Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 2

Kapitel 2


Ich sollte recht behalten. Das Leben ging zwar weiter, für uns alle, doch für mich änderte es sich fast schlagartig. Wenn Papa mich nur weiterhin einfach nicht beachtet hätte. Aber jetzt hasste er mich nur noch. Seiner Ansicht nach war ich dafür verantwortlich, dass er niemals den ersehnten Sohn haben würde, der eines Tages das Weingut erben sollte. Vermutlich hatte er recht. Mein kleiner Bruder war tot, weil Mama durch mich krank geworden war.

Der Winter kam und ging. Als sich auch der Sommer dem Ende zuneigte, brach die Zeit der Weinlese an. Für mich bedeutete dies etwas Ruhe, weil Papa über die Tage in den Gärten zu tun hatte. Etienne und Pascal halfen ihm dabei. Früher hatte ich gerne immer wieder ein paar von den süßen dunkelroten Trauben stibitzt, sie schmeckten einfach zu gut. Nachdem Papa mich in diesem Jahr allerdings dabei erwischte und ich mir Schläge einfing, wagte ich das später nicht mehr.
Nach der Arbeit, wenn der heurige Wein in den großen Fässern im Keller lagerte, wurde gefeiert. Zu diesen Festen waren meist alle besseren Familien des Städtchens eingeladen. Und natürlich die anderen Weinbauern der Umgebung, damit sie untereinander angeben konnten, die allerbesten Trauben geerntet zu haben. Ich verstand solche Dinge noch nicht, und hatte keine Ahnung davon, wie sehr Papa es auf einen bestimmten Weingarten abgesehen hatte. Zum Glück ahnte ich nicht, welche Rolle ich dabei noch spielen sollte.

Während sich die vielen großen Leute glänzend amüsierten, stand ich nur in einer Ecke unserer großen Terrasse herum und sah zu. Auf diese Weise konnte ich nichts falsch machen. Schließlich wollte ich nicht, dass Papa wieder wütend wurde. Ich langweilte mich entsetzlich, meine einzige Gesellschaft war Cloé, meine Lieblingspuppe, die ich die ganze Zeit über festhielt. Nachdem Papa sie für Tage weggesperrt hatte, war sie nun endlich wieder bei mir. Das war das Schlimmste, was er mir antun konnte. Cloé war mein einziger Trost, wenn er mich schlug, oder einschloss. Diese Art der Bestrafung war ich mittlerweile gewöhnt, und ich wusste sie zu überstehen.

Ich sah auf, als sich ein Junge mir näherte. Er mochte ein paar Jahre älter sein als ich, bestimmt schon über zehn, und war somit ein ganzes Stück größer. Sein Gesichtsausdruck behagte mir nicht, dennoch grüßte ich ihn höflich.
„Eine schöne Puppe hast du da. Lass doch mal sehen“, sagte er in einem Tonfall, der mich Cloé noch enger an mich drücken ließ. Damit vermochte ich nicht zu verhindern, dass er sie mir aus der Hand riss.
Spöttelnd lief er quer durch den Garten davon. „Komm und hol dir dein Püppchen, wenn du kannst!“
Natürlich folgte ich ihm, rief dabei immer wieder Cloés Namen. Weil er viel längere Beine hatte, schaffte ich es nicht ihn einzuholen. Erst als er wieder auf der Terrasse angelangt war, und im Zickzack an den Erwachsenen vorbei rannte, hatte ich überhaupt eine Chance. Und dann kam es, wie es kommen musste. Eine ältere Dame machte einen Schritt zur Seite, dem der Junge nicht mehr ausweichen konnte. Er lief ihr direkt in den Arm, sodass sie ihr Glas fallen ließ, und er selbst stolperte. Weil ich auch nicht mehr anhalten konnte, landeten wir gemeinsam in einem heillosen Durcheinander auf dem Boden.
„Gib mir meine Cloé wieder!“ fauchte ich ihn wütend an, ehe er sich aufrappeln konnte. Scheinbar hatte er überhaupt kein Interesse mehr an meiner Puppe, sodass ich sie selig wieder an mich drücken konnte. Erst als ich das Keifen der Dame hörte, und die Blicke der umstehenden Leute sah, wurde mir klar, warum der Junge so schnell hatte verschwinden wollen. Es war ihm jedoch nicht gelungen, seine Eltern nahmen ihn im Empfang. Ich bekam gerade noch mit, dass er Raymond hieß. Ein Name, den ich nicht zum letzten Mal gehört haben sollte.

Und dann stand Papa plötzlich vor mir. Die Ader auf seiner Stirn pulsierte gefährlich. Er sagte kein Wort, zerrte mich nur ins Haus hinein, wo die Festgäste nichts mitbekommen würden. Wahrscheinlich wäre es ihnen sowieso egal gewesen, ich war ja nur ein dummes ungehorsames Kind.
„Papa, bitte nimm mir Cloé nicht weg! Nimm sie mir nicht weg...“, flehte ich ihn verzweifelt an, doch es nützte nichts. Nachdem er meine Puppe im Schrank eingesperrt hatte, setzte es für mich Prügel. Zitternd vor Angst musste ich alles über mich ergehen lassen. Er stieß mich, trat mich und beschimpfte mich.
„Du dummes Kind! Dass du einen nur blamieren kannst!“, schrie er mich an. „Schämen muss ich mich für dich.“
Ich flehte ihn an, aufzuhören. „Bitte Papa, tu mir nicht weh! Es war doch nicht meine Schuld...“ Es hatte keinen Sinn. Dass das nur passiert war, weil mir Raymond meine Puppe weggenommen hatte, interessierte ihn nicht.
Als er endlich aufhörte auf mich einzuschlagen, war ich benommen vor Schmerz. Aus eigener Kraft konnte nicht mehr auf mein Zimmer gehen, weswegen er mich dann dorthin zerrte, und mich einfach auf dem Boden liegen ließ. Ich hasste ihn dafür, ich hasste auch diesen Jungen, aber am meisten hasste ich mich selbst.

Später kam Mama, um meine Verletzungen zu versorgen und mir etwas zu essen zu bringen. Ich fragte mich immerzu, warum sie Papa nicht davon abhielt, mir weh zu tun. Dass sie so erzogen worden war, Männern bedingungslose Gefügigkeit entgegen zu bringen, begriff ich damals nicht. Das Gleiche wollte Papa bei mir erreichen, indem er meine Angst benutzte, um mich zum Gehorsam zu zwingen.
Es war nicht das einzige Mal, dass er mich so verprügelte. Meine körperlichen Wunden heilten meist schon nach ein paar Tagen wieder, aber die Narben in meiner Seele würden niemals ganz verschwinden. In diesen Jahren lernte ich meinen eigenen Vater mehr zu fürchten, als Tod und Teufel. Mit der Zeit gelangte ich jedoch zu einer Erkenntnis, die mir half meine von Gewalt gezeichnete Kindheit zu ertragen. Was mich nicht umbrachte, das machte mich stark.

Mit etwa zwölf oder dreizehn begann sich mein Körper zu verändern. Vom Mädchen wurde ich zur Frau. Sonst blieb aber alles beim Alten. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich endlich aus meinem Elternhaus entfliehen konnte, und Papa hoffentlich nie wieder zu sehen brauchte. Vor mir selbst legte ich einen Schwur ab. Wenn ich einmal Mutter war und eine Tochter hatte, würde ich niemals zulassen, dass ihr so etwas widerfuhr.
Was ich nicht wusste, war dass Papa bereits Ausschau nach der für ihn vorteilhaftesten Möglichkeit hielt, mich an den Mann zu bringen. Während er sich von meiner Heirat Gewinn erhoffte, machte ich meine ersten eigenen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht. Ich lernte Michel auf dem Heimweg vom Markt kennen. Er war der Sohn des Bäckers und von einfacher Abstammung.

Leises Flötenspiel erweckte meine Aufmerksamkeit. Es mischte sich mit dem Singen der vielen Vögel, die rund um den nahen Weiher lebten. Die Sonne verriet mir, dass ich noch etwas Zeit hatte, bis ich zuhause sein musste, und so versuchte ich die Quelle der schönen Musik zu finden. Direkt am Wasser entdeckte ich schließlich einen Jungen, der in etwa so alt sein mochte wie ich selbst. Er spielte auf einer holzgeschnitzten Flöte. Als er mich bemerkte, hielt er inne.
„Hör doch nicht auf. Das klingt wunderbar“, bat ich ihn.
Er lächelte mich an. „Vielen Dank. Bestimmt würde es noch besser klingen, wenn die richtige Stimme dazu sänge.“
Mich hatte noch nicht oft jemand so ehrlich angelächelt. Ehe ich mich versah, sang ich zu seinem Flötenspiel sämtliche Kinderlieder, an die ich mich von früher erinnerte. Als ich noch klein war, hatte Mama mich abends mit diesen Melodien zum Einschlafen gebracht.
„Du hast eine schöne Stimme“, lobte mich der Junge gut gelaunt. „Leider muss ich jetzt nach Hause gehen, aber wir könnten uns ja morgen wieder hier treffen und zusammen singen.“
Ich erschrak bei diesen Worten zu Tode. Über den Spaß, den ich gehabt hatte, war mir die Zeit völlig entglitten, und ich hätte schon lange daheim sein müssen. So schnell ich konnte, rannte ich die Wege entlang, die zu unserem Weingut führten. Natürlich kam ich viel zu spät und Papa war sehr böse mit mir. Am nächsten Tag konnte ich darum Michel nicht wieder sehen. Mit geschwollenem Gesicht lag ich auf meinem Bett und dachte an ihn, sein wunderbares Flötenspiel, sowie die Freude, die ich in seiner Gegenwart empfunden hatte.