Kapitel Erwachen
Ihm war kalt, eisig kalt, so kalt, dass er einen Moment lang glaubte, seine Glieder müssten am Untergrund festgefroren sein – wo war er? Um ihn herum war Dunkelheit, langsam streckte er einen Arm aus, tastete, ertastete Laken, ein Bett, die Bewegung tat weh. Er lag auf einem Bett, war er verwundet? Da fiel sein Blick auf das offene Fenster, seine Nase roch den Geruch der Liebe, seine Hand fühlte Feuchtigkeit und der Schmerz zog sich zurück, lokalisierte sich pochend an einer Stelle an seinem Hals. Vorsichtig fuhr er mit der Hand an die Wunde, fühlte – zwei Löcher! Mit der Erkenntnis kehrte das Grauen zurück, nein! Das durfte nicht sein, das konnte nicht sein, das war ein Nachtmahr, er träumte, musste träumen, zu entsetzlich, zu furchtbar wäre die Alternative! Vage Erinnerungsfetzen stiegen in ihm auf, sie auf ihm, sie hatten sich geliebt, sie hatte ihn … gebissen? Das war unmöglich, sie war tot! Es war ein Alptraum, nichts weiter, schrecklich reell, aber dennoch ein Traum. Doch … woher kam diese Feuchtigkeit an seinen Fingern? Woher diese Kälte? Woher dieses Blei in seinen Gliedern, diese unendliche Mattigkeit? Langsam setzte er sich auf, die Bewegung verursachte Schwindel, sah im Dämmerdunkel die Kerze auf dem Nachttisch mitsamt dem Zunder und schlug Licht, steckte die Kerze an. Das Bett war völlig zerwühlt, die Flecken darauf sprachen eine eindeutige Sprache, doch konnte er sie auch alleine verursacht haben. Träume waren machtvoll, hatten ihn schon oft entführt, waren manchmal tröstlich, öfter, weitaus öfter grausam, dies war wohl ein besonders übler Traum gewesen. Aber trotzdem … irgendetwas war anders. Er schnüffelte, horchte, hörte die Geräusche der Nacht, klar und deutlich. Ein Käuzchen rief, eine Katze lief draußen vorbei. Eine Katze? Er roch sie, roch ihr Fell, dieses staubige, nach Heu riechende Katzenfell. Nein, das war Einbildung, musste es sein, wer konnte wohl eine Katze riechen? Er stand auf, mühsam, schwankend, dieser gleißende Schmerz in allen Gliedern, sah hinaus. Da war sie, die Katze. Auf der Straße ging sie vorbei, schlich an der Mauer entlang und verharrte, blickte zurück, als habe sie ihn bemerkt. Fauchte und verschwand um die Ecke, schnell, als habe sie Angst. Etwas wuchs in ihm, er merkte, er hatte Hunger, Hunger auf … die Katze? Nein! Nein! Oh Gott, nein! Was war mit ihm geschehen? Was hatte sie mit ihm gemacht? Er hatte von den Kreaturen der Nacht gehört, es wurde gemunkelt, es gebe sie in Paris, doch er hatte den Gerüchten nie Glauben geschenkt.
Ammenmärchen, erfunden, um Kinder damit zu erschrecken. In der letzten Zeit allerdings hatten sich die Gerüchte gehäuft, hatten sich verdichtet, so sehr, dass selbst Tréville ihnen davon gesprochen hatte und sie gebeten hatte, die Augen aufzuhalten. Nein! Das war unmöglich, undenkbar, so etwas passierte nicht. Da, links, saß eine Maus auf dem Dachbalken über ihm! Er hörte sie, hörte ihr Fiepen und seine Nackenhaare stellten sich auf. Was ging hier vor, was passierte mit ihm? Er merkte, wie er zu zittern begann, bitte nicht, lass es einen Traum gewesen sein, bitte, lieber tot sein… Das Pochen an seinem Hals verstärkte sich, schmerzte, und mit bebenden Fingern griff er nach der Kerze, taumelte zu dem kleinen Spiegel, der über seinem Waschgeschirr hing, zog die Lippen hoch – und fiel in Ohnmacht.
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