Der verlorene Sohn von Louise
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 4 BewertungenKapitel Der verlorene Sohn
D'Artagnan zog seinen Mantel enger um seine Schultern. "Es ist
verdammt kalt heute, findest Du nicht, Athos?"
Athos lächelte. "In der Gascogne ist es wärmer, nicht wahr?!"
Die beiden Musketiere waren zur Nachtwache eingeteilt und bewachten
den Innenhof des Louvre. Es war keine sehr interessante Aufgabe,
doch gemeinsam war sie sehr viel angenehmer als allein. D'Artagnan
mochte Athos sehr und ihm galt auch seine ganze Bewunderung, doch
zu einer solch langweiligen Aufgabe wie der Nachtwache im Innenhof
des Louvre war sein Freund Porthos doch um vieles unterhaltsamer
als Athos. Das lag einfach daran, daß Athos nie aus seinem Leben
erzählte, nie auf Frauengeschichten zu sprechen kam oder von seiner
Familie erzählte. Er nahm die Wache immer sehr ernst, sprach selten
und hörte meistens nur zu. D'Artagnan hatte es aufgegeben, dort
nachzuforschen, wo offensichtlich war, daß er keine Antwort
bekommen würde. Zum wohl fünfundzwanzigsten Mal an diesem Abend
umrundeten sie den Innenhof und kamen zu ihrem Ausgangspunkt, dem
"Tor..........." Sie wollten gerade die sechsundzwanzigste Runde
beginnen, als zwei Musketiere zu ihnen stießen.
"Wir sollen Euch ablösen. Der Hauptmann möchte Euch, Monsieur
Athos, sofort in seinem Kabinett sprechen."
"Danke!" antwortete Athos knapp, als wäre es ganz alltäglich, daß
der Hauptmann der Musketiere ihn mitten in der Nacht in sein
Kabinett beorderte. Er schickte sich an zu gehen. Ratlos, was er
tun sollte, schloß sich d'Artagnan ihm an. "Weißt Du, was der
Kapitän von Dir will?" fragte er.
"Ich habe keine Ahnung", gab Athos zu, "aber es ist nett von dir,
d'Artagnan, daß Du mich begleitest. Es wird sicher nicht lange
dauern."
Während dieser Unterhaltung stiegen sie die Treppe zum Kabinett von
Monsieur de Tréville hinauf. Als sie es erreichten, blieb
d'Artagnan im Vorzimmer zurück, während Athos - da kein
Kammerdiener mehr im Dienst war - an die Tür des Kabinetts klopfte
und eintrat.
Monsieur de Tréville saß nicht an seinem großen Schreibtisch,
sondern stand am Fenster. Als er Athos bemerkte, ging er ihm
entgegen und forderte ihn mit der Hand auf, Platz zu nehmen. Athos
hatte den Hauptmann nur sehr selten so nervös gesehen. Der
Gascogner, der sonst immer mit Festigkeit aufzutreten wußte, wirkte
ungewöhnlich unsicher und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Als
Athos nach einer Weile Anstalten machte, sich wieder aus dem Sessel
zu erheben, in den er sich nach Trévilles Aufforderung gesetzt
hatte, nahm der Kapitän ebenfalls ihm gegenüber Platz, und es
entstand eine Pause, die es sonst bei Gesprächen mit dem Hauptmann
nie gegeben hatte. Während Tréville die Flammen des Kamins
betrachtete, ruhte Athos' Blick auf dem Gesicht des Hauptmanns.
Schließlich gab sich Tréville einen Ruck und begann: "Nun, Athos,
ich habe eine wichtige Angelegenheit mit Euch zu besprechen,
allerdings betrifft diese....Sache....den Grafen de La Fère."
Aufmerksam beobachtete der Hauptmann die Reaktion seines
Gegenübers, als dieser Name fiel. Athos' Gesicht verfinsterte sich,
doch gleichzeitig nahm er eine noch aufrechtere Haltung an als er
schon hatte.
"Es ist ....", begann der Hauptmann, "es handelt sich um...." Er
fand offensichtlich nicht die richtigen Worte. Und obwohl der Name
"Graf de La Fère" in Athos zahlreiche Erinnerungen wachgerufen
hatte und in ihm eine böse Vorahnung aufstieg, schwieg er und
wartete geduldig, bis der Hauptmann sich wieder gefangen hatte.
Dieser atmete nach einer Weile tief durch.
"Der Herr Polizeipräsident hat mich heute auf etwas aufmerksam
gemacht, das ich Euch nicht verschweigen kann. Wie üblich hat er
eine Liste der Personen, die neu am Hof vorgestellt werden sollen
und deren Paten angefertigt. Wie Ihr vielleicht wißt, findet morgen
eine solche Vorstellung statt, bei der der junge Adel des Landes am
Hof eingeführt wird. Bevor so ein Ereignis stattfindet, versucht
man natürlich, sicher zu gehen, daß nur berechtigte Personen
Zutritt zum Louvre bekommen und..." Er hielt für einen Moment inne
und sah Athos direkt in die Augen. "Auf dieser Liste steht Euer
Name! Morgen abend wird der Graf de La Fère durch den Grafen de
Rochefort dem König vorgestellt."
Athos erbleichte. Kein Wort kam über seine Lippen, und Tréville war
sich nicht sicher, welcher Name ihn so tief traf, sein eigener oder
der seines Feindes? Oder die Verbindung der beiden?
Plötzlich sprang Athos auf. "Dann weiß er es! Rochefort kennt meine
Vergangenheit!" Er sah zu Tréville. "Er kennt mein
Verbrechen!"
"Dann seid Ihr Euch sicher, daß der als Graf de La Fère
angekündigte Mann ein Betrüger ist?" fragte Tréville, der, auch
wenn er viel über das Leben des Musketiers wußte, ihn doch auch oft
kaum zu kennen schien.
"Das steht außer Zweifel!" antwortete Athos. "Ich habe weder
Bruder, noch Neffen, noch sonst einen Verwandten. Mein Vater ist
tot." Verbittert fügte er hinzu. "Sowie auch der rechtmäßige Träger
des Titels Graf de La Fère." Er trat ans Fenster und blickte in die
Nacht hinaus. Mit fester Stimme sagte er: "Man wird ihn arretieren
und anklagen..."
"Aber Athos", unterbrach ihn Tréville, "Dafür braucht man Beweise.
Ihr vergeßt, daß nur ich weiß, wer Ihr wirklich seid!"
"Ihr und Rochefort!" fuhr Athos dazwischen. Seine Stimme war lauter
als sonst. Tréville merkte, daß der Musketier unbewußt die Rolle
des Grafen angenommen hatte. Es schien fast, als habe seine
Ausstrahlung an Größe und Anmut zugenommen. "Und damit der
Kardinal." stellte Athos fest. Er wurde wieder ruhiger. "Hauptmann,
was soll ich tun?" fragte er und drehte sich zu Tréville.
"Euren Titel, der Euch rechtmäßig gehört, zurückfordern!"
antwortete Tréville, der darin die einzige Lösung sah.
"Einen Titel, den ich nicht will... den ich abgelegt habe. Ich lege
keinen Wert auf den Namen. Es ist nicht mehr der meine." Athos
schlug mit der Faust auf den Fenstersims. Tréville sah, daß er mit
sich selbst kämpfte. Er wußte, wie schwer es für Athos war, mit der
Vergangenheit konfrontiert zu werden.
"Henri!", wagte Tréville die Offensive, als er Athos mit seinem
wahren Vornamen ansprach. "Es muß sein. Nur Eure wahre Identität
kann diesen Betrüger entlarven. Es ist die einzige Lösung. Auch
wenn ihr danach ein anderes Leben führen werdet, so könnt Ihr dem
König doch auch als Graf dienen. Es ist Eure Pflicht, den König vor
einem solchen Betrüger zu warnen."
Athos nickte stumm. Er wußte, daß der Hauptmann recht hatte. Morgen
würde er als Graf de La Fère am Hof erscheinen müssen. Ein weiteres
Mal würde er Rochefort gegenüberstehen. Wie hatte er seine wahre
Identität bloß herausgefunden? Was bezweckte er damit? War es
vielleicht eine Falle? Sein Kopf begann zu schmerzen. Das war
zuviel Unerklärliches. Er mußte darüber nachdenken. In aller Ruhe.
Abrupt drehte er sich zu Tréville um, der ihn sorgenvoll ansah.
"Ich werde morgen Abend im Louvre unter meinem wahren Namen
erscheinen. Ich hoffe, Ihr werdet mir als Zeuge zur Verfügung
stehen! Ich bitte Euch nur, mich von meinem Dienst morgen zu
entbinden." Daran erkannte Tréville Athos wieder. Er konnte einen
kühlen Kopf bewahren. Er würde die richtige Entscheidung treffen
und wissen, was zu tun war. "Natürlich." antwortete er.
"Kapitän." Damit verbeugte sich der Musketier und verließ das
Kabinett Trévilles.
D'Artagnan hatte sich zwei Schemel zurechtgeschoben und einen
dritten, als er bemerkte, daß die Unterredung länger als erwartet
dauern würde.
Als Athos schließlich blaß und in Gedanken versunken aus dem
Kabinett kam, fand er d'Artagnan schlafend auf den drei Schemeln.
Doch beim Geräusch der Tür, die ins Schloß fiel, erwachte der
Gascogner aus seinem Schlummer und sprang auf die Beine. Ein Blick
genügte und ihm war klar, daß Tréville Athos etwas sehr wichtiges
gesagt haben mußte. An dem Blick des Freundes erkannte er, daß
Athos mit etwas konfrontiert worden war, was ihn tief betroffen
machte. Er trat zwei Schritte auf Athos zu und fragte leise:
"Athos!?"
Durch seinen Namen wurde der Musketier aus seinen Gedanken
gerissen. Er hob den Kopf zu d'Artagnan: "Ja?"
Ihre Blicke begegneten sich, und fast war sich d'Artagnan sicher,
noch nie soviel von Athos in seinen Augen gesehen zu haben. Der
Gascogner erkannte deutlicher als jemals zuvor den Schmerz, der
seinen Freund ab und zu befiel und ihn trinken ließ, wie d'Artagnan
noch nie einen Mann hatte trinken sehen, ohne Gefühlsregung, ohne
Spaß. Er spürte genau, daß er ihn jetzt nicht allein lassen
durfte.
"Was machen wir nun?" fragte d'Artagnan.
Athos nahm sich zusammen. "Wir sind von unserem Dienst heute abend
entbunden, d'Artagnan. Ich gehe in meine Wohnung. Du solltest
schlafen, mein Freund." Er legte d'Artagnan seine Hand auf die
Schulter.
"Ich werde mit Dir gehen, wenn es Dir nichts ausmacht!" sagte
d'Artagnan.
Athos sah ihn verwundert an. Doch wie d'Artagnan den Schmerz in
seinen Augen gesehen hatte, so sah Athos in den Augen seines
Freundes die Sorge - die Sorge um ihn. Es erwärmte sein Herz, als
er spürte, daß er auf dieser Welt auch Freunde hatte, ein Gefühl,
das die Erinnerung an seine Vergangenheit fast verdrängt hatte. So
brachte er es auch nicht über sich, d'Artagnan zu enttäuschen und
ihn wegzuschicken. "Es macht mir nichts aus, d'Artagnan", sagte er
und fügte leise hinzu. "Ich danke Dir."
Zusammen traten sie den Weg zu Athos' Wohnung an. Es war tiefste
Nacht und keiner der beiden sprach ein Wort. Athos war wieder in
Gedanken versunken, und d'Artagnan wußte, daß er ihm durch Worte
nicht helfen konnte. Wenn, dann mußte Athos von selbst das Gespräch
mit ihm suchen. Also blieb d'Artagnan stumm, bis sie die Rue Férou
erreicht hatten.
Grimaud öffnete ihnen, und auch er erkannte sofort, daß etwas
vorgefallen war. Deswegen begnügte er sich damit, einige Kerzen
anzuzünden und etwas Essen aufzutragen. Da kein Befehl von seinem
Herrn kam, zog er sich zurück.
"Setz Dich!" forderte Athos d'Artagnan auf, und die beiden saßen
sich am Tisch gegenüber, während Athos dem Gascogner Wein
einschenkte. Durstig trank d'Artagnan. Als er den Becher absetzte,
bemerkte er, daß Athos die Flasche nicht angerührt hatte. Sie stand
vor ihm, und er starrte sie regelrecht an. Erst nach einigen
Minuten sah Athos auf und bemerkte, daß d'Artagnan ihn beobachtete.
"Iß!" forderte Athos und schob seinem Freund den Teller mit Brot
zu.
"Und Du, Athos, willst Du nicht auch etwas essen?" fragte
d'Artagnan.
"Ich? Ja, natürlich." Athos setzte sich auf. "d'Artagnan,
entschuldige mein Verhalten. Ich lasse es an Gastfreundschaft
mangeln!"
"Athos!" unterbrach ihn der Gascogner "Ich .... mache mir Sorgen um
dich. Wenn es etwas gibt, womit ich Dir helfen kann, dann bitte sag
es mir!"
Athos lächelte traurig. "Mir kann niemand helfen. Da muß ich allein
durch."
Es entstand eine Pause, und d'Artagnan meinte schon, daß es Athos
letzte Worte waren, doch dann begann dieser von neuem.
"Es ist nur...." er zögerte, sah auf: "D'Artagnan, ich..... Meine
Vergangenheit hat mich wieder eingeholt, und das ist schwerer zu
überwinden als alle Wunden, die meinem Körper je zugefügt
wurden...denn es trifft das Herz!"
D'Artagnan starrte auf seinen Freund. Ein solches Bekenntnis hatte
er von Athos nie erwartet. Er konnte nur stumm nicken.
"Ich danke Dir, d'Artagnan. Deine Freundschaft macht es mir
leichter, denn ich kann gewiß sein, daß ich diese mit dem morgigen
Tag nicht verlieren werde. Doch für heute Abend laß mich noch
einmal Athos sein und schweigen. Ich werde früh genug sprechen
müssen."
D'Artagnan stand auf und trat auf Athos zu. "Meine Freundschaft und
Bewunderung wirst Du nie verlieren, mein Freund." Die beiden Männer
umarmten sich.
Während Athos ans Fenster trat und in die dunkle Nacht
hinausblickte, setzte sich d'Artagnan wieder. Er hatte beschlossen,
keine Fragen zu stellen oder Athos auf sonst irgendeine Weise zu
bedrängen. Statt dessen machte er sich daran, seinen Hunger zu
stillen, den er seit längerer Zeit verspürte. Ab und zu fiel sein
Blick auf Athos, der seine Position am Fenster nicht verändert
hatte. Athos ist voller Rätsel, stellte d'Artagnan in Gedanken
fest. Es gehörte irgendwie zu seiner Person, und d'Artagnan
verspürte ein gewisses Unbehagen, wenn er daran dachte, daß sich
morgen einige dieser Rätsel womöglich auflösen würden. Für seinen
Freund mußte das ein großer Verlust sein...der Gascogner wußte nur
nicht wovon.
Athos sah in die sternklare Nacht hinaus und rief sich sein
bisheriges Leben ins Gedächtnis. Dabei traten mehrere Personen
immer wieder in den Vordergrund. Zum einen seine Frau, deren Bild
sich in seinem Gedächtnis eingebrannt hatte. Wunderschön war sie
gewesen. Er hatte sie umgebracht. Dann erschien Tréville und mit
diesem gleichzeitig Rochefort. Es erschien ihm, als wäre es gestern
gewesen, als er bei Tréville ins Kabinett gestürzt war und am Tage
darauf Rochefort zu seinem Feind gemacht hatte. Schließlich waren
es seine drei Freunde und besonders d'Artagnan, die vor seinem
inneren Auge erschienen. Die Zeit mit ihnen war wundervoll gewesen.
Diese letzte Erinnerung an ihre gemeinsame Zeit ließ in ihm eine
große Dankbarkeit aufsteigen. Dankbarkeit dafür, daß er die Chance
bekommen hatte, ein neues Leben anzufangen und - auch wenn seine
Vergangenheit nie ganz aus seinem Gedächtnis verschwunden war - so
doch glückliche Stunden verlebt zu haben, in denen er sie vergessen
konnte.
Von diesem herrlichen Gefühl erfüllt, wandte sich Athos zu
d'Artagnan, um ihm noch einmal für seine Freundschaft zu danken,
doch wie schon einmal an diesem Tag fand er den Gascogner
schlafend. Diesmal allerdings in unbequemerer Haltung als im
Louvre, denn diesmal war er im Sitzen eingeschlafen.
Lächelnd setzte sich Athos wieder an den Tisch. Sein Blick ruhte
auf d'Artagnans jugendlichem Gesicht, das im Schlaf so vollkommen
unschuldig und zufrieden aussah. Doch Athos ließ sich nicht
täuschen, denn er kannte d'Artagnans Hitzköpfigkeit, seinen Mut und
Übermut, seine Schlauheit und Tollkühnheit. Schließlich blies er
die Kerze aus und ging in den Nebenraum. Kaum lag er auf seinem
Bett, da erfaßte ihn auch schon eine tiefe Müdigkeit und er schlief
ein.
Als d'Artagnan am nächsten Tag erwachte, war es schon fast
Mittag. Gähnend streckte er sich. Vor ihm auf dem Tisch stand das
Frühstück, bestehend aus frischem Brot, Käse und spanischem Wein.
Von Athos oder Grimaud war nichts zu sehen. Bevor er frühstückte,
sprang d'Artagnan erst einmal auf und absolvierte mehrere
Kniebeugen. Seine Morgentoilette verrichtete er mit den ihm zur
Verfügung stehenden Mitteln: einer Wasserschüssel, die auf einer
kleinen Kommode in der Ecke stand und einem sauberen, daneben
liegendem Handtuch. Athos dachte ja wirklich an alles. Kurz darauf
saß der Gascogner schon wieder am Tisch und fiel über das Frühstück
her.
Er nahm gerade einen großes Schluck von dem hervorragendem
spanischen Wein, als Athos, begleitet von Grimaud, die Wohnung
betrat.
Fast hätte sich d'Artagnan verschluckt. In der Tür stand Athos,
doch er sah völlig anders aus als er ihn je gesehen hatte.
Natürlich war Athos stets gut gekleidet gewesen, auch wenn er nicht
auf soviel Gold wie Porthos oder soviel Spitze wie Aramis wert
legte. Seine Kleidung war stets von schlichter Eleganz gewesen. Und
auch jetzt waren seine Kleider nicht mit Federn oder Edelsteinen
besetzt, die ihren Betrachter blenden konnten. Nein, vielmehr trug
Athos eine schwarze Kniebundhose und darüber einen blauen Überrock,
der mit silberner Stickerei verziert war. Seine Kleider waren aus
feinstem Samt. Und noch mehr als sonst erkannte d'Artagnan in Athos
einen Mann des höchsten Adels von Frankreich. Es waren nicht nur
die Kleider, die ihm dieses Aussehen gaben, es war die Haltung, der
Blick, die Bewegung...aus denen der wahre Adel sprach. D'Artagnan
hatte dies natürlich schon vorher bemerkt, doch durch die Kleidung
schien Athos sein ganzes Soldatenwesen abgelegt zu haben. Nun
konnte sich der Gascogner kaum mehr vorstellen, Athos je betrunken
und wütend gesehen zu haben. Er wußte, daß er nun das wahre
Aussehen seines Freundes erblickte und es flößte ihm Ehrfurcht
ein.
"Guten Morgen, mein Freund!" begrüßte ihn Athos. "Ich werde mich
gleich zu Dir gesellen." Sein Lächeln zeugte davon, daß er es
durchaus sehr amüsant fand, d'Artagnan so verblüfft zu sehen. Doch
ehe er seinen Fuß in das angrenzende Zimmer setzen konnte, klopfte
es an die Tür. Verwundert drehte er sich um und gab Grimaud ein
Zeichen, damit er die Tür öffnete. Doch dieser kam nicht mehr dazu,
denn plötzlich wurde sie kraftvoll aufgestoßen. Herein spazierte
Porthos, gefolgt von Aramis, dessen Miene verriet, daß die
Maßnahme, die sein Freund ergriffen hatte, um die Tür zu öffnen,
nicht eben die seine gewesen wäre.
Athos trat lächelnd auf die beiden zu und begrüßte sie. Dann drehte
er sich zu d'Artagnan um. "Ich habe die beiden eingeladen, zusammen
mit uns zu essen."
"Athos, sag mal," polterte Porthos. "Hast Du endlich meinen Rat
befolgt und Dir eine reiche Witwe angelacht? Deine Kleider sind
prächtig!" In seiner Stimme schwang aufrichtige Bewunderung, aber
auch ein Fünkchen Neid mit.
"Es steht Dir hervorragend!" schloß sich Aramis Porthos'
Bewunderung an. Während er auf einem Stuhl Platz nahm, fügte er
hinzu: "Du mußt mir jetzt nur noch eines erklären, lieber Freund!
Wie schaffst Du es, mehr als prächtig gekleidet zu sein, während
ich Mühe habe, genug Geld aufzutreiben, um meine Uniform waschen zu
lassen?"
Porthos unterbrach ihn. "Mal ganz abgesehen davon, daß Du uns alle
zum Essen einlädst, während ich seit Tagen fasten muß!"
D'Artagnan tauschte auf diese Behauptung hin einen lächelnden Blick
mit Athos und Aramis, denn wie eh und je sah Porthos mehr als gut
genährt aus.
"Meine Freunde" begann Athos, "Ich werde Euch bei unserem
gemeinsamen Essen diese Wunder erklären, doch gestattet, daß ich
vorher diese mehr als auffälligen Kleider ablege und mich dann
wieder zu Euch geselle. Der Wein steht auf dem Tisch, bitte bedient
Euch!" Daraufhin verschwand Athos im Nebenraum.
Während Porthos Athos' Vorschlag annahm und sich und seinen
Freunden von dem Wein, den Grimaud auftischte, einschenkte, wandte
sich Aramis an d'Artagnan. "Weißt Du etwas über diese Wunder,
d'Artagnan? Ist es eine Erbschaft?"
"Ich tappe wie Du im Dunkeln!" antwortete der Gascogner. "Aber da
Athos gewillt ist, uns ins Vertrauen zu ziehen, denke ich, sollten
wir keine weiteren Spekulationen abgeben!"
Seine beiden Freunde nickten. "Was mich ebenso interessiert, wie
Athos' Wunder", fuhr d'Artagnan fort, "ist die Ursache dafür, daß
Du, lieber Aramis, kaum genug Geld hast, Deine Uniform waschen zu
lassen. Du hast doch nicht gespielt?"
"Aber nein!" verteidigte sich Aramis empört. "Du weißt, d'Artagnan,
als zukünftiger Abbé und nur vorübergehender Musketier, ist das
Spiel eine große Sünde! Es ist nur...." Er errötete. "Ich habe auf
eine Quelle gehofft, die sich als erschöpft herausstellte. Das ist
alles!"
Für d'Artagnan war klar, daß eine von Aramis' Bekanntschaften ihm
diesmal wohl kein Geschenk für seine Theologiestunden gemacht
hatte, und so wechselte er diesmal mit Porthos einen
verschwörerisch lächelnden Blick, der allerdings Aramis nicht
entging. Dieser wollte ihn gerade darauf ansprechen, als Athos das
Zimmer wieder betrat. Nun war er wie seine drei Freunde mit der
Uniform der Musketiere des Königs bekleidet.
"Nun, ich hoffe, Ihr seid hungrig! Wollen wir?" fragte er seine
Freunde.
"Das brauchst Du nicht zweimal fragen!" rief Porthos. "Ich sterbe
vor Hunger!"
Sie erhoben sich und verließen Athos Wohnung.
Wie schon viele Male zuvor nahmen die vier Freunde nebeneinander
laufend die gesamte Breite der Straße ein. In dieser Formation
durchquerten sie Paris, und jeder, der ihnen begegnete, mußte sich
nach ihnen umsehen, denn zusammen strahlten sie soviel Jugend,
Stärke und Edelmut aus, daß es Freude bereitete, sie
anzusehen.
Sie hielten bei einem Gasthof, der ihnen oft als Stammgaststätte
gedient hatte, zumindest an den Tagen, an denen sie genügend Geld
zur Verfügung gehabt hatten. Die Wirtschaft war eine der besten in
der Stadt, aber gerade deswegen auch nicht die billigste.
Auf Athos' Wunsch hin bekamen die vier Freunde einen abgesonderten
Raum zur Verfügung gestellt. Diese Maßnahme machten nun auch Aramis
und Porthos klar, daß Athos sie nicht eingeladen hatte, weil er
gerade mal ein paar Pistolen zuviel besaß. Das Wunder, von dem er
gesprochen hatte, mußte also doch etwas besonderes sein.
Nachdem sie also alle Platz genommen hatten und das Essen bestellt
war, saßen sie sich im ersten Moment schweigend gegenüber. Athos
gegenüber von d'Artagnan, Porthos gegenüber von Aramis. Die drei
erwarteten, daß Athos das Wort als erster ergriff, doch er schwieg.
D'Artagnan wußte, daß er sich auf das, was er ihnen sagen wollte,
innerlich vorbereitete. Doch dann schüttelte er unmerklich den Kopf
und sagte: "Laßt uns erst essen, Freunde!"
Keiner widersprach ihm. Zum einen, weil alle bis auf d'Artagnan,
der ja gerade eben erst gefrühstückt hatte, großen Hunger
verspürten. Zum anderen, weil sie bemerkten, daß Athos ihnen etwas
Wichtiges zu sagen hatte. Und so drehten sich die Gespräche um
Porthos' Wehwehchen und Aramis' Liebschaften, wofür Athos ihnen
sehr dankbar war. Schließlich wurden sie von der Wirtin
unterbrochen, die dampfende Schüsseln und Teller auftrug. Natürlich
durften ein paar Flaschen guten Bordeaux-Weins auch nicht fehlen.
Während des Essens und dem Genuß des Weines lockerten sich die
Zungen der Freunde natürlich noch mehr, und die Gespräche wurden
lustiger. Während Aramis sein Geschick mal wieder an einem
gebratenen Hühnchen unter Beweis stellte, zeigte Porthos ein
weiteres Mal, daß sein Magen umfangreicher war als die seiner
Freunde zusammen. Auffällig war nur, daß Athos dem Wein kaum
zusprach und d'Artagnan sich daran anscheinend ein Beispiel nahm.
Als das Essen schließlich beendet war, trat wieder Stille ein. Doch
diesmal räusperte sich Athos und begann: "Ich werde heute Abend
durch ein unglückliches Ereignis gezwungen sein, meine wahre
Identität preiszugeben. Als meine Freunde, denke ich, habt ihr das
Recht, es vor den anderen zu erfahren. Deswegen habe ich Euch heute
hierher gebeten!" Er machte eine Pause und sah seine Freunde an.
"Vielleicht wird sich mein Leben von heute auf morgen vollkommen
ändern, doch ich hoffe, daß unsere Freundschaft weiterbestehen
wird."
Immer noch schwiegen sie. Athos atmete tief durch, dann sagte er:
"Mein wahrer Name ist Henri-Nicolas Graf de La Fère."
Entgeistert starrte ihn Porthos an, während Aramis seinen Kopf
leicht neigte. Auch d'Artagnan kannte den Namen de La Fère. Er
stand für eines der ältesten Adelsgeschlechter Frankreichs und die
drei Freunde hätten jeden anderen ausgelacht und es kaum geglaubt.
Doch Athos sah man den Adel an. Seine würdevolle und ernste Miene
mußte sie nicht erst überzeugen, daß er der rechtmäßige Träger
dieses Namens war.
Als sie weiterhin schwiegen, ergriff Athos wieder das Wort.
"Durch Monsieur de Tréville habe ich gestern erfahren, daß jemand
mit meinem Namen dem König vorgestellt werden soll. Auch wenn ich
den Titel des Grafen abgelegt habe, kann ich nicht zulassen, daß
jemand das Erbe meiner Familie in den Schmutz zieht und so werde
ich heute Abend ebenfalls in den Louvre gehen und diese
Angelegenheit klären."
Seine Freunde nickten.
"Das ist Dein gutes Recht!" sagte Porthos.
"Vielmehr noch", fiel Aramis seinem Freund ins Wort "es ist Deine
Pflicht!"
"Ich weiß." antwortete Athos. "Dennoch hätte ich es lieber, wenn
die Vergangenheit, Vergangenheit bleiben würde." Dann schwieg er
und nahm einen Schluck Wein.
Sein Geheimnis würde er wohl auch dieses Mal nicht preisgeben,
dachte d'Artagnan.
"Nun, Freunde," ergriff Aramis das Wort. "Da Athos durch diese
Vorgänge dazu gezwungen war, uns seine Identität zu verraten, so
ist es unsere Pflicht, als seine Freunde, es ihm gleich zu tun und
unsere wahren Namen zu nennen." Er hielt für einen Augenblick inne
und sah zu Porthos, der bekräftigend nickte. "Ich bin weder Graf
noch Erbe eines reichen Vermögens, mein Name René d'Herblay und
mein Titel ist Chevalier." Als Aramis geendet hatte, ertönte
Porthos' Stimme. "Nun zu mir. Ich trage leider noch keinen Titel,
doch bin ich trotzdem adlig. Ich heiße George du Vallon!" Wobei er
das "leider noch" stark betonte.
Athos war gerührt von diesen Freundschaftsbeweisen. Dankbar nickte
er den beiden zu.
Dann richteten sich die Augen auf d'Artagnan, der lächelte. "Ich
weiß nicht, was Ihr erwartet habt, meine Freunde, denn mein wahrer
Name ist und bleibt d'Artagnan. Das einzige, was ich Euch noch
nicht verraten habe, ist mein Vorname: Charles." Und grinsend fügte
er hinzu. "Es tut mir leid, Euch so enttäuschen zu müssen!"
Woraufhin seine Freunde in lautes Lachen ausbrachen. Dann nahm
Athos seine Becher und erhob sich. Die anderen taten es ihm
gleich.
"Nun laßt uns auf unsere Freundschaft und auf unsere wahren Namen
trinken." Und während er ihre Namen aussprach, blickte er jeden
einzeln lächelnd an. "René, Charles, George und ich, Henri-Nicolas.
Auf unsere Freundschaft!"
Nachdem sie ihre Becher geleert hatten, zahlte Athos und sie traten
hinaus auf die Straße. Die Nachmittagssonne schien warm auf Paris
herab.
"Athos", sprach d'Artagnan schließlich nachdem er sich durch kurze
Blicke mit Aramis und Porthos verständigt hatte, als sie sich
verabschiedeten. "Gestatte uns, Dich heute Abend zum Louvre zu
begleiten."
Athos wollte widersprechen, doch er sah in die Augen seiner Freunde
und spürte, daß es ihre Freundschaft war, die ihnen gebot, ihn
nicht allein gehen zu lassen.
"Ich danke Euch, Freunde," sagte Athos schließlich. "Wir treffen
uns also um sieben Uhr am Luxembourg-Palais." Sie nickten und
folgten dann jeder einer anderen Straße, um nach Hause
zurückzukehren.
Kurz bevor die Kirchturmglocke die siebente Stunde verkündete,
legte Athos in seiner Wohnung die Kleider an, die er am Morgen
hatte schneidern lassen. In sein Wams steckte er die Dokumente, die
eindeutig seine Herkunft und seinen Titel bewiesen. Dann nahm er
mit zitternden Händen den reich verzierten Degen von der Wand, den
Porthos schon so oft neidisch bewundert hatte, und gürtete ihn um
seine Hüfte. Er nickte Grimaud zu und verließ dann seine Wohnung.
Punkt sieben Uhr zügelte er sein Pferd am Luxembourg, wo seine drei
Freunde bereits warteten. Schweigend ritten sie zum Louvre. Der
Palast des Königs war hell erleuchtet, und zahlreiche Kutschen
standen im Hof. Monsieur de Tréville erwartete Athos bereits. Als
er ihn mit seinen drei Freunden erblickte, lächelte er, so sehr
erfreute ihn der Bund dieser vier Männer.
Neben Monsieur de Tréville stieg Athos die Treppe zum Thronsaal
hinauf, gefolgt von d'Artagnan, Aramis und Porthos. Er atmete tief
durch als sie den bereits vollen Saal betraten.
Der Blick auf den Thron war ihnen durch die Menge der Gäste
versperrt. Die Vorstellungszeremonie hatte bereits begonnen.
Kurz nach ihrem Eintritt näherte sich Monsieur de Trévilles
Adjutant Francois und sagte zudem Hauptmann: "Der Graf de Rochefort
wird als nächster den Grafen de La Fère vorstellen." Tréville
nickte und bedeutete Athos und seinen Freunden ihm zu folgen. Vor
dem Hauptmann der Musketiere teilte sich die Menge und gerade als
der Haushofmeister den Grafen de Rochefort ankündigte, erreichten
sie den Thron.
"Eure Majestät, ich möchte Euch den Grafen Gabriel de La Fère
vorstellen, der einer..." Doch weiter kam Rochefort nicht, denn
Tréville war hervorgetreten und verneigte sich vor dem König.
"Verzeiht Sire, wenn ich die Vorstellung unterbreche, doch dieser
Mann..." Er deutete auf den jungen Mann an Rocheforts Seite "...ist
ein Lügner!" Ein Raunen ging durch die Menge der Hofleute. "Wenn
Ihr gestattet, Sire, so stelle ich Euch den wahren Grafen de La
Fère vor." Er bedeutete Athos vorzutreten, und dieser beugte das
Knie vor dem König. Sein Blick richtete sich auf Rochefort und zu
Athos' Erstaunen sah er nichts von den Gefühlen in Rocheforts
Gesicht, die er erwartet hatte. Statt Triumph sah er Verblüffung
und ihm kam der Gedanke, daß Rochefort vielleicht mit dieser
Angelegenheit weniger zu tun hatte, als er geglaubt hatte.
Unwillkürlich richtete sich sein Blick auf den jungen Mann, der
sich als Graf de La Fère ausgegeben hatte und... Athos
erschauerte.
"Wer ist nun...." begann der König, doch zu seinem Erstaunen und
zum Entsetzen des ganzes Hofes unterbrach ihn Athos plötzlich.
"Sire, gebt mir eine Stunde und die Sache wird ohne Waffen geklärt
sein!" Er sprach diese Worte schnell, doch sehr ernst aus und der
König nickte. Er war zu erstaunt, um Athos zu widersprechen. Dieser
trat auf den jungen Mann zu und sagte in Befehlston "Folgt mir!"
Widerspruchslos tat dieser wie ihm geheißen und beide verließen den
Saal. Es war Schweigen eingetreten. Rochefort machte Anstalten,
Athos zu folgen, doch d'Artagnan trat dazwischen. "Rochefort, das
geht weder Euch noch mich etwas an!" Von d'Artagnan aufgehalten und
von den anderen Musketieren bedroht, fügte sich Rochefort. Es war
ohnehin besser, dachte er sich, denn ausnahmsweise wußte er diesmal
nicht, worum es wirklich ging, und er war sich auch nicht sicher,
auf der richtigen Seite zu stehen. Was für einen Auftrag hatte ihm
Mylady da nur gegeben?
In der Zwischenzeit hatte Athos den jungen Mann in ein kleines
Kabinett im Westflügel des Louvre gebracht, das Monsieur de
Tréville gehörte. Er wies ihn an, sich zu setzen. Athos selbst
blieb stehen und musterte ihn eingehend. Vor ihm saß ein junger
Mann von kaum sechzehn Jahren. Er war wie ein Edelmann gekleidet
und hatte auch die Haltung eines solchen angenommen. In seinem
Gesicht fand Athos kein Anzeichen von Angst, sondern ein großes
Erstaunen und, so glaubte Athos zu erkennen, auch ein Anzeichen von
Hoffnung. Soeben hob der Jüngling an, etwas zu sagen, als Athos
barsch dazwischenfuhr und drei gut gewählte Fragen stellte.
"Euer Name?"
"Gabriel de La Fère."
"Euer Geburtsjahr?"
"1615."
"Der Name Eurer Mutter?"
"Anne de Breuil, Gräfin de La Fère."
Athos starrte ihn an. Er hat ihr blondes Haar, er hat ihre feinen
Gesichtszüge, dachte er. Gebe Gott, daß er nicht ihren Charakter
hat. Dann schloß er langsam die Augen. Seine Stimme zitterte
leicht, als er sagte: "Sie lebt, nicht wahr?!"
"Ja, Monsieur." Der junge Mann war aufgestanden. "Bitte, erlaubt
mir meinerseits, eine Frage zu stellen. Seid Ihr Henri-Nicolas Graf
de La Fère?"
Athos nickte nur, und der junge Mann erbebte. "Sie hat mir gesagt,
Ihr wäret tot!" rief er.
"Ich war ebenso tot wie sie selbst", erwiderte Athos ruhig und trat
einen Schritt auf Gabriel zu. Er sah in seine Augen und war sich
sicher. Noch nie war er sich in einer Sache so sicher gewesen. Dann
sagte: "Und Ihr seid mein Sohn!" Schweigen entstand. Dann legte
Athos die Hand auf Gabriels Schulter. "Ihr seht Ihr sehr ähnlich.
Das blonde Haar, die Gesichtszüge. Doch Eure Augen habt Ihr nicht
von ihr. Vielmehr habt Ihr die Eurer Großmutter und oft hat man mir
gesagt, ich hätte die ihren. Ihr seid mein Sohn, Gabriel. Gott
weiß, wie sehr ich mir einen gewünscht habe." Und ganz langsam zog
er den jungen Mann zu sich und drückte ihn an seine Brust. So
standen die beiden einige Augenblicke, bis Athos wieder zurücktrat
und sagte: "Ich bitte Euch, erzählt mir von Eurem Leben und sagt
mir, wo ich Eure Mutter finden kann!"
Gabriel nickte. "Auch ich glaubte, Euch erkannt zu haben, als Ihr
vor den König getreten seid. Ich bin in der Grafschaft de La Fère
aufgewachsen und in der Bibliothek hing ein Porträt eines Mannes,
der große Ähnlichkeit mit Euch hat und von dem mir meine Mutter
sagte, es sei mein Vater. Monsieur, wenn ich geahnt hätte, daß Ihr
lebt, wäre ich nicht mit Eurem Namen hier aufgetaucht. Bitte
vergebt mir!"
Athos lächelte sanft. "Da gibt es nichts zu vergeben. Ihr sagt, Ihr
wußtet nichts von mir. Ich glaube Euch. Bitte fahrt fort!" Wieder
nickte Gabriel.
"Ich bin sozusagen ohne Eltern aufgewachsen, Monsieur. Man hat mir
gesagt, Ihr wäret tot, als ich alt genug war, nach meinem Vater zu
fragen. Meine Mutter habe ich nur wenige Stunden in meinem Leben
gesehen. Sie hat mich in den 16 Jahren meines Lebens sechsmal
besucht. Von meinem Erzieher weiß ich, daß ich in England geboren
wurde, und daß meine Mutter mich danach sofort hierher
zurückgebracht hatte. Sie ist jedoch nicht in der Grafschaft
geblieben. Warum, weiß ich nicht. Man lehrte mich, große Ehrfurcht
vor meiner Familie zu haben und sie ehrenvoll zu vertreten. Ich
dachte, dazu gehöre es, mich dem König vorzustellen und so schrieb
ich meiner Mutter, die mir den Grafen de Rochefort schickte, der
mich dem König vorstellen sollte. Und so bin ich heute hier."
Athos nickte verständnisvoll. "Die Beziehung zu Eurer Mutter ist
also...."
Doch den Satz führte Gabriel weiter, indem er sagte: "...ist es
nicht wert als solche bezeichnet zu werden." Seine Stimme klang
traurig.
"Gabriel", begann Athos mit fester Stimme. "Die Tatsache, daß Ihr
Eure Mutter nicht wirklich kennt und so gut wie keine Beziehung zu
ihr habt, macht es mir möglich, Euch als meinen Sohn zu
akzeptieren."
Der junge Mann wollte etwas erwidern, doch Athos unterbrach ihn.
"Laßt es mich erklären. Ich hielt Eure Mutter für tot, denn ich
habe sie vor 16 Jahren eigenhändig erhängt. So glaubte ich
zumindest. Nach dieser Tat, die in den Augen der Justiz kein
Verbrechen war, denn ich besaß die niedere und hohe Gerichtsbarkeit
in meiner Grafschaft, habe ich meine Identität abgelegt und ein
neues Leben begonnen. Ich ließ die Nachricht verbreiten, der Graf
de La Fère sei tot, und so wird es auch Eure Mutter vernommen
haben. Sie hat eine wahrhaft gute Entscheidung getroffen, Euch in
der Grafschaft erziehen zu lassen, denn ich sehe, Ihr seid zu einem
ehrenvollen jungen Mann herangewachsen." Er zögerte einen Moment,
dann fuhr er: "Wenn Du keine Einwände zu erheben hast, dann erkenne
ich Dich als meinen Sohn und Erben an. Ich werde meinen Titel und
meinen Namen wieder aufnehmen, und wir werden als Familie
zusammenleben." Wieder hielt er kurz inne, ehe er sagte: "Wenn Du
es denn willst!"
"Von ganzem Herzen, mein Vater! Auch ich sehne mich nach einer
richtigen Familie" erwiderte Gabriel glücklich. "Doch bitte,
gestattet mir eine Frage, die mich sehr bedrückt." Als Athos
nickte, atmete Gabriel tief ein und fragte dann: "Warum wolltet Ihr
Eurer Frau das Leben nehmen?"
Im ersten Moment schwieg Athos. Dann sagte er ernst. "Du hast ein
Recht darauf, es zu erfahren, Gabriel. Ich habe viel Zeit gehabt,
über meine Tat nachzudenken, und Gott weiß, daß ich sie nie mehr
vor mir rechtfertigen konnte. Ich habe Deine Mutter kennengelernt,
als sie trotz ihres Adels ein armes Mädchen war. Sie hatte einen
anderen Namen angenommen und lebte mit ihrem Bruder zusammen. Ich
verliebte mich in sie und heiratete sie schließlich gegen die
Einwände meiner Familie. Wir lebten glücklich zusammen, bis ich
eines Tages auf ihrer Schulter eine eingebrannte Lilie entdeckte.
Ich dachte nicht nach, ich sah nur die Schmach für meine Familie,
den Schmutz auf meinem Namen...ich habe sie nicht nach der wahren
Begebenheit ihres Verbrechens gefragt...ich habe sie einfach
ermordet." Athos hatte schnell gesprochen, doch Gabriel hörte das
Zittern in seiner Stimme dennoch.
Athos suchte den Blick seines Sohnes. "Ich weiß, ich habe mich
schuldig gemacht. Doch Du, Gabriel, kannst mir die Chance geben,
die Vergangenheit zu bewältigen. Eure Mutter war schuldig, doch den
Tod hatte sie dafür nicht verdient. Das ist die Überzeugung, zu der
ich in den letzten Jahren gekommen bin." Athos hatte sich, während
er sprach, zum Fenster gedreht. Er fuhr leicht zusammen, als er
spürte, daß Gabriel seine Hand drückte, und die Worte, die er
vernahm, erwärmten sein Herz. "Laßt mich Euer Sohn sein. Ich habe
so lange gewartet."
Athos drehte sich um und die beiden umarmten sich. Eine Weile
standen sie so, bis Athos sagte: "Der König wartet. Komm!"
Gemeinsam verließen sie das Kabinett und gingen Seite an Seite zum
Thronsaal. Als sie eintraten, verstummte die Menge. Athos trat vor
den König und verneigte sich.
"Habt Ihr Euch einigen können, wer nun der Graf ist?" fragte der
König leicht ungeduldig.
"Ja, Sire", antwortete Athos und bedeutete Gabriel, näher zu treten
"Dies ist Gabriel de La Fère, mein Sohn, von dessen Existenz ich
nichts wußte. Ich, Henri-Nicolas Graf de La Fère, erkenne ihn an
und nehme gleichzeitig sowohl meinen Titel als auch meinen Namen
wieder auf. Ich bitte Eure Majestät, dies zu gestatten."
"Ich gestatte es, mein lieber Graf!" antwortete der König. "Und es
freut mich, daß diese Angelegenheit auch ohne ein Duell geklärt
werden konnte." Damit verließ der König den Saal.
"Gabriel", wandte sich Athos an seinen Sohn "Ich möchte Euch meine
drei besten Freunde vorstellen, die von nun an auch Eure Freunde
sein sollen." Er führte Gabriel zu seinen drei Gefährten, die
zusammen mit Tréville etwas abseits vom Thron standen. "Dies sind
Porthos, Aramis und d'Artagnan. - Meine Freunde, dies ist mein
Sohn, Gabriel."
Alle drei waren sehr erstaunt, dennoch umarmten sie Gabriel als den
Sohn ihres Freundes. Monsieur de Tréville beglückwünschte Athos zu
dem glücklichen Ausgang dieser Angelegenheit. Rochefort hatte bei
den ersten Worten von Athos den Louvre verlassen.
Erst einige Stunden später, als Athos Gabriel in seine Wohnung
geführt, und der junge Mann sich schlafen gelegt hatte, konnte
Athos mit d'Artagnan allein sprechen. Der Gascogner hatte seinen
Freund und dessen Sohn noch bis zu Athos' Wohnung geführt.
"D'Artagnan, ich danke Dir, daß Du uns begleitet hast. Doch nun
sage mir, was Dir auf dem Herzen liegt. Leugne es nicht, ich sehe
es Dir an."
D'Artagnan lächelte. "Du hast recht, Athos. Du kennst mich gut! Was
geschehen ist, hat mich erstaunt. Du hast nie von deinem Leben
gesprochen, und so trifft dies alles mich unvorbereitet. Ich will
nur wissen, ob Du ganz sicher bist, Athos?"
Athos nickte. "Komm, d'Artagnan, setz Dich noch einmal an meinen
Tisch. Meinem besten Freund schulde ich die Wahrheit."
Die Nacht wurde lang, und Athos erzählte zum erste Mal frei von
seiner Vergangenheit. Er sprach über seine Gefühle, Ängste und das
Glück, das er nun spürte, einen Sohn zu haben. D'Artagnan hörte
aufmerksam zu. Als Athos geendet hatte, schwor ihm d'Artagnan,
Gabriels Leben zu schützen wie sein eigenes. Die beiden Freunde
trennten sich, als der Morgen graute. Athos trat an das Bett seines
Sohnes und betrachtete ihn. Mit diesem neuen Tag begann für sie
beide ein neues Leben.