchen mochte sie nicht so gern und unter Wasser würde sie kaum etwas sehen, denn es war auch über Wasser recht düster. Luna schwamm zurück zu der Stelle, wo das Boot versunken war.

Verdammt, so will ich nicht enden, dachte Rochefort fluchend. Wieder versuchte er seinen linken Arm zu bewegen. Doch der Schmerz war unerträglich. Seinem ledernen Wams verdankte der französische Geheimdienstchef wohl schon mehrmals das Leben. Es war nahezu stichfest und würde vielleicht sogar eine Kugel so stark abfedern, dass sie nicht mehr tödlich wäre. Im Wasser, mit einem vermutlich gebrochenen Arm, aber war es eine fatale Last. Auch die schweren Lederstiefel waren beim Versuch zu schwimmen ein echtes Hindernis. Aber was heißt hier schwimmen. Zuerst müsste er einmal zurück an die Oberfläche, die Luft wurde langsam knapp. Er war nur ein leidlicher Schwimmer, denn er hatte nie viel Gelegenheit gehabt zu üben. Und unter diesen Bedingungen war es fast unmöglich. Es waren an die zwei Kilometer bis zum Ufer – nun, es hätten auch zweihundert sein können – in seinem Zustand würde er das niemals schaffen. Aber der Graf von Rochefort hatte einen unbändigen Lebenswillen oder vielleicht war es auch einfach nur Sturheit. Aufgeben kam nicht in Frage. Dort war es ein wenig heller und da, jetzt war dort ein dunkler Schatten, dann wieder etwas heller. Mit der gesunden rechten Hand und den Füßen begann er ein, zwei Tempi in dieser Richtung zu machen. Sollte er versuchen die Stiefel abzustreifen? Nein, keine Zeit, er musste an die Wasseroberfläche und es war fraglich, ob er die Stiefel im Wasser nur mit den Beinen und einer Hand überhaupt abstreifen konnte.

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„Ziel zerstört, Kapitän“, meldete ein Bootsmann. Ein grimmiges Lächeln umspielte die Lippen des Kapitäns. Er liebte den Donner von Kanonen. Seine Lädine hatte an jeder Seite nur 8 Geschütze und war mit ihren 30 Metern eigentlich ein Lastschiff. Von den Kapitänen auf den Weltmeeren wäre das Kommando über einen Laden, wie der Schiffstyp eigentlich hieß, wohl verächtlich belächelt worden. Aber fast 500 Soldaten konnte man auf seine „Stolz von Lindau“ pferchen. Er würde dem Namen Weiss alle Ehre machen, wie sein älterer Bruder, der sogar den Titel „Admiral vom Bodensee“ erhalten hatte. Ja, er würde seinen Bruder eines Tages sogar übertreffen. Der Geheimbericht über einen Spion, der den See überqueren wollte, war ihm da gerade recht gekommen. Und es hatte sich ausgezahlt die Mannschaft Tag und Nacht trainieren zu lassen. Mit nur zwei Schüssen war der Feind versenkt worden. Sonst hätte ihn der Nebel vielleicht gerettet. Zufrieden blickte er durch sein Fernrohr. Leider konnte man kaum mehr etwas erkennen. Aber das Boot war schnell gesunken, daran bestand kein Zweifel. Und es war ein direkter Treffer gewesen.  Vielleicht hatte man dadurch die Schweden aufgeschreckt, aber das war egal. Er fieberte geradezu einer Schlacht mit der „Drottning Kristina“ entgegen. Eine Revanche für die von diesem neuen schwedischen Kriegsschiff gekaperten kaiserlichen Schiffe war längst überfällig.

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Endlich, da war er ja, Lunas geliebter Rudelführer. Er war anscheinend getaucht. Sofort paddelte sie aufgeregt zu ihm hin. Freudig umkreiste sie Rochefort, doch dann stutzte sie kurz. Irgendetwas stimmte nicht. Seine Bewegungen waren seltsam. Er spuckte Wasser und wäre fast wieder untergegangen. Sein linker Vorderlauf bewegte sich ja gar nicht. Oh nein, er schien ernsthaft verletzt zu sein! Und er roch seltsam. Natürlich konnte Luna Gefühle riechen. Da waren Ärger und Wut, das war verständlich. Er war ja aus diesem dummen Boot gefallen und es war eine Art Angriff gewesen. Da war aber auch Angst, ja fast Panik, in seinem Geruch. Das hatte die Halbwölfin so gut wie noch nie beim Schwarzen Wolf gerochen. Sofort wurde auch sie unruhig. Und er konnte sich kaum über Wasser halten, vielleicht hatte er Angst vor dem Ertrinken. Menschenwölfe waren ja schlechte Schwimmer und wenn er nur drei Läufe einsetzen konnte, war er wahrscheinlich wirklich in Gefahr. Luna schwamm ganz nahe an ihn heran. Am liebsten hätte sie sein Gesicht jetzt abgeleckt, aber im Wasser ging das schlecht, sie musste ja ständig in Bewegung bleiben. Da ergriff der Graf von Rochefort mit seiner gesunden Hand das Ledergeschirr von Luna. „Los, Luna, los“, hörte sie. Ah, das war das Schlittenkommando. Die Stimme war heiser und es war ein Zittern darin gewesen, aber zweifelsfrei ein Kommando. Normalerweise mochte es Luna gar nicht beim Schwimmen angefasst zu werden. Da konnte man leicht unter Wasser gedrückt werden. Aber diesmal war das etwas anderes. Das war auch kein Ziehspiel, das war klar. Der Anführer brauchte Hilfe. Da gab es kein Zögern oder den Versuch zu protestieren.

Könnten sie das schaffen? Luna war inzwischen voll ausgewachsen und wog um die fünfunddreißig Kilogramm. Da war kein Gramm unnötiges Fett, ihre Muskelkraft war enorm. Aber konnte sie ihn zwei Kilometer über den Bodensee ziehen? Verdammt, sie waren absichtlich weit weg vom Ufer gesegelt. Dann war da noch dieser Nebel. Einerseits schützte er sie vor dem feindlichen Schiff, so dicht wie er jetzt geworden war. Andererseits sah man kein Ufer. Wenn Luna eine falsche Richtung einschlug, oder gar im Kreis schwamm – konnte man im Kreis schwimmen, wie man immer bei verirrten Wanderern im Nebel an Land behauptete, dass sie im Kreis gingen? Solche Gedanken brachten nichts. Er musste es Luna leichter machen. Versuchen mit den Beinen mit zu schwimmen, dann wieder flach und ruhig am Wasser liegen, wieder mitschwimmen. Luna begann nach einer Weile zu keuchen. Oh mein Gott, wie lange waren zwei lächerliche Kilometer! Vielleicht sollte er loslassen. Alleine würde es Luna sicher schaffen. Ob er ein Stück alleine schwimmen könnte? Der linke Arm schmerzte höllisch, aber das war nicht das Hauptproblem. Die Erschöpfung, die nasse Kleidung und ja, auch die Verletzung, er würde nicht weit kommen. Er hatte es ja fast nicht geschafft die zwei, drei Meter an die Oberfläche zu kommen, als er untergegangen war. Vielleicht konnte er sich treiben lassen. Sein Vater hatte ihm als Kind den Trick gezeigt wie man am Rücken liegend ruhig eine Zeitlang im Wasser treiben konnte. Jedoch mit der Kleidung und dem kaputten Arm? Rochefort verwarf den Gedanken wieder. Luna würde auch nicht wegschwimmen, wenn er loslassen würde. Sie war treu bis in den Tod. Wenn Menschen doch auch nur annähernd so loyal wären! Seine Gedanken begannen abzuschweifen. Er dachte an den Kardinal. Ja, diesem Mann war er treu und ergeben bis in den Tod. Der Gedanke gab ihm neue Kraft. Er würde nicht aufgeben. Richelieu gab auch niemals auf. Lunas Tempo war kaum langsamer geworden, auch wenn sie etwas keuchte. Ja, sie konnten beide noch etwas durchhalten.

Man konnte das Land bereits deutlich riechen. Saftiges Gras, Weiden und Pappeln am Ufer, Haubentaucher und Blässhühner…hmm, nein, jetzt war keine Zeit für die Jagd auf Wasservögel.  Und das war eine Beute, die man fast nie erwischte. Der Nebel lichtet sich auch etwas. Es war viel, viel schwerer gewesen den Schwarzen Wolf zu ziehen als sich Luna das vorgestellt hatte. Das Wasser hatte regelrecht Wiederstand geleistet. Ihre Läufe hatten angefangen schwer zu werden und ein Art Brennen war zu spüren gewesen.  Aber dort war das Ufer. Diese kurze Strecke würde sie auch noch schaffen. Einfach immer geradeaus und nicht nachlassen. Eine Luna würde das schaffen, ja, sie würde das schaffen, sie musste es einfach.

Die rettende Uferböschung, er hatte sie erreicht. Mit letzter Kraft zog sich Rochefort ins feuchte Gras, fast hätten seine Beine nachgegeben, selbst beim Kriechen. Mühsam rollte er sich auf den Rücken. Die Sonne ging gerade hinter den Bäumen auf. Die Nebelschwaden begannen sich langsam zu verflüchtigen. Ein neuer Morgen war angebrochen und er würde ihn erleben. Erleichterung und Dankbarkeit überwältigen den Comte de Rochefort. Tränen schossen dem Mann ins Gesicht, den man die wandelnde Klinge des Kardinals nannte und der in ganz Europa gefürchtet war. Hier lag er nun, verletzt und schutzlos, völlig erschöpft und allein. Schutzlos und allein? Welch ein Unsinn! Hier war sie – Luna, die Halbwölfin, und leckte ihm liebevoll die salzigen Tränen von den Wangen…

Kapitel Attila und Luna

Das Wetter von Paris zeigte sich von seiner unfreundlichen Seite. Es war nass und kalt und windig – und das war noch untertrieben. Es regnete in Strömen und ein schneidender, kalter Wind sorgte dafür, dass man sprichwörtlich nicht einmal einen Hund vor die Türe jagte. Luna, die Halbwölfin, hätte wohl niemand vor die Tore des Palais Cardinal gejagt, aber auch sie war ausnahmsweise mal lieber drinnen. Toben im Schlamm war zwar nett, aber der Regen war zu dicht und der Wind einfach grauslich. Hier im Palais brannten in vielen Zimmern die offenen Kamine und es war wohlig war. Zwar nicht überall, aber viel besser als im Louvre schräg gegenüber. Der alte Königssitz war zugig, verwinkelt, mit dicken Mauern und galt als unheizbar. Kein Wunder also, dass seine Majestät Ludwig XIII. beschlossen hatte, das Diplomatentreffen in den Wohnsitz seines Prinzipalministers, Kardinal Richelieu, zu verlegen. Doch davon wusste Luna natürlich noch nichts und ihr war langweilig. Vielleicht würde ein kleiner Rundgang durch ihr Revier für Ablenkung sorgen.

Wie selbstverständlich lenkte sie ihre Schritte in den Dienstbotentrakt in Richtung der Küchen. Da hörte sie ein Fiepen und eine Maus huschte über den Gang. Das war zwar keine stattliche Beute, aber Luna war eine sehr begabte Mäusefängerin. Einmal hatte sie bei einem Spaziergang im Garten acht Mäuse gefangen und war dafür ausdrücklich gelobt worden. Und Mäuse schmeckten gar nicht so schlecht. Es war nur ein Sprung aus dem Stand und schon hatte sie die Maus mit ihren Pfoten erwischt und sie war fast drei Meter weit weg gewesen. Doch dann kam eine Überraschung. Plötzlich war da ein wütendes Fauchen und ein riesiger blaugrauer Fellball mit ausgefahrenen Krallen sprang auf die Halbwölfin zu.

Es war Attila, der Kartäuserkater des Kardinals. Und Attila war richtig zornig. Auch er war bei diesem Wetter natürlich nicht draußen gewesen, sondern hatte Beschäftigung im Palais gesucht. Es hatte recht lange gedauert, bis er endlich eine Maus zu Spielen gefunden hatte. Das Fangen war kein Problem gewesen, und er liebte es seine Sprungfähigkeit und Reaktionsschnelligkeit an seiner Beute mehrmals zu trainieren, bevor er sie verspeiste. Und jetzt machte ihm diese unverschämte Luna die Beute streitig, das ging ja mal gar nicht! Das war schließlich sein Revier und er war hier der Herr im Haus. Einzig dem Kardinal schuldete er Respekt, zumindest ein wenig. Nur Seine Eminenz durfte ihn streicheln und kraulen, denn dieser war der Herrscher der Menschen und damit auch der Herr über die Speisekammern.

Luna war im allerletzten Moment ausgewichen – oder fast ausgewichen – eine Kralle hatte noch leicht ihre Schnauze gestreift und das ging ja mal gar nicht! Das war schließlich ihr Revier und sie war hier die Herrin im Haus. Der daraufhin folgende Kampf war heftig. Luna war größer, hatte mehr Reichweite und war extrem geschickt. Attila war wendiger, schneller auf kurze Distanz und sehr präzise mit seinen messerscharfen Krallen. Das hätte böse enden können, wenn da nicht Beatrice, die Erste Küchenmagd, gewesen wäre. Sie mochte die beiden Kämpfer sehr und versorgte beide ab und zu mit Küchenabfällen. Auch wusste sie, wie sehr der Kardinal seinen Attila und der Comte de Rochefort seine Luna schätzten. Und sie kannte auch die Schwäche beider Kombattanten. Sie füllte rasch einen großen Eimer mit kaltem Wasser und mit viel Schwung landete der Schwall auf Attila und Luna. Rasch verschwand Beatrice wieder hinter die Küchentür - sicher war sicher. Attila und Luna waren so verdutzt und auch ein wenig erschrocken, dass der Kampf sofort beendet war. Beleidigt zog sich Attila mit großen Sprüngen über Kästen und Kommoden zurück, nicht ohne nochmal wütend zu fauchen. Aber jetzt musste erst einmal das kostbare seidige Fell gepflegt werden. Luna schüttelte sich empört. Sie hasste große Wassermengen von oben. Doch sie war so in den Kampf vertieft gewesen, dass sie nicht gesehen hatte, woher der hinterhältige Angriff gekommen war. Sie beschloss ebenfalls Fellpflege zu betreiben. Der Kater hatte ja den Kampfplatz verlassen und somit war sie die Siegerin. Die glücklichste Maus von Paris, die beide Angriffe der gefährlichen Jäger überlebt hatte, rannte inzwischen so schnell wie noch nie in ihrem Leben und zitterte noch lange, auch als sie schon in ihrem Mauseloch verschwunden war.

Im Großen Salon des Palais Cardinal tummelten sich eine Menge Leute. Da waren natürlich Seine Majestät der König von Frankreich und Navarra, Seine Eminenz der Kardinal Richelieu, sodann der Botschafter des Königreichs von Schweden, die Botschafter der Republiken von Venedig und Genua und einige Gesandte deutscher Fürstentümer. Aber auch zahlreiche Dienstboten waren anwesend und eine große Zahl an Bewaffneten, die eigentlich weniger üblich waren. Da aber die Botschafter in Kriegszeiten auf einen Leibwächter bestanden hatten, hatte der Comte de Rochefort auch darauf bestanden, dass die Garde Seiner Eminenz anwesend war. Und wenn die Garde Seiner Eminenz anwesend war, dann musste der König selbstverständlich seine Musketiere mitnehmen. Daher kam es zu der etwas grotesken Situation, dass bei diesem inoffiziellen Botschaftertreffen mehr als doppelt so viel Wachen anwesend waren, als Diplomaten und Dienstboten zusammen.

Richelieu saß am Kopf der Tafel neben Seiner Majestät und auf seinem Schoß hatte es sich Attila gemütlich gemacht und schnurrte zufrieden, als er gekrault wurde. Interessanter Weise drehte sich das Gespräch des Botschafters von Genua, Ubertino Pallavicini, um den Kartäuserkater. Der Botschafter versuchte seit geraumer Zeit den Kardinal davon zu überzeugen, dass das edle Tier ein ausgezeichnetes Gegengeschenk für seinen Vetter Agostino, den Dogen von Genua, sei, der ja jetzt auch König von Korsika war. Er verwies auf die Truhe mit edelsten Tuchen, die er als Gastgeschenk mitgebracht hatte. Der Prinzipalminister von Frankreich blieb höflich, aber bestimmt - und ablehnend. Attila war ein Geschenk von Pater Joseph, seinem engsten Berater, und ein Geschenk dürfe man nicht weiterschenken. Ja, er wäre aus einem Wurf, den der bekannte französische Gelehrte Nicolas-Claude Fabri de Peiresc aus Damaskus mitgebracht hätte und sein langes, seidiges blaugraues Fell wäre eine Rarität selbst auf den europäischen Königshöfen, aber nein, Attila wäre unverkäuflich.

Da nun Essen aufgetragen wurde, endete das Gespräch und die Gesellschaft widmete sich den Genüssen der Tafel. Als einziger der hochrangigen Gäste nahm der Mann ganz in Schwarz nicht Platz. Der Comte de Rochefort beobachtete lieber die Szenerie. Er war von den bewaffneten Leibwächtern der Gäste so gar nicht begeistert. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie nicht einmal das Palais betreten, geschweige denn Waffen in den Salon mitbringen dürfen. Und dann musste er auch noch ein Auge auf Luna haben. Ihm war nicht klar, wie sie in den Salon gekommen war. Manchmal glaubte der Comte, sie könne durch geschlossene Türen gehen wie ein Geist. Sie war wahrscheinlich auf Essensreste von der Tafel aus, aber Rochefort befahl Luna bei ihm zu bleiben. Man musste die Gäste ja nicht unbedingt unnötig erschrecken. Wegschicken wollte er Luna aber auch nicht. Niemand war so schnell wie die Halbwölfin, wenn wirklich Gefahr drohte, und ihr Instinkt war überragend. Das hatte sie mehrfach bewiesen.

Der Geheimdienstchef war erst etwas beruhigt, als nach dem Essen eine Besprechung im kleinen Rahmen stattfand und dort wurden Dinge besprochen werden, die nicht für Leibwachen bestimmt waren. Trotzdem blieb der Comte natürlich beim Kardinal, als dieser sich zu der Besprechung mit den Diplomaten in den kleinen Salon zurückzog. Auch Luna war zufrieden. Wie üblich hatten die Menschen einige der besten Stücke, wie Knochen, achtlos auf den Boden fallen gelassen. Man musste nur schneller sein als die Dienerschaft. Aber eigentlich war das leicht. Niemand würde einer Luna ihre Beute streitig machen. Schon ein ganz leises Knurren reichte aus, damit die Dienstboten warteten bis sie fertig war. Das Knurren war natürlich nicht wirklich ernst gemeint, aber niemand vom Servierpersonal Seiner Eminenz hatte jemals auch nur die geringste Lust verspürt auszuprobieren, ob man Luna etwas wegnehmen könne. Auch Attila hat etwas gefunden, das ihn interessierte. Ein Lakai hatte gerade eine Truhe mit Stoffen ausgeräumt. Offene Truhen hatten eine fast magische Anziehungskraft auf den Kartäuserkater. Oh, sie war innen mit Samt ausgelegt! Und die Truhe roch ganz leicht parfümiert und war sicherlich warm und kuschelig. Mit einem Satz sprang Attila hinein. Sergio, der Leibwächter der genuesischen Botschafter hatte die Szene beobachtet und ihm kam eine Idee. Mit zwei, drei schnellen Schritten war er bei der Truhe und warf rasch den Deckel zu. Wenn er dem Dogen dieses Geschenk brachte, wäre er sicher bald Leibwächter des mächtigsten Mannes von Genua und nicht nur der Laufbursch eines Botschafters. Dem Tier würde schon nichts passieren, die Truhe war ja nicht luftdicht, damit die Tuche, die darin transportiert wurden nicht modrig werden konnten. Notfalls konnte er später ja noch ein Loch bohren und Futter würde er unterwegs besorgen. Erstmals musste die Truhe zur Kutsche des Botschafters gebracht werden. Das sollte aber kein Problem sein, denn die kostbaren Stoffe waren ja bereits entnommen worden, und es war daher nicht weiter auffällig die Transportkiste wieder mitzunehmen. Gedacht – getan, Sergio war sehr zufrieden und malte sich schon aus, welche Privilegien mit seiner neuen Position verbunden wären.

Der Geheimdienstchef war erst etwas beruhigt, als nach dem Essen eine Besprechung im kleinen Rahmen stattfand. Dort würden Dinge besprochen werden, die nicht für Leibwachen bestimmt waren. Trotzdem blieb der Comte natürlich beim Kardinal, als dieser sich zu der Besprechung mit den Diplomaten in den Kleinen Salon zurückzog. Auch Luna war zufrieden. Wie üblich hatten die Menschen einige der besten Stücke wie Knochen achtlos auf den Boden fallen gelassen. Man musste nur schneller sein als die Dienerschaft. Aber eigentlich was das leicht. Niemand würde einer Luna ihre Beute streitig machen. Schon ein ganz leises Knurren reichte aus, damit die Dienstboten warteten, bis sie fertig war. Das Knurren war natürlich nicht wirklich ernst gemeint, aber niemand vom Servierpersonal Seiner Eminenz hatte jemals auch nur die geringste Lust verspürt auszuprobieren, ob man Luna etwas wegnehmen könnte.

Auch Attila hat etwas gefunden, das ihn interessierte. Ein Lakai hatte gerade eine Truhe mit Stoffen ausgeräumt. Offene Truhen hatten eine fast magische Anziehungskraft auf den Kartäuserkater. Oh, sie war innen mit Samt ausgelegt! Und die Truhe roch ganz leicht nach Parfum und war sicherlich warm und kuschelig. Mit einem Satz sprang Attila hinein.

Sergio, der Leibwächter des genuesischen Botschafters, hatte die Szene beobachtet und ihm kam eine Idee. Mit zwei, drei schnellen Schritten war er bei der Truhe und warf rasch den Deckel zu. Wenn er dem Dogen dieses Geschenk brachte, wäre er sicher bald Leibwächter des mächtigsten Mannes von Genua und nicht nur der Laufbursche eines Botschafters! Dem Tier würde schon nichts passieren, die Truhe war ja nicht luftdicht, damit die Tuche, die darin transportiert wurden, nicht modrig werden konnten. Notfalls konnte er später ja noch ein Loch bohren und Futter würde er unterwegs besorgen. Erstmal musste die Truhe zur Kutsche des Botschafters gebracht werden. Das sollte aber kein Problem sein, denn die kostbaren Stoffe waren ja bereits entnommen worden und es war daher nicht weiter auffällig, die Transporttruhe wieder mitzunehmen. Gedacht – getan, Sergio war sehr zufrieden und malte sich schon aus, welche Privilegien mit seiner neuen Position verbunden sein würden.

Attila war empört. Wie konnte man es wagen, seine neue, kuschelige Kiste zu verschließen? Und jetzt schaukelte sie auch noch. Wütend warf er sich gegen die Wände der Truhe und seine messerscharfen Krallen zerfetzten den ausgelegten Samt binnen weniger Sekunden. Aber die Transporttruhe war mit Eisenbändern verstärkt, selbst der große Kartäuserkater konnte sich da nicht befreien. Er begann zu maunzen, dann zu schreien. Sergio warf hastig zwei dicke Pferdedecken über die Truhe und verstaute sie im Gepäckwagen des Botschafters. Der Leibwächter des genuesischen Gesandten schaffte seine Beute rasch in die hinterste Ecke des Kellers im Botschafterpalais und fuhr dann schnell zurück zum Palais Cardinal, damit es nicht auffiel, dass er kurz weg gewesen war. Mit der Zeit gesellte sich ein wenig Angst zu Attilas Zorn. Wer hatte es gewagt ihn einzusperren und warum? Er jammerte und maunzte ununterbrochen.

Die Besprechung mit den Diplomaten war schließlich zu Ende und wie jeden Freitag, wann immer es möglich war, fütterte der Kardinal seine Katzen selbst. Sie liebten den „Fischtag“ und für Richelieu war es entspannend, seinen Lieblingen beim Fressen zuzusehen und die besten Leckerbissen selbst zu verteilen. Man behauptete, dass der Prinzipalminister von Frankreich seine Katzen mehr mochte als die Menschen. Und in diesem Gerücht wahr wohl einiges an Wahrheit enthalten, wenn man dem mächtigsten Mann Europas zusah, wie liebevoll er seine Miezen behandelte. Aber etwas beunruhigte ihn heute. Attila war nicht gekommen und eine Fischmahlzeit würde er nicht auslassen. Die Katzen des Kardinals wussten genau, wann diese spezielle Fütterung war und sie hatte sogar ein eigenes Glockensignal. Kardinal Richelieu wartetet eine Weile, dann ließ er die Dienerschaft befragen. Beatrice, die Erste Küchenmagd, berichtete, sie war sich sicher Attila, schreien gehört zu haben, als sie Küchenabfälle in den Hof gebracht hatte. Zuerst hatte sie befürchtet, dass Luna und Attila wieder aneinandergeraten waren, wie heute vormittags, aber wahrscheinlich hätte der Kater nur eine andere Katze aus seinem Revier vertrieben. Richelieu dankte ihr und ließ Rochefort zu sich kommen.

Der Geheimdienstchef von Frankreich fand die Angelegenheit nicht trivial, denn ein Verdacht gegen seine geliebte Luna stand im Raum. Auch kannte er Richelieu sehr genau und die Stimmung des Kardinals konnte sehr schnell umschlagen und manchmal wurde der mächtige Mann wortwörtlich krank vor Sorge. „Eure Eminenz, ich bin mir sicher, dass Luna Eurem Attila nichts angetan hat. Vielleicht würden sie sich gegenseitig kratzen und zwicken und schlimmstenfalls könnte auch etwas Blut fließen, aber sie würde nie ein Tier aus diesem Haushalt töten.“ Die Stimme des Geheimdienstchefs war sehr ernst und bestimmt. „Eigentlich denke ich das auch, aber ich möchte sicher gehen, dass Attila nicht vielleicht doch verletzt irgendwo liegt“, erwiderte der Kardinal ebenso ernst. Der Comte holte rasch Luna und kam dabei sofort auf den Gedanken, sie auf die Fährte des Katers anzusetzen. Wenn jemand Attila finden könnte, dann die Halbwölfin mit ihrer unvergleichlichen Spürnase. Er ließ sie an Attilas Katzenkörbchen schnuppern und die Spur aufnehmen.

Ah, ein Suchspiel, da gab es immer eine besondere Belohnung! Aber warum sollte sie ausgerechnet diesen frechen Kater suchen, der ihre Position als Hausherrin hier im Palais immer wieder in Frage stellte? Und es war eine richtig schwierige Aufgabe. Attila steifte durch alle Räume, patrouillierte, was er für sein Revier hielt. Aber Luna bemühte sich, die frischeste Spur zu finden.  Doch auch das war gar nicht so einfach. Hatte er sich absichtlich versteckt? Aber es war doch Fischtag, das war seltsam. Auch Luna liebte Fischtag, und wenn Rochefort sie mit Fisch fütterte, dann würde sie sich das auch niemals entgehen lassen. Es dauerte eine Weile und sie hatte immer noch keine ganz frische Fährte finden können, doch da war eine ganz dünne Spur, die zumindest die jüngste war. Sie war aber sehr schwach. Hatte jemand den Kater getragen? Das wäre ungewöhnlich. Der Duft führte in den Hof in den Bereich, wo die Kutschen standen. Von dort vielleicht noch zum Haupttor, aber Luna war sich da nicht mehr ganz sicher. Sie blickte den schwarzen Leitwolf fragend an. Dieser ganz schwachen Spur konnte sie in den Straßen der Stadt nicht mehr folgen.

Rochefort hatte Luna die ganze Zeit begleitet. Als sie im Bereich der Kutschen und des Eingangstores angekommen waren, stutzte er. Ob Attila in eine der Botschafterkutschen geschlüpft war?  Aber das hätte man bemerken müssen, der Kater war so gar nicht zutraulich zu Fremden. Der Comte befragte also die Wachen am Eingang und auch das übrige Personal, das in der Nähe zu tun gehabt hatte. Die Kardinalsgardisten am Tor konnten genau aufzählen welche Kutschen der Diplomaten und auch welche Transportwägen das Palais verlassen hatten. Sie wussten genau, dass Hauptmann Jussac und Rochefort darauf Wert legten, dass man so etwas registrierte und sich auch merkte.

Mit diesen Informationen ging der Comte de Rochefort zu Richelieu und erstattet Bericht. Der Kardinal runzelte die Stirn und erinnerte sich an das Gespräch mit Ubertino Pallavicini und sein Interesse an dem Kartäuserkater. Aber der Botschafter der Republik von Genua hatte einen tadellosen Ruf. Und Diebstahl war eine ernste Angelegenheit, selbst wenn es „nur“ um eine Katze ging. Der Kater war sehr wertvoll und daraus konnten ernsthafte diplomatische Verwicklungen entstehen. Abgesehen davon, dass Richelieu es sehr persönlich nehmen würde, wenn man sich an seinen geliebten Katzen vergreifen würde. Das Funkeln in seinen Augen hätte so manchen Mann zum Zittern gebracht. Doch seine Stimme war völlig ruhig, als er dem herbeigerufenen Sekretär ein Schreiben diktierte, in dem er seinen Besuch zum Frühstück in der genuesischen Botschaft ankündigte, da der Herr Botschafter ja heute um Vertiefung der Gespräche gebeten hatte. „Und Luna und Ihr werdet mich begleiten, wir brechen sehr früh auf“, meinte Richelieu und Rochefort nickte nur leicht: „Sehr wohl, Eure Eminenz, wir werden bereit sein.“

Schon zeitig am nächsten Tag rollte die Kutsche des Kardinals durch die Pariser Straßen auf das Botschafterpalais zu. Zwölf Mann Rote Garde und Rochefort flankierten sie zum Schutz Seiner Eminenz und auch Luna trabte mit. Im Haushalt des Gastgebers war man schon sehr geschäftig gewesen, denn der Prinzipalminister hatte sich sehr kurzfristig selbst eingeladen, auch wenn es nur ein Arbeitsfrühstück sein sollte. Sergio legte rasch einen Verband um seine blutige linke Hand. „Verdammtes Mistvieh“, fluchte er leise. Dabei hatte er die Truhe nur einen Spalt geöffnet, um dem Kater ein paar Fleischreste zu geben, und schon hatten sich die Krallen tief in seine Hand gebohrt. Fast wäre Attila entkommen, aber Sergio hatte den schweren Deckel fallengelassen und so war der Kartäuserkater immer noch gefangen.

Seine Eminenz hatte sich nach der Begrüßung mit dem Botschafter zu Frühstück und Besprechung zurückgezogen. Rochefort war mit der Sicherheit vor Ort beauftragt worden. Daher ließ er sich das Gebäude zeigen und Luna begleitete ihn dabei. Das Katzenkörbchen war natürlich zu auffällig gewesen, aber Richelieu hatte das Lieblingsspielzeug von Attila, eine getrocknete Hasenpfote mit Fell an einer Seidenkordel, dem Comte anvertraut. Unauffällig holte der Mann, der auch der Stallmeister Seiner Eminenz war, die Hasenpfote aus einem Beutel am Gürtel und gab Luna das Suchkommando.

Schon wieder ein Suchspiel und schon wieder dieser Kater? Luna war etwas verwundert und gestern hatte sie Attila nicht finden können. Eine kleine Belohnung hatte es trotzdem gegeben, aber natürlich waren größere Belohnungen besser. Sie machte sich also an die Arbeit. Die Gerüche waren hier fremdartig – ah, dort war die Küche, aber auch die verströmte seltsame Gerüche, voller sogenannter Gewürze, doch Luna mochte sie nicht besonders. Die meisten davon störten nur den guten Fleischgeschmack. Hier war keine Fährte von einer Katze.  Die Halbwölfin bog in den Innenhof ab und begann an jeder Türe, in jeder Nische und in jedem Winkel zu schnüffeln. Der italienische Diener, der Rochefort begleitete, wunderte sich, was der Graf und das Tier hier trieben, aber ein eisiger Blick des Mannes in Schwarz genügte, um besser keine Fragen zu stellen.

Da war etwas, oder? Ganz schwach. Bei dem kleinen Mann, bei dem Blut aus einem Stück Stoff drang. Bei dem Mann und vielleicht auch bei der Tür, wo er stand. Luna lief auf ihn zu. Mit einem Male wurde die Halbwölfin vorsichtig. Der Mann roch nach Aggression, ein wenig nach Angst und – ja, auch ein wenig nach dem Kater, sie hatte sich nicht geirrt. Luna kannte auch die Geruchsmischung des Mannes. So ähnlich rochen Hunde, die aus Unsicherheit zubissen. Sie knurrte tief, fast ein Grollen. Eine sehr deutliche Verwarnung. Ihre Ohren waren jetzt angelegt. Der Comte de Rochefort hatte die Szene von etwas weiter weg beobachtet. Auch ihm gefiel der Mann nicht. Er trug einen Verband, der wohl von einer frischen Verletzung herrührte, wie das Blut bewies, das durch den Stoff bereits durchsickerte. Und Luna hatte einen guten Instinkt.

Sergios Hand fuhr zum Griff seines Rapiers. Noch so ein aggressives Vieh und es schien zur Türe der Kellertreppe zu wollen. Das musste er verhindern. Als er mit der linken Hand zum Stilett greifen wollte, um nach italienischer Art beide Hände im Kampf zu benutzen, durchdrang ihn ein heftiger Schmerz. Die Wunde von Attilas Krallen war tief und es war wohl auch die Sehne verletzt. Rochefort, „die wandelnde Klinge des Kardinals“, war sofort mit blitzschnell gezogenem Rapier heran, aber gegen Luna war er eine Spur zu langsam. Sie wusste, dass man bei solchen Gegnern zuerst zuschlagen musste und aus dem Stand sprang sie Sergio an und mit einem Biss war er entwaffnet. Rocheforts Waffe an seiner Kehle überzeugte Sergio sehr schnell aufzugeben und Luna ließ ihn auf ein Kommando des Comte los. Die Wachen des Botschafters am Tor wollten vielleicht eingreifen, aber ein paar freundliche Kardinalsgardisten erklärten ihnen, dass sich die Angelegenheit sicher gleich klären würde.

Da die Lage unter Kontrolle war, begann Luna an der Türe zu schnüffeln und kratze daran. Rochefort entging das natürlich nicht und er prüfte, ob die Türe verschlossen war. Sie ließ sich öffnen und Luna huschte sofort hinein. Die Truhe zu finden war jetzt nicht mehr schwer, auch wenn sie im hintersten Winkel des Vorratskellers versteckt worden war. Ihr kurzes Aufbellen wurde aus der Kiste mit einem lauten Maunzen erwidert. Der Comte de Rochefort hatte Sergio bei den Kardinalsgardisten gelassen und war Luna gefolgt. Die Truhe wollte er aber lieber nicht öffnen. Attila war sicher verängstigt.

Doch das stimmte nur zum Teil. Die Stimme von Luna hatte er erkannt. Würde er ausgerechnet von dieser impertinenten Hündin gerettet werden? Nun gut, war sie wenigsten einmal nützlich. In dieser Kiste hatte es ja auch bereits zu stinken begonnen und Attila war sehr reinlich. Seinem Peiniger hatte er zumindest schon gezeigt, wie wütend er war. Das würde er gern noch einmal tun. Und er hatte den Fischtag versäumt. Den musste er unbedingt nachholen. Jetzt macht doch endlich wer diese dumme Truhe auf!

Am Abend desselben Tages saß der Geheimdienstchef von Kardinals Richelieu in seinem Arbeitszimmer und beendete seinen Bericht. Schließlich war er sehr gründlich und es war ein Fall für das Archiv. Die Bestrafung von Sergio hatte man dem genuesischen Botschafter überlassen und die Familie Pallavicini war nicht für ihre gnädige Art bekannt. Zu Rocheforts Füßen knackte eine zufriedene Luna mühelos die herrlichen Kalbsknochen.

Und noch jemand war bester Laune. Nicht nur Attila, der schnurrend im Schoß von Kardinal Richelieu lag und gekrault wurde, auch Seine Eminenz wirkte sehr befriedigt. Die dringenden Empfehlungen, die ein sehr zerknirschter Botschafter an seinen Vetter, den Dogen von Genua, schicken würde, könnten die Lage im Mittelmeer für Frankreich deutlich verbessern…

Kapitel Ein Wolf im Beichtstuhl

Die Halbwölfin Luna war wieder einmal kaum zu bändigen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen sie mitzunehmen, dachte der Comte de Rochefort bei sich. Aber heute war sie als Ablenkung gedacht und sie kam ja auch zu selten aus dem Palais Cardinal hinaus, wenn er in Paris war. Trotzdem, über die Le Halles mit ihr zu gehen war besonders mühsam. Der riesige, teilweise überdachte Marktplatz und die Geschäftsarkaden mussten eine Unzahl an Gerüchen für Luna bereithalten, das war dem Comte natürlich bewusst, aber sie zog und zerrte an ihrer Leine, so sehr, dass er sie kaum noch halten konnte. Hier durfte man sie jedoch unmöglich freilassen. Es würde in einem heillosen Chaos enden, bis er die Halbwölfin wieder unter Kontrolle hätte. Also rasch über den Marktplatz zur Kirche, die einen Teil des Platzes begrenzte.

Was war nur mit dem schwarzen Wolf los.? Was sollte die verflixte Leine bei einem Ausflug ins Gerücheparadies? Luna zerrte wieder kräftig an. Hier roch es doch nach toter Ratte. Das muss man untersuchen, vielleicht zur Tarnung darauf wälzen. Und dort – da hatte jemand Essensreste fallen gelassen – nichts wie hin. Moment, hier hatte eine freche Rivalin markiert, das ging ja mal gar nicht - drübermarkieren - und dort war die Markierung von einem wahrscheinlich recht passablen Rüden, dies musste man näher beschnuppern. Außerdem musste man jeden Winkel begutachten, jeden Hauseingang betrachten, diese Säulengänge inspizieren und alle Marktstände kontrollieren. Jeden einzelnen natürlich. Das gehört sich einfach so – das musste der schwarze Wolf doch wissen! Ah, er war etwas unaufmerksam – jetzt noch ein starker Ruck – na wenigsten das Stück Käse hatte sie erwischt!

Da vorn war endlich Église Saint-Eustache de Paris. Die Kirche galt als letzter Pariser Sakralbau der Gotik, jedoch bereits mit dem Geist der Renaissance verbunden. Zurzeit waren gerade die letzten Umbauten fertig geworden, die Jean-François de Gondi, der Erzbischof von Paris, hatte vorantreiben lassen. Rochefort mochte den Erzbischof nicht. Er war ein religiöser Eiferer, der sich selbst aber nicht an die kirchlichen Regeln hielt und ein liederliches Leben führte. Trotzdem hatte Kardinal Richelieu die Gelder für den großzügigen Umbau genehmigt. Vielleicht lag es daran, dass der Kardinal hier 1585 getauft worden war. Wie auch immer, die Kirche interessierte den Comte de Rochefort aus einem ganz anderen Grund. Vor ein paar Tagen war ihm ein spanischer Agent hier entkommen, den er über den Marktplatz vor der Kirche verfolgt hatte. Zuerst hatte er gedacht, dass der Mann einfach das Menschengewühl der Heiligen Messe ausgenutzt hatte um zu verschwinden. Doch dann hatte er von einem Informanten erfahren, dass immer wieder diese Kirche in den Akten des Spanischen Geheimdienstes auftauchte, zu oft, um nur ein Zufall zu sein. Er würde sich das Gotteshaus einmal näher betrachten. Leider war es immer gut besucht - es war nicht nur die Kirche aller Händler und Kaufleute der Gegend, sondern auch wegen seiner Größe und Architektur sehr bekannt und beliebt. Auch wurde sie natürlich von mehr als einem Priester betreut und hatte zahlreiches weiteres klerikales Personal. Das würde gar nicht einfach werden, aber Rochefort brauchte zuerst einen Eindruck von allem hier.

Jetzt auch noch ein „Heulhaus“ für Menschen. Das erkannte Luna sofort am Geruch. Menschen waren schon seltsam. Sie trafen sich nicht in der freien Natur um als Rudel zu heulen, sondern in diesen besonders hohen Häusern. Zugegeben, das Heulen klang hier irgendwie sehr intensiv, aber Menschen konnten einfach nicht so gut heulen wie eine Luna. Und sie heulten in solchen Häusern auch noch mit Rudelfremden. Das war völlig unverständlich. Wenigstens war die Leine jetzt weg. Dann konnte man sich hier umsehen. Meistens waren diese Heulhäuser aber eher langweilig. Einmal hatte sie gezeigt, wie man in einem solchen Haus richtig heulte, aber irgendwie waren weder der schwarze Wolf noch der rote Leitwolf davon begeistert gewesen.

Rochefort hatte Luna von der Leine gelassen. Sie würde für Ablenkung sorgen, während er sich umsah. Hunde waren in Kirchen nicht ausdrücklich verboten, zumindest in vielen nicht. Das stammte noch aus der Zeit, als man mit samt dem Vieh die Kirchen besuchte. Natürlich war das heutzutage nicht mehr üblich und Hunde nicht gern gesehen. Aber manchmal waren die Privilegien eines Hochadeligen schon nützlich. Rochefort würde gern ein paar Worte mit denjenigen wechseln, die sich wegen Luna aufregten – so konnte er mit einigen Leuten ins Gespräch kommen. Er ließ seinen Blick schweifen und seufzte innerlich. Diese Kirche hatte fünfundzwanzig Kapellen, ein mittiges Chorgestühl, einen riesigen Orgelraum, fast ein Dutzend Beichtstühle, von den Nebenräumen wie der Sakristei mal ganz abgesehen. Wie sollte er da Auffälligkeiten finden? Wohl doch besser mit den Leuten anfangen, die in der Kirche ihren Dienst verrichteten.

Wie erwartet, gab es hier wenig Interessantes. Natürlich, die Gerüche vieler Menschen, aber sonst? Weihrauch mochte Luna nicht so besonders. Essensreste gab es auch nicht. Zum Spielen war der Ort auch wenig geeignet. In Kerzen beißen schmeckte nicht gut, das wusste sie aus Erfahrung, und das Wasser in den Schalen schmeckte meistens auch scheußlich. Luna trabte trotzdem mal durch die ganze Kirche, man wusste ja nie. Zwei, drei Leute schienen sie zu beobachten und sie schauten nicht freundlich. Haarkamm am Rücken aufstellen funktionierte aber – sie kamen nicht näher. Da waren offene Holzkäfige. Manchmal sperrten sich Menschen selbst für kurze Zeit darin ein – schon seltsam. Die könnte man noch begutachten. Was die Menschen an diesen Käfigen wohl fanden? Sie hatten nicht einmal einen bequemen Liegeplatz, nur eine niedrige Holzbank. Aber da – da war ein Stück Leder bei der Holzbank eingeklemmt. Luna hatte es gar nicht gesehen, nur gerochen. Mit nur einer schnellen, geschickten Bewegung hatte sie das Stück Leder gepackt und trottete mit ihrer Beute aus dem Holzkäfig. Das Leder wäre zumindest ein nettes Kauspielzeug, mit dem man sich eine Zeitlang beschäftigen konnte.

Der Comte hatte gerade einen leisen Aufschrei gehört. Ein Priester starrte mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut auf Luna und nahm gerade eine kleine steinerne Heiligenfigur in die Hand wie einen Knüppel. Rochefort stutzte nur ganz kurz. Luna hatte eine kleine Ledermappe im Maul und war gerade aus einem Beichtstuhl gekommen. Die Reaktion des Priesters war aber doch seltsam und ungewöhnlich. Da musste er eingreifen. Nicht, dass Luna nicht mit dem Mann fertig werden würde, aber manchmal verschluckte sie Beute, wenn sie ihr jemand wegnehmen wollte, einfach als Ganzes. Und den Grafen interessierte jetzt diese Ledermappe…

Der Mann hatte seine Hand erhoben, also eine Drohgeste, oder? Luna schnupperte – der Mann roch mehr nach Angst als nach Wut. Es war also nicht notwendig ihn sofort Respekt zu lehren. Vielleicht würde er aber Lunas Langeweile vertreiben. Sie wich also zurück, hinter eine Bank. Der Mann kam näher. Luna war mit einem Satz darüber hinweg. Er umrundete die Bank. Luna schlüpfte unter die nächste Bank. Der Mann versuchte ihr den Weg abzuschneiden. Aber Luna war natürlich zu schnell und zischte an ihm vorbei. Er begann zu schimpfen und langsam kam er ins Schwitzen. Luna setzte zu einem Trab quer durch das riesige Kirchenschiff an und der Mann versuchte doch tatsächlich sie einzuholen. Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dabei war Luna nur im Renntrab. Sie war weit davon entfernt richtig zu laufen. So ging das eine ganze Weile.

Rochefort hatte zuerst eingreifen wollen, doch jetzt umspielte ein Lächeln seine Lippen. Wahrscheinlich war das gar nicht notwendig. Es war natürlich möglich, den Priester zu stoppen und zu befragen. Andererseits würde er sich dann offenbaren. Anscheinend hatte Luna einen sogenannten „toten Briefkasten“, also ein Geheimversteck, in diesem Beichtstuhl gefunden, wo Nachrichten hinterlegt und ausgetauscht wurden. Da der Kleriker gerade gut beschäftigt war, ging der Comte also zum Beichtstuhl. Wo könnte Luna diese Ledermappe gefunden haben? Ah – hier waren zwei kleine Schlaufen unter der Sitzbank im Beichtstuhl angebracht. Recht geschickt gemacht. Niemand, der davon nichts wusste, käme auf die Idee, dass darunter etwas versteckt wäre. Und in einem Beichtstuhl konnte man so ungesehen Nachrichten hinterlassen oder abholen. Die Ledermappe schützte wohl das Papier und so konnte die Nachricht auch nicht zufällig herunterfallen. Der Leiter des Geheimdienstes überlegte. Natürlich konnte er den Priester festnehmen und befragen. Da hatte er keine Skrupel. Allerdings könnte es auch besser sein, den Verdächtigen eine Zeit lang zu beobachten, was er so tat, wen er traf und auch seinen Hintergrund zu recherchieren. Dieser Halunke im Priestergewand wusste auch nicht, dass Luna zu ihm gehörte. Er konnte nicht wissen, dass er entlarvt war. Solche Vorteile musste man ausnutzen. Unbemerkt verließ der Comte de Rochefort den Beichtstuhl also wieder. Er ging zur Nebenpforte der großen Kirche und öffnete das Tor. Luna bemerkte das sofort. Mit großen Sätzen raste sie auf ihn zu. Rochefort trat ins Freie, blockierte aber noch das Tor. Im Sakralbau war ein Rumpeln zu hören. Der letzte Versuch die Halbwölfin aufzuhalten hatte damit geendet, dass der Priester einen schmerzhaften Zusammenstoß mit einem freistehenden Weihwasserbecken gemacht hatte.

Luna hatte noch immer ihre Beute im Maul. Und raus aus dem Heulhaus! Der Mann war ja auch ungeschickt gewesen – kein richtiger Widersacher für eine Luna. Und das Lederstück hatte sie natürlich behalten. Das hätte er nie bekommen. Oh, Moment, der schwarze Wolf hatte zu seinem schwarzen Beutel gegriffen. Da waren doch die köstlichen getrockneten Fischstückchen drinnen. Er wollte also tauschen. Getrockneter, nett riechender Fisch gegen Lederkauspielzeug – gar kein so schlechter Tausch. Aber natürlich nicht sofort einwilligen. Sie wollte ja ein großes Stück Fisch. Man durfte nie sofort tauschen. Aber es roch so lecker. Na gut – das war ein großes Stück. Die Halbwölfin spuckte die Ledermappe aus und verspeiste genüsslich den Trockenfisch.

Rochefort war auch zufrieden. Schnellen Schrittes ging er mit Luna zu den Markthallen hinüber. Es war natürlich Glück, dass Luna das Versteck und die Mappe gefunden hatte. Aber etwas Glück gehörte immer zu seinem Leben dazu. Die Nachricht in der Ledermappe war kodiert – aber dafür hatte Kardinal Richelieu ja Spezialisten. Die Angelegenheit würde noch einiges an Arbeit verlangen, aber ein Anfang war gemacht. Auch wenn sie es nicht wusste – die Halbwölfin war diesmal der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Sie hatte sich einen ausgiebigen Spaziergang über den Markt mehr als verdient, auch wenn es für ihn sehr anstrengend sein würde sie in Zaum zu halten. In dem Gewühl würde er aber auch gut untertauchen können – also dann los.