Auf Messers Schneide von Petalwing
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 20 BewertungenKapitel Neue und alte Bekanntschaften
Kapitel 9 – Neue und alte Bekanntschaften
Von allen Regeln in der Welt der Nacht, ist vielleicht die
Wichtigste, immer zu wissen, wohin Du gehen kannst und wohin nicht.
In früheren Jahrhunderten war es einfacher. Die Menschen fürchteten
die Nacht, wer klug war, suchte sich Unterschlupf und wer es nicht
tat, der war des Teufels. Oder Unser. Sie erzitterten vor dem
Schrecken, der in der Dunkelheit lauerte. Doch mit jedem Jahr das
verstreicht, werden die Menschenkinder mutiger, langsam erobern sie
sich die Nacht zurück und beanspruchen, was rechtmäßig unser ist,
indem sie unsere Existenz verleugnen und als Phantasiegestalten
lachend abtun. Wir sind nicht schuldlos daran. Es ist ein geradezu
überwältigender Sieg der Maskerade, trotz des Sabbats und anderer
abtrünniger Sekten, die kaum bemüht sind, ihre Anwesenheit zu
verschleiern. Trotzdem frage ich mich, wohin sich all dies in ein
paar Jahrhunderten entwickeln wird. Selbst heutzutage gibt es nur
allzu viele Orte, die nicht sicher sind. Daher ist ein Grundpfeiler
unseres Überlebens, Plätze zu schaffen, die uns Schutz bieten. Vor
neugierigen Augen und vor unseren Feinden. Seien es nun Hexenjäger
oder tückischen Rivalen aus der Welt der Dunkelheit. Jeder braucht
mindestens einen solchen Ort. Diesen Raum nennen wir „Haven“. Dort
überdauern wir den Tag und finden Ruhe, unsere Wunden zu heilen und
Pläne zu schmieden. Dein Haven, mein herzallerliebster Athos, ist
gegenwärtig bei mir.
Doch nicht jeder liebt die Ruhe und Einsamkeit eines geschützten
Domizils und auch für die Geselligen unter uns, für gemeinsame
Beschlüsse und Treffen, ohne die eine Gesellschaft nun einmal nicht
auskommen kann, muss es Plätze geben. Das Elysium ist solch ein
Ort. Offiziell im Besitz des Prinzen, treffen sich hier, im Herzen
der Domäne, in regelmäßigen Abständen alle Mitglieder der Camarilla
und verhandeln über das Schicksal der Stadt und unserer Feinde.
Natürlich dienen diese Treffen nicht nur der großen Politik,
sondern auch den gesellschaftlichen Spielen, der Vergnügungssucht
und all den Rivalitäten und Intrigen, die unser Dasein gleichzeitig
so aufregend und mitunter ermüdend machen.
Unser Elysium ist natürlich ein Palais. Der offizielle Besitzer,
eine Hofschranze und Günstling Ludwigs XIII., ist zugleich auch ein
blutgebundender Diener unseres Prinzen und stellt uns
seine Ländereien für unsere Zwecke zu Verfügung, ohne auch nur im
Mindesten zu ahnen, welche Wesen bei Nacht diese schönen Mauern
bevölkern.
Wir treten ein, schreiten durch das Foyer, das wie immer mit erlesenen Gobelins geschmückt ist. Sie zeigen ausnahmslos Szenen von der Hirschjagd, die gerade in Versailles so beliebt ist. Mir scheint, der Prinz hat heute seinen humorvollen Tag, anders sind die geradezu offensichtlichen Referenzen auf Versailles und den Louvre kaum zu erklären. Und man könnte den großen Salon im Parterre fast für ein Vorzimmer des Königs halten, wäre da nicht ein gepuderter Schönling, der gerade einer blutjungen Zofe zur Erheiterung der Zuschauer die Zähne in den Hals schlägt. Sie seufzt wohlig in seinen Armen, während die Umstehenden teils neidvoll, teils gelangweilt zusehen. Nun ja, was soll man auch von den dekadenten Toreador erwarten, stets beschäftigt, ihre neuesten Errungenschaften, seien es Kleider, Schmuck oder schöne Menschen zu präsentieren. Sie sind mehr als alle anderen von uns Kinder dieser Zeit, in der die Menschen ihnen an Ausschweifung und Hedonismus nacheifern. Zufrieden stelle ich fest, dass Du dich angewidert abwendest. Genau, ich finde auch, es gehört zum Anstand, gesättigt zu kommen.
Während wir durch das Vorzimmer schreiten, folgen uns die Blicke. Selbst der Toreador, der eben noch ganz fasziniert von seiner Holden schien, hebt das Haupt, und mustert dich stirnrunzelnd. Ich wette, die Hälfte der anwesenden Toreador zittert innerlich vor Neid, während die andere Hälfte gern einmal ihre Lippen an Deinen schlanken Hals gesetzt hätten, als Du noch ein Sterblicher warst. Wie gut, dass Dir nicht klar ist, wie sehr Du beeindruckst, sonst könntest Du allzu schnell übermütig werden. Natürlich werden wir gegrüßt, uns selbst die stolzen Toreador verneigen sich, denn trotz aller Rückschläge in den letzten Jahrzehnten hat unser Clan in dieser Stadt noch immer große Macht. Außerdem fürchten sie mich, und sie tun gut daran. Ich verschwende nicht einen Tropfen Spucke an den Pöbel, sondern führe dich weiter zur großen Treppe hin, die zur Galerie ins Obergeschoss führt. Hier unten sind ohnehin nur die niederen Ränge unserer Gesellschaft zu finden. Junge Vampire, ein paar Ghule, kurzum all jene, die noch nicht über genug Erfahrung oder Auszeichnungen verfügen, um bei den Älteren Beachtung zu finden. Du als mein Childe gehörst natürlich trotz Deiner Jugend nicht in diese Kreise. Dir stehen alle Möglichkeiten offen. In der Galerie erwartet uns ein weiterer Ghul des Prinzen, dem ich kurz erkläre, wer Du bist, und dass Du seiner Hoheit Deine Aufwartung zu machen wünschst. Er nickt und verneigt sich, bevor er uns in den Prinzensaal führt. Hier wirst Du die wahren Häupter von Paris kennen lernen. Vor uns öffnet sich eine doppelflüglige Tür, mit Schnitzereien aus Elfenbein, und da sind wir auch schon.
Das Klirren der Kristallgläser verstummt nicht, auch wenn sich binnen einer Sekunde, ein jeder im Raum, unserer Anwesenheit bewusst ist. Ich sehe mich um. An einem Fenster entdecke ich Tréville, ein halbes Lächeln ziert seine Züge, als Du eintrittst und unmerklich nickt er Dir zu. Ganz in seiner Nähe, Mademoiselle Lenormand, die Primogenin der Toreador. Obwohl nicht von Stand, ist sie eine der mächtigsten Frauen in dieser Stadt, sie besitzt das Vertrauen des Prinzen und eine einzige herablassende Bemerkung von ihr, kann den gesellschaftlichen Ruin bedeuten. Sie kennt alle und jeden und wir werden dich ihr am Besten zuerst vorstellen, denn alles andere wäre eine Beleidigung an der Königin des Klatsches und das wollen wir noch nicht. Es erübrigt sich, zu erwähnen, dass sie, wie fast alle Frauen ihres Clans eine hinreißende Schönheit ist, dunkles, schwarzes Haar fällt entgegen der heutigen Mode kaum gebändigt auf ihre Schultern, die dunklen Augen leuchten in einem leidenschaftlichen Feuer, dass jede Zigeunerprinzessin vor Neid erblassen ließe. Ich vermute, dass sie eine gebürtige Spanierin ist. Da ich ihr genaues Alter nicht kenne, kann ich mir nicht sicher sein. Sie spricht akzentfreies Französisch.
Also lenken wir unsere Schritte in ihre Richtung, während ich
zur Kenntnis nehme, dass Focault, der Clanführer der Gangrel ebenso
anwesend ist, wie Bruder Atreus, der Malkavianerprimogen. Plötzlich
erstarrst Du, und wendest Dich mir zu. Anscheinend hast Du gerade
meinen alten Freund, den Primogen des Clans Tremere entdeckt, der
halb verborgen in einer Nische gerade mit einem meiner Clansbrüder
plaudert. Allerdings schließt die Bezeichnung „Freund“, in diesem
Fall durchaus keine sonderliche Zuneigung mit ein, wir sind jedoch
oftmals Verbündete, wenn es darum geht, andere Clans bei einer
Entscheidung auszustechen. Doch das heißt nicht, dass wir nicht
auch gleichsam erbitterte Konkurrenten sind. Jetzt sieht er zu uns
hinüber. Ich deute eine Verneigung an, die er erwidert,
geistesgegenwärtig hast Du Dich ebenfalls verbeugt.
„La Porte gehört auch dazu?“, fragst Du mich mit einem Hauch
Verwirrung, als wir weiterschlendern. Oh, ich hatte vergessen, dass
seine gegenwärtige ‚sterbliche’ Identität als Kammerdiener der
Königin eine gewisse Popularität mit sich bringt.
„Nun, was denkst Du?“, gebe ich schmunzelnd zurück. „Die wahrhaft
mächtigen Tremere sind alle Österreicher. Natürlich ist ihr Wollen
und Wirken mit dem Haus Habsburg verknüpft. Auch wenn es unter den
Menschen nicht bekannt ist, so hatte er bereits eine ähnliche
Position am habsburgischen Hof inne noch lange bevor Ihre
königliche Majestät geboren war.“
„Ich dachte er sei Franzose“, gibst du zurück.
„Nichts lässt sich leichter fälschen als eine Identität“, erwidere
ich. Dein Erstaunen ob solcher Kleinigkeiten amüsiert mich.
„Vergiss nicht, dass hier ganz andere Gesetze gelten, als in der
Welt der Menschen. Die Tremere stammen aus Österreich, das Herz
ihrer Macht ist Wien, so wie Paris das unsere ist. Die Hochzeit der
Anna wurde nicht allein im Louvre arrangiert, wenn Du verstehst.
Ganz gleich, was es für die Sterblichen bedeutet, brachten die
Tremere doch durch diesen Schachzug einen Fuß in die Tür von Paris.
Du nickst. Dann stutzt Du.
„Ihr meint die Königin ist-“
Dein aufrichtiges Entsetzen lässt mich wieder einmal
Schmunzeln
„Nein, nein. Es gibt auch dafür gewisse Gesetze. Die Kainiten in
Paris würden es nicht dulden, wagte einer von ihnen, einen der ganz
Großen zu erwählen und zu seinem Kind zu nehmen. Es bedeutete eine
Machtverschiebung, die keine der vielen involvierten Parteien
guthieße. Und ein solcher Akt zöge schwerste Strafen nach sich. Für
beide. Wir, und das vergiss nie, wir regieren stets im Schatten der
Macht.“
„Ich verstehe.“
Während ich von einem vorübergehenden Diener zwei Weinpokale nehme
und Dir einen reiche, deute ich unauffällig auf Mademoiselle
Lenormand. „Diese reizende Dame jedoch ist für Deinen
gesellschaftlichen Status in dieser Stadt viel wichtiger als alle
Könige dieser Welt und wenn wir mit ihr sprechen, sollte es so
angenehm wie möglich werden.“
Wir treten näher. Ich bin gezwungen, Tréville zu grüßen, und obwohl er keine Regung zeigt, weiß ich, dass er es genießt. Dann empfiehlt er sich, um Dir Raum für Deine Vorstellung zu geben. Nachdem ich Mademoiselle Lenormands Schönheit und Anmut eine angemessene Zeit in den Himmel gelobt habe, beginnt ein Verhör, dass leider alle Neugeborenen irgendwann durchmachen müssen. Einem Außenstehenden mag Euer Wortwechsel wie harmloses Geplauder erscheinen, allein, ich weiß es besser. Jede Deiner Antworten und Gesten wird einer harten Bewertung unterzogen. Sind Deine Manieren wirklich untadelig, bist Du der Aufnahme in die höheren Kreise würdig, bringst Du den Älteren genug Respekt entgegen, kennst Du Demut? Dank meiner Warnung erkennst Du sofort die Natur dieser Prüfung und obwohl Dir der verführerische Charme des geübten Höflings fehlt, sind Deine Antworten zurückhaltend ohne ausweichend zu sein und Deine Haltung strahlt Selbstbewusstsein aus, nicht jedoch die Arroganz, die man uns Ventrue nachsagt. Und obschon, vielleicht auch gerade weil Du auf leere Komplimente verzichtest, ist Mademoiselle hingerissen.
Zufrieden stelle ich fest, dass sie Dir schließlich vorschlägt,
Dir die Domäne vorzustellen. Sehr erfreulich, diese Ehre erhält
nicht jeder. Also überlasse ich Dich ihrer Obhut. Du bietest ihr
Deinen Arm an, dann geleitest Du sie durch den Saal. Hier und dort
bleibt ihr stehen, plaudert kurz mit dem einen Grüppchen oder dem
anderen. Selbst die Verbohrtesten unter uns wagen es nicht,
Mademoiselle Lenormand zurückzuweisen. Mit Ausnahme vielleicht von
Atreus, der sein schwarzes Priestergewand stets wie ein Totenkleid
trägt und sein Gegenüber nie direkt ansieht.
Ich nutze die kurze Pause, um La Porte meine Aufwartung zu machen.
Doch wie ich schon vermutet habe, reagiert er ungnädig, mit kaum
verhohlenem Ärger. Er ist wütend, weil ich vom Prinzen die
Erlaubnis bekam, mir ein Childe zu erschaffen, während er auf
dieses Geschenk wohl noch warten muss. Nunja, er wird darüber
hinwegkommen.
Du führst die Mademoiselle immer noch am Arm und langsam beginne
ich zu glauben, dass der Abend nicht in einer Katastrophe
enden könnte. Allerdings fehlt eine Person, die ich heute Abend
hier erwarte. Sollte sie ausgerechnet in dieser Nacht nicht da
sein?
Doch noch während ich darüber nachdenke, ist es soweit. Gerade habt
ihr die Runde gemacht, man schlendert gemächlich hinüber in den
Bankettsaal, wo Du die Herrin der Toreador zu ihrem Platz geleiten
wirst, als sich die Flügeltür ein weiteres Mal öffnet und die
zweifellos schönste Frau von Paris sich die Ehre gibt. Ich hatte
des Öfteren dass Vergnügen mit ihr, auch außerhalb dieser
Räumlichkeiten. Vielfach waren wir schon Verbündete, und könnten
weibliche Reize noch eine Wirkung bei meinem toten Fleisch
erzielen, ich läge ihr zu Füßen. Wir beide haben gemeinsame
Interessen, was die Sterblichen betrifft. Und wie ich jüngst bei
meinen Recherchen über Dich herausfand, gilt das nicht nur für die
Zusammenarbeit mit dem Kardinal. Natürlich werde ich mir den Spaß
nicht nehmen lassen, ihr meinen Triumph unter die hinreißende
kleine Nase zu reiben. Also trete ich auf sie zu. Sie lächelt
huldvoll und reicht mir graziös die Hand. Ich verneige mich und
deute einen zärtlichen Kuss an.
„Meine liebe Mylady, ich habe Euch bereits vermisst.“
Sie ahnt noch nicht, wer mich heute Abend begleitet, also ergreift
sie den Arm, den ich ihr biete mit zarten Fingerspitzen und ich
führe sie zu Tisch.
Als sie Deiner Ansichtig wird, sehe ich zum ersten Mal seit ich sie
kenne, die Fassade des Liebreizes bröckeln. Für Sekunden lese ich
Wut in ihren Zügen, doch allzu schnell hat sie sich wieder gefasst
und tut, als sei nichts geschehen. Abgesehen davon, dass der
einzige Mensch, der ihr je widerstanden hat, gerade ihrer Herrin
den Stuhl zurecht rückt. Dann richtest Du dich auf, und, als
könntest Du unsere Anwesenheit spüren, drehst Dich um zu uns. Dein
Gesicht ist aschfahl, aber Du gönnst ihr nicht die Genugtuung der
Überraschung.
„Mylady, darf ich Euch mein Childe, Athos vorstellen?“
Ihr grüßt Euch, zwischen Euren Blicken könnte selbst ein Eiszapfen
noch einmal gefrieren.
„Nein, was für eine Überraschung, Graf. Ihr hier? Wer von uns hätte
gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden.“
Tatsächlich, sie ist eine eiskalte Hexe, dafür bewundere ich sie
aufrichtig. Du hast offensichtlich Schwierigkeiten, etwas Höfliches
herauszubringen. Dein knappes „Mylady“ klingt verächtlich und
abweisend.
Gleichsam verweilen Deine Augen an ihrem Schwanenhals. Suchst Du
dort etwa die Male des Strickes? Doch er ist makellos und Du
begreifst, dass man den Tod nicht töten kann. Dann denkst Du an die
Macht des Blutes und ein Rätsel Deines Lebens liegt endlich offen
vor Dir, nach Jahren der Qual. Ja, das Weib hat Dich damals gefügig
gemacht, so wie wir nun einmal die Sterblichen an uns binden, die
uns gefallen oder nützlich sind. In Deinem Fall hat sie wohl das
Nützliche mit dem Angenehmen verbunden. Allerdings ist mir bei der
ganzen Geschichte nicht ganz klar, wie Du, ein gewöhnlicher Mensch,
ihren Bann durchbrechen und sie tatsächlich erhängen konntest.
Vielleicht hast Du unbewusst gespürt, dass Deine leidenschaftliche
Hingabe nicht ganz freiwillig war.
Sie spielt diese Charade schon ein paar Jahrzehnte länger als Du.
Der sanfte Druck ihrer Fingerkuppen auf meinem Arm signalisiert ein
„Darüber reden wir noch“. Wie sie meint, damit kann ich gut
Unleben. Dann geleite ich auch sie endlich zu ihrem Platz und wir
nehmen die unseren ein. Ich hake einen weiteren Punkt auf meiner
imaginären Liste ab. Nun fehlt nur noch Seine Prinzliche
Hoheit.