Der Doppelgänger von Wolf Mathis

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Kapitel Der Doppelgänger

Der Mann ging durch die engen Gassen rund um St. Julien-le-Pauvre, als hätte er das Gewicht der ganzen Welt zu schultern. Leicht vorgebeugt, die Hände tief in den kleinen Taschen seines aschgrauen Wamses vergraben, den Kopf unter der Kapuze des Mantels gesenkt. Das rege Treiben um hin herum schien er gar nicht zu registrieren, jedenfalls reagierte er weder auf Anrufe noch Schmähungen, die ihm von angerempelten Passanten nachgerufen wurden.
Er hatte getrunken, jedoch nicht so viel, wie er gewollt hatte - er hatte einfach nicht mehr Geld gehabt, und Kredit war in den Schänken von Paris unter der Herrschaft König Louis' XIII. ein unbekanntes Fremdwort - es sei denn, man nahm ihn sich einfach. Nicht einmal dazu hatte die Kraft des Mannes noch gereicht.
Er war in Schwierigkeiten, das konnte man sagen. Seine Reputation war schwer angeschlagen, seine Glaubwürdigkeit beschädigt, das Vertrauen in seine Person erschüttert. Schlimmeres konnte ihm, einem loyalen Diener der Krone, der ungezählte Male sein Leben für die Ehre von König und Königin eingesetzt hatte, kaum wiederfahren. Das Übelste an der Situation aber war, dass er absolut nicht verstand, was mit ihm geschah. Irgendjemand hatte mit teuflischem Geschick seinen Ruf beschädigt, ja nahezu zerstört, und er wusste nicht, wie das hatte geschehen können. Sogar seine Vertrauten und eingeschworenen Freunde begannen, sich von ihm zurückzuziehen.
Er war ein Musketier - doch jetzt hatte Monsieur de Treville ihn suspendiert.
Sein Name war Athos.

***

Athos grübelte. Auch wenn er nicht den Eindruck hinterließ, so war er doch ein Mann von nicht geringer Intelligenz und Klugheit - wenn diese auch vordringlich von den bitteren Lektionen herrührte, die ihn das Leben gelehrt hatte. Wie hatte er in diese Situation kommen können? Athos versuchte, sich aller Vorhaltungen zu erinnern. Er sei über unbewaffnete Gardisten des Kardinals hergefallen, als diese auf dem Weg von ihren Familien in die Kaserne waren, und hätte zwei von ihnen erschossen; er hätte einen Gastwirt erstochen, der ihm sauren Wein serviert hätte; er hätte Schmähungen gegen Königin Anna verbreitet; er hätte gar einen anderen Musketier angegriffen und lebensgefährlich verletzt.
Athos hatte keinerlei Erinnerung an diese Taten. Dennoch mussten sie wahr sein, denn einige der Opfer dieser Taten hatten ihn unabhängig voneinander namentlich angezeigt. Nur sein großer Name und der vehemente Einspruch seiner Freunde Portos, Aramis und D'Artagnan hatten verhindert, dass man ihn sofort in Haft genommen hatte.
Wurde er wahnsinnig?
Ohne viel davon zu bemerken, betrat er einen Platz, auf dem gerade Markt abgehalten wurde. Die Straßenmärkte von Paris waren eine Fundgrube für allerlei Waren - in guten Zeiten konnte man hier günstig alle möglichen Delikatessen erstehen. In Zeiten des Krieges jedoch hungerte das Volk.
Jetzt war die Zeit gut - nur nicht für Athos.
Es war ein Tumult an einem Obststand, der schließlich seine Aufmerksamkeit erregte. Ein Händler landete krachend auf dem Holzwagen, ein zweiter ging nach einem Degenstich zu Boden. Wie infam, dachte Athos erzürnt, war der Marktbauer doch nicht bewaffnet. Wer, wenn nicht ein abgefeimter Schurke, würde so etwas tun?
Dann sah Athos sich diesen Mann an - und blickte genau in sein eigenes Gesicht!
Die Erkenntnis traf ihn wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel: ein Doppelgänger!
Auch der andere hatte ihn erblickt und war nicht minder erschrocken. Schnell wandte er sich zur Flucht. Athos stand wie zu Stein erstarrt - aber nur einen Augenblick, dann setzten sich seine Ausbildung und große Erfahrung als meisterhafter Kämpfer für den Thron durch. Der Kerl würde nicht entkommen!

***

Was für ein Rennen das war! "Athos" stürmte durch die Gassen der Marktstände, warf um was ihm im Wege war, stieß fort, wer ihn behinderte. Athos immer hinterher. Der Abstand mochte der Breite eines durchschnittlichen Hauses entsprechen und wurde kleiner. Der Musketier war angetrieben von der Schmach, die ihm angetan worden war von diesem Kerl, der zum Überfluss auch noch den Waffenrock des Regiments von Monsieur de Treville trug - was jener mittels der Suspendierung verboten hatte. Athos trug einfache Zivilkleidung, was er als Zeichen seiner Schande empfand. All das machte ihn zornig, jetzt, da er wusste, wie die Dinge lagen. Und er holte noch mehr auf.
Noch zwei Mannslängen voraus, zog "Athos" seine Pistolen hervor und feuerte im Rennen auf Athos. Es war für den geschickten und in allen Waffengattungen geübten Musketier ein Leichtes, den Kugeln auszuweichen. Ein junger Bäckergesell hatte nicht dieses Glück und fing den Tod mit seiner Brust auf. Kaum nahm Athos diese kleine Tragödie wahr, er schwor sich aber, das sollte der letzte Unschuldige sein, der diesem Komplott zum Opfer fiele.
Er verdoppelte seine Anstrengungen und rückte dem Verfolgten näher und näher.
Endlich und aus der Einsicht niemals dem rachedürstenden Verfolger zu entkommen, stellte sich der falsche Musketier zum Kampf. Auch hier bewies er seine Heimtücke und Hinterlist, indem er unerwartet herumwirbelte und dem Verfolger die gezückten Klingen von Dolch und Degen entgegenreckte - und fast hätte Athos sich selbst aufgespiesst. Ein Schnitt zerteilte den Stoff seines Wamses und die Haut über seiner rechten Schulter. Es war nur eine kleine Wunde, aber sie steigerte noch die Wut des Betrogenen - wenn denn das noch möglich war.
Einander gegenüber standen sich nun Athos und "Athos", die Klingen blank und glitzernd zum Kampfe gezückt - und hieben und stachen schon aufeinander ein.
Geschickt war er, der Doppelgänger, das musste Athos einräumen. Er verstand es sogar, seinen Kampfstil so aussehen zu lassen, als sei es Athos selber, der die Klinge führte. Es war eine bizarre Erfahrung, wie wenn er Übungen machte vor einem lebensgroßen Spiegel - nur dass der Spiegel dieses Mal zurückschlug.
So fochten sie, zwei hervorragende Kämpfer, jeder auf die Blöße des Gegners lauernd, um den tödlichen Stoß zu setzen.
Athos wurde als erster getroffen, und eine kleine, aber tiefe Wunde im rechten Oberarm ließ Schauer von Schmerz durch seinen Körper rasen. Rotes Blut färbte den Stoff von Wams und Umhang. Gewohnheitsmäßig wechselte Athos die Klinge in die Linke, denn er war mit beiden Armen ein Fechter außerordentlichen Formats.
Und endlich zeigte sich ein Unterschied zu dem infamen Betrüger: dieser kämpfte nur mit der Rechten so gut wie Athos, seine Linke war nicht geübt in der Führung des Degens.
Athos drängte "Athos" zurück, überzog ihn mit einem flirrenden Netz aus Stahl - und traf ihn! Der kostbare Samt über der Hüfte wurde durchstochen und auch eine Handbreit des Fleisches. Keuchend vor Schmerz und fluchend wich der Doppelgänger zurück, immer weiter zurück. Hinter ihm war der Stand eines Bauern, der prächtige, goldgelbe Kürbisse und feinen Mais, der in der selben Farbe glänzte, anbot. Der alte Mann stolperte zurück und strauchelte, und hinterhältig sprang "Athos" hinter ihm her, packte ihn und hielt ihn feige als lebenden Schild vor sich.
"Verschwinde", sagte er, und seine angestrengte Stimme hatte so gar nichts gemeinsam mit seiner eigenen, fand Athos, "oder der Alte stirbt!"
"Lass ihn gehen und stelle dich mir, ehrloser Feigling!" versetzte Athos. "Ich verspreche dir einen schnellen und ehrenhaften Tod - auch wenn du ihn nicht verdient hast!"
Mehr wurde nicht gesagt, stattdessen brachte "Athos" dem wehrlosen Bauern einen Schnitt an der Seite des Halses bei, um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen. Wimmernd hing der Alte im Griff des Schurken.
Nun gut, dachte Athos und senkte den Degen. Vielleicht hätte er mit einem kurzen Ausfall einen tödlichen Streich setzen können, damit aber das Leben des unschuldigen Bauern in deutliche Gefahr gebracht - hier zeigte sich ein weiterer, signifikanter Unterschied zum Doppelgänger: Athos war durch und durch ein Mann von Ehre.
Er wich zwei kleine Schritte zurück. "Athos" mit seiner Geisel im Griff konnte nicht nach hinten ausweichen, denn dort stand der Wagen mit dem Gemüse des Alten. Also zwang er ihn vorwärts, musste dabei sowohl auf seinen gefährlichen Gegner als auch sein eigenes Gleichgewicht achten. Der Alte erlitt einen Schwächeanfall und drohte zusammenzusinken. Fester noch griff der Betrüger zu, dennoch wankte er für einen winzig kleinen Moment.
Das genügte dem Musketier.
Ansatzlos fuhr sein linker Arm mit dem Degen hoch, die rasiermesserscharfe Klinge zuckte buchstäblich um Haaresbreite am Ohr des Bauern vorbei, und die nadelfeine Spitze der Präzisionswaffe fuhr dem falschen Athos tief durch das rechte Auge - nur ein überraschtes Keuchen war zu hören, ob vom tödlich Getroffenen oder der armen Geisel, vermochte später niemand mehr zu sagen. Dann fiel der Schurke um und war tot, bevor er auf dem staubigen Pflaster aufschlug. Die Anspannung der Menge, die sich schweigend gebannt um den Ort des Kampfes gesammelt hatte, entlud sich in Lauten entsetzten Entzückens. Die selbe Anspannung, die jetzt auch von Athos abfiel, ließ nicht mehr in ihm zurück als ein Gefühl grenzenloser Leere.
Wer hatte sich nur ein derartig teuflisches Komplott gegen ihn ausdenken können? Wer hatte es geplant und mit Hilfe des ruchlosen Doppelgängers schließlich so fürchterlich wirkungsreich umgesetzt? Rochefort? Der Kardinal selber?
Athos würde es vermutlich nie erfahren, denn derjenige, der es bestimmt gewusst hatte, lag tot zu seinen Füßen.
Es war ihm auch egal. Dieser Kerl würde niemandem mehr in seiner Ehre schaden.
Athos schob den Degen, den er an der Kleidung der Leiche gesäubert hatte, in die Scheide, dann ließ er sich von dem Bauern, den er gerettet hatte, die Wunden säubern und provisorisch verbinden. Die Narben dieses Kampfes würden ihn immer an ein dunkles Kapitel seines Lebens gemahnen, doch Athos hatte auch diese Fährnis überwunden.
Über den Platz kamen Musketiere gelaufen, an ihrer Spitze D'Artagnan, Portos und Aramis.
Und Athos fühlte das erste Mal seit vielen Tagen, wie es ihm leicht im Herzen wurde.

Copyright © 2001 by Wolf Mathis
Idee von Silvia Ulenberg