Auf Messers Schneide von Petalwing
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 20 BewertungenKapitel Wenn die Nacht beginnt...
Kapitel 3 – Wenn die Nacht beginnt
Ich sitze seit geraumer Zeit auf der Lagerstatt, die mir
zugewiesen wurde und starre die Wand an. Draußen kündigt die
Turmuhr gerade die Vollendung der dritten Stunde an. Obwohl mir
durchaus bewusst ist, dass mich regungsloses Sitzen nicht
weiterbringen wird, bin ich unfähig, mich zu erheben oder auch nur
den Blick abzuwenden von dem Gemälde, dem einzigen schmückenden
Beiwerk, in diesem ansonst sehr nüchtern gehaltenem Raum.
Nachmittagssonne quillt durch die Ritzen der geschlossenen
Fensterläden herein und sorgt für einen Dämmerzustand, der mir
nicht Ungelegen kommt. Die Lichtverhältnisse spiegeln die Zustände
in meinem Inneren und ich sehe keine Veranlassung, irgendetwas zu
beschönigen oder zu verschleiern. Ich werde mich an all das
gewöhnen müssen.
Die Malerei zeigt einen kleinen Fluss, der sich durch ein
Sommerwäldchen schlängelt. Ein winziges Boot folgt dem Flusslauf.
Die Szene erinnert mich an meine Heimat. Absicht oder Zufall?
Mittlerweile traue ich meinem Entführer eine ganze Menge zu. Aber
ist Entführer wirklich das Wort, das ich suche?
Nachdem er mich an diesen Ort geführt hat, ist etwa eine Woche
vergangen. Ich frage mich was draußen, außerhalb dieses Refugiums
vor sich geht, ob meine Freunde bereits Anstrengungen unternommen
haben, mich zu finden, ob die Welt sich überhaupt noch weiterdreht.
Sie muss wohl, denn ich kann das Gurren der Tauben vernehmen und
das klappern der Kutschenräder auf dem Pflaster. Wenn ich mich dazu
überwinden könnte, ans Fenster zu treten und hinaus zu blicken,
dann sähe ich vermutlich auf eine Pariser Straße hinab. Bei Nacht
könnte ich sogar die Läden öffnen. Wenn ich wollte.
Das ist allerdings der springende Punkt.
Warum sollte ich wollen? Die Lethargie, die mich immer dann
befällt, wenn mein Sire mich zurücklässt, um Unternehmungen zu
beginnen, deren Zweck und Natur er vor mir verbirgt, ist beinahe
mein Freund geworden. In der Stille der Reglosigkeit kann ich am
Besten die neuen, verwirrenden Informationen verinnerlichen, die
mein Erschaffer mir hinwirft, wie man einem Hofhund ein paar Krumen
überlässt. Und ich habe keine Wahl, ich muss hinnehmen, dass die
Dinge in seinem Tempo, nach seinen Regeln stattfinden. Einiges hat
er mir berichtet über das, was ich jetzt bin, die gottlose Kreatur
zu der er mich gemacht hat.
Man nennt uns Kainskinder. Es gibt Clans. Er ist ein Ventrue. Ich
habe sein Blut getrunken. Das macht mich zu einem von ihnen. Wir
haben Fähigkeiten. Davon habe ich allerdings an mir bisher kaum
etwas bemerkt. Ventrue sind geboren zu herrschen. Ja herrschen,
über die Welt der Nacht. Er besteht darauf, dass ich das nie
vergesse, mir scheint's, er hat Erwartungen an mich und meine
Rolle, die ich irgendwann zu erfüllen habe. Denn Paris unterhält
eine zweite Gesellschaft in Untergrund, in der Nacht, in edlen
Salons und in stinkenden Gassen. Die bleichen Damen und Herren
spiegeln die Stadt in einer parodistischen Komödie. Oder spiegelt
die Stadt sie? Sie sind alt. Manche von ihnen überdauerten
Zeitalter. Menschen, ‚Sethkindern’, muss unsere Existenz verborgen
bleiben. Jedes Sethkind, das erfährt, was wir sind, muss sterben...
oder zu uns gehören. Das sind die Bedingungen der Maskerade. Die
Regeln, das Spiel der Jäger.
Und Blut ist der Schlüssel. Der Schlüssel zur Macht. Rochefort geht
davon aus, dass Macht das Entscheidende ist. Glaube ich ihm, so
beherrscht das Streben nach Macht und Herrschaft die Welt der
Nacht. Gerade aus diesem Grund ist mir nicht klar, was mich in
diese Angelegenheit verstrickte, warum ausgerechnet ich etwas damit
zu tun haben sollte. Ich war zufrieden in meiner Unwissenheit, ein
einfacher Musketier an der Seite meiner Kameraden. Ich wusste
nichts. Es gab keinen Grund, ausgerechnet mich in dieses bizarre
Theater hineinzuziehen. Rocheforts Antwort auf meine eben just
diesem Umstand betreffenden Fragen fiel knapp und ausweichend aus.
Er wollte es, weil er es so wollte.
Zumeist hält er mir Vorträge, während wir unten im Esszimmer über
edlem, weißem Linnen sitzen, das auch die Tische im Schloss meines
Vaters nicht beschämt hätte, und den unheiligen Lebenssaft aus
prunkvollen Kelchen trinken, den er Vita nennt. Dann habe ich kaum
Möglichkeiten zu Einschüben und Gegenfragen. Er sieht es als
selbstverständlich an, dass ich jeder Ausführung folge und keine
seiner Erläuterungen in Frage stelle, ungeachtet ihrer Absurdität.
Er nennt mich ein Kind und behandelt mich gleichermaßen. Ich kann
nicht behaupten, dass mir dieser Umstand gefällt. Im Gegenteil,
jetzt nach etwa einer Woche, in der sich eine gewisse Routine
seiner Lektionen eingestellt hatte, empfinde ich Ärger angesichts
dieser Bevormundung.
Ich vermisse den Wein. Fand ich doch in seiner betäubenden Umarmung
ein wenig Trost, jetzt ist mir auch diese kleine Freude genommen.
Obwohl ich könnte, ich verspüre kein Bedürfnis danach, und es hätte
keinen Effekt. Schließlich bin ich tot. Wenngleich ich mir diesen
Umstand durchaus anders vorgestellt habe. Mein Freund Aramis würde
sicher eine treffende, charmante Beschreibung für meinen Zustand
finden, vielleicht ‚lebendig mit Einschränkungen’? Wer weiß das
schon. Rochefort scheinen philosophische Grübeleien über unser
Dasein völlig gleichgültig zu sein.
Draußen fällt plötzlich ein Schuss, dann dringt aufgeregtes
Geschrei an meine Ohren. Das schrille Geräusch packt mich und
schlägt eine Bresche in den Wall meiner Einsamkeit. Einem
plötzlichen Impuls nachgebend, trete ich zum Fenster und spähe
durch die Läden. Eine Menschentraube drängt sich auf der Straße um
einen Liegenden. Er trägt das vornehme Gewand eines Edelmannes.
Blut sickert aus einer Wunde in der Brust. Wurde er erschossen? Ein
Täter ist nicht zu entdecken. Immer wieder wird mein Blick von der
dunklen Flüssigkeit angezogen, die auf dem schmutzigen Pflaster
versickert. Ich meine sogar, den Geruch bis hinauf in meine Kammer
zu spüren, über dem Gestank von Abfällen, Essensdunst und
menschlichen Ausscheidungen hinweg, der stets durch die Straßen
weht. Seit dem „Kuss“ wie Rochfort meine Erschaffung nennt, sind
meine Sinne schärfer geworden, ich nehme alles intensiver wahr. Ein
Geschenk meiner neuen Natur.
Für einen Augenblick ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass dieser
Tod eine Verschwendung ist, so edles Blut gehört nicht auf den
Boden. Im nächsten Augenblick reiße ich mich von Fenster los. Der
Zynismus meiner Überlegungen erschreckt mich. Ich sollte
Betroffenheit empfinden oder wenigstens Gleichgültigkeit,
stattdessen spüre ich den Hunger und mit dem Instinkt des Jägers
bedaure ich nur den Verlust einer potentiellen Beute. Langsam lasse
ich mich wieder auf das Bett sinken, aber die Lethargie der
vergangenen Stunden will sich nicht wieder einstellen. Irgendwann
gebe ich es auf und schreite unruhig umher. Ich gebe es nur ungern
zu, aber ich erwarte Rochefort mit Ungeduld zurück. Jetzt, wo die
bleierne Müdigkeit von mir abgefallen ist, halte ich es keinen
Augenblick mehr länger in diesem Gefängnis aus. Auch nicht im
Verlies meiner eigenen Gedanken. Ich will hinaus. Etwas tun,
irgendetwas. Und sei es nur, dass ich ein paar Schritte am Fluss
entlang gehe.
Was D'Artagnan wohl macht? Sicher sorgt er sich, denn es sieht mir
nicht ähnlich, einfach so zu verschwinden ohne meinen Freunden eine
Nachricht zu hinterlassen. Der Gedanke an D'Artagnan lässt mich
nicht mehr los. Der Impuls, das Bedürfnis ihn zu sehen, gewinnt an
Macht. Nur für einen Augenblick will ich ihm nahe sein und mich
überzeugen, dass es ihm gut geht.
Ich könnte es tun, sobald die Sonne untergegangen ist. Er hat,
soweit ich weiß, an diesem Abend keinen Dienst und wird zu Hause
sein. Oder er trifft sich mit den anderen im Tannenzapfen.
Eigentlich sollte es nicht schwer sein, unbemerkt an diesen oder
jenen Ort zu gelangen. Rochefort hat mir einen Ausflug in die Stadt
nicht direkt verboten. Wahrscheinlich verlässt er sich darauf, dass
ich nichts ohne ihn unternehme, dass ich verschüchtert wie eine
Debütantin auf dem Winterball nur darauf warte, dass er die
Entscheidungen für mich trifft. Vielleicht ist es an der Zeit, ihm
zu beweisen, dass ich noch immer einen eigenen Kopf besitze. Ehe
ich mich's versehe habe ich den kleinen Ausflug bereits
beschlossen, auf Rochforts eventuellen Zorn werde ich es ankommen
lassen. Was kann er schon tun? Mich töten?
Die Sonne sinkt für meinen Geschmack viel zu langsam, aber ich muss
warten bis sie gänzlich verschwunden ist, oder ich werde mir
Verletzungen zuziehen. Ich weiß, dass mein Sire Mittel und Wege
kennt, sich gelegentlich auch am Tage hinaus zu begeben, aber er
hat noch nicht geruht, mich in dieses Geheimnis einzuweihen. Also
muss ich mich wohl oder übel in Geduld fassen und noch eine Stunde
ausharren.