Auf Messers Schneide von Petalwing 

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Kapitel Wenn die Nacht beginnt...

Kapitel 3 – Wenn die Nacht beginnt

Ich sitze seit geraumer Zeit auf der Lagerstatt, die mir zugewiesen wurde und starre die Wand an. Draußen kündigt die Turmuhr gerade die Vollendung der dritten Stunde an. Obwohl mir durchaus bewusst ist, dass mich regungsloses Sitzen nicht weiterbringen wird, bin ich unfähig, mich zu erheben oder auch nur den Blick abzuwenden von dem Gemälde, dem einzigen schmückenden Beiwerk, in diesem ansonst sehr nüchtern gehaltenem Raum. Nachmittagssonne quillt durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden herein und sorgt für einen Dämmerzustand, der mir nicht Ungelegen kommt. Die Lichtverhältnisse spiegeln die Zustände in meinem Inneren und ich sehe keine Veranlassung, irgendetwas zu beschönigen oder zu verschleiern. Ich werde mich an all das gewöhnen müssen.
Die Malerei zeigt einen kleinen Fluss, der sich durch ein Sommerwäldchen schlängelt. Ein winziges Boot folgt dem Flusslauf. Die Szene erinnert mich an meine Heimat. Absicht oder Zufall? Mittlerweile traue ich meinem Entführer eine ganze Menge zu. Aber ist Entführer wirklich das Wort, das ich suche?
Nachdem er mich an diesen Ort geführt hat, ist etwa eine Woche vergangen. Ich frage mich was draußen, außerhalb dieses Refugiums vor sich geht, ob meine Freunde bereits Anstrengungen unternommen haben, mich zu finden, ob die Welt sich überhaupt noch weiterdreht. Sie muss wohl, denn ich kann das Gurren der Tauben vernehmen und das klappern der Kutschenräder auf dem Pflaster. Wenn ich mich dazu überwinden könnte, ans Fenster zu treten und hinaus zu blicken, dann sähe ich vermutlich auf eine Pariser Straße hinab. Bei Nacht könnte ich sogar die Läden öffnen. Wenn ich wollte.
Das ist allerdings der springende Punkt.
Warum sollte ich wollen? Die Lethargie, die mich immer dann befällt, wenn mein Sire mich zurücklässt, um Unternehmungen zu beginnen, deren Zweck und Natur er vor mir verbirgt, ist beinahe mein Freund geworden. In der Stille der Reglosigkeit kann ich am Besten die neuen, verwirrenden Informationen verinnerlichen, die mein Erschaffer mir hinwirft, wie man einem Hofhund ein paar Krumen überlässt. Und ich habe keine Wahl, ich muss hinnehmen, dass die Dinge in seinem Tempo, nach seinen Regeln stattfinden. Einiges hat er mir berichtet über das, was ich jetzt bin, die gottlose Kreatur zu der er mich gemacht hat.
Man nennt uns Kainskinder. Es gibt Clans. Er ist ein Ventrue. Ich habe sein Blut getrunken. Das macht mich zu einem von ihnen. Wir haben Fähigkeiten. Davon habe ich allerdings an mir bisher kaum etwas bemerkt. Ventrue sind geboren zu herrschen. Ja herrschen, über die Welt der Nacht. Er besteht darauf, dass ich das nie vergesse, mir scheint's, er hat Erwartungen an mich und meine Rolle, die ich irgendwann zu erfüllen habe. Denn Paris unterhält eine zweite Gesellschaft in Untergrund, in der Nacht, in edlen Salons und in stinkenden Gassen. Die bleichen Damen und Herren spiegeln die Stadt in einer parodistischen Komödie. Oder spiegelt die Stadt sie? Sie sind alt. Manche von ihnen überdauerten Zeitalter. Menschen, ‚Sethkindern’, muss unsere Existenz verborgen bleiben. Jedes Sethkind, das erfährt, was wir sind, muss sterben... oder zu uns gehören. Das sind die Bedingungen der Maskerade. Die Regeln, das Spiel der Jäger.
Und Blut ist der Schlüssel. Der Schlüssel zur Macht. Rochefort geht davon aus, dass Macht das Entscheidende ist. Glaube ich ihm, so beherrscht das Streben nach Macht und Herrschaft die Welt der Nacht. Gerade aus diesem Grund ist mir nicht klar, was mich in diese Angelegenheit verstrickte, warum ausgerechnet ich etwas damit zu tun haben sollte. Ich war zufrieden in meiner Unwissenheit, ein einfacher Musketier an der Seite meiner Kameraden. Ich wusste nichts. Es gab keinen Grund, ausgerechnet mich in dieses bizarre Theater hineinzuziehen. Rocheforts Antwort auf meine eben just diesem Umstand betreffenden Fragen fiel knapp und ausweichend aus. Er wollte es, weil er es so wollte.
Zumeist hält er mir Vorträge, während wir unten im Esszimmer über edlem, weißem Linnen sitzen, das auch die Tische im Schloss meines Vaters nicht beschämt hätte, und den unheiligen Lebenssaft aus prunkvollen Kelchen trinken, den er Vita nennt. Dann habe ich kaum Möglichkeiten zu Einschüben und Gegenfragen. Er sieht es als selbstverständlich an, dass ich jeder Ausführung folge und keine seiner Erläuterungen in Frage stelle, ungeachtet ihrer Absurdität. Er nennt mich ein Kind und behandelt mich gleichermaßen. Ich kann nicht behaupten, dass mir dieser Umstand gefällt. Im Gegenteil, jetzt nach etwa einer Woche, in der sich eine gewisse Routine seiner Lektionen eingestellt hatte, empfinde ich Ärger angesichts dieser Bevormundung.
Ich vermisse den Wein. Fand ich doch in seiner betäubenden Umarmung ein wenig Trost, jetzt ist mir auch diese kleine Freude genommen. Obwohl ich könnte, ich verspüre kein Bedürfnis danach, und es hätte keinen Effekt. Schließlich bin ich tot. Wenngleich ich mir diesen Umstand durchaus anders vorgestellt habe. Mein Freund Aramis würde sicher eine treffende, charmante Beschreibung für meinen Zustand finden, vielleicht ‚lebendig mit Einschränkungen’? Wer weiß das schon. Rochefort scheinen philosophische Grübeleien über unser Dasein völlig gleichgültig zu sein.
Draußen fällt plötzlich ein Schuss, dann dringt aufgeregtes Geschrei an meine Ohren. Das schrille Geräusch packt mich und schlägt eine Bresche in den Wall meiner Einsamkeit. Einem plötzlichen Impuls nachgebend, trete ich zum Fenster und spähe durch die Läden. Eine Menschentraube drängt sich auf der Straße um einen Liegenden. Er trägt das vornehme Gewand eines Edelmannes. Blut sickert aus einer Wunde in der Brust. Wurde er erschossen? Ein Täter ist nicht zu entdecken. Immer wieder wird mein Blick von der dunklen Flüssigkeit angezogen, die auf dem schmutzigen Pflaster versickert. Ich meine sogar, den Geruch bis hinauf in meine Kammer zu spüren, über dem Gestank von Abfällen, Essensdunst und menschlichen Ausscheidungen hinweg, der stets durch die Straßen weht. Seit dem „Kuss“ wie Rochfort meine Erschaffung nennt, sind meine Sinne schärfer geworden, ich nehme alles intensiver wahr. Ein Geschenk meiner neuen Natur.
Für einen Augenblick ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass dieser Tod eine Verschwendung ist, so edles Blut gehört nicht auf den Boden. Im nächsten Augenblick reiße ich mich von Fenster los. Der Zynismus meiner Überlegungen erschreckt mich. Ich sollte Betroffenheit empfinden oder wenigstens Gleichgültigkeit, stattdessen spüre ich den Hunger und mit dem Instinkt des Jägers bedaure ich nur den Verlust einer potentiellen Beute. Langsam lasse ich mich wieder auf das Bett sinken, aber die Lethargie der vergangenen Stunden will sich nicht wieder einstellen. Irgendwann gebe ich es auf und schreite unruhig umher. Ich gebe es nur ungern zu, aber ich erwarte Rochefort mit Ungeduld zurück. Jetzt, wo die bleierne Müdigkeit von mir abgefallen ist, halte ich es keinen Augenblick mehr länger in diesem Gefängnis aus. Auch nicht im Verlies meiner eigenen Gedanken. Ich will hinaus. Etwas tun, irgendetwas. Und sei es nur, dass ich ein paar Schritte am Fluss entlang gehe.
Was D'Artagnan wohl macht? Sicher sorgt er sich, denn es sieht mir nicht ähnlich, einfach so zu verschwinden ohne meinen Freunden eine Nachricht zu hinterlassen. Der Gedanke an D'Artagnan lässt mich nicht mehr los. Der Impuls, das Bedürfnis ihn zu sehen, gewinnt an Macht. Nur für einen Augenblick will ich ihm nahe sein und mich überzeugen, dass es ihm gut geht.
Ich könnte es tun, sobald die Sonne untergegangen ist. Er hat, soweit ich weiß, an diesem Abend keinen Dienst und wird zu Hause sein. Oder er trifft sich mit den anderen im Tannenzapfen. Eigentlich sollte es nicht schwer sein, unbemerkt an diesen oder jenen Ort zu gelangen. Rochefort hat mir einen Ausflug in die Stadt nicht direkt verboten. Wahrscheinlich verlässt er sich darauf, dass ich nichts ohne ihn unternehme, dass ich verschüchtert wie eine Debütantin auf dem Winterball nur darauf warte, dass er die Entscheidungen für mich trifft. Vielleicht ist es an der Zeit, ihm zu beweisen, dass ich noch immer einen eigenen Kopf besitze. Ehe ich mich's versehe habe ich den kleinen Ausflug bereits beschlossen, auf Rochforts eventuellen Zorn werde ich es ankommen lassen. Was kann er schon tun? Mich töten?
Die Sonne sinkt für meinen Geschmack viel zu langsam, aber ich muss warten bis sie gänzlich verschwunden ist, oder ich werde mir Verletzungen zuziehen. Ich weiß, dass mein Sire Mittel und Wege kennt, sich gelegentlich auch am Tage hinaus zu begeben, aber er hat noch nicht geruht, mich in dieses Geheimnis einzuweihen. Also muss ich mich wohl oder übel in Geduld fassen und noch eine Stunde ausharren.