Sébastian de Bélier von andrea

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Kapitel Ein Sommer in der Gascogne

Die beiden jungen Männer, die das Schicksal auf so komische Weise zusammengeführt hatte, waren seit diesem Tage unzertrennlich. D'Artagnan sah Sébastian als Lehrer und Vorbild an, Sebastian den jungen Mann als Freund und kleinen Bruder. Zusammen durchstreiften sie manchmal tagelang die hügelige Landschaft ihrer Heimat und gemeinsame Jagden führten beide oftmals fast bis an die Vorgebirge der Pyrenäen und in die grünen Wälder des Rhône-Tals. Die Zeit verging sehr rasch, wenn Sebastian im Schatten eines Baumes von seinen Abenteuern als Soldat erzählte oder die beiden in die umliegenden Dörfer zum Tanz und Würfelspiel ritten.
Eines Tages, als beide sich gerade im Wirtshaus eines nahgelegenen Städtchens befanden, entstand ein merkwürdiges Getöse, und als Sébastian den Wirt fragte, was los wäre, erklärte dieser, daß jeder, der Beine zum Laufen hätte, sich jetzt auf den Marktplatz begeben würde, um dort einer Hinrichtung beizuwohnen. Auch die beiden jungen Männer begaben sich zum Platz, blieben aber in einiger Entfernung stehen.
"Es ist einfach widerlich, wie sich der Pöbel drängt, um bei dieser Bluttat möglichst in der ersten Reihe zu stehen", begann Sébastian das Gespräch. "Hörst du, wie sie schreien, d'Artagnan?"
"Ja, man bringt den Verurteilten."
"Das Opfer", erwiderte Sébastian und wies auf ein junges Mädchen, das unter dem Gebrüll und den Verwünschungen der Menge halb besinnungslos zum Galgen geschleppt wurde.
"Großer Gott, was kann dieses Geschöpf denn getan haben, daß es so einen Tod verdient hätte?" fragte d'Artagnan voller Mitleid seinen Begleiter.
Noch einmal hob Sébastian die Hand und deutete auf das Schild, welches der Verurteilten um den Hals hing und auf dem mit großen Lettern "Kindsmörderin" stand.
"Warum sollte dieses Mädchen ein Kind töten, sie ist doch selber fast noch eins, mein Freund?"
"Es ist die alte Geschichte", fing dieser an. "Ein junges Mädchen aus dem Volk wird von einem Adligen mit der Lüge der ewigen Liebe verführt. Die Unglückliche wird schwanger, und von der Familie verstoßen, vom Dorf verlacht und verschrien und schließlich vom Geliebten verlassen, bringt sie das Kind allein zur Welt und sieht in dieser Lage keinen anderen Ausweg, keine Zukunft für sich und das Kind, tötet und verscharrt den Säugling und stirbt selbst, geächtet und bespuckt vom Pöbel am Galgen, auf dem Rad oder durch den Schwertstreich des Henkers."
D'Artgnan war während dieser Erzählung immer blasser geworden, es war für den jungen Mann vollkommen unverständlich, wie ein solches Unrecht überhaupt geduldet werden konnte.
Derweil war das Mädchen unter den Verschmähungen des Volkes auf das Holzgestell des Galgens gestiegen, der Henker legte ihr den Strick um und zog schließlich den Holzblock unter ihren Füßen weg. Nach einem kurzen Moment der Stille jubelte die Menge plötzlich auf. Der Ruck der Schlinge hatte der Verurteilten das Genick nicht gebrochen, so daß sie unter dem Gebrüll der Menschen, die sich an dem schrecklichen Geschehen gar nicht sattsehen konnten, nun einen minutenlangen, qualvollen Todeskampf durchmachte, bis der Strick um ihren Hals sie irgendwann vollends erstickt hatte.
D'Artagnan hatte sich halb betäubt von dem Gesehenen an die Schulter seines Freundes gelehnt und kämpfte mit den Tränen. Es war das erste Mal gewesen, daß er einer Hinrichtung beigewohnt hatte.