„Ein Wolf im Palais Cardinal?“ von Armand-Jean-du-Plessis

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Kapitel Winterfreuden

Schnee, Schnee, Schnee! Luna, die junge Halbwölfin, war begeistert. Es war ja so toll. Die vielen Gerüche, die da haften blieben, großartig! Und man konnte sich darin wälzen. Ja, und genau das tat sie auch ausgiebigst. Immer und immer wieder. Der Schnee war so angenehm kühl und erfrischend und man konnte den Geruch auch ein wenig auf sich selbst übertragen, da blieb er länger in der Nase. Die netten kühlen Temperaturen waren auch gut zum Laufen und Herumtollen. Fressen konnte man die weiße Pracht natürlich auch, es prickelte so fein auf der Zunge und am Gaumen und löschte den Durst. Die Flocken tanzten im Wind. Es war herrlich, dass das Rudel endlich wieder einen Ausflug raus aus der Stadt unternahm.

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Schnee, Schnee, Schnee! Verdammt, nahm das denn kein Ende? Der Wind trieb dem Reiter immer mehr dichte Flocken ins Gesicht. Er war schon völlig durchgefroren, selbst der dicke Wollmantel hatte seine Wirkung als Kälteschutz verloren. Er durfte keine Zeit verlieren, die Depeschen waren dringend. Darum hatte er auch nicht die üblichen Tagesetappen reiten können, wo an den großen Straßen fast immer Herbergen waren. Und dazwischen nur Eis und Schnee. Ach, ja und Kälte natürlich. Die Decke hatte letzte Nacht praktisch kein Schutz geboten und bei dem Schneetreiben war es so stockfinster gewesen, dass an ein Weiterreiten nicht zu denken gewesen war.

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Schnee, Schnee, Schnee! Endlich gab es genug davon. Niemand wusste mehr, wer zuerst die Idee gehabt hatte,  aber das war jetzt auch nicht mehr wichtig. Der Pariser Hof auf Schlittenfahrt, welch prächtige Abwechslung. Die feine Gesellschaft hatte ihre Prunkschlitten herausputzen lassen. Es war ein Fest für die Augen, die Schlitten waren auf das Aufwendigste verziert, mit Figuren aus der Antike, natürlich nur edelste Hölzer, und an Blattgold hatte man auch nicht gespart. Andere Schlitten wiederum zierten aufwendige Tierschnitzereien, Adler, Löwen, sogar Elefanten. Wer nur Hirsche oder Wildschweine als Motiv hatte, wurde fast belächelt. Auch Elfenbein war großzügig verwendet worden. Dazu kam das aufwendige Zaumzeug für die Schlittenpferde, meist mit Silber verziert, und sogar bestickte Schabracken mit den Wappen der Adelsfamilien für jedes einzelne Schlittenpferd waren zu sehen, obwohl für Zugpferde Schabracken eher unüblich waren. Aber es waren ja auch keine gewöhnlichen Pferde. Der Madrider Sonderbotschafter fuhr mit vier Karthäuserschimmeln vor seinem Schlitten und der Wiener Gesandte hatte ebenfalls vier Schimmel, Kladruber aus bester Zucht.

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Schnee, Schnee, Schnee! „Genau unter diesen Massen von Schnee sollte man die ganze aufgeblasene Hofgesellschaft begraben“, dachte sich Rochefort, während er den Tross an Schlitten von seinem Pferd aus beobachtete. Dick eingehüllt in Biberpelze aus La Nouvelle-France und ständig Alkohol ins sich hineinschüttend, wie feiste Kröten mit falschem Fell – so sah der Stallmeister und Geheimdienstchef von Kardinal Richelieu den Pariser Adel und die ausländischen Diplomaten. Er selbst war zweckmäßig in Wolle und Leder gekleidet, selbstverständlich in Schwarz gehalten. Dieses nass-kalte Wetter behagte ihm nicht. Er selbst war abgehärtet und weitaus Schlimmeres gewöhnt, aber der Kardinal hatte gestern zu husten angefangen und besorgt blickte Rochefort durch den Schneefall zum Schlitten Seiner Eminenz hinüber. Richelieus Schlitten war nicht ganz so prächtig wie manch anderer, dafür hatte er eine Überdachung und wurde von sechs Friesenrappen gezogen, auf die Rochefort mit Stolz blickte. Die Aufzucht dieser Pferde hatte er neben all seinen anderen Aufgaben selbst überwacht, zwei waren sogar ein Geschenk von Generalissimus Wallenstein, auch wenn das bei Hofe besser nicht bekannt würde. Doch neben dem Gesundheitszustand des Ersten Ministers von Frankreich war Rochefort auch über die Verspätung des angekündigten Boten besorgt. Hoffentlich lag das nur am Wetter; es war einfach zu viel Schnee in letzter Zeit gefallen und die Wege nur schwer passierbar. Die Botschafter von Spanien und Österreich würden nach der großen Schlittenwettfahrt morgen vom König empfangen werden und Kardinal Richelieu brauchte dringend die Depeschen, die dieser Kurier überbringen sollte. Die Botschafter würden den französischen König bedrängen, die französischen Truppen vom Rhein abzuziehen. Doch die schriftlichen Bitten der elsässischen Städte, sich unter französischen Schutz stellen zu dürfen, würden den Ausschlag geben, dass Ludwig XIII. weiterhin die offensive Politik Richelieus unterstützte. Wenn, ja wenn, die Briefe noch rechtzeitig eintreffen würden!

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Irgendwie waren diese Schneekutschen lustiger als die normalen. Das lag vielleicht daran, dass sie die weiße Pracht gehörig aufwirbelten, wenn sie fuhren. Es war eine Freude ihnen nachzurennen. Sie waren zeitweise sogar recht schnell, nicht so schnell natürlich wie eine echte Luna, aber schnell genug, dass es Spaß machte sie einzuholen. Nur der „Schwarze Leitwolf“ war nicht immer begeistert, wenn sie mit den – „Schlitten“ hießen sie wohl – um die Wette lief. Immer wieder rief er sie zurück. Dabei wurde sie doch kaum müde von dem bisschen Laufen und Jagen ging im Moment nicht gut, da die vielen Menschen die Beute verscheucht hatten. Ah, jetzt war Herrchen zum „Roten Alphawolf“ in so einen Schlitten gestiegen, also nichts wie nach.... Hmm, aber lange hatte das nicht gedauert und jetzt stieg er wieder aus und blieb zurück.

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Rochefort hatte sich nach kurzer Unterredung mit Kardinal Richelieu entschlossen, dem Boten entgegen zu reiten. Der Bote und sein Pferd waren wahrscheinlich inzwischen erschöpft und der Stallmeister des Kardinals war ausgeruht und hatte ein frisches Pferd. Kurz überlegte er, ob er Luna zurücklassen sollte, aber bei diesem Schneetreiben konnte er sowieso nicht im vollen Tempo reiten und die Halbwölfin schien überhaupt nicht müde zu sein. Natürlich bestand die Gefahr, den Boten in der anbrechenden Dunkelheit zu verfehlen, aber von Norden her gab es nur eine Straße und diese würde der Mann wohl nehmen.

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Weiter würde er heute nicht mehr kommen. Er war nun auf der Spur des königlichen Trosses, aber sein Pferd war völlig erschöpft. Selbst der Hafer, den er immer als Kraftreserve dabei hatte, konnte jetzt nichts mehr ausrichten. Und auch er selbst war fast am Ende seiner Kräfte. Es war sinnlos durch die Nacht zu stolpern, sein Pferd würde zusammenbrechen und zu Fuß war es aussichtslos. Die nächste Poststation war fast zwei Tagesritte entfernt, da war der Tross wahrscheinlich näher. Der dichte Schneefall hatte selbst die Spuren der schweren Proviantschlitten fast völlig zugeweht. Aber da vorn war ein Licht, vielleicht ein Bauernhof. Etwas Wärme würde so gut tun...

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„Luna, hier! Bleib! Platz!“ Aber die Kommandos waren zwecklos, die Halbwölfin raste in die Dunkelheit. „Verdammt, ich hätte sie doch nicht mitnehmen sollen“, dachte Rochefort missmutig bei sich, „für so etwas habe ich jetzt keine Zeit, soll sie doch jagen, sie wird schon wiederkommen.“ Doch dann war ein Bellen zu hören, das offensichtlich nicht von Luna stammte. Es war tiefer und klang verärgert. Neugierig geworden wendete Rochefort sein Pferd vom Weg ab und folgte dem Bellen. Das erwies sich als Fehler. Es gab zwar eine Art Pfad, doch den konnte man in der Dunkelheit schlecht erkennen. Gar nicht erkennen konnte man, dass daneben eine mit Schnee gefüllte Grube war. Auch Rocheforts Pferd bemerkte dies einen Augenblick zu spät und knickte weg. Kopfüber stürzte der Graf in den Schnee. Die Landung war weich und er rollte sich auch geschickt ab, aber sofort merkte er, dass etwas nicht stimmte. Sein Pferd hatte weniger Glück gehabt und sich am rechten Vorderbein verletzt. Dann wurde es ein wenig turbulent. Zuerst kam Luna angelaufen, um ihm besorgt das Gesicht abzuschlecken, während er aufstand, um sich die Verletzung des Pferdes anzuschauen, dann war da ein kleines zotteliges Pony, nein, es bellte und war wohl ein riesiger Hund, dann lief auch noch eine Gestalt mit einer Heugabel und einer Laterne  auf ihn zu und, Moment, da war noch jemand und der hatte eine Pistole…

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Einige Minuten später saß Rochefort in einer gemütlichen Bauernstube am warmen Kamin. In seiner Hand hielt er ein Glas heißen Wein. Neben ihm saß der königliche Bote und gegenüber die Bauersleute. Zu ihren Füßen lagen Luna und Atlas, die sich ständig ein wenig zwickten und kniffen, aber sonst recht friedlich waren. Am oberen Treppenabsatz, der ins zweite Stockwerk führenden Holzstiege lugten drei Paar Kinderaugen hervor und beobachten die Szene. Es war wohl ein glücklicher Zufall, dass Luna Atlas gerochen hatte und sie daher zu diesem Bauernhof gelaufen war. Oder hatte sie die Hühner gerochen und Atlas hatte ihr klar gemacht, dass das keine Beute für sie war?

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Am nächsten Morgen strahlte die Wintersonne vom Himmel herab und auch der Wind hatte sich gelegt. Der Schnee glitzerte wie tausend Diamanten im Sonnenlicht, doch Rocheforts Miene war finster. Er hatte jetzt zwar die wichtigen Depeschen, aber was nützte das? Sein eigenes Pferd war zu schwer verletzt, um es reiten zu können, auch wenn zum Glück nichts gebrochen war. Und das Pferd des Boten hatte sich über Nacht nicht erholt. Es war fraglich, ob es sich je wieder ganz erfangen würde. Die Bauersleute hatten nur einen Ochsen für den Pflug und den Karren. Der Schlittentross hatte sicher früh und lange bei der nahegelegenen Burg eine Nachtrast eingelegt. Aber nahegelegen war eben relativ. Zwanzig Kilometer waren zu Fuß im Schnee eine weite Strecke und die Zeit drängte. Die Kinder der Bauern hingegen waren blendender Laune. Sie tollten mit Luna im Schnee herum und fuhren mit ihren kleinen Rodeln um die Wette einen Hügel hinunter. Da kam ihm eine Idee...

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Also doch, warum nicht früher? Spuren der Schlitten verfolgen und sie einholen! Gestern hatte man das Spiel noch verboten. Aber Herrchen machte es heute besonders schwer. Er hatte ihr das Geschirr umgelegt und auch die Leine genommen. Normalerweise mochte sie das nicht besonders, denn Geschirr und Leine bedeuteten „brav sein“ und nicht rennen. Aber heute war das anders. Herrchen hatte sich auf so einen ganz kleinen Schlitten gesetzt und hielt die Leine fest. Sie sollte so schnell laufen, wie sie nur konnte. Na, das konnte er haben. Sie würde als auch noch den Schlitten ziehen müssen beim Rennen. Na, kein Problem für eine Luna!

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Das Gelände war eben, oft sogar leicht abschüssig. Trotzdem – 20 Kilometer waren keine Kleinigkeit und so dachte Rochefort zum wiederholten Male bei sich: „Woher nimmt sie bloß die Kraft und die Ausdauer? Und diese Geschwindigkeit?“ Es kam dem Geheimdienstchef fast so vor, als wäre Luna so rasch wie ein Pferd. Das war natürlich Unsinn, aber die Schnelligkeit war trotzdem beeindruckend. Und die kleine Halbwölfin schien kaum müde zu werden. Sie war so rasant, dass Rochefort oft Mühe hatte mit den Füßen den kleinen Schlitten zu steuern. Zweimal war er bereits vom Weg abgekommen und im hohen Schnee stecken geblieben. Aber Luna schien das nichts auszumachen.

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Jawohl, da vorn waren die Schlitten, sehr gut, jetzt wäre sie doch fast müde geworden, war doch recht anstrengend. Und es gab auch ein paar neue kleinere mit nur einem Pferd davor. Und sie hatten Glöckchen und Schellen. Also nochmal volles Tempo. He, die fuhren ja teilweise nebeneinander – das war ein Rennen! Und sie hatten ohne sie angefangen, das ging ja gar nicht. Na, denen würde sie zeigen, wie schnell eine Luna sein kann!!

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„Geschafft, und noch rechtzeitig – das Rennen der Einzelschlitten ist noch im Gange“, dachte Rochefort erleichtert, „haben diese albernen Hofvergnügen auch mal einen Sinn.“ Doch dann beschleunigte die junge Halbwölfin noch mal. Sie war jetzt wirklich so schnell wie ein galoppierendes Pferd. Und natürlich nahm sie keine Rücksicht, weder auf die Hofdamen, die ihre Favoriten anfeuerten, noch auf die Teilnehmer des Rennens und schon gar nicht auf den Comte hinter sich auf der Kinderrodel. Kreischend wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen stoben die Gesellschafterinnen der Königin auseinander, als die rasende Luna durch sie hindurchpreschte. Auch zwei der Rennschlittenpferde erschraken und stiegen hoch. Zwei Teilnehmer weniger… Rochefort wurde es jetzt sogar etwas mulmig. Eigentlich war es ein tolles Gefühl so über den Schnee zu gleiten und die Geschwindigkeit berauschte ihn zusätzlich. Aber da waren die Hufe der Pferde und die Kufen der größeren Schlitten... Und fast hatte Luna die vordersten Rennschlitten eingeholt. Vielleicht sollte man sein Glück nicht herausfordern und da war eine hohe Schneewechte…

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„Und dann habt Ihr auch noch das Schlittenrennen des Adels gewonnen?“

„Nicht ganz, Eure Eminenz, ich bin abgesprungen, als Luna mitten ins Rennen hineingelaufen ist.“

„So, so, aber sie war doch als erste im Ziel, oder?“

„Das ja, aber sie hatte auch keinen Ballast mehr zu ziehen und war so eine Art Quereinsteigerin!“

„Trotzdem hat sie den ersten Preis wohl verdient.“

„Ihr scherzt, Eure Eminenz, was soll Luna mit der Gunst einer Königlichen Privataudienz anfangen? – Und ich verzichte dankend.“

„Nun, die Audienz wird in der Königlichen Küche stattfinden und ich denke Luna wird zufrieden sein…“