Vergebung
„Was dich zerstört, ist nicht die Liebe. Was dich zerstört, das
bist du selbst.“
(- an old friend)
Es war wieder einer der Abende.
Sie hatten es ahnen können, doch nicht wissen, nur mutmaßen, dass
ihr Freund nachdenklich wurde, nachdenklich und ernst.
In einer bedrückenden Weise traurig, dann frustriert und
verzweifelt, schließlich so betrunken, dass es keinen Unterschied
mehr machte.
Aramis, Portos und D’Artagnan hatten die Anzeichen kaum bemerkt,
den in die Ferne gerichteten Blick, den stumpfen Ausdruck in seinen
Augen, das kaum merkliche Frösteln, das ihn jedes Mal wie ein
Schauer packte.
Athos hatte sich wortlos eine Flasche Wein genommen, sie mit den
Zähnen entkorkt und war apathisch, wie von einer fremden Macht
gesteuert in den hinteren Teil des Gasthauses verschwunden.
Er würde dort sitzen wie jedes Mal und Trinken und Fantasieren,
Nachdenken, Verleumden und Verdrängen.
Und am nächsten Morgen würde er kein Wort über den Abend verlieren,
so als hätte er ihn vergessen. Doch das hatte er nicht.
Es war eine endlose, nicht abreißende Kette von Ereignissen,
Ritualen, die sich in ein festes Bild zusammenfügten, eine komplexe
Ansammlung von Zeitstücken, die eine unsinnige
Handlung ergaben.
Dieser Abend machte keine Ausnahme.
Athos saß im flackernden Licht einer halb abgebrannten Kerze am
Tisch, hob die Flasche an die Lippen und blinzelte in die helle
Flamme.
Man könnte meinen, er sei ein Alkoholiker, jemand, der den
Rausch suchte; der den Wein genoss in jedem Schluck und den
Glücksrausch in völliger Trunkenheit fand.
Doch Athos hatte ein anderes Ziel. Er füllte die schmerzende Leere
in seinem Inneren mit einer anderen Art von Leere, die einen
Ursprung hatte und einen Grund, die zu fassen war. Er konnte nicht
schlafen, denn Alpträume verfolgten ihn in jeder Minute und er
wachte schweißgebadet auf, zitternd und verstört, schlief wieder
ein, wälzte sich unruhig und lag immernoch wach, wenn der Morgen
kam.
Wenn er trank spürte er langsam das Gefühl aus seinen Gliedern
weichen, seine Sinne vermischten sich zu einem unklaren Rauschen,
während er in Dunkelheit hinabglitt, die so tief und
undurchdringlich war, dass er immerhin die Nacht überstehen
konnte.
Es war nicht so, dass der Schmerz und die Erinnerungen kamen und
gingen oder nur an dunklen Tagen da waren, vielmehr hatte er
gelernt, den Schmerz zu ertragen und ihn auf eine bizarre Weise zu
ignorieren.
Athos wusste, dass seine Freunde ihn gewähren ließen, obwohl sie
sich um ihn sorgten und ihm war klar, dass jedes Mal ein Teil von
ihm starb, wenn er sie an einem solchen Abend verließ.
Wenn er gewusst hätte, dass er richtig gehandelt hatte, aus irgendeinem Grund nicht im Unrecht gewesen wäre, wenn sie ihm nur verzeihen könnte, wenn er ihr nur sagen könnte, wie sehr er seine Tat bereute - doch es war ihm unmöglich, sie um Vergebung zu bitten.
Athos leere die Flasche hielt sie einen Moment lang in der Hand.
Seine Hände zitterten, zuerst kaum merklich, dann heftiger und das
kühle Glas entglitt seinen Fingern. Mit einem lauten Bersten
zerbrach die Flasche auf der Tischplatte, Scherben stoben in alle
Richtungen.
Ein Brennen zog sich über die Innenfläche seiner Hand, Blut,
Scherben, ein undeutlicher Wirbel aus Bildern. War er betrunken,
träumte er?
Nein, der Schmerz war so real wie jedes Mal, er sah hinab in den
Scherbenhaufen und
erkannte sein Gesicht, welches sich im Glas spiegelte, gebrochen
und verzerrt.
Seine Freunde waren ob des lauten Geräusches aufgesprungen, doch
er kümmerte sich nicht um sie, er berührte fast ungläubig das Blut
an seiner Hand, sprang auf und lief hinaus, drängte sich durch
Menschenmengen, warme Körper und leere Gesichter.
Er stieß die Tür auf und lehnte sich an die Wand, kalte Abendluft,
Dunkelheit.
Ihm war schwindlig und ein Gefühl des Zorns durchflutete ihn.
Was war aus ihm geworden, wie weit hatte er es kommen lassen, in
einem Wirtshaus zu sitzen und in Selbstmitleid zu baden, zu
betrunken, um die Flasche halten zu können?
Wie konnte seine Vergangenheit seinen Stolz zerfressen haben, seine
Selbstachtung und sein Herz?
Er lehnte noch immer an der Wand, verloren und aufgewühlt. Hätte
sie es ihm nur vergeben
können, hätte sie ihm nur vergeben…
Die Tür flog auf und D’Artagnan stürzte hinaus, den Degen fast
griffbereit, gefolgt von Aramis und Porthos.
D’Artagnan sah sich rasch um, erkannte keine Gefahr und wandte sich
Athos zu.
„Was tust du hier, mein Freund?“ fragte er sanft.
Athos blickte in die Ferne. „Ich suche nach Vergebung.“
Das war es, was er tat. Was er immer getan hatte. D’Artagnan
antwortete nicht.
Athos fröstelte.
Und plötzlich, als wäre es nie offensichtlicher gewesen, wurde
es ihm klar.
Er erkannte den simplen und völlig banalen Umstand, die Lösung
seines Rätsels.
Nichts hatte sie ihm vergeben müssen, gar nichts! Er musste sich
selbst vergeben- sich selbst vergeben lernen.
Athos Körper durchlief ein Zittern und D’Artagnan trat näher. Doch
dann erkannte er, dass sein Freund lachte. Auf eine erleichternde,
herzerfrischende Weise lachte er schallend laut und
ausgelassen.
Die drei Freunde starrten ihn an wie einen Geist, denn mehr als ein
Lächeln waren sie von Athos nicht gewöhnt.
Er harre sich plötzlich an die Worte eines alten Freundes
erinnert:
„Was dich zerstört, ist nicht die Liebe. Was dich zerstört, das
bist du selbst.“
Er hatte sich klar gemacht, dass niemand zu ihm kommen und ihm
Absolution erteilen würde.
Es war geschehen und wenn er weiterhin mit seinem Schicksal
haderte, sich in Tiefen seiner Trauer und eines Schmerzes
zurückzog, so würde er sich selbst darin verlieren.
Er war dabei, auf eine völlig absurde, unerwartete und vermutlich
verrückte Weise mit sich selbst ins Reine zu kommen.
Athos hatte die Augen geöffnet, sich im Spiegel angesehen und sich
selbst nicht wiedererkannt.
Und so kam es, dass er nicht mehr nach Heilung seiner Wunden
suchte.
Zumindest nicht mehr allein.
Er streifte an jenem Abend mit seinen Kameraden durch Paris, auf
der Suche nach allem und gar nichts, trunken von der Nacht und wie
elektrisiert vom Morgen, hoffnungslos verstrickt in Gespräche und
hoffnugsvoll verloren.
Athos erfuhr nie, was ihn an jenem Abend bewegt hatte, die Gefühle
in seinem Inneren zu überwinden, sich seinen Kameraden
anzuvertrauen und sich etwas Größerem zu öffnen als seinem
Selbstmitleid. Er wusste nicht, welcher verwundene Pfad des
Schicksals ihn auf Umwegen zurück geführt hatte, dorthin zurück, wo
er hingehörte.
Doch eigentlich wollte er das auch gar nicht wissen.
~ fin