Auf Messers Schneide von Petalwing 

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Kapitel Neue und alte Bekanntschaften

Kapitel 9 – Neue und alte Bekanntschaften

Von allen Regeln in der Welt der Nacht, ist vielleicht die Wichtigste, immer zu wissen, wohin Du gehen kannst und wohin nicht. In früheren Jahrhunderten war es einfacher. Die Menschen fürchteten die Nacht, wer klug war, suchte sich Unterschlupf und wer es nicht tat, der war des Teufels. Oder Unser. Sie erzitterten vor dem Schrecken, der in der Dunkelheit lauerte. Doch mit jedem Jahr das verstreicht, werden die Menschenkinder mutiger, langsam erobern sie sich die Nacht zurück und beanspruchen, was rechtmäßig unser ist, indem sie unsere Existenz verleugnen und als Phantasiegestalten lachend abtun. Wir sind nicht schuldlos daran. Es ist ein geradezu überwältigender Sieg der Maskerade, trotz des Sabbats und anderer abtrünniger Sekten, die kaum bemüht sind, ihre Anwesenheit zu verschleiern. Trotzdem frage ich mich, wohin sich all dies in ein paar Jahrhunderten entwickeln wird. Selbst heutzutage gibt es nur allzu viele Orte, die nicht sicher sind. Daher ist ein Grundpfeiler unseres Überlebens, Plätze zu schaffen, die uns Schutz bieten. Vor neugierigen Augen und vor unseren Feinden. Seien es nun Hexenjäger oder tückischen Rivalen aus der Welt der Dunkelheit. Jeder braucht mindestens einen solchen Ort. Diesen Raum nennen wir „Haven“. Dort überdauern wir den Tag und finden Ruhe, unsere Wunden zu heilen und Pläne zu schmieden. Dein Haven, mein herzallerliebster Athos, ist gegenwärtig bei mir.
Doch nicht jeder liebt die Ruhe und Einsamkeit eines geschützten Domizils und auch für die Geselligen unter uns, für gemeinsame Beschlüsse und Treffen, ohne die eine Gesellschaft nun einmal nicht auskommen kann, muss es Plätze geben. Das Elysium ist solch ein Ort. Offiziell im Besitz des Prinzen, treffen sich hier, im Herzen der Domäne, in regelmäßigen Abständen alle Mitglieder der Camarilla und verhandeln über das Schicksal der Stadt und unserer Feinde. Natürlich dienen diese Treffen nicht nur der großen Politik, sondern auch den gesellschaftlichen Spielen, der Vergnügungssucht und all den Rivalitäten und Intrigen, die unser Dasein gleichzeitig so aufregend und mitunter ermüdend machen.
Unser Elysium ist natürlich ein Palais. Der offizielle Besitzer, eine Hofschranze und Günstling Ludwigs XIII., ist zugleich auch ein blutgebundender Diener unseres Prinzen und stellt uns seine Ländereien für unsere Zwecke zu Verfügung, ohne auch nur im Mindesten zu ahnen, welche Wesen bei Nacht diese schönen Mauern bevölkern.

Wir treten ein, schreiten durch das Foyer, das wie immer mit erlesenen Gobelins geschmückt ist. Sie zeigen ausnahmslos Szenen von der Hirschjagd, die gerade in Versailles so beliebt ist. Mir scheint, der Prinz hat heute seinen humorvollen Tag, anders sind die geradezu offensichtlichen Referenzen auf Versailles und den Louvre kaum zu erklären. Und man könnte den großen Salon im Parterre fast für ein Vorzimmer des Königs halten, wäre da nicht ein gepuderter Schönling, der gerade einer blutjungen Zofe zur Erheiterung der Zuschauer die Zähne in den Hals schlägt. Sie seufzt wohlig in seinen Armen, während die Umstehenden teils neidvoll, teils gelangweilt zusehen. Nun ja, was soll man auch von den dekadenten Toreador erwarten, stets beschäftigt, ihre neuesten Errungenschaften, seien es Kleider, Schmuck oder schöne Menschen zu präsentieren. Sie sind mehr als alle anderen von uns Kinder dieser Zeit, in der die Menschen ihnen an Ausschweifung und Hedonismus nacheifern. Zufrieden stelle ich fest, dass Du dich angewidert abwendest. Genau, ich finde auch, es gehört zum Anstand, gesättigt zu kommen.

Während wir durch das Vorzimmer schreiten, folgen uns die Blicke. Selbst der Toreador, der eben noch ganz fasziniert von seiner Holden schien, hebt das Haupt, und mustert dich stirnrunzelnd. Ich wette, die Hälfte der anwesenden Toreador zittert innerlich vor Neid, während die andere Hälfte gern einmal ihre Lippen an Deinen schlanken Hals gesetzt hätten, als Du noch ein Sterblicher warst. Wie gut, dass Dir nicht klar ist, wie sehr Du beeindruckst, sonst könntest Du allzu schnell übermütig werden. Natürlich werden wir gegrüßt, uns selbst die stolzen Toreador verneigen sich, denn trotz aller Rückschläge in den letzten Jahrzehnten hat unser Clan in dieser Stadt noch immer große Macht. Außerdem fürchten sie mich, und sie tun gut daran. Ich verschwende nicht einen Tropfen Spucke an den Pöbel, sondern führe dich weiter zur großen Treppe hin, die zur Galerie ins Obergeschoss führt. Hier unten sind ohnehin nur die niederen Ränge unserer Gesellschaft zu finden. Junge Vampire, ein paar Ghule, kurzum all jene, die noch nicht über genug Erfahrung oder Auszeichnungen verfügen, um bei den Älteren Beachtung zu finden. Du als mein Childe gehörst natürlich trotz Deiner Jugend nicht in diese Kreise. Dir stehen alle Möglichkeiten offen. In der Galerie erwartet uns ein weiterer Ghul des Prinzen, dem ich kurz erkläre, wer Du bist, und dass Du seiner Hoheit Deine Aufwartung zu machen wünschst. Er nickt und verneigt sich, bevor er uns in den Prinzensaal führt. Hier wirst Du die wahren Häupter von Paris kennen lernen. Vor uns öffnet sich eine doppelflüglige Tür, mit Schnitzereien aus Elfenbein, und da sind wir auch schon.

Das Klirren der Kristallgläser verstummt nicht, auch wenn sich binnen einer Sekunde, ein jeder im Raum, unserer Anwesenheit bewusst ist. Ich sehe mich um. An einem Fenster entdecke ich Tréville, ein halbes Lächeln ziert seine Züge, als Du eintrittst und unmerklich nickt er Dir zu. Ganz in seiner Nähe, Mademoiselle Lenormand, die Primogenin der Toreador. Obwohl nicht von Stand, ist sie eine der mächtigsten Frauen in dieser Stadt, sie besitzt das Vertrauen des Prinzen und eine einzige herablassende Bemerkung von ihr, kann den gesellschaftlichen Ruin bedeuten. Sie kennt alle und jeden und wir werden dich ihr am Besten zuerst vorstellen, denn alles andere wäre eine Beleidigung an der Königin des Klatsches und das wollen wir noch nicht. Es erübrigt sich, zu erwähnen, dass sie, wie fast alle Frauen ihres Clans eine hinreißende Schönheit ist, dunkles, schwarzes Haar fällt entgegen der heutigen Mode kaum gebändigt auf ihre Schultern, die dunklen Augen leuchten in einem leidenschaftlichen Feuer, dass jede Zigeunerprinzessin vor Neid erblassen ließe. Ich vermute, dass sie eine gebürtige Spanierin ist. Da ich ihr genaues Alter nicht kenne, kann ich mir nicht sicher sein. Sie spricht akzentfreies Französisch.

Also lenken wir unsere Schritte in ihre Richtung, während ich zur Kenntnis nehme, dass Focault, der Clanführer der Gangrel ebenso anwesend ist, wie Bruder Atreus, der Malkavianerprimogen. Plötzlich erstarrst Du, und wendest Dich mir zu. Anscheinend hast Du gerade meinen alten Freund, den Primogen des Clans Tremere entdeckt, der halb verborgen in einer Nische gerade mit einem meiner Clansbrüder plaudert. Allerdings schließt die Bezeichnung „Freund“, in diesem Fall durchaus keine sonderliche Zuneigung mit ein, wir sind jedoch oftmals Verbündete, wenn es darum geht, andere Clans bei einer Entscheidung auszustechen. Doch das heißt nicht, dass wir nicht auch gleichsam erbitterte Konkurrenten sind. Jetzt sieht er zu uns hinüber. Ich deute eine Verneigung an, die er erwidert, geistesgegenwärtig hast Du Dich ebenfalls verbeugt.
„La Porte gehört auch dazu?“, fragst Du mich mit einem Hauch Verwirrung, als wir weiterschlendern. Oh, ich hatte vergessen, dass seine gegenwärtige ‚sterbliche’ Identität als Kammerdiener der Königin eine gewisse Popularität mit sich bringt.
„Nun, was denkst Du?“, gebe ich schmunzelnd zurück. „Die wahrhaft mächtigen Tremere sind alle Österreicher. Natürlich ist ihr Wollen und Wirken mit dem Haus Habsburg verknüpft. Auch wenn es unter den Menschen nicht bekannt ist, so hatte er bereits eine ähnliche Position am habsburgischen Hof inne noch lange bevor Ihre königliche Majestät geboren war.“
„Ich dachte er sei Franzose“, gibst du zurück.
„Nichts lässt sich leichter fälschen als eine Identität“, erwidere ich. Dein Erstaunen ob solcher Kleinigkeiten amüsiert mich. „Vergiss nicht, dass hier ganz andere Gesetze gelten, als in der Welt der Menschen. Die Tremere stammen aus Österreich, das Herz ihrer Macht ist Wien, so wie Paris das unsere ist. Die Hochzeit der Anna wurde nicht allein im Louvre arrangiert, wenn Du verstehst. Ganz gleich, was es für die Sterblichen bedeutet, brachten die Tremere doch durch diesen Schachzug einen Fuß in die Tür von Paris. Du nickst. Dann stutzt Du.
„Ihr meint die Königin ist-“
Dein aufrichtiges Entsetzen lässt mich wieder einmal Schmunzeln
„Nein, nein. Es gibt auch dafür gewisse Gesetze. Die Kainiten in Paris würden es nicht dulden, wagte einer von ihnen, einen der ganz Großen zu erwählen und zu seinem Kind zu nehmen. Es bedeutete eine Machtverschiebung, die keine der vielen involvierten Parteien guthieße. Und ein solcher Akt zöge schwerste Strafen nach sich. Für beide. Wir, und das vergiss nie, wir regieren stets im Schatten der Macht.“
„Ich verstehe.“
Während ich von einem vorübergehenden Diener zwei Weinpokale nehme und Dir einen reiche, deute ich unauffällig auf Mademoiselle Lenormand. „Diese reizende Dame jedoch ist für Deinen gesellschaftlichen Status in dieser Stadt viel wichtiger als alle Könige dieser Welt und wenn wir mit ihr sprechen, sollte es so angenehm wie möglich werden.“

Wir treten näher. Ich bin gezwungen, Tréville zu grüßen, und obwohl er keine Regung zeigt, weiß ich, dass er es genießt. Dann empfiehlt er sich, um Dir Raum für Deine Vorstellung zu geben. Nachdem ich Mademoiselle Lenormands Schönheit und Anmut eine angemessene Zeit in den Himmel gelobt habe, beginnt ein Verhör, dass leider alle Neugeborenen irgendwann durchmachen müssen. Einem Außenstehenden mag Euer Wortwechsel wie harmloses Geplauder erscheinen, allein, ich weiß es besser. Jede Deiner Antworten und Gesten wird einer harten Bewertung unterzogen. Sind Deine Manieren wirklich untadelig, bist Du der Aufnahme in die höheren Kreise würdig, bringst Du den Älteren genug Respekt entgegen, kennst Du Demut? Dank meiner Warnung erkennst Du sofort die Natur dieser Prüfung und obwohl Dir der verführerische Charme des geübten Höflings fehlt, sind Deine Antworten zurückhaltend ohne ausweichend zu sein und Deine Haltung strahlt Selbstbewusstsein aus, nicht jedoch die Arroganz, die man uns Ventrue nachsagt. Und obschon, vielleicht auch gerade weil Du auf leere Komplimente verzichtest, ist Mademoiselle hingerissen.

Zufrieden stelle ich fest, dass sie Dir schließlich vorschlägt, Dir die Domäne vorzustellen. Sehr erfreulich, diese Ehre erhält nicht jeder. Also überlasse ich Dich ihrer Obhut. Du bietest ihr Deinen Arm an, dann geleitest Du sie durch den Saal. Hier und dort bleibt ihr stehen, plaudert kurz mit dem einen Grüppchen oder dem anderen. Selbst die Verbohrtesten unter uns wagen es nicht, Mademoiselle Lenormand zurückzuweisen. Mit Ausnahme vielleicht von Atreus, der sein schwarzes Priestergewand stets wie ein Totenkleid trägt und sein Gegenüber nie direkt ansieht.
Ich nutze die kurze Pause, um La Porte meine Aufwartung zu machen. Doch wie ich schon vermutet habe, reagiert er ungnädig, mit kaum verhohlenem Ärger. Er ist wütend, weil ich vom Prinzen die Erlaubnis bekam, mir ein Childe zu erschaffen, während er auf dieses Geschenk wohl noch warten muss. Nunja, er wird darüber hinwegkommen.

Du führst die Mademoiselle immer noch am Arm und langsam beginne ich zu glauben, dass der Abend nicht in einer Katastrophe enden könnte. Allerdings fehlt eine Person, die ich heute Abend hier erwarte. Sollte sie ausgerechnet in dieser Nacht nicht da sein?
Doch noch während ich darüber nachdenke, ist es soweit. Gerade habt ihr die Runde gemacht, man schlendert gemächlich hinüber in den Bankettsaal, wo Du die Herrin der Toreador zu ihrem Platz geleiten wirst, als sich die Flügeltür ein weiteres Mal öffnet und die zweifellos schönste Frau von Paris sich die Ehre gibt. Ich hatte des Öfteren dass Vergnügen mit ihr, auch außerhalb dieser Räumlichkeiten. Vielfach waren wir schon Verbündete, und könnten weibliche Reize noch eine Wirkung bei meinem toten Fleisch erzielen, ich läge ihr zu Füßen. Wir beide haben gemeinsame Interessen, was die Sterblichen betrifft. Und wie ich jüngst bei meinen Recherchen über Dich herausfand, gilt das nicht nur für die Zusammenarbeit mit dem Kardinal. Natürlich werde ich mir den Spaß nicht nehmen lassen, ihr meinen Triumph unter die hinreißende kleine Nase zu reiben. Also trete ich auf sie zu. Sie lächelt huldvoll und reicht mir graziös die Hand. Ich verneige mich und deute einen zärtlichen Kuss an.
„Meine liebe Mylady, ich habe Euch bereits vermisst.“
Sie ahnt noch nicht, wer mich heute Abend begleitet, also ergreift sie den Arm, den ich ihr biete mit zarten Fingerspitzen und ich führe sie zu Tisch.
Als sie Deiner Ansichtig wird, sehe ich zum ersten Mal seit ich sie kenne, die Fassade des Liebreizes bröckeln. Für Sekunden lese ich Wut in ihren Zügen, doch allzu schnell hat sie sich wieder gefasst und tut, als sei nichts geschehen. Abgesehen davon, dass der einzige Mensch, der ihr je widerstanden hat, gerade ihrer Herrin den Stuhl zurecht rückt. Dann richtest Du dich auf, und, als könntest Du unsere Anwesenheit spüren, drehst Dich um zu uns. Dein Gesicht ist aschfahl, aber Du gönnst ihr nicht die Genugtuung der Überraschung.
„Mylady, darf ich Euch mein Childe, Athos vorstellen?“
Ihr grüßt Euch, zwischen Euren Blicken könnte selbst ein Eiszapfen noch einmal gefrieren.
„Nein, was für eine Überraschung, Graf. Ihr hier? Wer von uns hätte gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden.“
Tatsächlich, sie ist eine eiskalte Hexe, dafür bewundere ich sie aufrichtig. Du hast offensichtlich Schwierigkeiten, etwas Höfliches herauszubringen. Dein knappes „Mylady“ klingt verächtlich und abweisend.
Gleichsam verweilen Deine Augen an ihrem Schwanenhals. Suchst Du dort etwa die Male des Strickes? Doch er ist makellos und Du begreifst, dass man den Tod nicht töten kann. Dann denkst Du an die Macht des Blutes und ein Rätsel Deines Lebens liegt endlich offen vor Dir, nach Jahren der Qual. Ja, das Weib hat Dich damals gefügig gemacht, so wie wir nun einmal die Sterblichen an uns binden, die uns gefallen oder nützlich sind. In Deinem Fall hat sie wohl das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. Allerdings ist mir bei der ganzen Geschichte nicht ganz klar, wie Du, ein gewöhnlicher Mensch, ihren Bann durchbrechen und sie tatsächlich erhängen konntest. Vielleicht hast Du unbewusst gespürt, dass Deine leidenschaftliche Hingabe nicht ganz freiwillig war.
Sie spielt diese Charade schon ein paar Jahrzehnte länger als Du. Der sanfte Druck ihrer Fingerkuppen auf meinem Arm signalisiert ein „Darüber reden wir noch“. Wie sie meint, damit kann ich gut Unleben. Dann geleite ich auch sie endlich zu ihrem Platz und wir nehmen die unseren ein. Ich hake einen weiteren Punkt auf meiner imaginären Liste ab. Nun fehlt nur noch Seine Prinzliche Hoheit.