Das Geheimnis der Katze
La nuit, elle serait votre tombe!
Wenn Luna vom Himmel die Welt überwacht,
Kommt Sie aus den Höfen der Wunder geschlichen.
Wenn Luna die Schatten zu Lebenden macht,
Rächt Sie die Verfemten, verachtet, verblichen.
Keiner hatte einen Boten gesehen, der den kleinen Papierfetzen
auf den Nachttisch der Königin gelegt haben könnte. In ihr Gemach,
zu dem nur ihre vertrautesten Dienerinnen Zutritt hatten. Die
Schrift war schön, geschwungen, aber unregelmäßig, absichtlich
wild. Doch das bemerkenswerteste: Die Verse waren nicht mit Tinte
geschrieben, sondern mit Blut.
Diese Tatsache, mehr noch als die düsteren Worte, ließ die Königin
erschauern.
Doch nachdem sie den ersten Schrecken überwunden hatte, siegten
Stolz und Zorn über ihre Angst. Zorn, auf denjenigen, der es gewagt
hatte, ihr solch einen Schrecken einzujagen. Ihr, Anna von
Österreich, einer Königin von Gottes Gnaden! Eine Warnung? Eine
Drohung? Wer verbarg sich hinter diesem Decknamen? La Chatte. Die
Katze. Wahrscheinlich niemand weiter als eine Dame, die sich
langweilte und Aufsehen erregen wollte – eine der vielen Adligen
bei Hof, die um Annas Gunst buhlten, jedoch zu farblos waren, um
von ihr bemerkt zu werden. Zu unbedeutend. Verachtet,
verblichen. Eine enttäuschte, verbitterte Seele mit Hang zu
düsterer Poesie.
Anna hob den Blick und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel an der
Wand. Die Augenbrauen edel geschwungenen, ihr Blick stolz und kühn.
Sie hatte gelernt ihr Herz in Eisen einzuschließen wie so viele
große Frauen in einer Welt, die von Intrigen und Heuchelei
beherrscht wurde. Sie war nicht mehr die naive junge Frau, die
einem blondgelockten Engländer ihre Liebe mit einem Geschenk unter
Beweis stellen wollte, und dabei ihre Ehre aufs Spiel setzte. Warum
hätte sie ein Verbrechen fürchten sollen? Warum diese noch nicht
einmal besonders einfallsreichen Verse dem König zeigen sollen?
Oder noch schlimmer: dem Kardinal? Am nächsten Tag hätte es der
gesamte Hofstaat gewusst. Welch eine Schande für sie! Und welch ein
Triumph für die Dichterin!
So schloss sie instinktiv die Finger um jenen Fetzen, als sie die
leisen Schritte ihrer spanischen Dame, Donna Estefania, hinter sich
gewahrte.
„Ich verlasse mich auf Euch, d’Artagnan.“
„Wie immer.“
Hauptmann de Tréville lächelte und reichte dem jungen Leutnant der
Musketiere zum Abschied die Hand. Sein Auftrag war es den König und
seine Eminenz den Kardinal zu einer äußerst wichtigen Verhandlung
zu begleiten.... Ein kaum hörbarer Seufzer hob seine Brust, der den
scharfen Ohren d’Artagnans jedoch nicht entging.
„Wird Frankreich in den Krieg eintreten?“
„Ja.“ antwortete Tréville wortkarg und lakonisch.
In einen Krieg, der nun schon 17 Jahre lang Europa erschütterte und
ihm ganz und garnicht gefiel. Machtpolitik unter dem Deckmäntelchen
der Glaubensfrage. Bisher hatte sich Frankreich geschickt aus dem
direkten Kriegsgeschehen heraushalten können, doch nun forderte
Schweden ein französisch-schwedisches Bündnis gegen Ferdinand II
von Sachsen und die protestantischen deutschen
Kleinstaaten...
„Doch darüber können wir uns den Kopf zerbrechen, wenn es soweit
ist.“
Die Gedanken des Hauptmanns kehrten nach Paris und zu d’Artagnan
zurück. Abrupt wendete er sich zu seinem Geldschrank und entnahm
ihm einen Beutel voll Geld, den er d’Artagnan reichte.
„Fünfzig Goldpistolen.“
„Oh, werde ich neuerdings im Vorhinein für meine Verdienste
belohnt? Ich muss sagen: Das gefällt mir... Andererseits... Wenn
ich fünfzig Pistolen erhalte, verrichte ich meine Arbeit womöglich
so, wie ich es für fünfzig Pistolen angemessen halte, während ich,
bekomme ich garnichts, mein Bestes gebe und hoffe, dass es sich
bezahlt macht.“
Tréville schüttelte lachend den Kopf.
„Ihr hättet in die Wirtschaft gehen sollen, anstatt Soldat zu
werden, d’Artagnan! Die Pistolen übergebe ich Euch im Namen des
Kardinals. Für Euren Freund Athos und Euch für den Einsatz bei der
Revolte in Saint-Germain... Ich habe übrigens keine Angst um die
Königin, wenn Ihr den Louvre bewacht – ob im Besitz von fünfzig
oder fünfhundert Pistolen, das wolltet Ihr doch hören, nicht
wahr?“
Das Funkeln in den Augen des jungen Mannes verriet dem Hauptmann,
dass er richtig geraten hatte.
Gut gelaunt stieß d’Artagnan die Tür zu seiner Wohnung auf. In dem
Durcheinander von Weinflaschen, Geschirr und Briefbögen auf dem
Tisch entdeckte er erst auf den zweiten Blick das etwa faustgroße
Medaillon, ein Amulett an einer Halskette. Er nahm es in die Hand
und sein Herz machte einen Sprung. Erst heute Morgen im Louvre
hatte er dieses ungewöhnliche Schmuckstück das letzte Mal gesehen –
als Zierde eines wunderbar zarten weißen Halses. Seine Trägerin mit
dem wohlklingenden Namen Jacqueline de Montdusoleil war eine der
Edelfräulein, die Anna von Österreich umgaben. Ihre Augen waren
bernsteinfarben – ungewöhnlich hell für eine Frau mit einer solchen
schwarzen lockigen Haarpracht – zumindest vermutete d’Artagnan das.
In Wahrheit musste er zugeben, der jungen scheuen Frau noch niemals
in die Augen gesehen zu haben, denn sobald er sich ihr nur näherte,
verbarg sie diese hinter ihren langen Wimpern. Umso mehr wunderte
es den Leutnant, wie wohl der Talisman der scheuen Edeldame in
seine Wohnung gelangen konnte. Auf der Vorderseite erkannte er das
Bild einer Brücke, die ihn sehr an den Pont Neuf erinnerte. Als er
das Schmuckstück wendete, bemerkte er, dass auf der Rückseite ein
kreisrunder Mond eingraviert war, der von zwölf Sternen umgeben
war.
D’Artagnan stieß einen Laut der Überraschung aus, als er die
Bedeutung diese Amuletts erkannte. Eine Einladung zu einem
Rendezvous! Heute Nacht würde Vollmond sein, darum das Mondemblem.
Das Stelldichein würde um Mitternacht auf dem Pont Neuf
stattfinden, darum die Brücke. Aber konnte das sein? Ein Rendezvous
mit Jacqueline de Montdusoleil? Sollte ausgerechnet sie ihm auf
diese ungewöhnliche Weise ihre Zuneigung mitteilen wollen?
„Sieh an! Sie liebt also das Rätselspiel, unsere kleine
Jacqueline!“ dachte der Musketier und laut rief er: „Planchet, wer
war heute hier?“
Der Diener trat verdutzt aus dem Nebenraum.
„Eine Frau war hier. Klein und bucklig – ein hässliches Geschöpf.
Mit apfelrotem, verquollenem Gesicht und zudem hinkte sie. Eine
Bettlerin. Sie bat mich um ein Stück Brot und ich bekam Mitleid,
weil sie so mager war, dass man die Knochen sehen konnte. Ich ging
also in die Küche, um ihr Brot zu holen und als ich das Zimmer
wieder betrat, war sie fort. Gestohlen hat sie nichts, ich habe
mich vergewissert. Außerdem gibt es ja nicht viel von Wert in
diesem Zimmer. Eure Geldkasse bewahrt Ihr ja im Schlafzimmer auf...
Sagt mir, kennt Ihr diese Frau etwa, dass Ihr danach fragt?“
„Stand sie genau hier, wo ich jetzt stehe?“
Planchets Blick sprach von immer größerer Verwirrung.
„Ja... ja, genau, doch woher wisst Ihr...?“
D’Artagnans Stimme zitterte vor freudiger Erregung.
„Weil das ‚La Lotte Sauteriotte‘ war, die hässliche Kammerdienerin
der schönen Jacqueline, die dieses Amulett auf den Tisch hat fallen
lassen und mich damit zum glücklichsten Mann in ganz Frankreich
gemacht hat!“
Kaum hatte er das gesagt war d’Artagnan auch schon wieder aus der
Tür.
„Aber wo wollt Ihr denn schon wieder hin?“
„Zu Athos, um meine Freude mit ihm zu teilen!“
Zunächst einmal teilte d’Artagnan allerdings die 50 Pistolen des
Kardinals mit seinem Freund.
Athos hatte sich verändert in den sieben Jahren, die seit ihrem
großen Abenteuer vergangen waren. Die Weinflaschen auf seinem Tisch
waren weniger geworden, während sein Bücherschrank sich vergrößert
zu haben schien. Sogar eine Geige besaß er, der er in einer Truhe
in seinem Schlafzimmer aufbewahrte. Oft hörte d’Artagnan, wenn er
die Rue Férou entlang ritt, die schwermütigen vibrierenden Töne des
Saiteninstrumentes, doch wenn er Athos‘ Mietwohnung betrat, legte
der Freund die Geige stets aus den Händen. Fast schien es
d’Artagnan, als fühle Athos mittlerweile lieber das edle Holz des
Instruments in seiner Hand als das Heft eines Dolches.
Es wäre eine Lüge gewesen zu behaupten, er trinke nicht mehr. Athos
trank noch immer mehr als d’Artagnan vertragen konnte, doch er
trank nicht mehr ausschließlich. Vornehmlich noch dann, wenn der
Schmerz ihn übermannte, die Gewissensbisse ihn plagten, wenn er an
das Verbrechen an Mylady dachte. D’Artagnan dagegen dachte nur noch
selten an sie. Vielleicht weil sein Herz jünger war und schneller
bereit zu vergessen. Doch jener Richtspruch, den die vier
Musketiere damals ausgesprochen hatten, hatte auf Athos noch eine
ganz andere Wirkung gehabt: Seine Kaltblütigkeit, sein aus Schmerz
geborener Hass schien mit Mylady gestorben zu sein und zurück
geblieben war dieser Edelmut und diese sensible Gelassenheit, die
ihn ein Leben lang auszeichnen würden
D’Artagnans Freude wurde ein wenig gedämpft, als Athos ihm einen
Brief zeigte, den er am Morgen erhalten hatte.
Nancy, den 19. 10.1634
Liebste Freunde,
Vor vier Monaten habe ich euch verlassen und ich hoffe, ihr
verzeiht mir, dass ich nicht eher von mir habe hören lassen.
Gott hat mich hier in Lothringen mit einem Mönch zusammengeführt,
um mir den Weg zu weisen, den Er für mich vorgesehen hat. So oft
schon hat Er mir Zeichen gesetzt. So oft schon war ich zu blind,
vielleicht auch zu jung, um sie zu erkennen. Nun hat sich mir ein
Stück des Himmels eröffnet und ich habe das Licht gesehen. Ja,
jener Mönch hat mir die Augen geöffnet und mich bekehrt. So entsage
ich also der profanen Welt und empfange hier im Jesuitenkloster die
Priesterweihe, was ich schon vor Jahren hätte tun sollen.
Euch, Athos, Porthos und d’Artagnan, die ihr mir die liebsten
Freunde auf Erden seid, schließe ich in mein Gebet ein.
In Liebe,
Aramis
(der von nun an ein neues Leben als Abbé d’Herblay führen
wird)
„Amen!“ D’Artagnan zog die Stirn kraus. „Dann sind wir also nur
noch zu zweit. Erst Porthos, der es sich in den Kopf gesetzt hatte,
diese geizige Schlange von einer Sachverwalterin zum Altar zu
führen, und nun auch noch Aramis... Aramis im Kloster!“
„Er sprach immer davon, dass es seine Bestimmung sei, in den
geistlichen Stand einzutreten.“
D’Artagnan schüttelte fast wütend den Kopf.
„Du weißt so gut wie ich, dass es nicht seinem Temperament
entspricht Abbé zu werden. Teufel nochmal, Aramis passt so wenig in
die Soutane wie ein König in die Lumpen eines Bettlers!“
„Nun“ erwiderte Athos ruhig „Er passt so wenig in die Soutane wie
er in die Uniform der Musketiere passt. Das liegt an seiner
zwiespältigen Natur.“
„Ja,“ knurrte d’Artagnan, „ und er trägt immer gerade das, was ihm
den größten Nutzen bringt, dieser kleine Fuchs!“
„Da magst du wohl recht haben!“ lächelte Athos. „Aramis will hoch
hinaus.“
„Na dann werden wir ihn wohl nicht wiedersehen, bevor er vom Stuhl
des Papstes auf uns hinabschauen kann!“
Athos runzelte die Stirn. Doch da er wusste, dass nur der Kummer
darüber, dass nun auch noch Aramis sich von seinen Freunden
getrennt hatte, d’Artagnan diese Worte beißenden Spottes in den
Mund legte, erwiderte er nichts und legte dem Freund stattdessen
die Hand auf die Schulter.
Ungeduldig wartete d’Artagnan, bis die Zeiger der Standuhr in
seinem Esszimmer auf halb zwölf vorgerückt waren. Dann machte er
sich nicht ohne Herzklopfen auf den Weg zum Pont Neuf.
Im Louvre kam es in der selben Nacht zu einem höchst mysteriösen
Ereignis.
Die Königin war früh zu Bett gegangen, da die Migräne sie plagte.
Es war der Kummer darüber, dass sie dem König noch keinen Erben
geschenkt hatte. Es schien als könne sie die bedeutendste Aufgabe
einer Königin und zugleich die natürlichste Aufgabe einer Frau
nicht vollbringen: Ein Kind in die Welt zu setzten. Ein Gedanke,
der ihr schon zahllose Nächte zur Hölle gemacht hatte. So befand
sie sich auch in dieser Nacht in einem unbestimmten Schwebezustand
zwischen Traum und Realität, ähnlich einem Fiebertraum. Diesem
Zustand ist es wohl auch zuzuschreiben, dass das Erscheinen jener
Gestalt, die sich plötzlich dunkel gegen den Mond abzeichnete, der
groß und rund durch die Gardinen schimmerte, Anna nicht sosehr
erschreckte, wie man es erwartet hätte. Ein weiterer Teufel, der
sich in ihre Alpträume geschlichen hatte, und der verschwinden
würde, wenn es ihr gelänge die Augen zu öffnen.
Zunächst nahm sie nur zwei funkelnde Augen wahr, die jeden
Lichtstrahl im Raum anzuziehen und zu reflektieren schienen, so wie
Katzenaugen es vermögen. Doch die Gestalt war eindeutig ein Mensch,
eine schlanke Frauengestalt, mit offenem unbändigem Haar. Sie hatte
den Kopf schief gelegt, das Gesicht von einer Maske verdeckt, wie
man sie auf Maskenbällen trug, und welche den katzenartigen
Eindruck , den diese Erscheinung vermittelte, noch verstärkte. Als
sie sich zu der Regentin hinab beugte, beschien der Mond ihr
Gesicht und das Licht nahm alles Bedrohliche von diesem Antlitz.
Zärtlich blickte die Katze auf Anna von Österreich herab. Es fehlte
nur noch, dass sie anfing zu schnurren.
„Habt Ihr meine Verse erhalten, meine Schöne? Wie haben sie Euch
gefallen?“
Ihre Stimme klang melodisch und zart.
„Oh, ich sehe, Ihr seid sprachlos. Ihr schmeichelt mir. Doch,
wartet... Ich will Euch ein noch originelleres Geschenk
machen.“
Mit diesen Worten hob die Erscheinung ihre rechte Hand, an der sie
einen Eisenhandschuh mit messerscharfen Fingerspitzen trug, sodass
es in der Dunkelheit schien als fahre die Katze ihre Krallen aus.
Mit geschmeidigen Bewegungen beugte sie sich über die Brust der
Königin, und ritzte ihr – noch immer voller Zuneigung lächelnd –
sehr zarte rote Schlitze in die weiße Haut. Anna riss ungläubig
ihre Augen auf, sodass sie ihre Augäpfel hervortreten spürte. Und
da wusste sie, dass sie nicht träumte. Sie öffnete den Mund, um zu
schreien, doch sie war noch nicht einmal in der Lage sich zu
rühren, geschweige denn einen Laut von sich zu geben.
Als die Katze schließlich mit ihrem Werk zufrieden war, erhob sie
sich, und entfernte sich wie auf Samtpfoten.
Erst als sie hinter einem Vorhang verschwunden war, fiel Anna von
Österreich in Ohnmacht.
D’Artagnan hatte es so eingerichtet, dass er noch vor Mitternacht
am Treffpunkt war, um seine Angebetete nicht warten zu lassen. Als
er nun auf dem Pont Neuf stand und das glitzernde Wasser der Seine
unter sich betrachtete, suchte ihn unwillkürlich die traurige
Erinnerung an sein erstes Rendezvous vor acht Jahren heim. Damals
hatte er vergeblich gewartet... Die Erinnerung an die verstorbene
Madame Bonacieux machte ihn ein wenig schwermütig, doch er spürte
keine Gewissensbisse. Sieben Jahre lang hatte sein Herz Trauer
getragen – nicht, weil er sich die Liebe verboten hatte, sondern
weil keine Frau, der er begegnet war, an dieses Ideal, dieses
vollkommene Wesen, das nur noch in seiner Erinnerung existierte,
hatte heranreichen können. Sicher hätte Constance nicht gewollt,
dass er sein Leben lang sein Herz verschloss. Doch er selbst hatte
gelernt der Liebe ein wenig zu misstrauen. Diese Erkenntnis ließ
d’Artagnan einen tiefen Seufzer ausstoßen.
„Verzeiht mir, es scheint mir, ich habe in Euch einige schmerzliche
Erinnerungen geweckt, indem ich Euch hierher bestellt
habe...“
D’Artagnan fuhr dermaßen zusammen, dass er beinahe über das
niedrige Brückengeländer in die Seine gestürzt wäre. Ungläubig
blickte er in das elfenbeinweiße hübsche Gesicht neben sich, das
von dunklen Locken umrahmt wurde. Mademoiselle de Montdusoleil, die
so plötzlich aus der Dunkelheit getaucht war, trug ein schlichtes
azurblaues Kleid und keinerlei Schmuck. Doch hätten auch kein
Diamantcolier und keine Silberohrringe sie schöner machen können,
als sie es durch ihre Natürlichkeit war. Zudem sprach ihre
vorsichtige Begrüßung von soviel Menschenkenntnis und Taktgefühl,
wie d’Artagnan es bisher höchstens bei Athos erlebt hatte.
Ganz benebelt küsste er ihre Hand, während er ihr in die
lichthellen Augen blickte. Diesmal erwiderte sie seinen
Blick.
„Verzeiht Ihr mir, dass ich so versunken war in meine
Gedanken, dass ich Euch weder kommen sah noch Euch entgegen eilen
konnte, Mademoiselle“ Sie lächelte und d’Artagnan fasste nach ihrer
Hand, um etwas hineinzulegen. Es war ihr silbernes Amulett. „Ich
nehme an, dass Euch dieses Medaillon viel bedeutet und Ihr es gerne
zurück haben möchtet. Ihr habt es bisher an jedem Tag getragen, an
dem ich Euch sah... Eine originelle Idee für eine Einladung
übrigens. Aber wie konntet Ihr so sicher sein, dass ich die
Botschaft verstehen würde?“
„Hättet Ihr sie nicht verstanden, so hätte ich Euch nicht
eingeladen.“
„Oh!“
Das Gespräch fing an, d’Artagnan Spaß zu bereiten. So scheu wie sie
bei Hofe tat, war Jacqueline offensichtlich nicht. Das
spöttisch-kokette Funkeln ihrer Augen bestärkte d’Artagnan in dem
Verdacht, dass ihre Schüchternheit nur ein Schutzschild war, eine
Art weibliche Waffe. Auf der einen Seite machte dies Mademoiselle
de Montdusoleil nur umso begehrenswerter, doch gleichzeitig warnte
es d’Artagnan auch ihr blind zu vertrauen. Die Erfahrung hatte ihn
diese Vorsicht gelehrt.
Er beschloss sie zu testen.
„Mademoiselle, ich weiß, ich bin ein schrecklich respekt- und
taktloser Gascogner, doch ich muss Euch diese Frage stellen: Warum
wolltet Ihr mich hier treffen, wo wir zuvor noch niemals ein Wort
miteinander gewechselt haben.“
„Vielleicht deshalb,“ antwortete Jacqueline zärtlich, „weil mir ein
schrecklich respekt- und taktloser Gascogner seit ich vor zwei
Jahren hierher kam, ständig den Hof macht – wenn nicht mit Worten,
dann doch mit seinen Blicken.“
Und schon hatte sie ihm die Arme um den Hals gelegt. All die
Zweifel, die d’Artagnan vielleicht gehegt hatte, waren vergessen,
als er Jacquelines Lippen auf den seinen spürte. Leidenschaftlich
erwiderte er ihren Kuss. Erst jetzt spürte er, was sein Herz so
lange schmerzlich vermisst hatte: Dieses Gefühl vergehen zu müssen
vor vollkommenem Glück...
„Jacqueline...“ flüsterte er.
Am nächsten Morgen erschien d’Artagnan eine Stunde zu spät im
Quartier der Musketiere, was ihm unbegreiflich war. Planchet hatte
ihn wie immer um sieben Uhr geweckt und d’Artagnan war aus den
Federn gesprungen, als wolle er den Tag als den Anfang einer neuen
Welt begrüßen.
„Meine Uhr muss stehen geblieben sein. Wie ärgerlich!“ dachte
er.
Von Athos erfuhr er, dass Anna von Österreich in der Nacht ein
Unglück geschehen sein musste.
„Mach dich schnell auf den Weg zum Louvre. Seit heute morgen um
eins verlangt die Königin schon nach dir, doch du warst
unauffindbar. Ihre Majestät ist noch nicht aus ihrem Gemach
gekommen und lässt niemanden zu sich hinein – nicht einmal ihre
Damen, einmal abgesehen von Donna Estefania. Entsprechend weiß auch
keiner, was geschehen ist, aber die Gerüchteküche ist gewaltig am
brodeln.“
D’Artagnan befolgte Athos‘ Rat unverzüglich und begab sich zum
Louvre. Er blieb vor Schrecken stehen, als er Anna von Österreich
gegenüber trat. Beunruhigt biss er sich in die Oberlippe und
verkrampfte die Hände um seinen Hut: Die Königin saß auf ihrem Bett
und schien um Jahre gealtert. Ihr Gesicht war bleich und
eingefallen, ihre Augen rot gerändert, ihre Haltung steif und um
den Oberkörper hatte sie ein Tuch geschlungen, das sie in Brusthöhe
krampfhaft mit den Händen zusammenhielt, als versuche sie ihre
Brust zu verdecken. Das Frühstück, dass ihr Donna Estefania
gebracht hatte, stand unberührt auf ihrem Nachttisch.
D’Artagnan fiel vor der Königin auf die Knie.
„Eure Majestät, ich bin untröstlich, dass ich nicht hier war, um
Euch vor dem Unglück zu bewahren, dass Euch offensichtlich
zugestoßen ist. Berichtet mir, was geschehen ist, und ich werde
alles tun, um mein Vergehen – wenn nicht wieder gutzumachen, dann
doch wenigstens zu vermindern.“
So berichtete die Königin also von ihrer nächtlichen Begegnung,
ohne jedoch die Episode mit der Eisenhand zu erwähnen. Ihre Stimme
klang seltsam kalt und gefasst. Sie schloss ihren Bericht, indem
sie d’Artagnan das Gedicht der La Chatte zeigte, welches sie am
vorigen Tag auf ihrem Nachttisch gefunden hatte, und mit stolz
erhobenem Kopf zu ihm sagte.
„D’Artagnan, ich wünsche, dass Sie diese Person – wer immer es auch
sei – ausfindig machen und sie fassen. Wenn möglich, bringen Sie
sie mir lebendig. Ich will sie am Galgen sehen.“
„Majestät, Ihr habt mein Wort: Bei meiner Ehre, diese La Chatte
wird Euch keine schlaflosen Nächte mehr bereiten.“
Er trat näher ans Fenster, um den Vierzeiler besser lesen zu
können. Dabei zog er sich nachdenklich an den Schnurrbarthaaren.
Die Königin beobachtete den Musketierleutnant aufmerksam. So
entging ihr auch das Blitzen seiner Augen nicht, als er die ersten
paar Zeilen gelesen hatte.
„Haben Sie schon einen Verdacht?“
„Nun, mir scheint, dass diese La Chatte das Risiko liebt.
Vielleicht eine Mystikerin oder Hexe, die erprobt, wie weit sie
gehen kann.“
„Ihr einziges Motiv ist es also, mir Angst einzujagen?“
„Nein. Sie sieht sich als Rächerin der Verfemten.“
„Und wer soll das sein, die Verfemten?“
„Wer sind die Verfemten von Paris? Die Bettler, die Gauner, Huren
und Wahrsager der Cour des Miracles!“
„Der Cour des...?“ Anna hob den Kopf und langsam begann sie zu
begreifen. „Wenn Luna vom Himmel die Welt überwacht, kommt sie
aus den Höfen der Wunder geschlichen....“
„Ja, ein ungewöhnliches Risiko, das sie eingeht, indem sie uns
diesen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort gibt. Doch es scheint mir
trotz allem keine falsche Fährte zu sein. Das würde nicht in das
Bild unserer Wildkatze passen.“
„Dann ist sie also nichts weiter als eine gemeine
Volksverführerin... ein Straßenmädchen?“
„Nein! Welches Straßenmädchen kann schreiben, geschweige denn
Gedichte verfassen?“
Anna von Österreich, deren Gesicht für kurze Zeit wieder Farbe
angenommen hatte, erbleichte erneut.
„Dann muss es wohl doch eine meiner Damen sein.“ murmelte sie.
„Soll ich ihnen etwa allen misstrauen?“
„Donna Estefania könnt Ihr vertrauen. Sie ist Euch treu ergeben wie
keine andere. Und auch Mademoiselle de Montdusoleil kann sich nicht
hinter der Maske der Katze verstecken, denn sie war um Mitternacht,
als Ihr überfallen wurdet, mit mir auf dem Pont Neuf. Die
Mademoiselles de Duval und Lafine waren – so habe ich gehört, bevor
ich Euer Gemach betrat - mit zwei Herren verabredet, die bezeugen
können, dass die beiden zur Zeit des Geschehens nicht im Louvre
waren. Nein, Majestät, Eure Damen sind unschuldig. Heute Nacht
werde ich mich als Bettler unter das Volk mischen, um La Chatte und
die sagenumwobene Cour des Miracles ausfindig zu machen
und...“
„Nein! D’Artagnan, ich bestehe darauf, dass Sie mich in dieser und
den folgenden Nächte persönlich bewachen werden.“
Die Stimme der Königin zitterte bei diesen Worten. D’Artagnan
neigte den Kopf.
„Ich fühle mich geehrt.“ sagte er, doch in Wahrheit musste er sich
bemühen seine Enttäuschung zu verbergen. „Dann werde ich Athos
schicken,... auch wenn ich es zu bezweifeln wage, dass die Katze so
bald wieder zuschlagen wird...“
„Oh, das wird sie!“ entgegnete Anna mit einer Stimme, die den
Musketier zusammenfahren ließ. „Und sie hat auch dafür gesorgt,
dass ich mich daran erinnere!“
Und die Königin öffnete ihre zu Fäusten verschlossenen Hände und
ließ sich das Tuch von der Schulter gleiten, sodass es ihren
Ausschnitt freigab. Donna Estefania stieß einen Schreckensschrei
aus und sank in einen Sessel. D’Artagnan schwankte.
In der gleichen geschwungenen, Handschrift wie in dem Gedicht,
hatte die Katze mit ihren Krallen quer über die Brust der Regentin
folgende Verse geritzt:
Die Fürstin der Finsternis spielt mit der Beute,
Sie reißt sie erst morgen und quält sie schon heute.
Wie benebelt trat d’Artagnan aus dem Gemach der Königin... und
wäre beinahe mit Mademoiselle de Montdusoleil zusammengestoßen, die
ihm ganz aufgelöst entgegen kam.
„Oh, Monsieur, lässt sie noch immer niemanden zu sich hinein? Sie
misstraut allen Frauen bei Hofe, habe ich Recht? Nun, sie hat auch
allen Grund dazu, die Arme...“
D’Artagnan beäugte Jacqueline misstrauisch.
„Ihr wisst also, was....“
„Ich weiß, wie ernst diese Sache ist.“
Jacqueline blickte sich unruhig nach allen Seiten um, als fürchte
sie belauscht zu werden, dann griff sie nach d‘Artagnans Arm und
zog ihn mit sich hinter eine der dicken Säulen des Ganges.
„Jean Charles,“ flüsterte sie und in ihren Augen stand die Sorge um
ihre Herrin und Freundin geschrieben, „Du musst mir versprechen,
dass du die Königin keine Sekunde lang aus den Augen lässt!“
„Jacqueline!“ Er umfasste die zitternden Hände der jungen Frau und
blickte ihr tief in die Augen. Mit eindringlicher und beruhigender
Stimme sprach er: „Jacqueline, sag‘ mir was du weißt!“
„Die Wände haben Ohren, d’Artagnan!“ In ihren verzweifelten Augen
standen Tränen. „Es tut mir leid. Doch wenn der Königin etwas
zustieße, ich...“ Sie sprach den Satz nicht zu Ende, sondern riss
sich von d’Artagnan los, um davon zu laufen.
Mit gerunzelter Stirn blickte dieser seiner Geliebten nach.
D’Artagnan war sich sicher, dass das Geheimnis der Katze in der
Cour des Miracles, dem Treffpunkt der Armen und Gefallenen, seinen
Ursprung hatte – ein Ort, den kein Edelmann je betreten
hatte.
Er hatte Athos über alles, was sich in der Nacht ereignet hatte,
aufgeklärt und dieser hatte eingewilligt jenen Ort zu suchen.
So ist es also zu erklären, dass Athos an jenem Abend des 12.
November in einer düsteren Ecke eines Marktplatzes in Saint Germain
saß, in einen schmuddeligen, von Ratten zerfressenen Umhang
gehüllt, mit dem er sich auf dem Weg hierher in einem Güllehaufen
gewälzt hatte, um seiner Verkleidung noch die richtige Duftnote zu
verpassen. Die Haare hingen ihm strähnig über die Schultern, einen
breitkrempligen schwarzen Hut hatte er sich bis tief über die Augen
gezogen, sodass sein Gesicht im Schatten lag. Aufmerksam hatte er
seit dem Nachmittag das Treiben um sich herum beobachtet und hatte
dabei einige bemerkenswerte Entdeckungen machen können: Am anderen
Ende des Platzes zum Beispiel saß eine alte Frau mit einem kleinen
Kind, das ununterbrochen heulte. Hörte es einmal auf zu schreien,
versetzte die Alte ihm einen Stockhieb, damit es wieder anfing. Die
Vorbeikommenden konnten das Kleine garnicht überhören und hatten
keine andere Wahl als es zu bemitleiden. So hatte sich die Schale
der Alten im Laufe des Tages mit Talern gefüllt. Nicht soviel Glück
hatte der Möchtegern-Taubstumme, der den Passanten mit Gestik und
Mimik sein Elend zu schildern versuchte, während man, wenn gerade
keine Spaziergänger in Sichtweite waren, hören konnte, wie er sich
leise mit seinem Sohn unterhielt. Dieser schmächtige Junge, der
wahrscheinlich älter war als er durch seine Schlacksigkeit wirkte,
hatte wohl die geschickteste und absurdeste Methode entwickelt, um
an die Manteltaschen der Pariser heranzukommen. Die Finger seiner
rechten Hand waren verkrüppelt, sein Gesicht entstellt, wie eine
verfaulte Kartoffel: die Lepra, wie er jedem weismachte, der seinen
Weg kreuzte. Er lief solange hinter einem Passanten her und
fuchtelte ihm mit der verkrüppelten Hand vor dem Gesicht herum,
während er mit der anderen in die Manteltaschen seines Opfers
griff, bis dieses ihm lieber ein paar Taler zu viel als zuwenig in
die Hand drückte, bloß um sich dieses hässliche Geschöpf und seine
Klagen vom Halse zu schaffen. Tatsächlich hatte der kleine Lilou
nicht etwa die Lepra, sondern vielmehr eine Krankheit, die man
Gerissenheit nennt: Er wusste, dass Krankheit nicht nur das
Verhängnis sondern auch das Kapital der Armen war: je grauenvoller
das Aussehen, desto besser. So hatte er sich absichtlich das
Gesicht verbrannt und die Fingerspitzen abgehackt, wie er Athos
stolz berichtete. Er hatte natürlich sogleich bemerkt, dass dieser
neu sein musste in Paris, da er ihn noch niemals zuvor gesehen
hatte.
Als der Tag zu Ende ging und der Marktplatz sich leerte, erhoben
sich nach und nach die Clochards von ihren Stammplätzen und
verschwanden in den dunklen Gassen. Athos entging nicht, dass sie
sich allesamt in nordöstliche Richtung davonmachten, hinunter zum
Ufer der Seine. Schließlich zählte auch Lilou seine Einnahmen des
heutigen Tages zusammen, schien zufrieden und wollte sich auf den
Weg machen.
„He, Kleiner. Ich kenn‘ mich hier nicht aus. Kannst du mir einen
Schlafplatz nennen, wo ich keinen Ärger mit den anderen
kriege.“
Lilou grinste nur und bedeutete Athos mitzukommen. Er führte ihn
durch die ärmsten Gassen von Paris und begann arglos von dies und
jenem zu schwatzen. Auf Lilous Fragen nach seiner Herkunft ging
Athos nur unbestimmt ein, begnügte sich meist mit einem mürrischen
„Hm!“, sodass der Junge, wie von ihm beabsichtigt, bald das
Interesse an seinem einsilbigen Begleiter verlor.
Schließlich erreichten Athos und sein junger Führer den Kai beim
Pont Neuf. Unter der Brücke befand sich eine Grotte, die bei
Hochwasser überflutet war. Ging man ein Stück weit hinein, so
versperrte einem nach wenigen Minuten ein kreisrundes verrostetes
Eisentor mit einem Mondemblem den Weg: der Eingang zur
berühmt-berüchtigten Cour des Miracles. Der schmächtige Lilou
musste sich mit all seiner Kraft gegen das Tor stemmen, um es zu
öffnen.
Hinter jenem Tor begann die Unterwelt von Paris, ein Labyrinth von
Gängen, teilweise verschüttet, teilweise so eng, dass nur ein Kind
hindurch kriechen konnte. Lilou schien sich gut auszukennen, denn
er brauchte kein Licht um sich zurechtzufinden. Athos versuchte
sich den Weg einzuprägen. Schließlich endete einer der Tunnel in
einem von Fackeln erleuchteten saalartigen Hohlraum, dessen Weite
und Höhe Athos erstaunten. Es waren bestimmt an die 600 Menschen,
die sich hier versammelt hatten- Bettler, Gauner, Huren, Hexen und
einige Gestalten, auf die die Bezeichnung Mensch schon nicht mehr
zuzutreffen schien. Sie alle schrien durcheinander und versuchten
einen Blick auf die kleine Bühne zu erhaschen, sowie auf das
bucklige kleine Männchen mit brennenden Rattenaugen und rostiger
Eisenkrone auf dem Kopf: der „Roi des Gueux“, ihr König. Plötzlich
teilte sich die Menge, um zwei grobschlächtige Männer
durchzulassen, die einen gut gekleideten Herrn in Kaufmannskleidung
auf die Bühne zerrten. Rufe wie „Hängt ihn!“ und „Plündert ihn!“
wurden laut. Athos begriff: Hier fand eine Hinrichtung statt.
Tatsächlich stand auf der Bühne eine Art Galgen und ein Strick
wurde dem jungen Kaufmann um den Hals gelegt. Dieser flehte um
Gnade und rief immer wieder, dass er nicht verstehe, warum man ihn
richte, er habe sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Sein
Flehen stachelte die Menge noch mehr an. Der Krach war
ohrenbetäubend. Um Athos begann sich alles zu drehen. Er erbleichte
vor Wut auf dieses Pack und ballte die Fäuste. Gerade glaubte er,
es nicht mehr aushalten zu können und eingreifen zu müssen, als
sich plötzlich sanft eine Hand auf seinen Arm legte. Athos fuhr
herum. Neben ihm stand eine junge Frau mit maskiertem Gesicht,
katzenhellen Augen, schwarzen Locken und einem Eisenhandschuh an
der rechten Hand: La Chatte! Mit einem stummen Lächeln ergriff sie
mit der Linken Athos Hand und führte ihn aus dem Gedränge in einen
Seitentunnel. Dieser endete in einem kleinen schwach beleuchteten
Raum, dessen Wände mit bunten Tüchern verhängt waren.
Mit raubtierhaft geschmeidigen Bewegungen schlich La Chatte um den
Musketier herum und schien sein Gesicht, das vollständig im
Schatten lag, ergründen zu wollen.
„Ich habe Euch gerade vor einer sehr großen Dummheit bewahrt.“
sagte sie mit ihrer melancholischen Stimme, die Athos einen Schauer
über den Rücken jagte, ohne dass er wusste weshalb sie ihn so
eigenartig berührte. „Ihr wart im Begriff in das Geschehen
einzugreifen und Euch als Adliger zu erkennen zu geben... Das wäre
Euer Todesurteil gewesen... Ich habe Eure Hände gesehen. Das sind
nicht die Hände eines Bettlers“
Athos schwieg und versuchte seinerseits das Wesen dieser Frau zu
ergründen.
„Ich habe auch den Degen gesehen, den Ihr unter Eurem Umhang
verbergt.“ Fuhr sie fort. „Was habt Ihr vor?“
In diesem Moment gewahrte La Chatte hinter sich ein Geräusch: Es
war Lilou der sich zwischen den Tüchern verborgen hatte und nun zu
fliehen versuchte. Doch mit einer blitzartigen Bewegung griff die
junge Frau nach seinem Handgelenk, zerrte ihn zu einem kleinen
Tisch und bevor Lilou noch Zeit hatte aufzuschreien, hackte sie ihm
mit ihrer Katzentatze einen Finger der linken Hand ab.
„Ein Wort und du bist ein beidseitiger Krüppel!“ zischte sie. Lilou
betrachtete ungläubig seinen nicht mehr vorhandenen Ringfinger,
dann rannte er davon. Athos zitterte vor Wut und Entsetzen und
packte die Kehle der kaltblütige Verbrecherin.
„Warum hast du das getan?“
„Um Euch ein zweites Mal das Leben zu retten. Er hätte Euch dem
König verraten.“ erwiderte sie gelassen. „Man hätte Euch gehängt
wie jenen Kaufmannssohn.“
„Was hätte man mir zur Last geworfen? Dass ich ein Adliger
bin?“
„Der König lässt Prostituierte verhaften, weil sie Prostituierte
sind. Verlangt keine Gerechtigkeit von Menschen, die ihr Leben lang
nur Ungerechtigkeit erfahren haben.“
Athos ließ von ihr ab.
„Warum willst du nicht, dass man mich hängt?“
Sie sah ihn einen Moment lauernd an, bevor sie antwortete: eine
Leopardin auf dem Sprung.
„Man sollte seinen Feinden ins Gesicht gesehen haben, bevor man sie
in den Tod schickt.“ Und mit diesen Worten riss La Chatte Athos den
Hut vom Kopf, der sein Gesicht verdeckte.
Der Musketier war auf diese Reaktion gefasst gewesen und packte ihr
Handgelenk. Die Frau, die er als La Chatte kannte, erbleichte, kaum
dass sie sein Gesicht gesehen hatte, entriss sich seinem Griff und
wich bis an die Wände des Zimmers zurück.
„Olivier!“ flüsterte sie.
Athos erstarrte. Langsam, mit bebenden Fingern nahm die Katze ihre
Maske ab und Athos Herzschlag setzte für den Augenblick aus.
„Henriette!“
Henriette de la Fère. So lautete der Name seiner Schwester.
„Du ...Du bist tot.“ stammelte Henriette.
Dieses verwirrte, totenbleiche Gesicht, diese Augen, die nicht
glauben konnten, was sie sahen, das alles ließ Athos vergessen, was
diese Frau getan und gesagt hatte. Er sah nurnoch sie, das kleine
Mädchen, das auf ihrem Pony lachend mit offenen Haaren über die
Felder und Wiesen des Landguts la Fère geritten kam. Unfähig ein
Wort zu sagen schloss er Henriette in die Arme und fühlte, wie ein
Beben ihren schmalen Körper erfasste, als sich ihre Tränen
lösten.
Athos hatte seine Schwester das letzte Mal vor dreizehn Jahren
gesehen. Damals war Henriette nicht älter als fünfzehn Jahre alt
gewesen. Sie hatte seit dem Tod der Eltern bei ihm auf la Fère im
Berry gelebt, ein wunderschönes junges Mädchen, geistreich und
voller Lebensfreude.
Olivier! Wann hatte ihn das letzte Mal ein Mensch bei seinem
Vornamen genannt? War dieser Name nicht gestorben an jenem
unglücklichen Tag im Oktober 1620, als er Myladys wahre Identität
entdeckt hatte? Als er erfahren hatte, dass seine Ehefrau eine
Gebrandmarkte, eine Verfemte, eine Verbrecherin war? Hatte er nicht
auch einen Teil seiner selbst ermordet, als er in seinem Schmerz
versucht hatte seine Frau an einem Baum zu erhängen? Nach dieser
verzweifelten Tat jedenfalls hatte er sein Land, seine Freunde und
auch seine Schwester Hals über Kopf verlassen, um vor sich selbst
zu fliehen. Für diejenigen, die ihn gekannt hatten, war Olivier de
la Fère an jenem Tag tatsächlich gestorben.
„Ich habe vor deinem Grab gestanden und geweint... Du bist
tot!“
Athos erbleichte und musste heftig schlucken. Sanft schob er
Henriette ein Stück von sich fort und sah ihr in die Augen. Es
kostete sie einige Anstrengung seinem Blick standzuhalten – dem
Blick eines Phantoms.
„Ich weiß nicht, wer in diesem Grab liegt, doch ich lebe... Auch
wenn ich es nicht verdient habe. Denn ich habe meine Schwester im
Stich gelassen... Was ist dir geschehen, Henriette? Wie kommst du
an diesen Ort?“
Henriette wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln und trat
einen Schritt zurück. Das Wiedersehen des geliebten Bruders hatte
sie ihre Rolle für einen Augenblick vergessen lassen; für einen
kurzen Moment war La Chatte in den Hintergrund getreten, um
Henriette Platz zu machen, die noch immer tief im Herzen von Athos‘
Schwester wohnte. Doch dieser Moment war nun vergangen und aus der
liebenden Schwester war wieder die unnahbare Wildkatze
geworden.
Das Licht in ihren Augen erlosch, als sie in die Vergangenheit
blickte:
„ Ich war verlobt, wie du dich wohl erinnern wirst.“
Athos erinnerte sich. Bis nach Châteauroux hatte man seit Tagen von
nichts anderem gesprochen als von der bevorstehenden Hochzeit des
Grafen de Malicornay. Athos hatte es mit Freude und Stolz erfüllt,
seine Schwester in der Obhut dieses großartigen jungen Ehrenmannes
zu wissen, den sie zudem über alle Maßen liebte.
„Nun,“ fuhr La Chatte kalt fort „Malicornay löste die Verlobung an
dem Tag, als man dein Grab aushob, in welches man einen leeren Sarg
hinabgleiten ließ.“
Athos senkte den Blick. Er hatte es befürchtet.
„Der Name de la Fère war zu einem Verhängnis geworden, die Ehre
unserer Familie in Frage gestellt. Zu viel Mysteriöses hatte sich
ereignet, zu viele Fragen waren offen geblieben. Wohin waren der
Graf und die Gräfin de la Fère plötzlich verschwunden. Waren sie
tot? Und wenn ja, warum fand man ihre Leichen nicht? Es schien, als
laste ein Fluch auf diesem Namen. Und ein großer und
einflussreicher Mann wie der Graf de Malicornay konnte es sich
nicht leisten, ein Mädchen zu heiraten, dessen Familie in Verruf
geraten war.“ Mit einem bitteren Lachen fuhr La Chatte fort: „Doch
er war zu feige mir dies zu offenbaren. Ich erwartete ein Kind von
ihm und war so naiv gewesen es ihm zu gestehen – ein Kind, das vor
unserer Eheschließung gezeugt worden war. Er verriet unser
Geheimnis und - was tausend Mal schlimmer war: Er leugnete, der
Vater des Kindes zu sein! Somit hatte er einen Grund gefunden
unsere Verlobung zu lösen ohne sich selbst etwas einzugestehen, und
die Leute in der Umgebung hatten einen Grund gefunden mich davon zu
jagen.“
Athos – bleich vor Wut und Entsetzten – schwankte und musste sich
mit der Hand an der Wand abstützen. Erbarmungslos fuhr seine
Schwester fort zu erzählen.
„Ich bezahlte für meine Fehler – für meine Sorglosigkeit, meine
Liebe und mein Vertrauen in die Menschen. Ich ging nach Paris und
gebar einen Sohn – alleine in einem Straßengraben. Als die
Geburtswehen einsetzten, glaubte ich – nein, hoffte ich- ich müsse
sterben. Doch ich überlebte, ebenso das Kind. Für meinen Sohn wurde
ich erst zur Bettlerin, später zur Hure, für ihn lebte ich . Für
ihn und für meinen Hass. Den Hass auf Malicornay, der mich verraten
hatte. Den Hass auf die Königin und den König, die sich Herrscher
von Gottes Gnaden nennen ohne selbst jemals Gnade zu zeigen
gegenüber einem Volk, das sie hungern lassen, wenn es ruhig bleibt
und abschlachten lassen, wenn es zu meutern wagt. Den Hass auf all
die Intendanten seiner Majestät, die nichts in ihrem Namen tun und
aus Angst Verantwortung zu übernehmen, wenn sie verhaften und
töten, alles mit dem L. unter ihren Verhaftungs- und
Hinrichtungsbefehlen rechtfertigen.“
La Chatte hielt inne, da sie merkte, dass sie sich in Rage geredet
hatte. Erst nach einer Minute des Schweigens sagte sie mit starrem
Blick und belegter Stimme.
„Mein Kind ist tot. Es war Mord.“
„Ein Mord? Wer hat es getötet?“
„Die Königin.“
Lauernd beobachtete La Chatte Athos‘ Reaktion auf diese Antwort. Er
zuckte fast unmerklich zusammen, doch sein Gesichtsausdruck blieb
unbewegt. Als er nicht weiter fragte, fuhr seine Schwester
fort:
„Nun, wie gesagt, ich war ein Freudenmädchen: Einer meiner Kunden
war der Herzog d’Hurlaine, ein Minister des Königs, der eine reiche
aber frigide kleine Gräfin geheiratet hatte, und dann und wann im
Hafenviertel Zerstreuung suchte. Er vergötterte mich und ich machte
ihn glauben, dass ich ihn liebte, denn er war die Rettung für
meinen kleinen Sohn. Die Königin hasste ihn, seit er einmal eine
spöttische Bemerkung gemacht hatte, was ihre Unfähigkeit betrifft
einen Nachkommen zu zeugen. Sie soll ja recht empfindlich
reagieren, wenn dieses Thema zur Sprache kommt... Sie war
entschlossen sich zu rächen und ihren Widersacher beim König in
Ungnade fallen zu lassen. Darum ließ sie den Herzog von ein paar
Vertrauten überwachen. Es dauerte nicht lange, bis sie das kleine
Geheimnis um seine Abendspaziergänge am Kai entdeckt hatten. Ein
hoher Minister des Königs, der sich des Nachts mit einem
Straßenmädchen vergnügte – etwas besseres hätte Anna von Österreich
sich garnicht wünschen können! Eines formellen Rausschmisses
bedurfte es nun garnicht mehr. D’Hurlaine floh, doch die Empörung
bei Hofe blieb. Selbst ein in Ungnade gefallener Herzog war noch zu
sehr ein Herzog, um als Schuldiger für diese Sünde in Frage zu
kommen – wer anderes also konnte die Sünderin sein, als diese
kleine Hure, diese Hexe. Sie konnte man ohne Bedenken in die
Bastille werfen...
Währenddessen wurde ihr Kind in einem feuchten Zimmer in
Saint-Germain von Kälte und Hunger dahingerafft. Ein Verbrechen? Oh
nein! War der Bastard einer Hure etwa ein Mensch? War der Mord an
ihm etwa ein Unrecht?“
Athos war ohne es recht zu bemerken Schritt für Schritt vor dieser
Frau zurück gewichen. Vor dieser Frau mit dem eiskalten, bitteren
Blick. Vor dieser Frau, in der er kaum noch seine Schwester
wiedererkannte.
Nun senkte sie den Blick auf ihre Eisenhand. Und als sie wieder
sprach, war ihre Stimme seltsam leise und klanglos.
„In der ersten Woche in der Bastille tobte, verfluchte und bettelte
ich. In der zweiten Woche suchte ich nach einem Weg mich
umzubringen.... In der dritten beschloss ich Rache zu nehmen für
den Tod meines Sohnes. Neun Jahre lang saß ich in der Bastille.
Neun Jahre, in denen La Chatte ihre Pläne schmiedete.
Der erste, der die Tatze der Katze zu spüren bekam, war der
Verräter Malicornay...“ Bei diesen Worten spreizte sie ihre
eisernen Krallen und ein mörderischer Funke glomm in ihren Augen
auf.
Athos brauchte nicht zu fragen, wer wohl das nächste Opfer der
Katze sein würde. Er packte den Arm seiner Schwester und umschloss
ihn vor Erregung dermaßen fest, dass La Chatte beinahe aufgeschrien
hätte. Seine Stimme war kaum mehr als ein Wispern, als er ihm
endlich gelang zu sprechen.
„Tu es nicht! Du zerstörst nicht nur sie, sondern auch dich selbst!
Glaub mir, ich weiß, wovon ich spreche!“
Mit einer heftigen Bewegung riss La Chatte sich von ihm los und
wich an die Wand zurück..
„Sie hat dich also geschickt, mich umzubringen! Das ist dein
Auftrag, oder etwa nicht?“ fauchte sie. „Nun gut, Olivier de la
Fère: Du hast mich gefunden. Zieh deinen Degen und töte mich, wenn
du kannst Du weißt, ich werde mich deinem Urteil beugen, wenn du
mich für schuldig befindest! Doch erwarte nicht, dass ich von
meiner Rache ablasse, wenn du mich verschonst!“
„Henriette!“
„Henriette ist tot, begreif‘ es endlich! An ihre Stelle ist ein
Wesen getreten, das nur um der Rache willen existiert – das jedoch
stark genug ist, die zu besiegen, denen Henriette unterlegen
war!“
Athos war bleicher als der Tod. Langsam – unendlich langsam – mit
einer gnadenlose Ruhe zog er seinen Degen und trat auf seine
Schwester zu. Würdevoll erwiderte sie seinen Blick.
Ein Klirren, als der Degen auf den Boden aufschlug.
„An seinem Sterbebett habe ich unserem Vater geschworen, dass ich
dich beschützen werde. Ich habe es schon einmal versäumt dies zu
tun.“
Mit diesen Worten drehte Athos sich ruckartig um und wandte sich
zum Gehen. Kurz bevor er den kleinen Raum verließ, wandte er sich
noch einmal um und sagte mit leiser und ernster Stimme.
„Henriette ist nicht tot. Noch nicht. Doch La Chatte wird nicht nur
Henriettes Feinde, sondern auch Henriette selbst vernichten. Wenn
du es zulässt.“
Am Abend des darauffolgenden Tages, auf dem Heimweg vom Quartier in
die Rue des Fossoyeurs, zog d’Artagnan sich unentwegt an den
Schnurrbarthaaren. Ein sicheres Zeichen dafür, dass er sich über
etwas den Kopf zerbrach. Da unser Gascogner nun einmal alles andere
als dumm war, war ihm natürlich nicht entgangen, dass Athos die
Unwahrheit gesagt hatte. Dazu bedurfte es in diesem Fall allerdings
keine außergewöhnliche Geistesschärfe, da dieser ein schlechter
Lügner war, zumal er Unwahrhaftigkeit zutiefst verabscheute. Umso
mehr beschäftigte es d’Artagnan, dass ausgerechnet Athos ihm
gegenüber behauptet hatte, weder die Cour des Miracles noch La
Chatte gefunden zu haben. „Mein Freund“ hatte er wörtlich gesagt
(ohne d’Artagnan dabei in die Augen zu sehen), „die Cour des
Miracles hat kein Edelmann je betreten und vielleicht ist es
besser, wenn es auch keiner je versucht!“
Dieses Rätsel schien d‘Artagnan immer undurchdringlicher, je mehr
ich sich damit beschäftigte. In Gedanken versunken öffnete er seine
Haustür... und erstarrte in der Bewegung.
Zwar hatte der Musketier sich noch niemals rühmen können ein Freund
der Ordnung zu sein und auch Planchet nahm es mit dem Aufräumen
nicht immer ganz genau, doch das Chaos, das sich d‘Artagnan nun
darbot, konnte unmöglich diesem kleinen Laster zuzuschreiben sein:
Die Stühle und der Tisch waren umgestoßen, ein paar Gläser am Boden
zerschellt und ein Bild (es handelte sich hierbei um ein Porträt
von d’Artagnans Vater) war von der Wand gerissen. Alles deutete
darauf hin, dass hier ein Kampf stattgefunden hatte. Ein Kampf in
seiner Wohnung?!
Erst als d‘Artagnan ein leises Wimmern vernahm, bemerkte er
Planchet, der mit grün und blau angeschwollenem Gesicht und
irritiertem Blick in all dem Durcheinander saß – halb verdeckt von
der Tischplatte und einem heruntergerissenen Fenstervorhang.
Nachdem d’Artagnan seinen Diener verarztet und ihm zur Beruhigung
ein Glas Wein eingeschenkt hatte (Wie durch ein Wunder war die gute
Flasche Bordeaux heil geblieben), wartete er ungeduldig auf eine
Erklärung.
„ Seit wann kann man dich nicht mehr alleine lassen ohne befürchten
zu müssen, dass man die Wohnung demoliert und dich von blauen
Flecken übersät vorfindet, wenn man zurück kommt?“ scherzte er,
obgleich er im Grunde garnicht zu Späßen aufgelegt war.
„Oh“ ereiferte sich Planchet, „Ich bin, weiß Gott, froh über diese
blauen Flecken, sonst hättet Ihr womöglich noch behauptet, ich wäre
zu feige gewesen, mich an dem Kampf zu beteiligen, wo Ihr doch
immer findet, dass ich ein Angsthase...“
„Schon gut, schon gut, du Held!“ sagte d’Artagnan ungeduldig,
„Also, was ist passiert?“
„Nun, zunächst einmal kam diese Dame.“
„Eine Dame?“
„Ja, sie war totenbleich, völlig außer Atem und ganz aufgelöst. Sie
nannte mir ihren Namen. Wartet, Janine, nein, Jacqueline,
Jacqueline de....“
„Montdusoleil!“
„Richtig! Ihr kennt sie also?“
„Was wollte sie?“
„Sie kam nicht mehr dazu es mir zu sagen. „Ich werde verfolgt“,
sagte sie nur, als sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war,
„sagt d’Artagnan, dass die Königin...“ In diesem Moment stürmte
diese Herde von Bettlern, Tagelöhnern, Dieben und ich weiß nicht
was die Wohnung.“
„Bettler, sagst du? Es waren Bettler?“ rief d’Artagnan.
„Ja...“ erwiderte Planchet – verwirrt über die freudige Erregung,
die das Wort „Bettler“ bei seinem Herrn ausgelöst hatte. „ Ein
furchtbarer Anblick! Lauter erhobene Stöcke, Keulen und Messer,
dazu die düsteren, verschmutzten Gesichter. Und dann dieses
Geschrei – wie auf dem Schlachtfeld von...“
„Schön, ich kann es mir vorstellen...was taten sie?“
Planchet zuckte mit den Schultern und wies auf das Durcheinander im
Zimmer.
„Sie griffen sich Mademoiselle de Montdusoleil, die sich
verzweifelt zu wehren versuchte und verpassten mir einige
Kinnhaken, als ich ihr zur Hilfe eilen wollte, was bei einem gegen
dreizehn ein recht aussichtsloses Unterfangen ist, wie mir scheint.
Nach dem vierten oder fünften Schlag ins Gesicht verlor ich
jedenfalls das Bewusstsein.“
Grübelnd machte d’Artagnan sich daran das Durcheinander in seiner
Wohnung zu beseitigen, indem er die Stühle und den Tisch anhob und
wieder an ihren Platz stellte. Nachdenklich murmelte er vor sich
hin.
„Die arme Jacqueline wusste zweifellos mehr als gut für sie war
über die Pläne dieser größenwahnsinnigen Lyrikerin. Darum hat die
Wildkatze ihr ihre Handlanger von der Cour des Miracles auf den
Hals gehetzt. Wenn ich nur wüsste, wo sie Jacqueline hingebracht
haben könnten...“
„Oh, da kann ich Euch vielleicht weiterhelfen, Herr. Einer der
Männer erwähnte die Faubourg de Saint Germain. Es dürfte keine
Schwiergkeit für Euch sein die Entführer einzuholen. Es ist
vielleicht eine halbe Stunde her, dass die fortgegangen
sind.“
D’Artagnans Gesicht hellte sich auf. Er ließ das Chaos Chaos sein
und lief in sein Schlafzimmer, um seine Pistolen nachzuladen. Doch
gleich darauf wurde seine Euphorie von einer neuen Überlegung
gedämpft.
„Teufel nochmal! Was gäbe ich darum, diesen Keulenschwingern
nachzujagen, doch auf Befehl der Königin bin ich als ihre
persönliche Leibwache eingeteilt, solange der König nicht in Paris
ist...Andererseits,“ erwägte er, „Wäre dies vielleicht die einzige
Möglichkeit die Spur der Katze zu verfolgen...“
D’Artagnan brauchte nur wenige Augenblicke, um eine Entscheidung zu
fällen. Hastig suchte er sich Feder und Briefbögen zusammen,
schrieb einige wenige Worte und drückte Planchet das Telegramm in
die Hand.
„Hier, überbringe Athos diese Mitteilung. Es eilt, hörst du?“
D‘Artagnan war schon aus der Türe hinaus, bevor Planchet ihm
antworten konnte.
Mit dem Anbruch der Nacht hatte eine ungewohnte Unruhe von Athos
Besitz ergriffen. Zunächst hatte er versucht ein paar Melodien auf
seiner Geige zu spielen, doch seine Finger hatten angefangen zu
zittern und zu schwitzen, sodass er den Versuch schließlich hatte
aufgeben müssen. Als nächstes hatte er im Bestreben sich Wein
einzuschenken ein Glas zerbrochen. Grimaud war diese
Ungeschicklichkeit seines Herrn unbegreiflich. Doch er wäre wohl
eher auf die Idee gekommen sich aus dem Fenster zu stürzen als
diesbezüglich eine Bemerkung zu machen.
Nun saß Athos unbeweglich – wie aus Stein gemeißelt – vor dem
geöffneten Fenster und starrte auf die menschenleere Straße hinab
ohne etwas zu sehen. Grimaud brachte ihm das Abendessen, obwohl er
wusste, dass sein Herr es nicht anrühren würde.
„Sie reißt sie erst morgen, und quält sie schon
heute.“
Dieser eine Vers, den die Katze ihrem Opfer ins Fleisch gebrannt
hatte, hatte sich im Bewusstsein des Musketiers festgesetzt. Zu gut
kannte er seine Schwester, als dass er nicht gewusst hätte, dass
das „morgen“ von dem sie gesprochen hatte um Mitternacht zum
„heute“ werden würde. Zu sehr fühlte er sich noch immer mit ihrem
Herzen verbunden, als dass er nicht erahnt hätte, dass es um
Mitternacht auf den Tag genau zehn Jahre her sein würde, dass man
Henriette verhaftet hatte. An eben diesem Tag, am 13. November 1623
hatte man das Todesurteil über ihren Sohn verhängt und nun, zehn
Jahre später, würde sie das Todesurteil vollstrecken, dass sie über
seine Mörder verhängt hatte. La Chatte liebte die Symbolik.
Gewiss, die Königin hatte einen guten und treuen Beschützer. Sie
hatte d’Artagnan! Doch d’Artagnan kannte seine Gegnerin nicht – das
wahr sein Nachteil. Wenn Anna in dieser Nacht etwas zustieße, so
wäre er, Athos, der Schuldige, denn er hätte die Möglichkeit gehabt
sie zu retten, doch er hatte sie nicht ergriffen.
Hatte er seine Königin verraten, indem er seine Schwester gerettet
hatte? Würde er seine Schwester ermorden, wenn er versuchte seine
Königin zu beschützen? Wie sollte er wohl jemals einen Weg aus
dieser Zwickmühle finden?
„Sie reißt sie erst morgen und quält sie schon heute.“
Oh, diese Frauen! Waren sie Göttinnen oder Teufel, dass sie es
immer wieder zustande brachten ihn an die Grenzen seiner selbst zu
bringen und ihn sich wünschen zu lassen nie gelebt zu haben!
„Oh, Herr, so helfen sie doch dem Mann dort unten!“
Athos nahm Grimauds Stimme wie aus weiter Ferne wahr. So als
erwache er gerade aus einem Traum. Er blinzelte und nun drangen
auch die Hilfeschreie, die von der Straße kamen, in sein
Bewusstsein. Athos begriff, dass er schon mehrere Minuten lang auf
die Szene gestarrt haben musste, die sich unter seinem Fenster
abspielte, ohne wahrzunehmen, dass dort unten ein Mensch in Gefahr
geraten war. Athos griff nach seinem Degen, der auf dem Tisch lag
und war schon im nächsten Moment aus der Tür seiner Wohnung
hinaus.
Als er auf der Straße ankam, bot sich ihm ein höchst eigenartiges
Bild: Im Staub lag ein junger kräftiger Mann, offensichtlich ein
Bote, der ein Telegramm fest an seine Brust gedrückt hielt. Eine
kleine, magere, bucklige und außergewöhnlich hässliche Frau hatte
sich über ihn geworfen und den Mann bezwungen! Sie hielt ihm einen
Dolch an die Kehle und forderte offensichtlich, dass der junge Bote
ihr den Brief aushändigte, was dieser partout nicht tun wollte.
Athos schleuderte der Frau den Dolch aus der Hand und zerrte sie
von dem Boten fort. Dann stand er etwas ratlos zwischen den beiden
ungleichen Gegnern und sagte sich – ein wenig zu spät, dass ein
Eingriff in eine solche Art von Handgemenge unter seiner Würde war.
In diesem Moment erkannte ihn der Bote und stieß einen Schrei
aus.
„Herr Athos!“
„Planchet!“
Planchet mit grün und blau angeschwollenem Gesicht!
„Ojemine, erzählen sie das bloß nicht meinem Herrn, dass ich nachts
ohne eine Waffe aufgebrochen bin, um einen äußerst wichtigen
Botengang zu erledigen und dann von einer Frau überwältigt wurde!
Und zwar zu meiner allergrößten Schande auch noch von der Lotte
Sauteriotte, der Kammerdienerin der Mademoiselle de
Montdusoleil!“
Athos betrachtete die Kammerdienerin genauer und schnappte vor
Überraschung nach Luft.
„Eine Kammerdienerin, sagst du? Planchet, das ist garkeine
Frau!“
Sein Degen schnitt durch die Luft und schleuderte der verkleideten
Kammerdienerin die Perücke vom Kopf. Ein wütender Aufschrei, der
ganz und garnicht weiblich klang, war die Antwort. Planchet fiel
die Kinnlade herunter.
„Der Roi des Gueux, der König der Gauner von der Cour des
Miracles... Planchet, du kannst den Mund wieder schließen.“
Der Entlarvte versuchte zu fliehen, doch Athos packte ihn grob beim
Handgelenk.
„Oh. Na, da bin ich ja beruhigt, wenn es garkeine Frau ist... aber
dafür verstehe ich jetzt überhaupt nichts mehr.“
„Ich schon.“ sagte Athos, der langsam zu begreifen begann und
dessen Augen sich vor Entsetzten weiteten. Sein Verdacht bestätigte
sich, als er d’Artagnans Mitteilung überflog, die Planchet ihm
aushändigte.
Athos,
ich verfolge gerade eine heiße Spur. Übernimm bitte für mich die
Leibwache der Königin.
D’Artagnan
Inzwischen war d’Artagnan in Begleitung von zehn Musketieren,
die er in der Eile hatte zusammen trommeln können, vor den Toren
der Stadt angelangt.
Die Faubourg de Saint Germain. Ein Elendsviertel, das die Armen und
Ärmsten von Paris beherbergte. Ein betäubender Gestank nach
Krankheit, Tod, Verwesung und Fäulnis schlug den Reitern entgegen.
Dicht an dicht standen die armseligen Behausungen der Tagelöhner,
Bettler und Gauner, die hier ihr Dasein fristeten.
D’Artagnan nahm die Gefahr bereits wahr, noch bevor er die
unheimliche Stille um sich herum bemerkte. Kein Mensch war zu
sehen, kein Laut zu hören. Kein schmutziges Kindergesicht, das ihn
aus viel zu großen Augen unschuldig anstarrte, keine Alte mit von
Runzeln durchfurchtem Gesicht, die sich gebeugt durch den Unrat
schleppte.
Ein einziger alter Bettler, dürr wie alle Armen und barfuß selbst
jetzt im November, trat aus einem der Wohnlöcher und musterte die
Reiter. Sein Blick blieb an d’Artagnan haften, er trat auf ihn zu
und überreichte ihm einen Brief.
Dieser war parfümiert. Der süßliche Geruch, vermischt mit dem
Fäulnisgeruch der Umgebung, ergab eine wahrhaft tödliche Mischung.
Unter anderen Umständen hätte d’Artagnan den Duft gewiss genossen,
denn es handelte sich um jenes frische Parfüm, das seine geliebte
Jacqueline von Zeit zu Zeit umgab.
In dem Kuvert fand d’Artagnan ein Medaillon, das er als Jacquelines
Amulett wiedererkannte, sowie einen Briefbogen mit dem königlichen
Emblem, wie er nur von engen Vertrauten des Königspaars verwendet
wurde. Die wilde, geschwungene Handschrift war d’Artagnan nur allzu
bekannt.
Den Sehern raubt Amor das Augenlicht,
Die Denkkraft all jenen, die einstmals gescheit.
Drum danket der Katze, verurteilt sie nicht:
Sie hat Euch vom Fieber der Liebe befreit.
La Chatte
Und noch während der junge Musketier las, bewahrheitete sich,
was dort geschrieben stand: Aus den Klauen der Liebe befreit,
erkannte er all die Zusammenhänge zwischen Jacqueline und La
Chatte, die er bisher nicht gesehen hatte – nicht hatte sehen
wollen.
Weshalb hatte dieses Mädchen, das schon seit zwei Jahren am Hof
diente und ihn während all dieser Zeit nicht eines Blickes
gewürdigt hatte, ausgerechnet angefangen Interesse an ihm zu
zeigen, als die Wildkatze begonnen hatte, ihr Unwesen zu
treiben?
Damals, in jener Nacht auf dem Pont Neuf, die d’Artagnan nun
verfluchte, hatte Jacqueline ihn benutzt, um sich ein Alibi zu
verschaffen. Um zwölf Uhr nachts hatte die Königin jene unverhoffte
Besucherin in ihrem Gemach vorgefunden und um zwölf Uhr nachts war
Jacqueline auf dem Pont Neuf erschienen. Zumindest nach d’Artagnans
Zeitrechnung. Doch die Standuhr in seiner Wohnung, nach der er sich
gerichtet hatte, war um eine Stunde nachgegangen. Das hatte er
bemerkt, als er am Tag darauf eine Stunde zu spät im Quartier der
Musketiere erschienen war. Jacquelines Kammerdienerin musste, als
Planchet sie kurz im Esszimmer alleine gelassen hatte, die Zeiger
der Uhr verstellt haben. Tatsächlich waren sowohl er als auch
Jacqueline erst um ein Uhr auf der Brücke erschienen. D’Artagnan
brach der kalte Schweiß aus, als er begriff, dass er es gewesen
war, der Anna von Österreich von der Unschuld ihrer Ehrendame
überzeugt hatte.
Oh, und schließlich dieser perfekt inszenierte Überfall auf
Mademoiselle de Montdusoleil in seiner Wohnung! Ein doppelter
Schachzug! Zum einen hatte er jegliches Misstrauen beseitigt, das
d’Artagnan vielleicht gegen seine Geliebte gehegt hatte und zum
anderen hatte er ihn fortgelockt von La Chattes Opfer, der Königin,
die nun womöglich... D’Artagnan verbot es sich, den Gedanken zu
Ende zu führen.
Etwas in d’Artagnans Seele, das bereits einmal gelitten hatte,
starb in dem Augenblick, als er erkannte, dass jedes Wort, jeder
Blick und jeder Kuss Jacquelines nichts weiter als Mittel zum Zweck
gewesen waren – Details eines mörderischen Plans, der so verrückt,
so teuflich war, dass er zu gelingen drohte! D’Artagnan wurde
schwindlig und er verfluchtet sich selbst, dass er nie auf Athos
gehört hatte, der ihn immer vor den Waffen der Frauen gewarnt
hatte.
Der Musketier hob nicht einmal den Kopf. Er wusste, dass sie
umzingelt waren. Umzingelt von einer Horde zwielichtiger Gestalten.
Stöcke und Steine in den Händen, Mordlust im Blick. Er wusste, dass
er und seine Männer sie besiegen würden, auch wenn sie in der
absoluten Überzahl waren. Doch es würde ein langwieriger Kampf
werden, denn dies waren Männer die nichts zu verlieren hatten, und
sie würden nicht weichen, bis sie mit einem Schuss in der Brust
oder einem Degenstich ins Herz zu Boden sanken. Und währenddessen
würde La Chatte ihr grausames Werk vollenden...
Mit dem Wunsch in diesem Kampf den Tod zu finden, ging d’Artagnan
auf den erstbesten Gegner los.
Als d’Artagnan um elf Uhr noch nicht bei ihr erschienen war, begann
Anna von Österreich sich Sorgen zu machen. Sie versuchte sich auf
einen Brief aus Spanien zu konzentrieren, der für sie angekommen
war, was ihr nicht gelang. Schließlich gab sie es auf und wanderte
ruhelos in ihrem Gemach auf und ab. Sie bemerkte, dass Donna
Estefania, die in den letzten Tagen kaum noch von ihrer Seite
gewichen war, noch blasser und stiller war als gewöhnlich.
Beide Frauen erstarrten, als sich die Tür zum Gemach der Königin
öffnete. Doch es war keine Mörderin, die eintrat, sondern nur
Mademoiselle de Montdusoleil. So groß war Annas Erleichterung, dass
sie vergaß Jacqueline dafür zu tadeln, dass sie ohne Ankündigung
durch einen Diener in ihr Zimmer geplatzt war.
„Haben Sie Monsieur d’Artagnan, den Leutnant der Musketiere,
gesehen?“
Sorgfältig schloss Mademoiselle de Montdusoleil die Tür hinter
sich, sodass sie der Königin den Rücken zuwandte.
„Monsieur d’Artagnan wird heute Abend nicht kommen.“ erwiderte sie
mit einer Stimme, deren bedrohliche Zärtlichkeit Anna das Blut in
den Adern gefrieren ließ. Donna Estefania stieß einen unterdrückten
Schrei aus und sank ohnmächtig in einen Sessel. Die Eingetretene
nahm kaum Notiz von ihr.
Unwillkürlich fasste Anna sich an die Brust und zog ihr
Schlafgewand enger um ihren Körper.
Jacqueline trat mit wenigen geschmeidigen Schritten auf die Königin
zu, ein melancholisches, fast trauriges Lächeln in den hellen
Augen. Sie stellte sich so dicht hinter Anna, dass die Monarchin
den Hauch ihres Atems auf ihrem Gesicht spüren konnte. Sie fühlte
durch den Stoff ihrer Kleidung, wie die kalte Eisenhand, die
Jacqueline beim Eintreten unter ihrem langen dunklen Mantel
versteckt hatte, sich nun sanft auf ihre bebende Brust legte
.
„Ihr habt unser kleines Geheimnis also nicht vergessen? Nun, ich
habe es auch nicht. Hier bin ich, um mein Versprechen
einzulösen.“
La Chatte trat einen Schritt zurück, da sie fürchtete, die Königin
könne ohnmächtig werden, was nicht in ihren Plan passte. Diese
wurde von einem Beben erfasst, ballte jedoch die Hände zu Fäusten,
entschlossen standhaft zu sein und sich nicht einschüchtern zu
lassen.
„Was habe ich Ihnen getan, Mademoiselle de Montdusoleil?“ Ihre
Stimme klang belegt, aber fest.
Die Katze täuschte Verwunderung vor. Dann lachte sie ihr leises
sanftes Lachen.
„Oh, Ihr wollt wissen, weshalb man Euch verurteilt hat. Ihr werdet
es erfahren, wenn Ihr mit mir eine kleine Spazierfahrt
unternehmt... Und zwar mit mir allein.“
„Das ist unmöglich!“ flüsterte Anna, „Man wird...“
„Man wird Euren Befehlen gehorchen. Wer kann es der Königin
verbieten, nachts mit einer ihrer Damen eine Kutsche zu besteigen
und davonzufahren?“
„Man wird dahinterkommen, was hier gespielt wird und mir
folgen!“
„Nicht, wenn Ihr den ausdrücklichen Befehl gebt dies zu
unterlassen. Das ist das Los der Könige. Sie haben treue Diener,
aber keine Freunde!“
„Ich werde mich weigern!“
Wortlos und noch immer lächelnd holte La Chatte eine Pistole unter
ihrem Mantel hervor, die sie der Königin an die Schläfe hielt. Anna
musste heftig schlucken und ballte die Fäuste vor Wut und
Verzweiflung.
„Wenn Sie es hier tun, wird man sie fassen und töten!“
„Tatsächlich?“ Mit einem Mal war die Stimme der Katze ebenso hart
und kalt wie sie eben noch weich und zärtlich gewesen war. „Kein
Tag ist in diesen neun Jahre, die ich in der Bastille verbracht
habe, vergangen, an dem ich mir nicht den Tod herbeigesehnt hätte.
Glaubt Ihr, ich würde ihn heute fürchten?“
Dieser eine Satz entriss Anna den letzten Hoffnungsstrohhalm, an
den sie sich noch geklammert hatte. Die größte Macht der Könige
beruhte auf ihrer Entscheidungsgewalt über Leben und Tod ihrer
Untertanen. Doch womit sollte man einem Menschen drohen, der den
Tod nicht fürchtete?
Anna von Österreich senkte den Kopf. Ihr Widerstand war
gebrochen.
Es geschah alles genau so, wie La Chatte es befohlen hatte. Um kurz
vor Mitternacht verließ die königliche Kutsche mit zwei Frauen und
ohne Begleiteskorte den Louvre in östliche Richtung. Die Nacht war
kalt und sternklar.
Auf dem Quai du Louvre kamen ihnen zwei Reiter auf einem Pferd
entgegen, das sie mitten auf dem Kai anhalten ließen. Mit ihren
scharfen Augen hatte La Chatte sofort Athos schönes und bleiches
Gesicht erkannt. Er stieg vom Pferd und blockierte den Weg.
Hastig öffnete sie den Kutschenschlag, stieß die Königin hinaus,
sprang selbst hinterher und hielt ihrem Opfer erneut die Pistole an
die Schläfe. Beim Anblick der verstörten Königin, die Haare
aufgelöst, die Augen gerötet, mit einem Blick, der dem eines zu
Tode gehetzte Kaninchens glich, wurde Athos von Schwindel
ergriffen. Der Kutscher stieß einen Schrei aus, als er begriff, was
hier gespielt wurde.
„Ich habe es dir gesagt!“ rief La Chatte, „Ich werde sie nicht
verschonen – was immer du tust!“
Wortlos riss Athos seinen Begleiter vom Pferd und die Katze
erkannte zu ihrer Überraschung, dass es der Roi des Gueux war, ihr
Freund und Komplize, den sie zwei Jahre lang als ihre
Kammerdienerin ausgegeben hatte. Athos setzte ihm die Spitze seines
Degens auf die Brust.
„Sein Leben gegen das der Königin.“ sagte er kalt.
Gehetzt blickte seine Schwester sich um. Wie ein Wildtier, wenn es
merkt, dass es unter Beschuss genommen wird.
„Nein!“ Ihre Stille klang schrill und verunsichert. „Nein, elf
Jahre lang habe ich nur gelebt für den Triumph des heutigen Tages.
Ich kann nicht...“
„Dann stellst du also den Tod einer Königin, die du verachtest,
über das Leben eines Königs, den du liebst?“ fuhr Athos
unbarmherzig fort.
La Chatte zuckte zusammen. Verstört blickte sie dem Roi in die
Augen. Sie baten um nichts. Sie rieten ihr nichts. Sie warteten auf
eine Entscheidung.
Mit einem Schrei, in dem Enttäuschung, Wut und Verzweiflung
mitschwangen, stieß La Chatte die Königin zu Boden, trat auf Athos
zu und starrte ihn wild an , ein Windstoß blies ihr die Locken ins
Gesicht, in ihren Augen glitzerten Tränen.
„Geh.“ Sagte ihr Bruder leise während er ihr die Pistole aus der
Hand nahm und den Blick von ihr abwandte.
Verbittert griff die Katze nach dem Handgelenk des Roi und die
beiden verschwanden in Richtung Pont Neuf. Athos kniete neben
seiner Königin nieder und half ihr sich aufzurichten und in die
Kutsche zu steigen. Dann bestieg er sein Pferd.
„Zurück zum Louvre!“ rief er dem Kutscher zu, der zitternd die
Zügel wieder aufnahm.
D’Artagnans Wunsch hatte sich nicht erfüllt. Er lebte noch. Die
Bettler der Faubourg de Saint Germain waren besiegt, zum größten
Teil getötet. Unter den Musketieren gab es kaum Verletzte. Punkt
Mitternacht war der letzte Kämpfende gefallen. La Chatte schien die
Zeit genau berechnet zu haben. D’Artagnan war sich sicher, dass sie
den Zeitpunkt für den Tod der Königin auf Mitternacht festgelegt
hatte. Doch der Kampf hatte seine Sinne wiederbelebt und dem
Gascogner neuen Mut gegeben. So war er entschlossen nicht
aufzugeben, solange er nicht wusste, ob die Königin noch lebte oder
nicht. So ritt er also im Galopp zurück zum Louvre
„Wenn ich zu den Unterdrückten, zu den Feinden des Adels gehören
würde, wo würde ich über die Königin, die ich hasse, richten?“
fragte er sich. „Wohl dort, wo ich ihr am besten die Macht des
Pöbels vor Augen führen kann, sozusagen in der Höhle der Löwen...
In der Cour des Miracles!“
Doch wie sollte er diesen Ort finden? Er rief sich noch einmal die
letzten Verse der Katze in Erinnerung in der Hoffnung dort einen
versteckten Hinweis zu finden. Dabei kam ihm auch wieder jenes
Medaillon in den Sinn, das zu dem Rendezvous zwischen ihm und
Jacqueline auf dem Pont Neuf geführt hatte.
Das Medaillon! D’Artagnan zügelte sein Pferd so plötzlich, dass der
Musketier hinter ihm beinahe auf ihn aufgeritten wäre. Warum
schmiedete man ein Amulett, dass so eindeutig auf einen ganz
bestimmten Ort verwies? Wohl kaum, um jungen Verliebten, die die
herkömmliche Methode des Briefeschreibens für phantasielos hielten,
zu einem Stelldichein zu verhelfen! Es musste geschmiedet worden
sein, um Eingeweihte an einen Ort zu führen, der vor der
Allgemeinheit geheimgehalten werden sollte!
„Auf zum Pont Neuf!“
Tatsächlich entdeckte d’Artagnan nach kurzem Suchen die kleine
Grotte unter der Brücke. Das kreisrunde Tor in ihrem Innern zeigte
das Emblem eines Vollmondes, umgeben von zwölf Sternen – genau wie
auf der Rückseite des Medaillons. Der Musketier betrat alleine, da
er wünschte unentdeckt zu bleiben, die Unterwelt von Paris und
gelangte schließlich zu jenem riesigen Hohlraum, den Athos schon
früher kennengelernt hatte. Hunderte von Gestalten drängten sich
auch diesmal wieder um die kleine Bühne mit dem Galgen.
D’Artagnans Vermutungen hatten sich bestätigt. Hier also hätte die
Königin von Frankreich hingerichtet werden sollen! Doch
offensichtlich war Jacquelines Plan gescheitert – Mitternacht war
längst vorbei.
D’Artagnans Herz begann wieder gleichmäßiger zu schlagen.
Henriette Jacqueline La Chatte konnte sich nicht erklären, wie sie
hierher, zum Pont Neuf gekommen war. Es musste der Roi des Gueux
gewesen sein, der sie geführt hatte. Sie selbst hatte weder
registriert, wohin sie liefen, noch was um sie herum geschah. Ihre
Gedanken gegenstands- und zusammenhanglos. Ihr Wille leer, besiegt.
Ein Meer von Farben, in dem sie ertrank. Eine Flut von
Sinneseindrücken, die sie nicht zu fassen vermochte.
Ihr Plan war gescheitert. Ihr Leben verwirkt.
Der Roi trat vor La Chatte durch das Eingangstor der Cour des
Miracles.
Ein ungläubiges Ächzen war das letzte, was sie von ihm vernahm.
Dann taumelte der hässliche kleine Mann rückwärts und sank mit
durchbohrter Brust in die Arme der schönen Wilden. Sein Tod holte
La Chatte in die Wirklichkeit zurück. Ihre Augen weiteten sich, als
sie d’Artagnan erkannte, der mit blutbefleckten Degen und
totenbleichem Gesicht aus dem Tor trat.
„Ihr!“ rief sie, ließ den König der Bettler zu Boden sinken, lief
aus der Höhle und kletterte auf die Brücke zurück. Diese jedoch
fand sie plötzlich besetzt von Musketieren, die La Chatte auf ihren
Pferden reitend umzingelten. Wie eine Tigerin, die in die Falle
gegangen war, drehte sie sich mit wildem Blick und fliegenden
Haaren mehrmals um die eigene Achse.
D’Artagnan war ihr nachgeklettert und trat nun mit düsterem Blick
auf sie zu. In seinen glanzlosen Augen las La Chatte den Schmerz,
den ein gebrochenes Herz hinterlässt, die Bitterkeit, die entsteht,
wenn dieses Herz zu Eis wird, und die Rachsucht eines Mannes, der
in seiner Ehre verletzt worden ist.
D’Artagnan nahm den Degen in die linke Hand, umfasste La Chattes
Handgelenk mit der rechten, sah in diese schönen bernsteinfarbenen
Augen, von denen er sich hatte täuschen lassen und sagte betont,
fast feierlich.
„Jacqueline La Chatte, ich verhafte Euch im Namen der Königin von
Frankreich.“
„Nein!“ hallte ein Ruf über die Brücke und sowohl d’Artagnan als
auch La Chatte wandten sich verblüfft um. Es war Athos, der in
gestrecktem Galopp auf den Pont Neuf gesprengt kam. Er sprang vom
Pferd, lief an den Musketieren vorbei auf die beiden Umkreisten zu
und stellte sich mit gezücktem Degen schützend vor seine Schwester.
D’Artagnan trat vor Verblüffung einen Schritt zurück.
„Du stellst dich auf die Seite der Verräterin? Was...?“
„D’Artagnan, das ist Henriette de la Fère, meine Schwester.“
Für einen Augenblick war d’Artagnan sprachlos und sein Blick ging
hin und her zwischen seinem Freund und seiner Feindin.
„Athos, ich habe der Königin geschworen sie ihr lebend
auszuliefern.“
„Und ich habe meinem Vater geschworen ihr Leben zu
verteidigen.“
„Dann werden wir uns schlagen.“
D’Artagnan konnte nicht verhindern, dass seine Stimme
zitterte.
„Nein!“ Irritiert wandten die Freunde den Blick in Henriettes
Richtung, aus der dieser Einwand gekommen war.
„Ich werde freiwillig mit Monsieur d’Artagnan gehen.“ sagte sie mit
fester Stimme. „ So wird mich die Justiz des Hochverrats für
schuldig erklären... Aber anders würde ich mich selbst für schuldig
erklären, die Freundschaft der beiden größten Männer des
Königreichs zerstört zu haben.“
Ungläubig starrte d’Artagnan diese Frau an, die er sosehr geliebt,
sosehr gehasst und sosehr verachtet hatte und es gelang ihm nicht
jenes brennende Gefühl zu unterdrücken, das sein Herz zu
zersprengen drohte und das er glaubte für alle Zeiten verbannt zu
haben.
Athos schaute seine Schwester mit einem Blick voller Zärtlichkeit
und Stolz an, schüttelte jedoch traurig den Kopf.
„Danke, Henriette. Doch auch deine Worte entbinden mich nicht von
meinem Eid.“
Er hob seinen Degen und d’Artagnan tat es ihm gleich. Das metallene
Klirren, als sich die Degen kreuzten, machte d’Artagnan erst
wirklich bewusst, dass dies ein Gefecht auf Leben und Tod werden
würde und dass er auch dann verlieren würde, wenn er
überlebte...
„Athos,“ versuchte er den Freund noch einmal umzustimmen, „ du bist
von zehn Männern umzingelt, die den Befehl haben deine Schwester zu
verhaften. Selbst wenn du mich besiegst, wirst du sie nicht gegen
zehn Musketiere verteidigen können.“
„Wenn ich d’Artagnan besiegte“ erwiderte Athos feierlich, „würden
mich auch fünfzig Männer nicht aufhalten.“
D’Artagnan seufzte.
„So sei es.“
Totenstille. Mit angehaltenem Atem verfolgten die Musketiere das
Duell dieser beiden Männer, die ihr Vorbild waren, die sie
bewunderten und schätzten. Ihre Bewegungen waren vollendet, ihre
Fechthiebe treffsicher und elegant ausgeführt und es schien, dass
keiner der beiden dem anderen auch nur im geringsten unterlegen
war.
D’Artagnan wusste, dass er Athos unterliegen würde, sobald er nur
den geringsten Fehler machte. Und ebenso sicher wusste er, dass
sein Freund als Verlierer aus diesem Duell herausgehen würde, wenn
er nur eine Sekunde lang unaufmerksam war.
Vielleicht wäre dieser Kampf längst entschieden gewesen, wenn
d’Artagnan gewusst hätte, ob er überhaupt gewinnen wollte.
Verlor er, so würde es eine Ehre für ihn sein von einem Gegner
getötet zu werden, der ihm ebenbürtig war. Was aber würde sein,
wenn er gewinnen sollte? Er würde mit einem Schlag zwei Menschen
verlieren, die er über alle Maßen liebte. Ja, er gestand es sich
ein – er liebte Jacqueline noch immer . Und er glaubte sich nicht
nur einzubilden, in ihren Augen Ehrlichkeit gesehen zu haben, als
sie sich vor ein paar Nächten genau an diesem Ort, auf dieser
Brücke, ihre Liebe gestanden hatten.
D’Artagnan fasste einen verzweifelten Entschluss: Er fasste den
Entschluss dieses Duell zu verlieren.
Ein Raunen ging durch die Reihe der Musketiere, als d’Artagnans
Degen durch die Luft flog und einige Meter von den Fechtenden
entfernt auf dem Weg aufschlug.
Die Freunde sahen sich in die Augen. Schicksalsergebenheit in denen
des einen, Schmerz in denen des anderen. Der Degen zitterte in
Athos‘ Hand.
„Vergib mir.“ flüsterte er und schloss die Augen.
„Tu es nicht.“ Bleich und schön wie eine Göttin trat Henriette
näher an die beiden Freunde heran. „ Du zerstörst nicht nur ihn,
sondern auch dich selbst.“ wiederholte sie die Worte, die Athos zu
ihr in der Cour des Miracles gesprochen hatte.
Henriette schloss die Augen und erhob ihren rechten Arm, an dem sie
den Eisenhandschuh trug: Die Katze stieß sich ihre eigenen Krallen
ins Herz.
„Nein!“ schrien Athos und d’Artagnan gleichzeitig. Athos ließ
seinen Degen zu Boden fallen, stürzte auf seine Schwester zu und
fing sie auf, als sie fiel. D’Artagnan ließ sich neben den beiden
zu Boden gleiten und nahm ihre linke Hand in die seine. Er wollte
etwas sagen, doch Henriette schüttelte unter großer Anstrengung den
Kopf.
„Heute nacht...“ hauchte sie, „haben Henriette und Jacqueline La
Chatte besiegt.“
„Ja.“ Flüsterte d’Artagnan mit tränenerstickter Stimme, „Jetzt bist
du frei.“
Und Henriette Jacqueline starb mit weit geöffneten lächelnden
Augen, in denen sich das Licht des Mondes spiegelte.
Die ersten Schneeflocken hatten den kleinen Friedhof mit einer
dünnen weißen Schicht überzogen. Milchige Dunstschwaden zogen über
die Gräber hinweg. Es war zu jener Tages- oder Nachtzeit, wenn der
Mond noch am Himmel stand und die Sonne schon aufgegangen war. Die
Zeit wenn die Gegensätze in der Welt einander die Hand reichten:
Leben und Tod, Liebe und Hass, Freude und Verzweiflung. So still
war es, dass man beinahe spüren konnte wie die Erde sich
drehte.
Zwei Männer vor einem Grab. Der jüngere der beiden kniend, mit
gesenktem Blick, eine Rose auf das weiße Grab legend. Der ältere
stehend, den ruhigen friedvollen Blick aus nachtdunklen Augen in
die Ferne gerichtet, seine Hand auf der Schulter des
Jüngeren.
Und jedem, der die Freunde sah, war klar, dass die Herzen dieser
beiden durch ein Band miteinander verbunden waren, das stärker war
als der Tod. Stärker als das Leben. Und was geschehen war, hatte
sie nur noch enger aneinander geschweißt.