La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Bei Nacht und Nebel

Die Hafenstadt La Rochelle in Frankreich, Juni 1628

Man hätte meinen können, es wäre Herbst, obwohl man heute den 8.Juni schrieb. Es war kalt, unaufhörlich fiel feiner Nieselregen vom Himmel und die Sicht in dieser mondlosen Nacht betrug nur wenige Meter. Wer nicht unbedingt musste, würde in einer solchen Nacht das Haus nicht verlassen und schon gar nicht würde sich jemand freiwillig in der nördlich der Stadt gelegenen Sumpflandschaft herumtreiben. Rochefort jedoch hatte genau auf solche Bedingungen gewartet, um wieder einmal das Wagnis auf sich zu nehmen, persönlich in die belagerte Stadt zu gehen. Es war nicht das erste Mal und es war notwendig, um Richelieu verlässliche Informationen über die Lage innerhalb der Stadt zu liefern, Informationen, die detaillierter und präziser waren, als die der anderen bezahlten Informanten, Kundschafter und Spitzel. Denn der Graf hatte Kontakt zu einem Mann, der Einblick in alle Vorgänge in La Rochelle hatte und der nur ihm vertraute…

Meter um Meter tastete Armand sich vorsichtig durch den Morast, wobei er sich die meiste Zeit auf Händen und Knien vorwärts bewegte, hohes Gras, Schilf und jede Bodenunebenheit als Deckung nutzend. Er war bis an die Zähne bewaffnet, mit Rapier, Parierdolch und Pistole und auch in jedem Stiefel hatte er ein Messer versteckt. Sollte man ihn entdecken, so würde es um Leben und Tod gehen... Außerdem führte er einen prall gefüllten ledernen Sack mit sich, den er so gut wie möglich vor der Feuchtigkeit zu schützen versuchte, was sein Vorankommen zusätzlich erschwerte.

Endlich! Vor ihm ragten die Festungsmauern der Stadt in die Dunkelheit. Er spähte hinauf zu den Wehrgängen, doch sie lagen fast zur Gänze im feuchten Dunst verborgen. Nur noch wenige Meter waren es bis zu dem geheimen Durchschlupf unter der Stadtmauer.

„He, Paul, hat sich da unten nicht was bewegt!" zischte da eine Stimme über ihm.

„Wo?"

„Na da, direkt unter uns!"

Rochefort presste sich in dem Dickicht aus hohem Schilf reglos auf den Boden.

„Also ich seh‘ nichts. Es ist völlig ruhig da unten. Du wirst Dich getäuscht haben."

Der Agent des Kardinals konnte förmlich fühlen, wie die beiden Männer da oben hinunterstarrten und versuchten, mit ihren Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen, bis einer von ihnen sagte: „Da ist niemand. Komm‘ weiter, wir müssen unseren Rundgang beenden."

Trotzdem ließ Armand sicherheitshalber noch die Dauer von zehn Vaterunser verstreichen, bis er es wagte, sich wieder zu bewegen. Nahezu lautlos legte er die verbliebene Distanz bis zur Mauer zurück und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die wuchernde Schilf- und Gräserwand, die den Zugang zu dem schmalen Tunnel verdeckte. So gut es ging vermied er es, Pflanzen zu knicken und schob hinter sich die Halme und Ranken wieder in ihre ursprüngliche Position. Auch am Beginn des geheimen Ganges stand noch mehr als knöchelhoch das schlammige Sumpfwasser, dann endlich hatte Rochefort wieder festen Boden unter den Füßen, da der Weg leicht anstieg. Der nächtliche „Besucher" schlich in völliger Dunkelheit voran; ein Licht anzuzünden kam nicht in Frage. Zum Glück war die zurückzulegende Strecke nicht weit. Schon bald erreichte der Graf eine aus groben Steinen gefügte steile Treppe, gerade breit genug für einen schlanken Mann, die er sogleich empor stieg und die – in einem alten, großen Weinfass mündete! Der Boden des Fasses war nur lose eingefügt und deckte den Einstieg zur Treppe ab. Sich vorsichtig aufrichtend tastete Rochefort dann nach dem Deckel des Fasses, hob ihn herunter und kletterte hinaus. Nun stand er in einem Kellergewölbe, in dem noch eine ganze Anzahl weiterer Weinfässer vor sich hin moderte.

Der Keller hatte zum Anwesen eines Weinhändlers gehört. Der Mann hatte sein Geschäft jedoch völlig herabgewirtschaftet und dann den Versuch gemacht, durch Schmuggel seiner finanziellen Misere zu entkommen. Und für diese Zwecke war auch jener Tunnel angelegt worden. Doch vor 2 Jahren war man ihm auf die Schliche gekommen; er war festgenommen und vor Gericht gestellt worden. Seither verfielen die Gebäude. Der damals mit der Untersuchung des Falles beauftragte Richter Monsieur Edouard Audebert, der zugleich einer der Ratsherren der Stadt war, hatte den Geheimgang durch Zufall entdeckt, jedoch beschlossen, sein Wissen vorerst für sich zu behalten. Wer weiß, so hatte er gedacht, wofür dieser Schlupfweg einmal gut sein konnte. Erst als die schicksalhafte Belagerung der Stadt ihren Verlauf genommen hatte, hatte er beschlossen, dieses Wissen mit jemandem zu teilen – und dieser Jemand war der Leiter von Richelieus Geheimdienst!

Während Rochefort wiederum einige Zeit lauschend verharrte, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Audebert und er kannten einander seit Kindertagen. Edouard war der älteste Sohn des Inhabers der besten Taverne der Stadt Rochefort gewesen. Beide hatte sie als Buben das Treiben im Hafen, das Ein- und Auslaufen, das Be- und Entladen der Schiffe fasziniert, was dazu führte, dass sie einander dort öfters trafen, Sympathie füreinander entwickelten und sich schließlich dem Standesunterschied zum Trotz anfreundeten. Gemeinsam mit anderen Gleichaltrigen heckten sie so manchen Streich aus. Was Armand an seinem Gefährten besonders schätzte, waren dessen ausgeprägter Gerechigkeitssinn und auffallend scharfer Verstand, Eigenschaften, die in Folge auch Edouards weiteren Lebensweg bestimmen sollten. Denn wenn er sich zu einem nicht berufen fühlte, dann dazu, das elterliche Wirtshaus weiter zu führen. Je älter er wurde, desto mehr drängte es ihn dazu, ein Studium an einer Universität zu beginnen. Sein Vater zeigte sich anfangs wenig begeistert davon und tat all das als jugendliche Flausen ab, doch letztendlich war er doch weise genug zu erkennen, dass es keinen Sinn machte, dem Jungen einen Werdegang aufzuzwingen, der nicht der seine war. Und so fand er sich mit dem Gedanken ab, dass eben sein zweitgeborener Sohn dereinst die Taverne „Zum Goldenen Schiff" übernehmen würde.

Einen Studienplatz in Paris aufzutreiben war nicht ganz einfach, zumal, wenn man kein betuchter Adelssprössling sondern bürgerlicher Herkunft war. Doch nachdem Edouards Vater sich einmal entschlossen hatte, dem Wunsch seine Sohnes statt zu geben, unterstützte er ihn nach besten Kräften. Seine Taverne ging gut und warf einiges ab und er war sogar bereit, einen Teil seiner Ersparnisse für die ehrgeizigen Ziele seines Ältesten zu opfern. Und Armand überredete seinen Vater, den Grafen de Rochefort, für seinen Freund ein Empfehlungs-schreiben an den Rektor der Pariser Universität aufzusetzen. Und so kam es, dass der Wirtssohn Edouard tatsächlich in Paris ein Studium der Rechte begann und auch erfolgreich zum Abschluss brachte. Armand verließ die heimatliche Grafschaft nur ein Jahr nach Edouard ebenfalls in Richtung der französischen Hauptstadt und auch er hatte hochfliegende Pläne und träumte von einer Karriere als Offizier in einem der angesehenen königlichen Regimenter. Doch dann kreuzte ein gewisser Bischof von Lucon Rocheforts Weg und diese Begegnung gab seinem Leben eine völlig neue Wendung...

Aufgrund zahlreicher Verpflichtungen sahen er und sein Jugendfreund einander in Folge nur noch selten, doch sie blieben in losem Briefkontakt. Dank einiger Beziehungen, die er in Paris geknüpft hatte, ergatterte Edouard einen Posten in der Kanzlei eines angesehenen Juristen in La Rochelle. Und das Glück blieb dem strebsamen Jüngling weiterhin hold: ein rascher beruflicher Aufstieg, die Heirat mit der Tochter eines wohlhabenden Bürgers – hierbei kam ihm zugute, dass er aus einer hugenottischen Familie stammte – schließlich seine Berufung in das Amt eines Stadtrichters, womit er zugleich auch einen Sitz im Rat der Stadt erhielt. Vor zwei Jahren war Armand einer Einladung Edouards nach La Rochelle gefolgt und sein Freund hatte ihm seine Gemahlin Jacqueline vorgestellt. Es war ihr letztes Wiedersehen gewesen, bevor sich der bewaffnete Konflikt mit König Louis XIII. wie ein dunkler Schatten über die „Hauptstadt des Protestantismus in Frankreich" gelegt hatte...

Der Stallmeister des Kardinals unterbrach sich in seinen Erinnerungen. Draußen schien alles ruhig; es sah aus, als konnte er es wagen, den Keller, dessen morsche Tür schief in den Angeln hing, zu verlassen...