Der Pakt des Lucifer von sarah 

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Kapitel Prolog

Liebste Tante,
Ich bitte Euch diesen Brief noch in der Stunde zu verbrennen, da er Euch erreicht. Sein Inhalt könnte Euch ebenso gefährlich werden wie mir.
Gewiss, ich bin mir des Risikos bewusst, das ich eingehe, indem ich Euch über dieses Geheimnis in Kenntnis setze Doch mein Gewissen plagt mich und ich kann die Qual allein nicht mehr ertragen, mit der mich Gott für das straft, was ich getan habe. Denn ich muss gestehen an einem grausamen Verbrechen beteiligt gewesen zu sein, das hier unter Mönchen meines Ordens begangen wurde, die gelobt haben Gott zu ehren und stattdessen dem Satan verfallen sind..
Euch bitte ich meine Richterin auf Erden zu sein, da ich Euch für weise und gerecht halte. Hört also meine Geschichte....
Im Dormitorium des Klosters brannte eine einzige Kerze. Die Flamme flackerte unruhig, bewegt von einem eisigen Windzug vom geöffneten Fenster her. Sie ließ gespenstische Schatten über die Wände des Raumes tanzen. Der junge Abbé spürte nicht die Kälte des Winterabends. Er war den anderen in dieser Nacht nicht gefolgt zum Chorgebet in der Kirche. Mit starrem Blick beobachtete er die Phantombilder an der Wand. Vorboten der Hölle, die ihre Arme nach ihm ausstreckten.
Du sollst nicht töten.
Monotoner Mönchsgesang drang an sein Ohr. Dumpf klangen die Worte in ihm nach: Domine, ne in furore tuo arguas me/ neque in ira tua corripias me./ Misere mei.
Erbarme dich? Der Herr würde sich ihm nicht erbarmen, ihm, der Sein Wort missachtet hatte.
Du sollst nicht töten.
Der junge Mann spürte, wie seine Hände erneut zu zittern begannen. Um sich aus seiner trauma-artigen Starre zu reißen, wandte er den Blick von den Schatten an der Wand und begann im Zimmer auf und ab zu wandern. Nervös lauschte er auf das Geräusch von Pferdehufen im Hof. Der Bote, den er mit dem Brief an seine Tante nach Paris geschickt hatte, hätte schon gestern zurück kommen müssen...
„Ihr seid nicht in der Kirche?“
Der Mönch fuhr zusammen. Im Türrahmen gewahrte er einen großen dunklen Schatten, der dort schon eine ganze Weile regungslos verharrt haben musste.
„Famulus...“ flüsterte er.
Der Vorsteher des Klosters trat ins Zimmer, sodass das flackernde rote Licht der Kerze über sein langes, hageres Gesicht zu tanzen begann. Dort, wo seine Augen hätten sein sollen, starrten nur zwei leere Augenhöhlen aus dem Schädel, was den Eindruck noch verstärkte, dass es sich bei dieser Erscheinung weniger um einen lebendigen Menschen als um ein wandelndes Skelett handelte.
„Das Beten scheint Euch schwer zu fallen in letzter Zeit.“
Die zynischen Worte versetzten dem jungen Mann einen Stich.
„Was wollt Ihr noch von mir?“ brachte er mühsam hervor.
„Man sagte mir, Ihr hättet vor ein paar Tagen einen Boten mit einem Schreiben fortgeschickt. Nach Paris? Weshalb?“
Der blinde Custos war nahe an den jungen Mann herangetreten. Seine Stimme klang kalt und leise. Jene Art von Grabesstimme, die dem Zuhörer ein Schauern über den Rücken zu jagen vermochte.
„Ein Brief an meine Tante.“
„Was schreibt Ihr in diesem Brief?“
Der Abbé senkte den Blick. Seine Lippen zitterten.
„Sprecht! Habt Ihr den Pakt verraten?“
Das Schweigen des jungen Mannes war Antwort genug. Mit einer herrischen Bewegung trat der Klostervorsteher einen Schritt zurück. Er packte die Schulter des jungen Mönches, zwang ihn auf einen Stuhl und drückte ihm eine Feder in die Hand.
„Schreibt!“ befahl er. „Ich, Jérémie de Vivonne, habe beschlossen diese Welt zu verlassen, da ich nicht leben kann mit der Schuld an dem Mord, die auf mir lastet.“
„Famulus!“ Entsetzt blickte Jérémie auf.
„Schreibt!“
Der Custos beugte sich noch tiefer zu dem jungen Mönch herab und dieser schien sich in der Finsternis jener leeren Augenlöcher zu verlieren, die gleichzeitig abstoßend und faszinierend auf ihn wirkten. Die Tiefe, in die Jérémie zu stürzten glaubte, brach seinen Widerstand. Er gehorchte. Seine Hand bebte, während er schrieb. Auf seiner bleichen Stirn stand der Schweiß.
„Und nun setzt den Namen ‚Lucifer‘ unter den Brief.“
Längst war der Abbé zu einer willenlose Marionette geworden. Er schrieb.
Kaum hatte er den Befehl ausgeführt, zerrte der Custos ihn in die Höhe und stieß ihn ans Fenster. Er holte einen Strick unter seinem Mönchsgewand hervor, legte ihn dem Abbé de Vivonne mit kaltblütiger Gelassenheit um den Hals und befestigte ihn am Fenstersims.
„Springt!“
Ein scharfer Windzug löschte die Kerze und die Schatten an der Wand verschwanden.

Kapitel Der Marquis du Lû

„Der Teufel soll diesen verdammten Kardinalisten holen!“
Für einen Moment ebbte das Lachen und Grölen, das die drückende Luft in dem kleinen Gasthaus erfüllte, ein wenig ab. Die Gäste in der Nähe der Tür wandten neugierig die Köpfe, als diese von jenem jungen Mann aufgerissen wurde, dem es gelungen war, den unsagbaren Tumult in dem überfüllten Gasthaus mit seinem Fluch noch zu übertönen. Der wütende Blick, das zerzauste dunkle Haar und nicht zuletzt die eindrucksvolle längliche Schnittwunde, die sich von seiner Nase bis zu seinem linken Ohr hinzog, verliehen dem Eintretenden ein beinahe furchteinflößendes Aussehen. Wütend schnaubend ließ er sich auf einem Stuhl am letzten unbesetzten Tisch nieder ohne den neugierigen Blicken Beachtung zu schenken. Sein Begleiter, dessen edles Gesicht mit den schwarzen ruhigen Augen ein weniger aufbrausendes Temperament verriet, schien ihn gut genug zu kennen: Er machte sich garnicht erst die Mühe den Freund beruhigen zu wollen, sondern setzte sich ihm gegenüber. Geduldig schien er das Ende des Zornausbruchs seines Gefährten abzuwarten.
„Ein arroganter Schnösel ist er, dieser du Lû! Und soetwas nennt sich Marquis! So tief ist der Hochadel also schon gesunken! Teufel nochmal, Athos, eins sag‘ ich Euch: so wenig ich auch übrig habe für den Kardinal, so hätte ich ihm doch einen besseren Leutnant für seine Gardisten gegönnt!“
„Nun...“ bemerkte Athos vorsichtig und mit einem feinen Hauch von Ironie in den Augen, wobei er es vermied die Schramme anzublicken, welche die linke Wange seines Freundes zierte: „Immerhin hat dieser verabscheuenswürdige Mensch es fertig gebracht, dem bestem Mann unter den Musketieren des Monsieur de Tréville einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Einer solcher Leistung kann sich nicht jeder rühmen...“
Sein Freund warf ihm einen jener Blicke zu, die soviel bedeuten sollten, wie: „Wärt Ihr nicht, wer Ihr seid, so hättet Ihr Euch gerade einen Todfeind gemacht!“, worauf Athos rasch und mit einem Lächeln hinzufügte: „Doch ich bin sicher, dass Ihr es ihm bei nächster Gelegenheit doppelt und dreifach heimzahlen werdet, d‘Artagnan!“
„Pah!“ machte dieser: „Du Lû kann sich glücklich schätzen, wenn er es schafft vom Boden hochzukommen, wenn wir uns das nächste Mal begegnen!... Nicolette, wo bleibt der Wein?“
Nicolette, die Tochter des Gastwirts, war wohl, zusammen mit dem guten Wein und dem unfreundlichen Dezemberabend, der viele Pariser in die warme Gaststube getrieben hatte, der Hauptgrund für deren Beliebtheit. Auch d’Artagnan hatte ihr schon des öfteren den Hof gemacht. Heute abend jedoch mühte die kleine blonde Gastwirtstochter sich vergeblich, den jungen Gascogner auf sich aufmerksam zu machen, indem sie ihm beim Wein einschenken einen tiefen Blick in ihren Ausschnitt gewährte. In seinem Zorn auf du Lû schien er es nicht einmal zu bemerken.
„Teufel, wenn er das nächste Mal versucht...“
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment wurde die Tür des Gasthauses zum zweiten Mal aufgerissen. Ein Gassenjunge mit feuchtem Haar, den ein eisiger schneegeschwängerter Windzug begleitete, stolperte hinein .
„Ein Mord!“ schrie er aufgeregt. „Ein Mord in Saint-Eustache!“
„Mach, dass du fortkommst!“ schallte es aus dem hinteren Teil der Gaststube. „Ein Mord in einem Gotteshaus? Du willst uns wohl zum Narren halten, Morveux!“
„Nein, ich schwöre. Seht selbst, wenn ihr’s nicht glaubt!“
Und schon war der Kleine wieder aus der Tür hinaus und man hörte, wie er die Straße entlang lief und lauthals seine Neuigkeiten verkündete. Der Tumult im Gasthaus stieg an: Stühlerücken, Gläser, die zu Bruch gingen, aufgeregtes Stimmengewirr und duzende von Gästen, die gleichzeitig den Raum durch die einzige Tür zu verlassen suchten. In wenigen Minuten war das Gasthaus zum Affenstall geworden.
Auch d’Artagnan war auf die Füße gesprungen. Athos dagegen runzelte unwillig die Stirn.
„D’Artagnan...“
„Ich weiß, was Ihr sagen wollt.“ Unterbrach ihn der Gascogner. „Es ist ganz gewiss nicht ehrenhaft einer Meute nach Blut lechzender Schaulustiger hinterher zu hetzen, ... jedoch es lenkt mich zumindest von dem Gedanken an diesen Hund du Lû ab.“
Doch in diesem Punkt sollte d’Artagnan sich gewaltig irren.
Vor dem Hauptportal der gotischen Kirche stand der Küster von Saint-Eustache mit ausgebreiteten Armen und versuchte die Menschenmasse, die sich die breite Treppe hinauf wälzte, davon abzuhalten die Kirche zu stürmen. Sein verzweifelter Gesichtsausdruck verriet jedoch, dass er nicht mehr lange würde standhalten können.
Athos bereute es bereits, dass er sich von d’Artagnan hatte mitziehen lassen. Gerade wollte er sich aus diesem lärmenden Menschenknäuel befreien, als er einer Gestalt gewahr wurde, die etwas abseits stand, in eine schwarze Kutte gehüllt, deren rechter Ärmel einen Riss aufwies – so, als habe der Fremde vor nicht allzu langer Zeit Bekanntschaft mit einem Degen oder Schwert gemacht. Er schien sie zu beobachten. Etwas an jenem Mann –vielleicht die anmutige Haltung, vielleicht die zierlich, ja, fast zerbrechlich wirkende Gestalt - kam Athos bekannt vor. Gerade wollte er d’Artagnan auf den Fremden aufmerksam machen, als die beiden von der Menge mitgerissen wurden: Der Küster hatte seinen Widerstand aufgegeben und das Hauptportal den Parisern geöffnet.
Kaum hatten die ersten Schaulustigen den Altarraum erreicht, waren Rufe des Entsetzens zu vernehmen. D’Artagnan zog Athos hinter sich her durch den Langbau. Abrupt blieben sie stehen: Hinter dem Altar befand sich ein Kruzifix. Dem sterbenden Jesu zu Füßen lag die Leiche, die man wie zum Hohn statt mit einem Leichentuch mit einer schwarzen Leinendecke bedeckt hatte. Drei Kerzen waren im Dreieck um den Kopf des Opfers angeordnet worden. Eine bittere Verspottung der Heiligen Dreifaltigkeit Gottes. Und schließlich jene Ungeheuerlichkeit, die Empörungsschreie bei den einen und stummes Entsetzen bei den andern hervorrief: Jemand hatte die Kreuzinschrift „INRI“ mit blutroten Buchstaben überschrieben, sodass der leidende Christus nun den Titel „LUCIFER“ trug ... Wer außer dem Teufel selbst, konnte es gewagt haben, solch eine makabre Tat zu vollbringen? Gotteslästerung an einem Ort, der dem Herrn geweiht war?
D’Artagnan stieß einen kleinen Schrei aus, als er den Toten erkannte.
„Der Marquis du Lû!“ Schlagartig wich das Blut aus seinem Gesicht. „Athos“ flüsterte er, „Was sagte ich vorhin, als wie den Gasthof betraten?“
„Ihr sagtet, der Teufel solle den Marquis holen.“ antwortete Athos mit belegter Stimme. Stumm wechselten die Freunde einen Blick.
„Euer Befehl scheint unverzüglich ausgeführt worden zu sein, Herr Leutnant. Meine Glückwünsche! Ihr müsst treue Untergebene haben!“
D’Artagnan und Athos fuhren herum. Der Chevalier de Rochefort! Der gerissenste Spion und ergebenste Diener Seiner Eminenz des Kardinals! Wer außer ihm hätte es fertig gebracht in einer solchen Situation eine derart zynische Bemerkung zu machen!
Als Athos dem Chevalier jedoch ins Gesicht blickte, stutzte er. Die angespannten Züge um dessen Mund nämlich und der bittere Ausdruck seiner Augen passten so ganz und garnicht zu der makaber-spöttischen Kaltblütigkeit, die aus seinen Worten sprach. Der Musketier tauschte einen Blick mit d’Artagnan. Dieser schien sich auf diese Unstimmigkeit genauso wenig wie er selbst einen Reim machen zu können.
„Weiß man, woran der Marquis gestorben ist?“ fragte der junge Musketierleutnant ohne auf Rocheforts Bemerkung einzugehen.
„Ich nehme einmal an, dass die Wunde in seiner Brust ihn dahingerafft hat.“
D’Artagnan reckte den Hals, um die Leiche über die Köpfe der Umstehenden hinweg besser erkennen zu können. Tatsächlich konnte ein sehr aufmerksamer Betrachter in Brusthöhe des Toten eine tiefschwarze Verfärbung des Tuchstoffes erkennen.
Führte der Teufel etwa einen Degen? Ein seltsames Spiel.
Der Mann in der schwarzen Kutte wartete in der Kälte vor der Kirche. Sein Gesicht war unter der weiten Kapuze nicht erkennbar. Die langen weißen Finger, die den Edelmann verrieten, tasteten nervös nach etwas, das er unter seinem Wams versteckt hielt.
Er vernahm das Hufgetrappel schon von weitem. Die Kutsche hielt einige Pferdelängen von ihm entfernt. Eine Zeitlang passierte garnichts, dann jedoch wurde der Kutschenschlag ruckartig von innen geöffnet. Der Fremde schaute sich unruhig nach allen Seiten um, ging raschen Schrittes auf das Gefährt zu und stieg ein. Einem Befehl folgend, der ihm offensichtlich im Vorhinein gegeben worden war, ließ der Kutscher die Pferde antraben.
Im Innern der Kutsche war es stockfinster und der Hinzugestiegene konnte den Herrn zu seiner linken nicht sehen. Nur ab und zu, wenn sie an einem Haus mit erleuchteten Fenstern vorbeifuhren, tauchte für einen Augenblick, wie eine Vision, die einen des Nachts heimsucht und an die man sich schon am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann, das skelettartiges Gesicht eines Mannes mittleren Alters vor dem seinem auf. Die Wangen eingefallen, die Augenhöhlen leer.
Eine Weile fuhren sie schweigend. Schließlich richtete der Ältere unvermittelt das Wort an den Edelmann.
„Mein Befehl wurde ausgeführt?“
„Man hat die Leiche bereits gefunden.“
„Und die Dame?“
„Ich habe dafür gesorgt, dass ihre Kutsche in der Nähe der Kirche gesehen wurde.“
„Gut. Alles weitere wird der Kardinal besorgen. Dessen bin ich mir gewiss. Was ist mit dem Brief, habt Ihr ihn?“
Der Edelmann griff unter seine Kutte, förderte ein Couvert zutage und überreichte es seinem Auftraggeber.
„Wie seid Ihr an ihn heran gekommen?“
„Die Tochter. Ich bin mit ihr bekannt. Sie stahl ihn aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter. “
„Wieviel weiß sie, diese Tochter?“ Die Stimme des Älteren hatte sich verschärft.
„Nichts“ antwortete der Edelmann hastig, „ Sie ist eine Frau. Sie fragt nichts, sondern vertraut mir.“
Der Ältere richtete noch einmal seine dunklen Augenhöhlen auf sein Gegenüber, dann öffnete er den Brief und drehte ihn abtastend in den Händen, als überprüfe er auf diese Weise die Authentizität des Schriftstückes. Sein Gegenüber hielt den Atem an.
„Lest ihn mir vor!“
Der Edelmann stieß erleichtert den Atem aus, nahm den Brief entgegen und las so gut er es in der Dunkelheit vermochte. Bereits nach dem ersten Absatz verzerrte eine Grimasse, die wohl ein zufriedenes Grinsen darstellen sollte, das Totenkopfgesicht des Älteren. Seine dürren Finger griffen nach dem Brief.
„Das reicht.“
Er begann das Schreiben in kleine Fetzten zu zerreißen, die er sich daraufhin in den Mund steckte, sorgfältig zerkaute und hinunterschluckte. Angewidert beobachtete der Edelmann ihn dabei und als habe der Blinde seinen Blick gespürt, sagte er:
„Ich traue dem Feuer nicht. Die Asche, die es hinterlässt, kann verräterisch sein.“ Und übergangslos fuhr er fort, „Ich hatte recht. Sie weiß zu viel. Ich will sie zerstört wissen. Ihr habt Euch bewiesen. Übernehmt Ihr den Rest des Auftrags?“
„Famulus, ich war Euch immer treu ergeben.... Wie lauten die Namen?“
Er gewahrte eine Bewegung: Famulus hatte seine Hand erhoben. Ein Lichtstrahl von draußen fiel ins Innere der Kutsche und erhellte für einen Augenblick die Handfläche. In die bleiche Haut waren zwei Namen eingeritzt. Der Edelmann las und erschauerte. Famulus, der das Entsetzen seines Getreuen zu spüren schien, jedoch nicht wissen konnte, woher es rührte, lachte leise und düster und ließ die Hand zurücksinken.
„Ein nettes Wortspiel, nicht wahr?“
Doch sein Mitverschwörer war nicht gewillt zu antworten. Starr blickte er aus dem Kutschenfenster.

Kapitel Der Verdacht des Monsieur de Tréville

Als d’Artagnan am nächsten Morgen im Vorzimmer des Hauptmann de Tréville darauf wartete zu seinem Vorgesetzten vorgelassen zu werden, hatte er du Lû bereits fast vergessen. Grund dafür war ein Brief, den er um sieben Uhr in der Frühe erhalten hatte. Ein Brief aus seiner gascognischen Heimat, in dem seine Mutter ihm von erbarmungslosen Stürmen berichtete, die den Hof im Spätsommer heimgesucht hatten. Zahlreiche Stalldächer hätten sie abgedeckt und unzählige Gatter beschädigt, ganz zu schweigen von den Missernten, die das Unwetter mit sich gebracht hatte. Zu allem Unglück hatte sich auch gerade im Herbst dieses Jahres der Vater auf einer Treibjagd ein Bein gebrochen und war nicht im Stande die Sturmschäden in Ordnung zu bringen. Um ihr ein wenig zur Hand zu gehen, bat Madame d’Artagnan ihren Sohn für einige Zeit in die Heimat zurückzukehren.
Es war gerade einmal sechs Jahre her, dass d’Artagnan den väterlichen Hof verlassen hatte. Doch tatsächlich schien ihm jener Tag Jahrzehnte entfernt, da er mit nicht viel mehr als seinem Optimismus und einer gewissen gascognischen Gerissenheit aufgebrochen war, um in Paris sein Glück zu machen. Der junge Musketier war ein Kind des Augenblicks. Er hatte gelernt dem Vergangenen nicht nachzutrauern. Ja, bisweilen merkte er gar, wie die Gesichter seiner Eltern langsam vor seinem inneren Auge verblassten.
Der Brief hatte ihm wieder in Erinnerung gerufen, dass er nicht immer in Paris gelebt hatte, dass weit im Süden seine vergessene Heimat lag . Was würde geschehen, wenn sein Vater einmal nicht mehr war? Würde man von ihm erwarten, dass er nach Castlemore zurückzukehren und den Rest seines Daseins als Gutsherr fristen würde, für den ein Jahr verlief wie das andere? Ein Leben ohne Abenteuer ? Ohne die aufregende Ungewissheit, was der nächste Tag wohl bringen würde? Ein Gedanke, der dem jungen Musketierleutnant ganz und garnicht behagte. Seine Zukunft war stets Paris gewesen, der Dienst für den König, das Leben als Soldat...
„Sangdieu! Was für eine Unverschämtheit!“
Der wütende Ausruf aus dem Arbeitszimmer des Monsieur de Tréville riss d’Artagnan aus seinen Gedanken. Er seufzte. Dies schien nicht gerade der richtige Morgen zu sein, um den Hauptmann um eine längere Beurlaubung zu bitten.
Im nächsten Moment trat der Kammerdiener aus dem Raum und hielt d’Artagnan die Tür auf.
„Monsieur, Ihr könnt eintreten.“
Der Hauptmann blickte nicht auf, als der Musketier den Raum betrat. Halb sitzend, halb stehend über seinen Arbeitstisch gebeugt, schien er in eine Ausgabe der „Gazette de France“ vertieft zu sein. In seinen Augen stand ein empörte Funkeln, von dem d’Artagnan nur hoffte, dass es nicht ihm galt.
„Herr Hauptmann?“ machte er Tréville vorsichtig auf sich aufmerksam.
„Ah, d’Artagnan! Gut, dass Ihr kommt! Lest das!“
Und in seiner fiebrigen Erregung nicht auf den Gedanken kommend, dass sein Musketierleutnant womöglich ein Anliegen haben könnte und ihm nicht aus reiner Höflichkeit einen Besuch abstattete, ging er auf d’Artagnan zu und hielt ihm die Gazette vors Gesicht.
„Frevelhafter Mord am Leutnant der Gardisten Seiner Eminenz in der Kirche von Saint-Eustache“
„Du Lû!“ stellte d’Artagnan sofort fest.
„Ihr habt also schon von dem Mord gehört?“
„Ich war dabei.“ erwiderte der Musketier und als der Hauptmann ein recht verdutztes Gesicht machte, setzte er hinzu. „...als man ihn fand.“
„Und? Was haltet Ihr davon?“
D’Artagnan zuckte die Achseln.
„Du Lû war ein aufgeblasener, arroganter, hinterhältiger und...“
„Ja, ja, schon gut. Kommt zur Sache!“ drängte Tréville ungeduldig, „Eure Meinung über den Marquis steht Euch schließlich im wahrsten Sinne des Wortes ins Gesicht geschrieben!“
„Ich wollte damit nur sagen“, verteidigte sich der d’Artagnan ein wenig gekränkt, „dass er wahrscheinlich mehr Feinde in Paris hatte als sonst irgendwer, und dass ich Euch eine ganze Liste von Männern nennen könnte, die alle mehr oder weniger nachvollziehbare Gründe gehabt hätten ihm ans Leben zu wollen.... Aber, Herr Hauptmann, sagt, weshalb regt Euch der Tod dieses Kardinalisten eigentlich dermaßen auf?“
„Oh, es ist nicht die Tat an sich, die mich zur Weißglut treibt. Hört her!“ Und er begann aus der Zeitung zu zitieren, die er noch immer in den Händen hielt. „... wurde in der Zeit zwischen elf und zwölf Uhr, als die Tat begangen worden sein muss, eine Kutsche mit dem Wappen der Marquise de Rambouillet in der Rue du Jour gesehen!“
„Teufel!“ murmelte d’Artagnan. „Die Marquise als Mörderin? Was für ein Unsinn! Schließlich fahren zwischen elf und zwölf Uhr nachts was weiß ich wie viele Kutschen die Rue du Jour entlang. Dass man ausgerechnet die ihre dort gesehen hat, ist doch noch kein Beweis, dass sie....“
„Natürlich nicht! Es wird ja auch nirgendwo behauptet, dass sie mit den Ereignissen der vergangene Nacht im Zusammenhang steht. Aber allein schon die Tatsache, dass sie in diesem Bericht erwähnt wird, rückt die Marquise in schlechtes Licht. Jeder, der diesen Satz liest, muss sie doch zwangsweise für eine Mörderin halten! Und dann diese Bemerkung, dass der Marquis vergiftet worden sei. In dem Artikel wird es gleich mehrere Male erwähnt. Vergiftet! Ein Mann tötet seine Feinde mit dem Degen, der Pistole oder dem Dolch. Gift aber ist die Mordwaffe der Frauen!“
„Vergiftet?“ wunderte sich d’Artagnan. „Aber du Lû ist nicht durch ein Gift umgekommen! Ich habe den Degenstich doch selbst gesehen! Ein sauberer Hieb!“
„Nun, der Arzt, der den Marquis untersuche, konnte Spuren von Gift in seinem Speichel nachweisen.“
„Merkwürdig!“ D’Artagnan runzelte die Stirn.
„Wie dem auch sei. Der Kardinal versucht die Marquise de Rambouillet jedenfalls ganz offensichtlich in der Presse –pardon, in seiner Presse wäre wohl richtiger - zu kompromittieren.“
„Ich verstehe!“ D’Artagnans Augen blitzten. Dies war ein Fall so ganz nach seinem Geschmack. „Seine Eminenz sieht in der Marquise eine potentielle Gefahr, die er im Vorhinein ausschalten will!“
„Nun ja, seine Befürchtungen sind nicht ganz unberechtigt.“ gab Tréville zu. „ Schließlich wird im Hôtel de Rambouillet nicht nur über Literatur philosophiert. Einige dieser gens littéraires sind garnicht so littéraires wie sie vorgeben. Ich denke da gerade an den Herzogs de Montmorency, diesen Günstling von Gaston d‘Orléans, dem Bruder des Königs. Und schließlich war die Marquise selbst einst Edelfräulein und Vertraute von Maria de Medici. Ja, ihr Salon muss ein wahres Nest für Verschwörungen und Intrigen gegen den König und Seine Eminenz sein. Dem Kardinal dürfte es eine wahre Freude sein dieses Nest zu zerstören. Und dabei erweist es sich doch wohl am klügsten, die Vogelmutter zu fangen, wenn man ihre Küken loswerden will. Gewiss wird man noch ein paar falsche Indizien finden. Vielleicht ein verräterischer Ring am Tatort, der wie durch ein Wunder plötzlich auftaucht, ein paar bestochene Zeugen. Und dann wird man gewiss noch ein paar Mittäter finden, und – welch ein Zufall! - Montmorency wird sich am Ende als Mitverschwörer der Mörderin herausstellen...“
Der Hauptmann schnaubte wütend.
„Dann hat der Kardinal womöglich diesen Mord selbst inszeniert?“ mutmaßte D’Artagnan, als er sich an das seltsame Verhalten erinnerte, das ihm an dessen Vertrauten Rochefort in der Kirche aufgefallen war.
„...und dafür seinen Gardeleutnant geopfert? Soviel dürfte ihm die Marquise nun auch wieder nicht wert sein. Im übrigen hätte er sich dann diese makabere Episode mit der Kreuzinschrift sparen können: Lucifer! Ein simpler Mord hätte es wohl auch getan. Sagen wir lieber: Richelieu versucht wie so oft aus einer Angelegenheit, die ihm zu Schaden gereicht, das beste zu machen und geht dabei über Leichen.“
„Und wer kommt dann als Täter in Frage?“
Tréville zuckte mit den Schultern und legte die Zeitung auf seine Arbeitstisch zurück.
„Eine gute Frage! Ich wollte, ich könnte ein paar Nachforschungen anstellen, um sie zu beantworten. Doch ich bin im Moment... nun ja, sagen wir, ich sehe im Moment gewisse Schwierigkeiten darin, mich selbst für die Marquise einzusetzen.“
D’Artagnan öffnete den Mund, um zu fragen, wie diese Aussage zu verstehen sei, doch ein drohender Blick seines Hauptmanns ließ ihn seine Frage hinunterschlucken. Zudem erinnerte er sich in diesem Augenblick an die spöttische Bemerkung eines Musketiers unter seinem Befehl, der gefragt hatte, ob der Hauptmann auf seine alten Tage wohl sentimental werde und unter die Dichter gegangen sei, oder weshalb er des abends in letzter Zeit so häufig im Hôtel de Rambouillet anzutreffen sei. Madame de Tréville schien die plötzliche Literaturversessenheit ihres Mannes ebensowenig geheuer gewesen zu sein; jedenfalls kursierten seit einiger Zeit Gerüchte, dass es wegen dessen Besuchen bei der Marquise zu gewissen Spannungen zwischen den Eheleuten gekommen sei...
„Eigentlich“ ergriff Tréville wieder das Wort, um d’Artagnan keine Zeit zu lassen den Gedanken zu Ende zu spinnen, „hatte ich gehofft, Ihr könntet an meiner statt ein wenig auf die Jagd nach dem Mörder von Saint-Eustache gehen, d’Artagnan: Bedenkt, es geht um die Ehre einer Dame!“
D’Artagnan seufzte. Er wäre wohl nicht er selbst gewesen, hätte er den Auftrag nicht angenommen. Jedoch würde seine arme Mutter noch eine Weile auf die Hilfe des Sohnes verzichten müssen, der lieber in der Fremde Mördern seiner Feinde hinterherjagte, als in der Heimat alte Freunde zu besuchen.
Nun ja, vielleicht war es gerade das paradoxe am Leben, das es lebenswert machte.
„Wo soll ich anfangen?“

Kapitel Das Hôtel de Rambouillet

Ungeduldig trat d’Artagnan von einem Fuß auf den anderen, um zu verhindern, dass sie vor Kälte steif wurden. Selten war das Wetter zwischen den Jahren so unfreundlich und regnerisch gewesen, wie in diesem Jahr.
Eine Stunde lang hatten sie das Haus auf der anderen Straßenseite nun schon beobachtet. Nichts tat sich.
D’Artagnan beobachtete Athos neben ihm. Mit gerunzelter Stirn blickte dieser über die Straße, sagte jedoch nichts. Der Freund verstand ihn dennoch.
„Ich halte von dieser Beschattung ebensowenig wie Ihr, Athos“ murmelte d‘Artagnan: „Doch Rochefort ist nun einmal der einzige Anhaltspunkt, den wir bis jetzt haben. Weiß der Teufel was er zu verbergen hat, dieser alte Fuchs, aber sein Gesicht gestern nacht, das hat mir zu denken gegeben, Euch etwa nicht? Er weiß etwas, darauf verwette ich meine...“
In diesem Moment stieß Athos ihn an und wies auf die gegenüberliegende Seite der Gasse. Ein Edelmann trat aus der Haustür. Ein auffälliges und elegantes Federgesteck zierte seinen Hut. Anmutig hob sich die Gestalt des Chevaliers vom Nachthimmel ab.
„Sieh an, zu so später Stunde stattet er noch Besuche ab?“ D‘Artagnan verständigte sich durch eine vielsagende Kopfbewegung mit Athos und die beiden folgten Rochefort. Die Dunkelheit und die Nebelschwaden, die durch die Straßen zogen, boten ihnen Schutz. So überquerten der Chevalier und seine beiden Verfolger den Pont Neuf, auf dem an diesem Samstagabend reger Betrieb herrschte, und wandten sich dann in Richtung Louvre. Schließlich tauchte ein prächtiger Palais im Renaissancestil vor ihnen auf. Mehrere Kutschen standen vor dem Tor, auf das Rochefort geradewegs zusteuerte. D’Artagnan und Athos blieben überrascht stehen.
„Das Hôtel de Rambouillet!“ Es war das erste, was Athos an diesem Abend gesprochen hatte
„Teufel, was will er hier?“ D’Artagnan zupfte sich am Schnurrbart, wie er es stets tat, wenn ihn eine Frage besonders beschäftigte. „Wenn Rochefort ein Dichter ist, dann bin ich Priester!“
„Lasst mich allein hineingehen.“ schlug Athos vor: „Zusammen sind wir so auffällig, dass der Chevalier uns zweifellos sofort erkennen wird.“
D’Artagnan erschien die Aussicht auf die Warterei vor dem Palais in dieser nasskalten Nacht nicht gerade verlockend. Doch er sah ein, dass Athos recht hatte. Zudem war er selbst wohl kaum der richtige Mann für eine Mission in einem Salon littéraire. Er, der, wenn er danach gefragt würde, womöglich die Pléiade zu einer spätmittelalterlichen Verbrecherbande erklären würde.
So nickte er also seufzend.
Die hohe Decke und die beiden kunstvoll gestalteten Deckenkronleuchter ließen den Saal größer wirken als er eigentlich war. Komplizierte Boiserien, die goldenes Laub darstellten, verzierten die mit blauem Damast drapierten Wände. Die Einrichtung – elegant, jedoch ungewöhnlich schlicht für die Zeit- bestand aus einigen wenigen samtbezogenen Polstersesseln. Mindestens ein duzend gut gekleideter Damen und Herren standen in kleineren Grüppchen beisammen. Einige mit geröteten Gesichtern, wild gestikulierend, andere mit eher besonnenen Mienen und anmutiger, beherrschter Körpersprache.
Catherine de Vivonne, die Marquise de Rambouillet, beobachtete mit leicht schräg gelegtem Kopf und jenem geheimnisvollen Lächeln, das sie sich aus ihrer Jugendzeit bewahrt hatte, ihre Gäste. Selbst noch unentdeckt von der Gesellschaft, die sich in ihrem Salon eingefunden hatte, stieg die Gastgeberin anmutig und langsam die Treppe in den Saal hinab. Gedichtausschnitte, Gesprächsfetzen, höflich-galantes Lachen drangen flüchtig an ihr Ohr. Wie viele Menschen waren es gewesen, die sie in diesem Saal schon empfangen hatte, die hier geredet, gedichtet, gelacht, geschwiegen hatten? Wie viele würden es noch werden? Menschen, die, so unterschiedlich ihre Ansichten auch sein mochten, durch ein geheimnisvolles Band miteinander verknüpft waren: Jene seltsame Leidenschaft, die Poesie genannt wurde, Dichtkunst oder Lyrik. Die Kunst das Wort zu einem Geschenk Gottes zu machen. Sie, Catherine, hatte ihren kleinen Teil dazu beigetragen, dass sie jenes Geschenk als Geschenk erkannten. Ein Gedanke, der sie an Tagen, da ihr Herz leichter war, glücklich zu machen vermochte...
„...Mais depuis que notre jeunesse
Quitte la place à la vieillesse,
Le temps ne la ramène plus....“
Der Seigneur de Racan - um den sich die größte Gruppe geschart hatte – hatte die Stimme erhoben, um dem Höhepunkt seines Vortrags den gewünschten dramatischen Klang zu geben. Doch es waren nicht seine Worte, die die Marquise so plötzlich aus ihren Gedanken gerissen hatten. Nein, was sie in der Bewegung innehalten ließ, war vielmehr der stechende Blick jenes Edelmanns, der sich unter den Zuhörern des Dichters befand und sie so unverwandt anblickte. Offensichtlich hatte er schon eine Weile versucht Madame de Rambouillet auf sich aufmerksam zu machen, ohne dass sie ihn bemerkt hätte. Woher nur waren ihr diese seltsam scharfen Augen und das bleiche Gesicht mit dem sarkastischen Zug um den Mund bekannt?
Ohne davon abzulassen die Marquise mit seinem durchdringenden Blick gefangenzuhalten, unterbrach der Fremde den Vortrag des Seigneur de Racan, um die angefangene Ode an dessen statt weiter vorzutragen.
„...Les lois de la mort sont fatales
Aussi bien aux maisons royales
Qu’aux taudis couverts de roseaux...“
„Ihr kennt das Gedicht bereits?“ bemerkte der Seigneur in säuerlichem Tonfall – erzürnt darüber ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner Ode von diesem ungehobelten Laien unterbrochen worden zu sein. Die Marquise jedoch war bei den Worten des Fremden zusammengezuckt, als habe der Teufel persönlich zu ihr gesprochen.
Les lois de la mort sont fatales.
Ein Schauer durchfuhr sie. So emotionslos diese wenigen Zeilen auch vorgetragen worden waren, so aussagekräftig waren sie doch gerade durch diese Nüchternheit. Woher nur kam ihr dieser Edelmann bekannt vor? Endlich erkannte sie, wen sie vor sich hatte. Rochefort! Der Spitzel des Kardinals! Es bestand also kein Zweifel, dass dies eine Anspielung auf den Bericht des Propagandablatts des Kardinals war. Jener Bericht, der sie in Zusammenhang brachte mit dem frevelhaften Mord am Gardeleutnant Seiner Eminenz.
Sein Plan funktioniert! Man hält mich für die Mörderin!
Doch weshalb versuchte Rochefort sie zu warnen? Weshalb stellte sich der Stallmeister des Kardinals gegen seinen Herrn? Oder war er womöglich bereits mit dem Auftrag hierher gekommen sie festzunehmen? Man durfte sie jetzt nicht verhaften! Noch nicht! Sonst war alles verloren. Jérémies Mörder würde unentdeckt bleiben, seine Verbrechen ungesühnt und an seiner Statt würde sie, die Marquise de Rambouillet,....
Eine Hexe. Mit Luzifer im Bunde.
Man würde sie verbrennen. Sie spürte, wie das Blut aus ihrem Gesicht wich. Schwankend griff sie nach dem Treppengeländer.
Du darfst nicht daran denken! Du hast gewusst, worauf du dich einlässt! Du hast gewusst, dass es gefährlich werden würde!
In diesem Moment wurden die Dichter und Edelleute im Salon, die den Blicken jenes eigenartigen fremden Edelmanns mit den Augen gefolgt waren, auf ihre Gastgeberin aufmerksam. Ein Raunen ging durch den Saal und im nächsten Moment war die Marquise von einer Menschentraube umringt. Noch immer wie betäubt ließ sie die mehr oder minder originellen Komplimente, mit denen man sie überhäufte, über sich ergehen, während ihre Augen den Chevalier suchten. Jedoch ohne Erfolg. Er war in der Menge verschwunden.
„Maman, Maman!“ drang plötzlich die Stimme ihrer Tochter an ihr Ohr. Julie, das hübsche Gesicht mit den großen klugen Augen und dem sinnlichen Mund gerötet, umfasste aufgeregt das Handgelenk ihrer Mutter „Ihr müsst das neue Sonett des Duc de Montausier hören. Er hat es mir gewidmet.“ Zerstreut warf die Marquise einen Blick auf den neusten Verehrer ihrer Tochter, der sich aus Verlegenheit halb hinter dieser versteckte. Monsieur de Montausier war nicht der erste und er würde gewiss nicht der letze sein, der ihre Tochter mit Liebesgedichten überhäufte.
Erst jetzt schien Julie die ungewöhnliche Blässe ihrer Mutter aufzufallen. „Aber Maman, ist Euch nicht wohl? Mon Dieu, Ihr seid weiß wie die Wand! Ihr solltet Euch hinlegen.“ Eigenartig betont fügte sie noch hinzu: „ Verabschiedet Euch von Euren Gästen... Es ist allerhöchste Zeit.“ Einen Augenblick sahen Mutter und Tochter sich an und ein verschwörerisches Band schien zwischen ihnen zu sein. Dann nickte die Marquise fast unmerklich und wandte sich zu ihren Gästen um.
„Mesdames, Messieurs, ich bedaure Ihnen sagen zu müssen, dass ich mich heute Abend nicht wohl fühle und würde sie bitten mein Haus zu verlassen und ein andermal wiederzukommen.“
Ohne auf die verwunderten Rufe und die höflichen Fragen, ob man einen Arzt rufen solle, einzugehen, wandte die Marquise sich wieder zur Treppe.
„Madame, vergebt mir, Euch erschreckt zu haben.“ Catherine fuhr zusammen, als der Chevalier de Rochefort plötzlich neben ihr stand. Ohne sie anzublicken, die Augen auf einen Punkt an der Wandtäfelung geheftet, sprach er leise und hastig.
„Ich muss Euch warnen. Ihr spielt ein gefährliches Spiel. Es könnte tödliche Folgen für Euch haben“
Mon Dieu, was weiß dieser Elende? Oh, Jérémie, Ihr habt mich gewarnt! Ich hätte den Brief verbrennen sollen...
Les lois de la mort sont fatales.
Die Marquise schluckte heftig, verbarg jedoch den Tumult, der in ihrem Innern tobte, hinter einer Maske der Teilnahmslosigkeit.
„Monsieur, ich kenne Euren Namen nicht, noch weiß ich, wovon Ihr sprecht. Wenn dies ein Scherz sein soll, so ist es kein besonders geistreicher. Wenn Ihr mich nun entschuldigt...“
Etwas zu hastig stieg die Marquise die Treppe hinauf. Die Miene des Chevaliers blieb unbewegt.
Das kleine Gespräch war von den Gästen, die bereits im Begriff waren aufzubrechen, unbemerkt geblieben. Nur ein einziger Edelmann, der sich die Vorträge der Dichter und Philosophen angehört hatte, ohne selbst ein Wort zu sprechen, hatte die wenigen Worte Rocheforts vernommen: Ein Edelmann, der genauso wenig wie der Chevalier ein häufiger Besucher des Hôtel de Rambouillet war...

Kapitel Von geprellten Rippen und dicken Beulen

D’Artagnan war - um nicht zum Eiszapfen zu erstarren - ein wenig zwischen den Kutschen der Salonbesucher umhergewandert, die vor dem Tor standen. Vor einem Gefährt, das dort, mit eingespannten Pferden und wartendem Kutscher, bereitstand, blieb er erstaunt stehen. Täuschte er sich oder zeigte die Verzierung am Kutschenschlag tatsächlich das Wappen der Marquise de Rambouillet? Wohin mochte die Gastgeberin wohl zu so später Stunde noch fahren wollen – ganz zu schweigen davon, dass sie schließlich Besuch hatte, der bestimmt nicht vor zwölf Uhr nachts den Salon verlassen würde. War die gute Marquise womöglich garnicht so unschuldig, wie Tréville angenommen hatte? Auch wenn d’Artagnan, der noch keinen Menschen schlecht hatte reden hören über die berühmte Salonière, sie gewiss nicht für eine Mörderin hielt, so gehörte es sich für eine anständige Pariserin doch nicht mitten in der Nacht noch Kutschenfahrten zu unternehmen...
Im Grunde genommen hasste d’Artagnan Schnüffeleien jeglicher Art. Sie passten nicht in sein Bild eines Mannes von Adel und Ehre, der sich einem Gegner stellte, anstatt ihm heimlich nachzuspionieren. Andererseits hatte seine Neugierde bisher noch immer über seine Moral gesiegt und zudem war der Moment einfach zu günstig, als dass es ihn nicht geärgert hätte ihn ungenutzt verstreichen zu lassen. Kein Mensch war zu sehen und der Kutscher schien – in mehrere Decken gehüllt- auf dem Kutschbock eingeschlafen zu sein. Kurzentschlossen öffnete d’Artagnan den Kutschenschlag und schlüpfte hinein. Das Innere des Gefährts war ungewöhnlich geräumig, mit zwei Sitzbänken auf jeder Wagenseite, die mit weichen wärmenden Decken ausgestattet waren. D’Artagnan wusste nicht, wonach er eigentlich suchte, als er begann das Wageninnere zu inspizierten. Entsprechend erstaunt war er daher, als er einen äußerst interessanten Fund machte. Bereits unter der ersten Decke, die er anhob, nämlich, fand er ein kleines Schmuckkästchen, wie Frauen es wohl für alle möglichen Zwecke gebrauchten. Dass sie jedoch kleine Ampullen mit roter Flüssigkeit (und bei dieser handelte es sich gewiss nicht um Parfum!), darin aufbewahrten, war d’Artagnan neu. Und war nicht in dem Bericht des Kardinals die Rede davon gewesen, du Lû sei vergiftet worden?
Teufel, bin ich nicht hierher gekommen, um die Unschuld der Marquise zu beweisen? Verflucht, sie macht mir diese Aufgabe ja nicht gerade leicht!
Noch während D’Artagnan die Fläschchen in seiner Hand betrachtete, drangen plötzlich Schritte und Stimmengewirr von draußen an sein Ohr. Vorsichtig hob er den Vorhang vor einem der Kutschenfenster an und spähte hinaus.
Verdammt, die Gesellschaft bricht schon auf? Um elf Uhr?
Hastig versteckte er eines der Fläschchen unter seinem Wams und schob die Schachtel mit den übrigen unter die Decke zurück. Nach einer Weile wurde es wieder still. Die Gäste waren fortgefahren. Gerade war der Musketier im Begriff die Kutsche zu verlassen, als er erneut schnelle Schritte vernahm
„Wir sind spät dran. Es wird nicht leicht sein die Duchesse zu überlisten.“ vernahm d’Artagnan eine nervös flüsternde männliche Stimme, die ihn aufhorchen ließ.
„Euch wird gewiss etwas einfallen...“ erwiderte eine helle Frauenstimme ebenso leise. Dann rief sie etwas lauter: „Allez, Bonnet! Wach auf! Rue des Quatre Fils, Nr. 17.“ Vernahm d‘Artagnan eine helle Frauenstimme und stellte mit Entsetzen fest, dass die Aufforderung nur an den Kutscher „seiner“ Kutsche gerichtet sein konnte und dass ihm keine Zeit bleiben würde ungesehen zu verschwinden. In seiner Not legte sich der Musketier der Länge nach auf eine der beiden Sitzbänke der Kutsche, breitete die Wolldecke über sich aus und betete inständig, dass die Dame und der Herr, die kurz darauf einstiegen, sich auf der gegenüberliegenden niederlassen würde.
Offensichtlich wurden seine Gebete erhört. Und so begann für den jungen Gascogner die wohl seltsamste Kutschenfahrt, die er jemals erleben sollte.
Immer wieder spähte d’Artagnan unter der Decke hervor und versuchte einen Blick auf seine beiden Gegenüber zu werfen. Vergeblich. Seine Lage, sosehr er auch den Kopf verdrehte, ließ ihn nicht mehr erkennen als die engen zierlichen Schuhe, die die Dame trug, sowie die Lederstiefel ihres Gefährten. Sie schwiegen beide.
Nach einer – wie es dem Musketier erschien – unendlich langen Fahrt durch die holprigen Straßen von Paris hielt die Kutsche schließlich an. Der Herr öffnete den Kutschenschlag und sprang hinaus. Ungeduldig wartete d‘Artagnan darauf, dass auch die Dame aussteigen würde, damit er sich aus seiner unbequemen Lage befreien konnte, doch sie hatte offensichtlich nicht die Absicht das Gefährt zu verlassen. Lange Zeit geschah nichts. Dann – es war in etwa eine Dreiviertelstunde vergangen - vernahm d’Artagnan ein Geräusch, als schleife jemand etwas über die Straße auf die Kutsche zu, wobei dieses Etwas recht schwer sein musste, da die Schleifgeräusche von Zeit zu Zeit von heftigem Stöhnen unterbrochen wurden. Die Dame in der Kutsche ließ ein leises belustigtes Lachen vernehmen.
„Oh, mon pauvre amant, was müht Ihr Euch ab! Wartet, ich helfe euch!“
Und mit jugendlichen Eifer sprang sie auf und machte sich daran, dem Stöhnenden dabei behilflich zu sein seine Last in die Kutsche zu hieven.
Im nächsten Moment hätte d’Artagnan beinahe laut aufgestöhnt und sich damit verraten, wovor ihn nur ein Biss in die eigene Faust rettete. Tatsächlich bekam er nun die Last (es handelte sich um einen Gegenstand, der trotz seines enormen Gewichts erstaunlich weich war) die den Liebenden soviel Mühsal bereitet hatte, am eigenen Leibe zu spüren: Die beiden hatten die glorreiche Idee gehabt, sie e auf „seinem“ Sitz zu deponieren.
Die Kutsche fuhr an.
„Nun, ma fleur, das wäre geschafft.“
D’Artagnan zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb ihm die Stimme des Mannes so bekannt vorkam. Wenn sie nur durch das Geräusch der Wagenräder und das Hufgetrappel der Pferde nicht so undeutlich an sein Ohr gedrungen wäre! Und wer war ma fleur? Nun, wenn es sich dabei tatsächlich um die Marquise handeln sollte, dann... Ein Schlagloch! Etwas schien d’Artagnans Brust zu zerquetschen. Die Anstrengung, die es ihn kostete nicht aufzuschreien, trieb ihm die Tränen in die Augen. Dass er es überhaupt fertig brachte, lag wohl nur daran, dass er die Vorstellung mit ein oder zwei gebrochenen Rippen nach Hause zu kommen nicht annähernd so entehrend fand, wie es ihm erschien, wie ein Fuchs, den man beim Gänsestehlen erwischt hatte, den beiden Insassen der Kutsche vor die Füße zu fallen.
Zum Teufel mit mir und meiner Neugierde! Athos wäre soetwas nie passiert!
Endlich hielt die Kutsche ein zweites Mal an. Schweigend hievten die Blume und ihr armer Geliebter die Last aus der Kutsche. Langsam entfernten sich ihre Schritte. Einige Minuten lang blieb d’Artagnan bewegungslos auf seinem Platz liegen; erstens, um sicherzugehen, dass die beiden sich weit genug entfernten und zweitens, weil er sich ohnehin nicht in der Lage fühlte aufzustehen. Als er es dann doch versuchte, kam er mehr unter der Decke hervor gefallen als gekrochen. Es gab einen dumpfen Schlag und im nächsten Moment registrierte der Musketier mit Schrecken wie der Kutschenschlag von außen geöffnet wurde. Der Kutscher! Sollte er etwa all die Strapazen über sich ergehen lassen haben, um im letzten Moment doch noch entdeckt zu werden? Dieu, war das vielleicht Gerechtigkeit!?
Jeder andere Kutscher wäre beim Anblick dieses Wilden mit der blutigen Schramme im Gesicht und dem zerzaustem Haar, der dort wie ein Betrunkener auf dem Boden lag, vor Schreck entweder erstarrt oder davongelaufen. Bonnet jedoch tat nichts dergleichen: Er begann bedächtig ins Innere der Kutsche zu steigen und vorsichtig die Sitze abzutasten.
„ Ma maîtresse! Ist Euch etwas geschehen?“
D’Artagnan starrte ihn verblüfft an. Dann endlich begriff er. Der Kutscher war blind! Er hatte ein Geräusch aus dem Innern der Kutsche gehört und glaubte nun, seine Herrin befinde sich noch dort und sei gestolpert. Ein blinder Kutscher? Nun ja, schließlich musste nicht er den Weg durch die Stadt finden, sondern die Pferde. Im übrigen mochte es sich gewiss als hilfreich erweisen, einen Blinden als Wagenlenker zu beschäftigten, wenn man Dinge – Dinge? – darin zu transportieren pflegte, die niemand sehen sollte...
Vorsichtig rollte d’Artagnan sich so zusammen, dass Bonnet nicht über ihn stolperte. Als dieser seine Herrin nicht in der Kutsche fand, zuckte er ein wenig verwirrt mit den Schultern und kletterte wieder auf seinen Kutschbock. Hastig stand d’Artagnan vom Boden auf und verließ die Kutsche ohne sich erneut durch ein Geräusch zu verraten.
Als der Musketier erkannte, wo er sich befand, riss er erstaunt die Augen auf. Die Kirche von Saint-Eustache! Eine böse Vorahnung beschlich ihn, als er die Treppe hinauf hechtete. Das Hauptportal war nicht verschlossen. Vorsichtig schlich er sich von Pfeiler zu Pfeiler durch den Langbau. Undeutlich konnte er zwei Gestalten erkennen, die sich im hinteren Teil des Altarraums zu schaffen machten. Ein kleiner, etwas rundlicher Mann in einem langen Gewand stand mit drei Kerzen in der Hand neben ihnen. Um den Hals trug er ein Messingkreuz. Das Metall reflektierte das Mondlicht. Zwar konnte d’Artagnan sein Gesicht nicht erkennen, doch war er sich sicher, dass es sich bei diesem Mann um den Küster von Saint-Eustache handelte.
So also waren die beiden nächtlichen Kutschenfahrer in die Kirche gelangt! Der Küster der Kirche war ihr Verbündeter und hatte sie eingelassen!
Plötzlich schien der Mond, der hinter der Wolke hervorkam, hinter der er sich den ganzen Abend lang versteckt hatte, voll und rund gerade in dem Augenblick durch das bunte Fensterglas, als d’Artagnan von einem zum nächsten Pfeiler huschte: Sein Schatten, wie ein langer verräterischer Zeigefinger, machte die drei auf den Verfolger aufmerksam. D’Artagnan vernahm einen Fluch und sah, wie die Dame und der Herr etwas großes langes vom Boden aufhoben und damit so schnell es ihnen möglich war auf den linken Seitenausgang der Kirche zuliefen, die der Küster ihnen hastig aufschloss.
Kaum waren sie mit ihrer Last aus der Kirche hinaus, hatte der Musketier sie bereits eingeholt. Der Edelmann stellte sich ihm mit gezücktem Degen in den Weg.
„Wie? Um zwölf Uhr nachts noch in die Kirche, Monsieur?“ d’Artagnan zog ebenfalls seinen Degen. „Nun, man kann es auch übertreiben mit der Frömmigkeit, meint Ihr nicht!“
Ein metallenes Klirren erklang, als ihre Klingen sich kreuzten. Derweil zog die Dame ihre Last in Richtung der Kutsche und rief nach Bonnet, der diese bereit halten sollte.
Die Nacht und die dunkle Kutte des Fremden verbargen dessen Gesicht. Er führte die Klinge geschickt, kraftvoll und zugleich grazil. Irgendwo hatte d’Artagnan diese Art zu fechten schon einmal gesehen. Er spürte, dass er hier einem würdigen Feind gegenüberstand, wusste jedoch ebenso sicher, dass er über kurz oder lang die Oberhand gewinnen würde. Dennoch hütete er sich davor, dem anderen zu viel von seinem Können preiszugeben. Dieser sollte das Gefühl bekommen seinem Gegner überlegen zu sein. Die Sicherheit das Duell zu gewinnen würde ihn davon abhalten zur Kutsche hinüber zu laufen. Doch schien der Fremde den Musketier zu durchschauen. Seine Angriffe kamen zögernder als zuvor, fast so als wundere er sich darüber, dass sein Gegner sich nicht geschickter verteidigte.
Er kennt mich! Er erkennt meine Fechtkunst!
Tatsächlich erreichte d’Artagnan mit seiner Taktik das Gegenteil dessen, was er bezweckte: Plötzlich tat sein Gegner einen großen Schritt nach hinten. Gleichzeitig rollte die Kutsche an. Nach zwei weiteren Schritten rückwärts hatte der Fremde den Kutschenschlag erreicht, der ihm von innen her geöffnet wurde. Im nächsten Augenblick rollte die Kutsche – für den Musketier unerreichbar - die Rue du Jour entlang.
Fluchend kehrte d’Artagnan zurück in die Kirche.
Er kennt mich!
Doch war er hier tatsächlich den beiden Mördern des Marquis auf die Schliche gekommen? Was könnten ihre Motive gewesen sein? Waren sie Anhänger eines Irrglaubens, einer Gruppe Satansverehrer, oder steckte mehr hinter diesen Morden? Und warum waren die Täter – wenn sie es denn gewesen waren - an den Tatort zurückgekehrt?
Zumindest die Antwort auf die letzte Frage erhielt d’Artagnan kaum dass er hinter den Altar getreten war. Die Leiche des Gardeleutnants, die man unter dem Kruzifix hatte liegen lassen – sie hätte erst am nächsten Morgen ins Leichenschauhaus überführt werden sollen – war verschwunden. An ihrer statt erblickte der Musketierleutnant schaudernd eine zweite Leiche: Der Mond beschien das bleiche schwammige Gesicht einer Dame mittleren Alters. Ihr korpulenter Körper war wie zuvor der des Marquis mit einem schwarzen Tuch bedeckt worden. Auch die Kerzen fehlten nicht und die weit geöffneten Augen des Opfers starrten unverwandt in Richtung der Kreuzinschrift: LUCIFER. D’Artagnan war das Opfer nicht unbekannt: Die Witwe des verstorbenen Duc du Val de Cy, einstmals Ehrenfräulein bei Maria von Medici, war bei Hofe für ihre Geschwätzigkeit berühmt-berüchtigt gewesen.
Mon Dieu, diese Frau war ein Koloss! Und wenn mich nicht alles täuscht war sie es, die mich auf dieser Kutschfahrt durch halb Paris fast erdrückt hätte! Wenn man bedenkt, dass ein Toter zweimal so schwer wiegt wie ein Lebender – meine armen Rippen – dann...
D’Artagnan schüttelte den Kopf über sich selbst .Wie konnte er nur zu allererst an seine armen Rippen denken?
Es war zum Verrücktwerden! Er war auf dem besten Weg gewesen diese düstere Mordserie aufzuklären. Er war mit den Tätern in ein und der selben Kutsche gefahren. Er hatte mit einem der beiden ein Duell ausgefochten... und noch immer kannte er nicht die Gesichter derer, die er jagte.
Plötzlich fiel sein Blick auf etwas, das die Dame aus der Kutsche womöglich in der Eile verloren hatte. Ein Taschentuch. D’Artagnan hob es auf und stöhnte leise auf: In der oberen Ecke des Seidentuches erkannte er das gestickte Wappen der Marquise de Rambouillet. Ausgerechnet diejenige, deren Unschuld er beweisen sollte, lieferte ihm nun schon den zweiten Beweis für ihre Schuld!
Plötzlich vernahm d’Artagnan das Geräusch hastiger Schritten hinter sich. Der Küster! Er hatte ihn völlig vergessen! Während des Gefechts hatte der Musketier ihn aus den Augen verloren. Erst jetzt wurde ihm blitzartig bewusst, dass er den Helfershelfer der beiden Mörder nicht in die Kutsche hatte einsteigen sehen.
Ruckartig wirbelte d’Artagnan herum. Im gleichen Moment nahm er wahr, wie ein großer rechteckiger Gegenstand –die Bibel?- auf seinen Kopf niedersauste. Ein dumpfer Schlag.
D‘Artagnans letzter Gedanke war, dass auf seinem Gesicht – schon durch du Lûs Degen und das Körpergewicht der Duchesse verunstaltet - nun auch noch bald eine schöne dicke Beule zu bewundern sein würde. Dann verlor er das Bewusstsein.

Kapitel Die Diplomatie des Kardinals

Über einen Stapel Papiere gebeugt, hatte Seine Eminenz der Kardinal de Richelieu seinen Kopf auf beide Hände aufgestützt. Es war acht Uhr in der Frühe und er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet. Ob der fehlende Schlaf oder die Mitteilung, die er gerade durchging, der Grund für die Kopfschmerzen seines Herrn waren, konnte Rochefort nicht sagen. Gekrümmt und übermüdet wie er dort saß, hätte jemand, der den Kardinal nicht so lange kannte wie er selbst, in dieser mitleiderregenden Kreatur wohl kaum den mächtigsten Mann Frankreichs vermutet. Rochefort jedoch hatte die Erfahrung gemacht, dass gerade die scheinbare Verletzbarkeit, mit der Seine Eminenz seine Gegner zu täuschten vermochte, ihn stark gemacht hatte.
Rochefort war kein Mensch, der sich von Gefühlen leiten ließ. Der Kardinal war sein Dienstherr, nichts weiter: ein kluger Stratege und ein weitsichtiger Staatsmann, ebenso wie ein erbarmungsloser Richter und machthungriger Befehlshaber. Und doch empfand der Chevalier dann und wann etwas wie Bewunderung für diesen Menschen, der mit einem einzigen kühlen Blick, der gerade durch seine nichtssagende Art an Aussagekraft gewann, seine Überlegenheit auszudrücken vermochte.
Als Seine Eminenz sich schließlich dazu herabließ zu Rochefort aufzublicken, nachdem dieser eine Viertelstunde lang reglos vor dessen Arbeitstisch verharrt hatte, war es eben jener Blick, der den des Chevaliers traf. Wortlos überreichte der Kardinal seinem Stallmeister ein Schreiben.
„Was ist das?“
„Ein Haftbefehl.“
Rochefort überflog das Papier. „Die Marquise de Rambouillet?“
„Ich weiß, Verhaftungen sind für gewöhnlich Sache des Leutnants meiner Gardisten.“ Ironisch zog der Kardinal die Mundwinkel herab, „Da mir dieser jedoch seit letzter Nacht abhanden gekommen ist, müsst Ihr Euch um diese Angelegenheit kümmern, Rochefort.“ Und indem er sich erhob und ans Fenster trat fuhr er fort: „Es hat einen neuen Mordfall in Saint-Eustache gegeben. Die Duchesse du Val de Cy. Der Küster fand sie heute Morgen. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um den gleichen Täter wie bei du Lû handelt. Es muss ein Schuldiger gefunden werden, bevor diese Sache an die große Glocke gehängt wird. Das Volk glaubt an eine Teufelsverschwörung, einen Hexenzirkel. Wir wollen es in diesem Glauben lassen. Sorgt also dafür, dass außer der Marquise noch ein paar Mittäter verhaftet werden. Und kümmert Euch darum, dass sich unter den Ketzern Montmorency, Voiture und alle anderen Anhänger Gastons d‘Orléans befinden. Wie ihr die Beweise für ihre Schuld beschafft, das überlasse ich Eurem Erfindungsreichtum. Bringt hier im Kardinalspalais unter. Ich habe bereits dafür gesorgt, dass sich die Heilige Inquisition dem Fall annimmt. Morgen werden zwei Mönche mit dem Verhör beginnen. “
Rochefort zeigte keine Gefühlsregung, doch den scharfen Augen des Kardinals entging nicht die leichte Stirnfalte, die sich zwischen seinen Augen bildete. Die Marquise des Mordes zu bezichtigen und unschuldig einsperren zu lassen, weil man sie aus politischen Gründen aus dem Weg schaffen wollte, war eine Ungerechtigkeit, nun gut. C’est la vie. Sie jedoch als Hexe vor ein Inquisitorengericht zu stellen, kam einem Verbrechen gleich: Inquisitoren waren nicht gerade dafür bekannt sonderlich sensibel zu sein, wenn es darum ging ein Geständnis zu erpressen. Und wer erst einmal gestanden hatte mit dem Teufel im Bunde zu sein, der landete in aller Regel auf dem Scheiterhaufen...
„Verzeiht, Monseigneur, aber...“ Rochefort zögerte. „Würde es nicht ebenso die Sicherheit des Königs und Eurer Eminenz gewährleisten, wenn man sich damit begnügte die Genannten vor ein weltliches Gericht zu stellen?“
Richelieu sah seinen Stallmeister an, als überlege er, ob er es seinem Ehrgefühl zumuten könne, auf eine solch einfältige Frage eine Antwort zu geben.
„Rochefort,“ ließ er sich schließlich zu einer Erwiderung herab, „Hier geht es nicht um meine Sicherheit und auch nicht um die des Königs. Es geht um die Erhaltung des Systems. Wenn das Volk miterlebt, wie in aller Öffentlichkeit zwei mysteriöse Mordfälle im Namen des Teufels begangen werden ohne dass es dem König, der seine Herrschaft auf seine Berufung durch Gott stützt, möglich ist einen Schuldigen festzunehmen und angemessen zu bestrafen, so wird es anfangen an beiden, an seinem König und an seinem Gott, zu zweifeln. Zweifel jedoch ist der gefährlichste Gegner der Herrschenden in einer Zeit, in der der Mensch aufhört zu glauben und anfängt zu denken. Ja, in einer Zeit, in der die Erde beginnt sich zu bewegen und mit ihr das Denkvermögen des gemeinen Volkes, sollten wir dem Zweifel nicht noch zusätzlich Raum geben sich auszubreiten!“
„Nun Monseigneur,“ wagte Rochefort mit undurchdringlicher Miene zu bedenken zu geben, „Macht sich der König, wenn die Lucifer-Mordserie fortgeführt wird, nachdem er die angeblich Schuldige vernichtet hat, nicht erst recht unglaubwürdig? Denn warum sollte der wirkliche Mörder von Saint-Eustache aufhören zu morden, wenn die Marquise vernichtet worden ist?“
Ein hauchdünnes Lächeln umspielte die Lippen des Kardinals.
„Weil es genau das ist, worauf er es abgesehen hat.“
„Ihr meint, dass es diesem Menschen darum ging, die Marquise zu kompromittieren?“ Erstaunt hob Rochefort den Blick, „Dass sein gesamtes Schauspiel dem einzigen Zweck diente, sein eigentliches Opfer auf den Scheiterhaufen zu bringen?“
„Wie sonst erklärt Ihr Euch, dass am Tatort ein Taschentuch mit dem Wappen der Dame gefunden wurde? Entweder es versucht jemand die Marquise als Hexe und Mörderin hinzustellen oder sie ist es tatsächlich. In beiden Fällen werden die Morde aufhören, sobald sie verhaftet ist.“
Rochefort musste sich selbst eingestehen, dass er auf diese Argumentation nichts zu erwidern wusste. Was jedoch weniger daran lag, dass sie ihn überzeugt hätte, als daran, dass ihn die Skrupellosigkeit des Kardinals, der sich nicht scheute die Wünsche eines mordenden Wahnsinnigen zu erfüllen, um eine Frau, die eine mögliche Gefahrenquelle darstellte, auszuschalten, für einen Moment sprachlos machte. Richelieu schien seine Gedanken zu erraten.
„Nennt es meinetwegen Zusammenarbeit mit einem Verbrecher, ich nenne es Diplomatie.“ Mit diesen Worten beugte er sich erneut über seinen Schreibtisch, um sich seiner Arbeit zu widmen und Rochefort zu verstehen zu geben, dass er die Diskussion als beendet betrachtete.
Dieser neigte den Kopf etwas weniger tief als er es für gewöhnlich tat und verließ das Arbeitszimmer seines Dienstherrn.
Mit nachdenklicher Miene trat er kurz darauf aus dem Kardinalspalais.

Kapitel Rocheforts Erzählung

Es begann bereits zu dämmern, als Athos in die Rue Férou einbog. Noch immer hatte er von d’Artagnan keine Spur entdeckt.
Als er den Freund am Abend zuvor nicht wie verabredet vor dem Hôtel de Rambouillet vorgefunden hatte, hatte er sich noch nichts besonderes dabei gedacht. Schließlich kannte er d’Artagnan und wusste, dass dem Freund kaum etwas mehr verhasst war als tatenloses Herumstehen und Warten. Als Athos ihn jedoch auch am nächsten Morgen nicht in seiner Wohnung in der Rue de Fossoyeurs antraf, und zudem von seinem Diener Planchet erfuhr, dass er von ihrer nächtlichen Mission nicht zurückgekehrt war, fing er an sich Sorgen zu machen. Zur Mittagszeit suchte er mit dem aufgeregten Planchet sämtliche Gasthäuser, in denen die beiden Freunde sonntags zu speisen pflegten, nach dem jungen Musketierleutnant ab. Ohne Erfolg. Nachdem sie sämtliche Freunde und flüchtige Bekannte d’Artagnans aufgesucht hatten ohne auch nur den kleinsten Hinweis auf dessen Verbleib zu finden, war Athos überzeugt, dass d’Artagnans Verschwinden mit dem neuen Mordfall in der Nacht im Zusammenhang stand. Er hatte gehofft am Tatort Spuren seines Freundes zu finden, wurde jedoch erneut enttäuscht: Vor dem Hauptportal von Saint-Eustache stieß er auf eine Volksmasse, die sich wie schon zwei Nächte zuvor versuchte Eintritt in die Kirche zu verschaffen. Doch diesmal blieben die Tore geschlossen. Sogar der Gottesdienst war ausgefallen. Der König hatte befohlen niemanden mit Ausnahme des Leichenarztes zu dem neuen Opfer vorzulassen.
Mittlerweile war Athos davon überzeugt, dass d’Artagnan etwas zugestoßen war. Doch wo sollte er noch nach ihm suchen?
Um seinen Freund zu finden, musste er das Rätsel des Mörders von Saint-Eustache lösen. Doch wo er auch ansetzte, was er bisher heraus gefunden hatte, ergab keinen Sinn. Die Marquise zu verdächtigen mit diesen Morden in Verbindung zu stehen, widerstrebte Athos. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass diese Frau keine Mörderin war. Auch das mit ihrem Wappen bestickte Taschentuch war er bereit für ein falsches Indiz zu halten. Und doch... Weshalb hatte sie sich gerade um elf Uhr von ihren Gästen verabschiedet, eine Stunde bevor das Verbrechen begangen worden war? Weshalb hatten gleich mehrere Zeugen unabhängig voneinander ausgesagt, ihre Kutsche in beiden Nächten in der Nähe von Saint-Eustache gesehen zu haben? Und dann schließlich das seltsame Verhalten des Chevalier de Rochefort.
Ihr spielt ein gefährliches Spiel.
Was sollte das bedeuten? Und weshalb versuchte der Diener des Kardinals, der die Marquise doch vernichten wollte, diese zu schützen?
Vor seiner Wohnungstür wäre Athos beinahe mit Grimaud zusammengestoßen, der ihm entgegen gelaufen kam. Im Blick des Dieners spiegelten sich Wut und Empörung. Mit einer heftigen Armbewegung wies er auf die Wohnungstür und sprach mit der ihm eigenen Wortkargheit ein einziges Wort: „Eindringling!“
Athos runzelte die Stirn, legte die Hand auf den Degengriff und stieß ruckartig die Tür auf: Neben dem Fenster, gelassen an die Wand gelehnt und mit einem Weinglas in der Hand, stand ein hochgewachsener Edelmann
„Rochefort!“
„Athos.“ Mit provozierender Bedächtigkeit nahm Rochefort einen tiefen Schluck Wein. „Verzeiht, doch Euer überaus gesprächiger Diener war nicht gewillt mich zu bewirten, wie es sich bei einem halb verdurstenden Gast doch wohl gehört hätte. So habe es mir herausgenommen mich selbst zu bedienen... Er ist übrigens vorzüglich, Euer Anjou-Wein, Athos...“
Die Miene des Chevaliers war undurchdringlich wie eh und je. Und doch spürte Athos einen Hauch von Unsicherheit, der in dieser scheinbar so lockeren Begrüßungsrede mitschwang.
„Was wollt Ihr?“ fragte er eisig. D’Artagnan, der sich mit dem Stallmeister des Kardinals, nachdem er zu Anfang seiner Dienstzeit in Paris mehrere Male geschworen hatte ihn zu töten, mittlerweile öfter zum Kartenspiel als zum Duell traf, hatte Athos schon des öfteren versucht verständlich zu machen, dass der Chevalier garnicht so übel war wie er sich gab. Dennoch misstraute der Graf de la Fère Rochefort wie keinem anderen.
„Sagen wir, ich wollte mit Euch plaudern. Über die Ode des Monsieur de Racan an den Président d’Aurillac vielleicht? Oder lieber über die neuen Damastvorhänge der Madame de Rambouillet?“
Als Athos schwieg und nur ruhig Rocheforts herausfordernd-scharfen Blick erwiderte, stellte dieser sein Weinglas beiseite und trat einen Schritt auf den Musketier zu.
„Ihr habt Recht. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Ihr mögt Eure Gründe gehabt haben mir nachzuspionieren. Ich bitte Euch nur, pardon, Euch beim nächsten Mal weniger ungeschickt dabei anzustellen... Athos, ich brauche Euren Rat.“
Für einen Moment blickte Athos den Stallmeister des Kardinals – überrascht über diese seltsame Wende des Gesprächs – verwundert an. Dann fasste er sich wieder, forderte Rochefort mit einer Geste dazu auf, am Tisch Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber.
Wortlos legte der Chevalier ein Schreiben auf die Tischplatte. Athos warf einen kurzen Blick darauf.
Ein Haftbefehl.
„Ihr habt die Marquise verhaftet?“
„Ich habe den Befehl dazu erhalten.“ erwiderte Rochefort mit einem bitteren Lächeln.
Zum zweiten Mal an diesem Abend gelang es dem Chevalier seinen Gesprächspartner aufs höchste zu erstaunen.
„Soll das bedeuten, Ihr habt ihn nicht ausgeführt? Einen Befehl des Kardinals?“
„In all den Jahren, die ich für Seine Eminenz arbeitete, ist es das erste Mal, dass ich mich ihm widersetze, ja.“ Rochefort sah an Athos vorbei und schüttelte leicht den Kopf. Vielleicht über sich selbst, vielleicht über den Kardinal. „Ich maße mir für gewöhnlich nicht an die Beschlüsse meines Dienstherrn anzuzweifeln... Jedoch bin ich kein Mann, der eine wehrlose Frau kaltblütig dem Henker oder dem Schafott übergibt.“ Bei diesen letzten Worten warf Rochefort Athos einen solch seltsamen düsteren Blick zu, dass diesem das Blut in den Adern gefror.
Weiß er davon? Wie könnte er...?
Nur mit Mühe gelang es Athos Rocheforts Blick standzuhalten.
„Sie hat sich keines Verbrechens schuldig gemacht.“
Sie? Welche „sie“?
Doch, das hat sie! Sie hat mir alles genommen, woran ich einst glaubte! Sie hat gemordet, sie hat betrogen sie hat... Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, versucht sie mich zu zerstören – mich zum Schuldigen zu machen!
Endlich wandte Rochefort den Blick von Athos und fuhr fort. „Die Marquise hat keines der beiden Opfer getötet.“
Athos starrte an ihm vorbei.
„ Weder die Duchesse noch den Marquis. Dennoch lässt sie zu, dass man ihr den Mord anlastet. Vielleicht versucht sie, jemanden zu schützen.“
Endlich gelang es dem Musketier sich aus dem Sturm zu befreien, den Rochefort mit seinen versteckten Andeutungen in seinem Innern ausgelöst hatte.
„Wie könnt Ihr Euch Ihrer Unschuld so gewiss sein?“ fragt er hastig.
„Weil ich letzteren selbst umgebracht habe.... oder es zumindest vorhatte. “
Athos lehnte sich mit einem Stirnrunzeln in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Rochefort blickte ihm ruhig, beinahe kühl ins Gesicht und begann zu erzählen.
„Der Marquis war ein höchst ehrgeiziger und selbstgefälliger Mensch, der es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt hatte zum höchsten Günstling und vertrautesten Berater des Kardinals aufzusteigen. Seit seiner Ernennung zum Gardeleutnant war er sich dessen Gunst sicher. Er hatte nur einen einzigen Nebenbuhler: mich. So wie ich keinen Hehl aus meiner Verachtung für diesem Emporkömmling machte, zeigte du Lû ganz offen seinen eifersüchtigen Hass auf mich und versuchte mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei Seiner Eminenz schlechtzumachen. Da jedoch all seine Bemühungen fruchtlos blieben und er sich gezwungen sah zu härteren Mitteln zu greifen, fälschte er einen Brief, der mich als Spion der größten Feindin des Kardinals, der Königinmutter, denunzieren sollte. Wäre dieser Brief Seiner Eminenz je in die Hände gefallen, so hätte ich wohl meine Koffer packen und Paris auf Nimmerwiedersehen verlassen müssen. Glücklicherweise erfuhr ich jedoch von der Existenz dieses Schreibens bevor es soweit kommen konnte, da du Lû – von der Natur nicht gerade mit den größten Geistesgaben gesegnet – vor seinen Kampfgenossen mit seiner hervorragenden Idee geprahlt und sich die Neuigkeit in Windeseile verbreitet hatte.
So kam es also, dass ich vor drei Tagen den am Stadtrand gelegenen Palais des Marquis aufsuchte, um Satisfaktion zu fordern. Ich traf du Lû in der allerbesten Laune an, was entweder am Wein lag, dem er offensichtlich an jenem Abend sehr zugesprochen hatte, oder aber an seinen Glanzleistungen während eines Duells, dass am gleichen Tag zwischen Gardisten und Musketieren des Königs stattgefunden haben musste. Erwähnte er nicht sogar den Namen d’Artagnan? ... Wie dem auch sei, der Marquis war jedenfalls Feuer und Flamme als ich ihm ein kleines Duell in seinem ruhigen kleinen Vorgarten vorschlug. Aufgrund des Duellverbots des Königs verzichteten wir auf Sekundanten. Besoffen wie er war, war es mir ein leichtes meinen Gegner zu bezwingen. Schon nach fünf Minuten lag du Lû besinnungslos am Boden. In meinem Zorn hätte ich gewiss keinen Augenblick gezögert ihm den Gnadenstoß zu versetzten, hätte ich nicht gerade in diesem Moment die kalte Klinge eines Degens an meinem Hals gefühlt. Ich konnte das Gesicht des Unverschämten nicht erkennen, der es wagte mich hindern zu wollen: die Nacht und seine Kutte verbargen seine Identität. Ich hielt ihn für einen Freund des Marquis und hieb mit dem Degen auf ihn ein. Doch der Fremde besaß genug Geistesgegenwart sich durch einen Sprung nach hinten zu retten und so zerschnitt mein Degen nur den Ärmel seiner langen Kutte.“
„Was sagt Ihr da? Ihr habt mit dem Degen seinen Ärmel zerschnitten?“ unterbrach ihn Athos, der bis jetzt schweigend der Erzählung gelauscht hatte. Das Bild des Mannes , der ihm in der vorletzten Nacht vor der Kirche von Saint-Eustache aufgefallen war, tauchte wieder vor ihm auf. Ein Edelmann in einer an einem Ärmel zerrissenen Kutte... Plötzlich durchzuckte es Athos.
Die Haltung, die Nervosität in seinen Bewegungen, er...
Ja, er war es! Er musste es sein! Er... er durfte es nicht sein! Mit einem Ruck stand Athos vom Tisch auf und stellte sich ans Fenster.
„Erzählt weiter!“ bat er mit zittriger Stimme. Verwundert betrachtete Rochefort das angespannte Gesicht des Musketiers, das sich im nachtschwarzen Fensterglas spiegelte.

„Nun,...“ fuhr er fort, „Der Fremde beschwor mich den Marquis zu begnadigen. Er sprach davon, dass ich mich vor Gott schuldig mache (was mich wenig überzeugte) und vor dem König, der das Duell ja verboten hatte (was mich schon eher nachdenklich werden ließ). Immerhin war ich nicht besonders versessen darauf, wegen dieses verdammten du Lû auf der Place de la Grève am Galgen zu enden. Ich befolgte also den Rat des Fremden, der mir nahelegte mich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen ‚bevor sich Euer Gesicht meinem Gedächtnis so deutlich eingeprägt hat, dass ich es irgendwem beschreiben könnte, wenn er mich danach fragte‘ , wie er sich ausdrückte. Wie hätte ich wissen können, dass dieser Heuchler weitaus düstere Ziele verfolgte, als es den Anschein hatte? Nachdem ich gegangen war, muss er du Lû das Gift eingeflößt haben, an dem dieser letztendlich verreckt ist. Vor dem Tor des Palais sah ich die Kutsche der Marquise de Rambouillet – oder zumindest eine, die ihr Wappen trug. Darin muss du Lûs Leiche nach Saint-Eustache transportiert worden sein. “
„Aber weshalb hätte jener Mann Euch daran hindern sollen den Marquis umzubringen, um ihn dann selbst zu töten?“
„Nun, für die Zwecke des Täters musste der Marquis nun einmal durch Gift und nicht durch einen Degenstich zu Tode kommen. Schließlich sollte der Marquise de Rambouillet später der Mord angelastet werden und soweit ich weiß, beherrscht sie zwar eine Reihe von Künsten, jedoch nicht die des Fechtens...“
Athos blickte aus dem Fenster ohne etwas zu sehen. Seine Gedanken rasten.
„Ich muss gestehen...“ fuhr der Chevalier währenddessen fort, „dass ich das erste Mal in meinem Leben nicht weiß, wie ich mich weiter verhalten soll. Die meisten meiner Freunde sind Kardinalisten, ich konnte sie also schlecht in diese Angelegenheit einweihen, und d’Artagnan habe ich nicht gefunden. So bin ich auf Euch gekommen.“
„Rochefort!“ Abrupt wandte Athos sich um. Sein Gesicht war kreidebleich, „Nennt mir noch einmal den Namen des letzten Opfers!“
„du Val de Cy. Madame Hortense du Val de Cy... Athos, was habt Ihr?“
„du Val de Cy und du Lû!“ rief Athos aus ohne Rocheforts Frage zu beachten.
Nein. Er kannte sie nicht. Die Lösung des Rätsels des Lucifer. Er wusste nicht, was geschehen war... Doch er wusste, was geschehen würde. Es schien so verrückt, so absurd... Doch er konnte sich nicht irren.
„Heute Nacht um zwölf Uhr wird es eine neue Leiche in Saint-Eustache geben. Wartet um Mitternacht vor der Kirche....“ wies Athos Rochefort an. Dann wandte er sich wieder zum Fenster und zu sich selbst sprach er: „ Ich werde auch dort sein.“

Kapitel Lu-ci-fer

Seine Frau hatte ihn vor die Tür gesetzt.
Es war bereits zehn Uhr abends und ein eisiger Wind pfiff durch die verlassene Gasse am Rande der Stadt. Eine Geistergasse, die Straße gesäumt von leeren Steinbaracken und Hausruinen. Ein einziger Reiter passierte die Gasse. Mit seinem farbenfrohen Samtmantel nach der allerneusten Mode und dem eleganten Hut mit dem pompösen Federgesteck bildete er einen seltsamen Kontrast zu der tristen grauen Umgebung. Der Reiter war von kräftiger Statur und seine riesigen Hände sprachen von der ungeheuerlichen Kraft, die in ihm wohnte. Er schien in tiefes Nachdenken versunken und von zeit zu zeit seufzte er tief und zwirbelte seinen imposanten Schnurrbart.
Vor die Tür gesetzt!
Anlass für den folgenreichen Streit zwischen ihm und seiner Gattin war – wie schon so oft in den drei Jahren ihrer Ehe – seine große Leidenschaft, das gute und reichliche Essen, gewesen. Nun, es gab gewiss viele Gründe, die ihn dazu bewogen hatten Madame du Vallon, einstmals die Witwe des Sachverwalters Coquenard, zu heiraten, nicht zuletzt natürlich die achthunderttausend Pfund, die der Geldschrank ihres ersten Mannes beinhaltete. Ihr entsetzlicher Geiz und die daraus resultierende Unfähigkeit einen fähigen Koch einzustellen dagegen, brachten Monsieur du Vallon - einen wahren Gourmet (obwohl seine Frau eher dazu neigte ihn als Gourmand zu bezeichnen...) – immer wieder an den Rand der Verzweiflung! Der letzte Mensch in seinem Haus, der die Unverschämtheit besessen hatte sich chef de la cuisine zu nennen hatte das Fass jedenfalls zum Überlaufen gebracht! Die ausgemergelte Weihnachtsgans, die er seinem hungrigen Hausherrn vorgesetzt hatte, war zäh gewesen wie eine Schuhsohle und das Gemüse hätte dieser nicht einmal einem Verhungernden zumuten wollen! Es war daher gekommen, was kommen musste: Nach der zweiten Mahlzeit dieser Art hatte Monsieur du Vallon den neuen Koch davongejagt. Tatsächlich war er ihm schimpfend und fluchend soweit in den Wald gefolgt, der hinter seinem Gut begann, bis er sicher war, dass sich dieser Unfähige in seinem Leben nicht mehr zurück wagen würde. Um dem darauf folgenden hysterischen Anfall seiner Frau zu entgehen, die jammerte, dass sie einen solch anspruchslosen und billigen Koch kein zweites Mal finden würde (was ihr Mann von ganzem Herzen hoffte), flüchtete sich dieser in den Stall zu seinen Pferden. Als er annehmen konnte, der größte Zorn der Hausherrin sei verflogen, kehrte er zurück, fand jedoch sämtliche Eingänge zu seinem Haus verschlossen. Alles Toben, Drohen, Bitten, Fluchen und Gegen-die-Tür-hämmern war vergebens. Madame du Vallon blieb stur. Diesmal hatte ihr Gatte es zu weit getrieben. Dem armen verstoßenen Hausherrn blieb daher nichts weiter übrig, als sich auf eines seiner Rosse zu schwingen und sich auf den Weg nach Paris zu machen, wo er Freunde hatte, bei denen er Unterschlupf zu finden hoffte. Sein Hochmut ließ ihn fest daran glauben, dass die Widerspenstige nach spätestens einer Woche ohne den geliebten Gatten gezähmt sein würde, diesem hinterher gereist käme, und ihn auf Knien anflehen würde wieder zu ihr zurück zu kehren.
Doch was zum Teufel sollte er d’Artagnan und Athos erzählen, wenn sie ihn fragten, weshalb er ihnen um zehn Uhr abends und noch dazu ohne Reisegepäck, ohne Kutsche -ja noch nicht einmal seinen Diener hatte er bei sich - einen Besuch abstattete?
Vor die Tür gesetzt!
Es war demütigend! Entehrend! Peinigend! Oh, sie durften es nie erfahren! Sie würden...
Ein donnerndes Poltern ließ den Reiter aufhorchen, während sein Pferd erschrocken einen Schritt zurück tat. Das Geräusch kam aus einer Baracke am Ende der Gasse. Der Reisende stieg vom Pferd und näherte sich der Hausruine. Noch einmal polterte es und die Holztür erzitterte unter der Wucht der Erschütterung, hielt jedoch stand. Undeutlich war ein Fluch zu hören. Offensichtlich versuchte jemand die Tür von innen mit einem schweren Gegenstand zum Bersten zu bringen. Neugierig lief der Reiter um das Gebäude herum, ein Fenster suchend, durch das er einen Blick ins Innere zu erhaschen hoffte. Doch dort, wo einst das Fenster des Hauses gewesen sein musste, war die Wand eingestürzt, sodass nun ein gewaltiger Steinwall die Rückseite des Hauses darstellte.
Der Reisende lief zurück zur Vorderseite.
„Ist dort drinnen jemand?“ fragte er, da ihm keine sinnvollere Frage einfiel.
„Nein, die Steine fliegen völlig von selbst gegen die Tür!“ kam auch prompt die Antwort. „Helft mir! Man hat mich in dieser Baracke eingesperrt!“
Mon Dieu! Kannte er diese Stimme nicht? Aber wieso...? Monsieur du Vallon war kein Freund von langen Überlegungen. Kurzerhand nahm er Anlauf und rannte die Tür ein. Mit einem langgezogenen Stöhnen gab sie bereits beim ersten Versuch nach. Begleitet von berstenden Holzsplittern stolperte du Vallon ins Innere der Baracke. Seine Augen brauchten einen Augenblick um sich an die Dunkelheit in dem fensterlosen Raum zu gewöhnen und einige weitere um in dieser seltsamen staubbedeckten Kreatur, die einen Trümmer mit einem Durchmesser von zwei Fuß über dem Kopf hielt, als wolle sie damit auf ihn losgehen, seinen alten Freund zu erkennen.
„D’Artagnan!“
„Porthos?!?“ D’Artagnan war nicht minder erstaunt in dieser gottverlassenen Gegend ausgerechnet von seinem einstigen Kameraden aus einer alten Steinbaracke befreit zu werden, den er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Beinahe hätte er sich den Trümmer auf die Füße fallen lassen.
„Was, zum Teufel, macht Ihr denn...“
Die Wucht, mit der Porthos ihn umarmte, erstickte d’Artagnans Frage. Geduldig ließ er die stürmische Begrüßung über sich ergehen. Dann schüttelte er zerknirscht den Kopf.
„Es ist erniedrigend Euch so zu sehen!“
„Was!?“ Das war nun nicht gerade das, was Porthos sich als Reaktion auf ihr Wiedersehen erhofft hatte.
„Ich meine, es ist erniedrigend, Euch so zu sehen, wie Ihr mir nichts dir nichts durch diese gottverdammte Tür gestürmt kommt, während ich einen Tag erfolglos damit zugebracht habe einen Weg zu finden sie zu zertrümmern!“
„Pah!“ Porthos machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kleinigkeit!“ Neugierig musterte er d’Artagnan von oben bis unten. „Was ist Euch denn passiert? Und wer hat Euch hier eingesperrt?“
„Der Küster von Saint-Eustache, glaube ich.“
„Aha.“ machte Porthos verständnislos.
D’Artagnan seufzte. „Eine komplizierte Geschichte. Ich will Euch alles erzählen, doch zuerst muss ich mich waschen und umziehen. Mon Dieu, ich muss ein entsetzlicher Anblick sein! Und danach lasst uns ein Gasthaus aufsuchen. Ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen.“
Porthos davon zu überzeugen, dass es sich mit vollem Magen besser erzählen ließ, bedurfte es weiß Gott nicht mehr und so saßen die beiden Freunde eineinhalb Stunden später bereits wie zu alten Tagen in ihrem Lieblingsgasthaus „Zum Fichtenzapfen“.
„Es ergibt keinen Sinn.“ D’Artagnan nahm einen tiefen Schluck Wein. „Die beiden Opfer, meine ich. Ich bin sicher, dass sie nicht willkürlich ausgesucht wurden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden. Doch weshalb gerade der Marquis und die Duchesse?“
„Die Sache wäre einfacher“ stimmte Porthos schmatzend zu, „wenn entweder du Lû nicht Gardeleutnant seiner Eminenz oder die Duchesse nicht ehemaliges Ehrenfräulein von Maria von Medici gewesen wäre. Im ersten Fall könnten wir davon ausgehen, dass der Kardinal dahinter steckt, im zweiten dass er eben nicht dahinter steckt.“
„Porthos, Ihr vergesst, dass nicht immer der Kardinal der Bösewicht sein muss!“ erwiderte d’Artagnan schmunzelnd. „Ich glaube, in diesem Stück spielt er nur eine Nebenrolle.“
„Und wenn es diesem Lucifer nun garnicht um die Opfer an sich ging, sondern zum Beispiel um...“ Porthos legte die Stirn in Falten und vergaß durch die Anstrengung des Nachdenkens sogar, dass er den Bissen Hammelfleisch noch nicht hinuntergeschluckt hatte. „...um ihre Namen!“
„Um ihre Namen?“
„Besser gesagt: um ihre Initialen! Und die könnten wiederum für irgendein Losungswort stehen. „
„Das klingt interessant!“ Aufmerksam beugte d’Artagnan sich vor. Sollte Porthos vielleicht gerade von einem seiner seltenen Geistesblitze heimgesucht worden sein?
„Nehmen wir zum Beispiel den Marquis: François du Lû. F. L. Das könnte stehen für ... für fiat lux!“ Stolz blickte Porthos seinen Freund an, doch das erhoffte Lob blieb aus.
Fiat lux? Es werde Licht?“ Enttäuscht schüttelte d’Artagnan den Kopf. „ein eigenartiges Losungswort für jemanden, der unter dem Pseudonym Lucifer zwei Morde begeht, findet Ihr nicht?“ Seufzend riss d’Artagnan an seinem Schnurrbart, der nun schon zum wiederholten Male unter diesem Rätsel zu leiden hatte. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke und er hielt in der Bewegung inne. „Porthos, Ihr seid ein Genie!“
„Nun ja, ich...“ Mit diesem Kompliment – zumal er nicht allzu häufig als Genie bezeichnet wurde - hatte der Freund nicht gerechnet.
„Ihre Namen!“ Vor Aufregung sprang d’Artagnan auf. „Es ist viel einfacher. Nehmen wir die ganzen Namen. Du Lû und du Val de Cy. Lû-Cy: der Anfang des Wortes Lu-ci-fer. Diese Mordserie ist noch nicht beendet, Porthos! Drei Kerzen, drei Tote! Heute Nacht wird es ein weiteres Opfer in Saint-Eustache geben und sein Name ist...“
Porthos lief rot an, als er sich an seinem Hammelfleisch verschluckte, während d’Artagnan kreidebleich wurde.
„...de la Fère!“
Von seinem Fenster aus beobachtete Athos, wie eine Kutsche in die Rue Férou einbog und vor seiner Wohnung anhielt. Auf dem Türschlag erkannte er das Wappen der Marquise de Rambouillet. Ein Mann in einer Kutte stieg aus und schien zu zögern, bevor er das Haus betrat.
Traurig wandte Athos den Blick ab und sah mit einem Seufzen auf den Degen, der griffbereit neben ihm lag.
„Grimaud, führe den Herrn, der gleich hier erscheinen wird, bitte in dieses Zimmer, und dann lass uns allein – egal, was du hörst, komme nicht eher herein, als ich nach dir rufe.“
Der Diener, der es gewohnt war, zu gehorchen ohne Fragen zu stellen, nickte nur kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Als kurz darauf ein Mann in einer schwarzen Kutte eintrat, verschwand er im Nebenzimmer.
„Ich habe auf Euch gewartet“ sagte Athos ohne sich zu dem Fremden umzudrehen. „Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, mein Freund.“

Kapitel Das dritte Opfer

D’Artagnan hämmerte mit den Fäusten gegen Athos‘ Wohnungstür. Endlich wurde sie einen Spalt breit geöffnet und Grimaud lugte hinter ihr hervor. Als er d’Artagnan und Porthos erkannte, schwand das Misstrauen aus seinem Blick, und er ließ die Freunde ein.
D’Artagnan stürmte in die Wohnung, wobei er den verwunderten Diener beiseite schob und sich mit gehetztem Blick im Zimmer umsah.
„Grimaud, wo ist Athos?“
„Fort.“
Porthos warf d’Artagnan einen besorgten Blick zu und trat fast drohend auf Grimaud zu.
„Was soll das heißen, fort? Wohin ist er gegangen?“
Der Diener zuckte mit den Schultern.
„War jemand hier?“
Auch d’Artagnan war näher an Grimaud herangetreten, der, von zwei Seiten belagert, verwirrt an die Wand zurück wich.
„Ja.“
„Ja, und wer, zum Teufel?“ D’Artagnans Stimme überschlug sich. Grob packte er den wortkargen Diener bei den Schultern und rüttelte ihn, als wolle er die Worte aus ihm heraus schütteln.
„Ein... ein Fremder, ...er trug eine schwarze Kutte...“
D’Artagnan stieß einen Schrei aus und ließ von Grimaud ab. Sein Blick fiel auf die beiden halbvollen Weingläser, die auf dem Tisch standen.
Wenn das reiner Anjou-Wein ist, dann hol mich der Teufel!
„Er war hier! Wir sind zu spät gekommen, Porthos!“
Die hohen düsteren Pfeiler. Ihre schwarzen Schatten auf dem grau-kalten Mamorboden. Schatten, die uns folgen, unheilverkündende Schatten. Das Dröhnen in unseren Köpfen, lauter als das Geräusch unser Schritte in dem widerhallenden Raum. Seltsame Muster, die das Mondlicht auf den Boden wirft. Formen und Farben. Sinnlos. Verwirrend. Unser Atem weiß vor unseren Gesichtern. Kälte.
Noch nie in seinem Leben war d’Artagnan ein Weg länger vorgekommen als der Gang durch den Langbau der Kirche von Saint-Eustache. Seine Beine waren schwer wie Eisen und gleichzeitig so weich, dass sie unter seinem Gewicht nachzugeben drohten.
Dann der Altarraum.
Er schläft!
Athos‘ Gesicht schimmerte weiß-bläulich im Mondschein. Die Augen waren geschlossen. Die Hände ruhten weiß und schön auf dem schwarzen Untergrund. Wären die Umstände nicht so traurig gewesen, man hätte den Anblick als schön beschreiben mögen. Friedlich. Ewig. Unantastbar. Wie ein Gemälde.
Er schläft!
Porthos ließ sich auf die Knie sinken. Er, ein Koloss von einem Mann, ein Titan, ein Riese, begann hemmungslos zu weinen. D’Artagnan stand neben ihm. Unfähig sich zu rühren. Unfähig zu begreifen. Unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Bilder kamen ihm in den Sinn. Szenen aus seiner Zeit mit Athos. Zusammenhanglos... Ihre erste Begegnung... Athos, wie er über ein Glas Wein gebeugt in einem abgedunkelten Raum sitzt... Athos beim Duell... Athos, wie er d’Artagnan seine Geschichte erzählt, damals in Amiens... Athos mit der Fahne in der Hand auf der Bastei Saint-Gervais... Athos wie ein Vater, im Kloster von Béthune, wie er die Schultern des verzweifelten d’Artagnan umfasst...
„Wer immer das getan hat, er wird hängen!“
D’Artagnans Atem ging stoßweise. Sein Gesicht: bleicher als das des Opfers. Seine Hände: zu Fäusten geballt. Seine Augen: rot gerändert und sein Blick glühend. Porthos blickte zu ihm auf und erschauerte.
Abrupt wandte der Musketier den Kopf. Aus den Augenwinkeln hatte er eine Bewegung wahrgenommen. Gerade noch sah er eine Gestalt in einem langen Kleid, eine Frau, die durch den Seiteneingang der Kirche verschwand. D’Artagnan stürzte ihr nach.
Die Kutsche der Marquise stand vor der Kirche. Gerade als die Dame keuchend den Türschlag öffnete, um darin zu verschwinden, holte d’Artagnan sie ein.
„Diesmal entkommt Ihr mir nicht!“
Grob riss er sie zu sich herum.
„Die Marquise!“
Schwer atmend blickte Catherine de Rambouillet in das von Schmerz und Verzweiflung gezeichnete Gesicht des Racheengels, den sie vor sich sah. Sekundenlang gelang es ihr dem rasenden Blick d’Artagnans standzuhalten, bevor sie den Kopf senkte.
„WARUM? Ich hielt euch für unschuldig! Ich hätte es besser wissen müssen!“ Den Arm der Marquise fest umklammernd sprang d’Artagnan in die Kutsche, zog die Decke von den Sitzbänken, holte das kleine Schmuckkästchen hervor und warf es Catherine vor die Füße, sodass der Deckel herabfiel und die kleinen Giftfläschchen herausfielen.
„Habt Ihr damit den Wein des Grafen de la Fère versüßt? Ihr und Euer Liebhaber! Auch ihn werde ich kriegen! Hexe! Warum! Sagt mir warum!“
Einen Moment lang war die Marquise versucht dem verzweifelten Musketier die Wahrheit zu sagen. Man hatte Ihr gesagt, dass er ein Freund des Opfers war. Doch wie hätte sie diesen Schmerz, diesen Wahnsinn vorausahnen können? Sie wollte sprechen, doch kein Wort kam über ihre Lippen. D’Artagnans Griff um ihre Arme verstärkte sich.
„Er hat mein Werk... vervollständigt.“
Hätte der Schmerz d’Artagnans Blick nicht verklärt, so hätte er vielleicht die Tränen in den Augen der Marquise erkannt. Tränen des Mitleids, die ihre Worte Lügen straften. So jedoch hielt der Verzweifelte das Glänzen ihrer Augen für ein Zeichen ihres Fanatismus. Sie war dem Teufel verfallen. Eine Wahnsinnige.
„Mörderin!“
Ein Faustschlag traf Catherines Wange. Es folgte ein dumpfer Schlag, als sie mit dem Kopf gegen die Kutschenwand schlug und lautlos in sich zusammensackte. D’Artagnan riss seinen Degen aus der Scheide und holte aus, um auf sie einzuschlagen. Doch in diesem Moment riss Porthos, der dem Freund hinterher geeilt war, ihn an den Schultern zurück.
„Mach dich nicht unglücklich! Lass sie dich nicht auch zum Mörder machen, d’Artagnan!“
D’Artagnan schluchzte auf und ließ den Degen zu Boden fallen. Endlich gelang es ihm seinen Tränen freien Lauf zu lassen und er verbarg sein Gesicht in Porthos Schulter.
„Oh, Porthos! Ich wusste, dass sie es war! Ich war dabei, als sie mit ihrem Liebhaber den zweiten Mord beging! Ich wusste es! Warum habe ich an ihre Unschuld geglaubt? Ich hätte ihn retten können! Es ist meine Schuld, ich hätte...“
„Dummkopf!“ flüsterte Porthos kläglich und biss sich auf die Lippen, um nicht erneut mit Weinen anzufangen. „Kleiner Dummkopf!“

Kapitel Der Mörder von Saint-Eustache

Am nächsten Tag stellte sich heraus, dass die Weingläser in Athos‘ Wohnung tatsächlich Gift enthielten und dass es sich hierbei um die selbe Flüssigkeit handelte, die in den Fläschchen enthalten war, die d’Artagnan in der Kutsche der Marquise gefunden hatte. Catherine de Rambouillet wurde des Mordes und der Hexerei bezichtigt. Man hielt sie im Kardinalspalais gefangen, wo sich auch die beiden Inquisitoren einrichteten, ein Dominikaner- und ein Franziskanermönch, die im Laufe des Nachmittags in Paris eintrafen und die Verhandlung für den nächsten Morgen ansetzten. Der Kardinal zweifelte nicht daran, dass man die Marquise angesichts der Fülle von Beweisen für schuldig befinden würde. Den wenigen, die über ihre Verhaftung unterrichtet waren, hatte er befohlen vorerst Stillschweigen zu wahren. Schließlich hatte Catherine eine beträchtliche Anzahl einflussreicher und wohlhabender Freunde und Richelieu wollte verhindern, dass irgendein Marquis oder Baron die Inquisitoren zu bestechen oder die Marquise auf andere Weise freizukaufen versuchte. War das Urteil erst gefällt, so würde er in der Presse ausführlich über die erfolgreichen Bemühungen Seiner Majestät, den Mörder von Saint-Eustache zu fassen, berichten lassen. Der Küster der Kirche war seit der letzten Nacht spurlos verschwunden und was den dritten im Bunde, Catherines heimlichen Liebhaber, anging, so weigerte sie sich dessen Namen preiszugeben. Seine Eminenz zerbrach sich derweil den Kopf darüber, woher er ein paar falsche Indizien beschaffen könnte, die belegten, dass es sich bei diesem Liebhaber um keinen anderen als den Herzog de Montmorency handelte. In dieser Situation schalt er sich im Geiste selbst einen Narren, dass er Rochefort, der die Unverschämtheit besessen hatte, sich seinem Befehl zu widersetzten, in einer vorschnellen Reaktion aus seinen Diensten entlassen hatte. Wie nötig hätte er jetzt dessen Erfindungsreichtum gehabt.
D’Artagnan lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Zum Dienst war er heute nicht erschienen. Das Abendessen, das ihm Planchet auf den Nachttisch gestellt hatte, hatte er nicht angerührt, und wann immer Porthos herein kam, um ein Gespräch mit ihm anzufangen, drehte er sich teilnahmslos zur Seite, bis der Freund mit einem traurigen Kopfschütteln und einem unverständlichen Gemurmel das Zimmer wieder verließ.
Athos‘ Tod hatte d’Artagnan berührt, wie noch kein Ereignis in seinem bisherigen Leben. Dennoch war es nicht in erster Linie die Trauer, die ihm diese unerträglichen Kopfschmerzen bereitete. Es war vielmehr der Gedanke an Athos‘ Mörder, den Komplizen und Geliebten der Marquise, der ihn beschäftigte. Auf dem Platz vor Saint-Eustache hatte er mit jenem Mann ein Duell ausgefochten.
Er kennt mich! Er erkennt meine Fechtkunst!
D’Artagnan wollte nicht wahrhaben, was sein Verstand ihm sagte, er versuchte das Bild zu verdrängen, das sich in seinem Bewusstsein festkrallte. Ein Bild, das ihm das Gesicht des Mörders preisgab.
Monsieur de Tréville!
Es konnte nicht sein. In den drei Jahren, in denen d’Artagnan unter dem Musketierhauptmann gedient hatte, hatte er Tréville nicht ein einziges Mal anders erlebt, als einen gerechten und hin und wieder etwas aufbrausenden Gascogner, der mit beiden Beinen auf der Erde stand. Monsieur de Tréville ein Teufelsanbeter? Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, d’Artagnan hätte laut auflachen mögen, so absurd war diese Vorstellung! Doch er war der Geliebte der Marquise. Er hatte sie verteidigen wollen, ohne selbst mit diesem Fall in Berührung zu kommen...
Ein lautes Hämmern an seine Wohnungstür riss d’Artagnan aus seinen Gedanken. „Wo ist dieser Narr?“ schallte kurz darauf eine erzürnte Stimme aus dem Nachbarzimmer und im nächsten Moment wurde die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgerissen und ein vor Zorn erbleichter Rochefort stürmte hinein. Porthos und Planchet eilten ihm nach.
„D’Artagnan, wie konntet Ihr nur!“
Mit einem Ruck setzte d’Artagnan sich auf. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Was, zum Teufel, hatte Rochefort – ausgerechnet Rochefort, den für gewöhnlich nichts aus der Ruhe bringen konnte – dermaßen in Rage versetzt?
„Wovon sprecht Ihr überhaupt?“
„Ihr habt die Marquise festnehmen lassen! Irgendein Grobian hat sie zusammengeschlagen!“
„Der Grobian war ich selbst. Sie hat Athos vergiftet!“ D’Artagnan erhob sich.
Kopfschüttelnd sah Rochefort den Musketier an. Langsam schien er seine Ruhe wieder zu erlangen. „D’Artagnan, ich hielt Euch bisher stets für einen gewitzten und scharfsinnigen Gascogner. Überlegt! Als der Täter Athos in die Kirche schaffte, musste er die Witwe du Val de Cy erst hinaus schaffen, oder etwa nicht? Diese Frau wog fast eine Tonne! Wie sollte die Marquise sie alleine transportiert haben? Und wohin? Oder habt Ihr vielleicht eine Leiche in ihrer Kutsche gefunden?“
„Nein...“ gab d’Artagnan verwirrt zu, „Aber die Beweise... Die Giftfläschchen, das Taschentuch...“
„Sehr auffällige Beweise, finde ich. Zu auffällig, für meinen Geschmack!“
„Teufel nochmal, Ihr redet!“ ließ sich ein ungeduldiger Porthos knurrend aus dem Hintergrund vernehmen. „Was wisst Ihr?“
„Ich hatte mich im Gebüsch auf dem Vorplatz der Kirche versteckt. Es war halb zwölf.“ Der Chevalier drehte sich halb zu Porthos um und begann zu erzählen. „Doch dieses Mal gingen die Täter vorsichtiger vor als in den Nächten zuvor. Sie schienen zu vermuten, dass man ihnen auflauern würde. Darum hielten sie mit der Kutsche vor einem der Seiteneingänge, anstatt vor dem Hauptportal, wo ich sie erwartete. Doch ich vernahm das Wiehern eines der Kutschpferde, verließ mein Versteck und kam gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie drei Gestalten, eine Dame und zwei Männer, der eine klein und rundlich, der andere schlank und etwas größer, in der Kutsche der Marquise de Rambouillet verschwanden. Ich erkannte den Küster der Kirche und auch das Gesicht der Dame konnte ich deutlich im Mondschein erkennen. Ich hatte sie erst eine Nacht zuvor im Hôtel de Rambouillet gesehen: Julie d’Angennes!
„Julie d’Angennes, die Tochter der Marquise!“ rief d’Artagnan aus. „Sie war es also, die das Taschentuch verlor, als ich sie in der vorletzten Nacht hinter dem Altar überraschte! Sie beging die Morde?“
„Sie oder ihr Liebhaber!“ erwiderte Rochefort.
Wenn die Marquise unschuldig ist, dann ist es auch Tréville!
Fast schämte d’Artagnan sich nun den Hauptmann verdächtigt zu haben. Ein Glück, dass er niemandem von seinen Überlegungen erzählt hatte!
„Ich folgte der Kutsche auf meinem Pferd.“ fuhr Rochefort derweil mit seiner Erzählung fort. „Sie fuhren zum Palais der Marquise. Unglücklicherweise schlossen sie das Tor, bevor ich hindurch reiten konnte, und so blieb mir nichts weiter übrig, als davor zu warten. Es dauerte keine halbe Stunde, bis die Kutsche das Anwesen der Familie wieder verließ. Diesmal konnte ich hinter den Fenstern die Marquise erkennen...“
„...die zurück nach Saint-Eustache fuhr, wo sie mir in die Hände lief. Doch weshalb kam sie dorthin?“
„Ich nehme an, die Marquise wollte genau das erreichen, was geschehen ist: dass man sie festnimmt und der Verdacht niemals auf ihre Tochter fällt! Sie wollte Julie schützen!“ D’Artagnan ließ sich kraftlos zurück auf sein Bett sinken. In seinem Schmerz hatte er eine Unschuldige der Inquisition ausgeliefert. Er durfte nicht daran denken, was geschehen würde, wenn es ihnen nicht gelingen würde, den wahren Schuldigen zu finden, und man die Marquise...
„Erzählt weiter.“ bat er mit matter Stimme.
„Kurz nachdem die Marquise fort war, verließen zwei Reiter ihr Anwesen. Es handelte sich um Julies Liebhaber und den Küster. Ich folgte Ihnen bis an den Rand der Stadt. Vor einer kleinen, schäbigen Hütte in einer der unbewohnten Gegenden saßen die beiden ab. Zur gleichen Zeit wie sie traf ein dritter Reiter dort ein, ein älterer Herr – asketisch dürr und mit eingefallenem bleichen Gesicht. Die drei verschwanden in der Hütte und ich beobachtete sie durch ein Fenster. Was sie sprachen, konnte ich nicht verstehen, doch anhand der Gestik und Mimik des Fremden konnte ich erkennen, dass er ihnen Befehle erteilte.“
„Jemand gab die Morde in Saint-Eustache in Auftrag?!“
„Ich schlief in meinem Versteck am Fenster ein und als ich wieder erwachte, war der Alte fort. Der Mörder von Saint-Eustache und der Küster sind noch immer in jener kleinen Hütte.“ Rochefort schwieg einen Moment und blickte d’Artagnan seltsam ernst an, bevor er mit veränderter Stimme fortfuhr. „Ich hätte die beiden alleine überwältigen können, doch ich dachte mir, dass Ihr und Athos ein Interesse daran haben dürftet an der Festnahme des Mörders von Saint-Eustache beteiligt zu sein. In Athos‘ Wohnung traf ich jedoch nur auf dessen verzweifelten Diener. So erfuhr ich also, wer das dritte Opfer war...“
D’Artagnan griff nach seinem Degen, der auf dem Nachttisch lag. Seine Augen funkelten.
„Worauf warten wir noch? Ich will diesem feigen Giftmischer und dem verräterischen Küster eigenhändig das Herz durchbohren – sofern sie eines haben!“
„Das zu tun, dürfte Euch schwerer fallen, als Ihr denkt.“ erwiderte Rochefort scharf.
„Wohl kaum!“ knurrte Porthos, während d’Artagnan den Chevalier mit einem unruhigen Blick ansah. „Was soll das heißen, Rochefort?“
„Nun, jener ‚feige Giftmischer‘ dürfte Euch nicht unbekannt sein?“
„Wir kennen ihn?“
Das Gesicht des Chevaliers war undurchdringlich.
„Der heimliche Geliebte der Julie d’Angennes ist niemand anderes als René d’Herblay. Euch wohl besser bekannt als Aramis! Und der ‚verräterische Küster‘ ist kein anderer als sein Diener Bazin!“
D’Artagnan sprang auf wie von der Terantel gestochen, während Porthos purpurrot anlief und Planchet einen ungläubigen Ruf ausstieß..
„Warum hätte er...?“ Porthos sah den Chevalier empört an.
„Nun, Julie wird von Baronen und Grafen umgarnt. Ihre Mutter dürfte über ihre Beziehung mit diesem mittellosen Möchtegern-Mönch nicht gerade erfreut gewesen sein. Sie stand dem Glück der beiden gewissermaßen im Weg und daher....“
„Möchtegern-Mönch?! Was fällt Euch elendem Schwachkopf eigentlich ein!“ donnerte Porthos los, packte Rochefort bei den Rockaufschlägen und drängte ihn an die Wand. „Aramis der Mörder seines Freundes Athos?! Potzblitz, Ihr seid nicht recht bei Trost!“
Er kennt mich! Er erkennt meine Fechtkunst!
Er führt die Klinge geschickt, kraftvoll und zugleich grazil. Irgendwo habe ich diese Art zu fechten schon einmal gesehen.
Er kennt mich!
„Porthos...“ sagte d’Artagnan schwach. „Lass ihn los.“
Verblüfft ließ der Riese von Rochefort ab. „Aber d’Artagnan! Ihr... Ihr glaubt ihm doch nicht etwa?“
Als Antwort steckte d’Artagnan seinen Degen ein und nahm zwei geladene Pistolen von seinem Nachttisch.

Kapitel Gewitternacht

Graue Gewitterwolken, reizbar und bereit jeden Moment ihren Zorn über die Welt herein brechen zu lassen, verdeckten die Sicht auf die Sterne und den Mond. Es herrschte totale Windstille. Die Ruhe vor dem großen Sturm. In der Finsternis, mehr noch als am Tag, wirkte die kleine Gasse am Rande der Stadt, wo Porthos d’Artagnan aus jener Steinbaracke befreit hatte, wie eine Geisterstadt. Es gab nur wenige Pariser, die dieses düstere Viertel im Nordosten der Stadt kannten. Die wenigen, denen die Barackengasse bekannt war, hatten ihr den Namen „Rue des Maisons Mortes“ gegeben. Tatsächlich war das einzige intakte Gebäude jene kleine schäbige Holzhütte, in der sich Aramis und sein Diener Bazin verschanzt hatten.
Sie scheinen nur aus schwarzen Kutten zu bestehen. Dort, wo ihre Gesichter sein sollten, ist nichts weiter als ein dunkles Loch. Er steht in ihrer Mitte. Düster. Erhaben. Sein Blick aus leeren Augenhöhlen durchdringt ihre Kutten, ihr Fleisch, dringt bis in ihre Seele und lässt sie erstarren. Sie werden zu Marionetten, zu willenlosen Figuren, die ihm folgen. Ein düsterer Zug, den er anführt. Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich zu ihnen um. Er erhebt die Hand. Ein langer knochiger Finger. Er deutet auf einen der Gesichtslosen. Er deutet auf ihn und spricht ein Wort. Er klagt ihn an. Mit düsterer Stimme. Ein einziges Wort. Der Gesichtslose schwankt. Dann ein bodenloser Abgrund, der sich vor seinen Füßen auftut. Er stößt einen Schrei aus.
Er stieß einen Schrei aus, als er aus dem Schlaf hochfuhr, und fasste sich flüchtig an die heiße Stirn. Wieder dieser Traum! Wieder diese Kopfschmerzen! Mit einem Seufzen erhob er sich aus dem Sessel, auf dem er eingeschlafen war. Wieviel Uhr war es? Er warf einen Blick auf die alte Standuhr mit dem zersprungenen Zifferblatt. Halb zwölf. Sie mussten los!
„Bazin, wach auf!“ Hastig zog er sich seine Kutte über und war gerade im Begriff die Tür zu öffnen, als diese von außen mit einem Ruck aufgestoßen wurde. Bazin stieß einen Schrei aus und sprang von seinem Stuhl auf, während sein Herr verblüfft einen Schritt vor den Eindringlingen zurückwich. Sein Blick irrte zwischen den drei Männern hin und her, die die Hütte betreten hatten. D’Artagnan hatte die Hand auf den Griff seines Degens gelegt. Porthos‘ Miene zeigte Bestürzung und Verwirrung und um den Mund des Chevaliers de Rochefort lag ein verächtlicher Zug.
„Aramis. Ihr erzählt uns nichts davon, dass Ihr in Paris seid?“ Noch niemals hatte der Abbé d’Artagnan mit solch einer kalten Stimme zu ihm oder irgendwem sonst sprechen hören. „Habt Ihr womöglich Eure alten Freunde vergessen... oder wollt Ihr Ihnen gar aus dem Weg gehen, dass Ihr Euch in dieser Hütte verkriecht?“ Schritt für Schritt drängte der Musketier Aramis an die gegenüberliegende Wand zurück.
„Nun ja, ich...“ Nervös versuchte der junge Abbé d’Artagnans scharfen Blicken auszuweichen, „Ich hatte wichtige Geschäftige in der Stadt zu verrichten und wählte mir diesen abgelegenen Ort zum Quartier, um bei der Gebetsandacht ungestört zu sein und...“
Ein Faustschlag ins Gesicht ließ Aramis verstummen. D’Artagnan war der Geduldsfaden gerissen. „Zum Teufel mit Eurer Scheinheiligkeit! Aramis, wir werden uns duellieren, wenn Ihr es nicht fertig bringen solltet, mir eine ehrliche Antwort zu geben: Was habt Ihr mit Athos getan?“
„Mit Athos?!“
In diesem Moment zog Rochefort seinen Degen und setzte ihn dem Abbé auf die Brust.
„René d’Herblay,“ sagte er kalt, „Wir bezichtigen Euch des Mordes am Grafen de la Fère, der Duchesse du Val de Cy und dem Marquis du Lû. Verteidigt Euch, wenn Ihr könnt!“
„D’Artagnan! Porthos!“ Entgeistert sah sich Aramis nach seinen Freunden um.
„Antwortet, mon pauvre amant!“ verlangte d’Artagnan grimmig. Bei diesen Worten zuckte Aramis zusammen. Er glaubt es tatsächlich! Der Abbé erwiderte d’Artagnans Blick mit der gleichen Kälte in den Augen und während sie einen stummen Kampf austrugen, fühlten sie beide, wie das Band zwischen ihnen zerriss, das sie einst wie Brüder miteinander verbunden hatte.
Endlich senkte Aramis den Kopf. „Athos lebt.“ sagte er leise. „Ebenso wie die anderen beiden.“ Totenstille trat ein. In d’Artagnans Blick schienen sich wiedergewonnene Hoffnung und Ungläubigkeit einen Kampf zu liefern. In Porthos Augen glitzerten Tränen der Erleichterung. Rochefort jedoch zögerte seinen Degen zurückzuziehen.
„Wollt ihr uns vielleicht weismachen, dass es ein anderer ist, den wir tot in Saint-Eustache gefunden haben?“ fragte er argwöhnisch.
Aramis hob den Kopf. Das war genug! „Athos lebt!“ schrie er den Chevalier zornig an. Porthos, der es nicht mehr mitansehen konnte, schob kurzerhand den Stallmeister seiner Eminenz beiseite „Nehmt endlich Euer Ding da weg!“ fuhr er ihn an. Dann nahm er Aramis in die Arme, wobei er den zierlichen Abbé beinahe erdrückte und unter Tränen der Rührung hervor brachte „Wir waren Narren, Aramis. Doch Ihr hättet zu uns kommen sollen mit Eurem Geheimnis, denn was immer es auch sein mag, es erdrückt Euch! Einer für alle, alle für einen, wisst Ihr nicht mehr? Nun setzt Euch hin und erzählt, was Ihr zu erzählen habt.“
„Ach, Porthos,“ sagte Aramis erschöpft und ließ sich widerstandslos in den einzigen Sessel im Raum drücken, „Dieses Geheimnis ist wahrhaft tödlich. Bisher hat keiner von denen überlebt, die von ihm wussten und ihr Gewissen erleichtern wollten....Seid Ihr sicher, dass Ihr diese Geschichte hören wollt?“ Er blickte von einem zum anderen und begann dann mit einem Seufzer zu erzählen:
„Im Februar vor drei Jahren trat ich in den Franziskanerorden in Nancy, ein, in das Couvent des Cordeliers. Es muss etwa um dieses Datum herum gewesen sein, dass der Pakt des Lucifer gegründet wurde...“
„Der Pakt des Lucifer?“ fragte Porthos. „Bei meiner Treu! Diese Klöster scheinen auch nicht mehr zu sein, was sie mal waren!“
„Gründer des Paktes war der Subcustos des Klosters, ein Italiener. Ein Mann, ebenso abstoßend wie anbetungswürdig. Eine Kreatur, ebenso besessen wie weise. Manche sagen, er sei ein Magier, und was immer das bedeuten mag, in seinen Augenhöhlen, ja, ich sage Augenhöhlen, denn die Augen hat man ihm aus ihnen herausgerissen, scheint tatsächlich Magie zu wohnen. Nennt es Einbildung, doch seinem Willen wird sich jeder beugen, der sich einmal in der Finsternis dieser Augenlöcher verloren hat. Er gründete jenen geheimen Pakt, jenen Teufelskreis, im Glauben, dass Gott den Menschen in einem Gefängnis der Unwissenheit gefangen halte. Der einzige, der uns seiner Meinung nach, aus diesem Gefängnis befreien kann, ist der Teufel. Famulus Diaboli nannte er sich, Diener des Teufels, und er fasste den aberwitzigen Plan die ganze Welt zu ‚bekehren‘. Sein Kreis bestand zunächst nur aus wenigen dem Teufel Verfallenen, doch er vergrößerte sich von Tag zu Tag. Mönche, die gestern die überzeugtesten Christen waren, konnten morgen zu heimlichen Teufelsanbetern werden. Famulus beabsichtigte das gesamte Kloster unter seine Kontrolle zu bringen und den Pakt auf alle Brüder auszudehnen. Das Couvent des Cordeliers sollte sozusagen zur Wiege der neuen Weltanschauung werden. Um selbst Vorsteher des Klosters zu werden, musste Famulus den alten Custos beseitigen lassen. Man fand seine Leiche in der Kirche des Klosters, eingewickelt in ein schwarzes Grabtuch und von drei Kerzen umgeben. Als seien all diese Kennzeichen nicht genug, um auch den letzten Zweifler von der Macht des Satans zu überzeugen, stand quer über das Grabtuch in blutroten Buchstaben das Losungswort des Paktes, LUCIFER, geschrieben. Das war vor etwa einem halben Jahr. Dreizehn Tage nach dem Mord erhängte sich der vermeintliche Täter, Jérémie de Vivonne. In seinem Abschiedsbrief hatte er sich selbst als ‚Lucifer‘ zu erkennen gegeben. Jedoch gab es viele Zweifler im Kloster, die Jérémie für unschuldig hielten, da er allgemein als herzensgut und ehrlich bekannt gewesen war.“
„de Vivonne?“ Der Name ließ Rochefort aufhorchen.
„Ja, der Neffe der Catherine de Vivonne, der Marquise de Rambouillet. Kurz vor seinem Selbstmord hatte er seiner Tante einen Brief gesandt, in dem er ihr ausführlich von den düsteren Vorkommnissen im Kloster berichtete und ihr gestand selbst Mitverschwörer des Famulus Diaboli zu sein. Er prophezeite in jenem Brief unter anderem seinen eigenen Tod, denn er wusste, dass Famulus über kurz oder lang erfahren würde, dass er den Pakt verraten hatte. In Wirklichkeit, so vermutet die Marquise, muss der Gründer des Paktes, der sich selbst aus der Affäre ziehen wollte, den Verräter dazu gezwungen haben, jenen Abschiedsbrief zu schreiben und den Selbstmord zu begehen. Wer der oder die tatsächlichen Mörder des Custos sind, wird wohl niemals festgestellt werden, denn die Verschwörer des Lucifer-Paktes tragen Kutten, so wie auch ich eine trage, die ihre Gesichter verdecken. Selbst untereinander kennen sie sich nicht. Wer kann also sagen, welcher der Gesichtslosen letztendlich dem Custos den Todesstoß verpasst hat?“
„Wahrscheinlich war es dieser Verrückte selbst!“ knurrte Porthos.
„Famulus?“ Aramis bedachte den Freund mit einem bitteren Lächeln, „ Das glaube ich nicht. Er rühmt sich damit, noch niemals einen Menschen mit eigener Hand umgebracht zu haben.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Für Famulus stand fest: Die Marquise musste sterben. Es reichte nicht, dass das einzige Beweismittel, das sie gegen ihn in der Hand hatte, jener gefährliche Brief, in seine Hände gelangte, nein, mit diesem Brief musste auch die Frau verschwinden. Denn sie kannte alle Namen der Verschwörer, sie kannte alle Geheimnisse, alle heimlichen Riten des Paktes – der Gedanke daran war Famulus unerträglich. Die Macht des Paktes lag in der Geheimhaltung! Doch das schlimmste war: Die Marquise kannte sein Gesicht! Schließlich war sie schon des öfteren nach Nancy gekommen, um ihren Neffen zu besuchen. Eine Frau wie Catherine de Rambouillet umzubringen, die sich solch einer Berühmtheit in der Pariser Öffentlichkeit rühmte, war jedoch nicht so einfach. Famulus ersann daher eine List, wie er sie als Hexe diffamieren und im Anschluss in einem Inquisitionsprozess, den er selbst leiten würde, zum Tode verurteilen konnte. Dabei kam ihm die Angst des Kardinals vor einer Adelsverschwörung zu Gute. Zudem stellten die Lucifer-Morde das Gegenstück zu dem Mord am Custos von Nancy dar, den ja angeblich Catherines Neffe begangen hatte. Wer würde noch daran zweifeln, dass er tatsächlich der Schuldige war, wenn seine Tante bewiesenermaßen mit dem Teufel im Bunde stand?“
„Intrigen, Teufelskreise, Morde...Nun gut...“ D’Artagnan, der bis hierhin still zugehört hatte, trat näher an Aramis heran. „Doch was ist Eure Rolle in diesem Spiel, Aramis?“
„Diese Frage würde mich auch interessieren.“ Bemerkte der Chevalier de Rochefort forsch, „Woher wisst Ihr von all diesen Dingen, die so streng geheim gehalten wurden?“
„Nun...“ begann Aramis verlegen und seine Wangen färbten sich rot. „Die Marquise brachte bei ihren Besuchen auch hin und wieder ihre Tochter Julie mit ins Kloster. Ich nahm mich dem Mädchen ein wenig an, nahm ihr die Beichte ab und...“
„Ach?“ platzte Porthos heraus, „Bei Tag in der Kirche oder bei Nacht im Klostergarten?“
D’Artagnan und Rochefort warfen Porthos halb belustigte, halb tadelnde Blicke zu, während Aramis die Bemerkung großzügig überhörte.
„Durch sie stand ich jedenfalls mit den Rambouillets in näherem Kontakt und so geriet ich also in die ganze Geschichte hinein. Ich schloss mich zum Schein dem Pakt des Lucifer an und wurde zu Famulus‘ engstem Vertrauten, dem er befahl die Mission in Paris auszuführen. Er wusste, dass ich Beziehungen zur Marquise habe, glaubte jedoch, dass ich diese nur aufgebaut hätte, um seine finsteren Machenschaften unterstützen zu können. Davon, dass ich mit der Marquise zusammenarbeitete, um eben diese finsteren Machenschaften zu vereiteln, hatte er glücklicherweise keinen blassen Schimmer. Anstatt die Opfer, die Famulus mir genannt hatte, zu vergiften, verabreichte ich ihnen ein Mittel, das sie für genau 24 Stunden scheintot machte... Ein Unterfangen, das sich als schwerer herausstellte, als ich es mir vorgestellt hatte. Den Marquis du Lû musste ich nicht nur vor Famulus‘ Gift, sondern auch noch vor Rocheforts Degen schützen. Dieser Mann muss einen wahren Schutzengel gehabt haben! Und was die Duchesse betrifft, so habe ich eine halbe Stunde damit zubringen müssen, ihr glaubhaft zu versichern, dass sie eine der attraktivsten Frauen von Paris sei und dass sie doch bitte ihre Dienerschaft möglichst weit fort schicken solle, damit wir ungestört ein Glas Wein miteinander trinken könnten. Das eigentliche Problem bestand jedoch darin diesen Koloss aus ihrem Palais in die Kutsche der Marquise zu schleifen, die vor dem Eingangstor wartete.“
An dieser Stelle hätte d’Artagnan wohl eine Bemerkung anbringen können, was seine eigenen Erfahrungen mit übergewichtigen Scheintoten anging, doch er hielt es für besser, Aramis seine ungemütliche Kutschenfahrt zu verschweigen.
„Wie habt Ihr Athos überlistet?“ fragte er stattdessen.
Aramis sah ihn mit einem Blick an, den d’Artagnan nicht zu deuten wusste. „Athos erwartete mich bereits. Ich weiß nicht wie, doch er schien einiges von meinem Vorhaben erraten zu haben. Und wie es seine Art ist, fragte er mich gerade heraus, ob ich die beiden ersten Opfer von Saint-Eustache vergiftet hätte. Ich muss gestehen, dass ich so überrumpelt war, dass mir keine bessere Ausrede einfiel als die Wahrheit. Ich erzählte ihm also in groben Zügen von Famulus‘ Intrige und meinem Vereitelungsversuch und während ich mir den Kopf zerbrach, wie ich nun, da ich Famulus das dritte Opfer nicht präsentieren konnte, vorgehen könnte und bereits der Verzweiflung nahe war, mischte Athos sich in aller Seelenruhe mein Gift in seinen Wein, prostete mir à notre amitié zu und nahm einen großen Schluck.“
„Der gute Athos!“ Porthos klatschte vergnügt in die Hände, als er sich die Szene vorstellte.
„Mit Julies Hilfe transportierte ich ihn in die Kirche von Saint-Eustache, wo wir ihn wie auch die anderen beiden ‚Opfer‘ zuvor so herrichteten, wie Famulus es befohlen hatte. Dafür, dass wir in der Kirche nicht unangenehm überrascht wurden, sorgte Bazin.“
„Ja,“ bemerkte d’Artagnan zähneknirschend mit einem Seitenblick auf den Diener, „Mit dieser Aufgabe hat er es meiner Meinung nach etwas übergenau genommen. Wäre Porthos nicht zufällig in diese gottverlassene Gegend gekommen, so säße ich wohl immer noch in dieser stinkenden Baracke ein paar Straßen von hier entfernt, wohin er mich verfrachtet hatte!“
Verständnislos sah Aramis erst d’Artagnan, dann Porthos und schließlich seinen Diener Bazin an, der verlegen seinem Blick auszuweichen versuchte.
„Du hast was getan, Bazin?“
Bazin hatte den Gascogner noch nie leiden können, seit jenem Tag in der Schenke von Crèvecoeur jedoch, als dieser seinen Herrn, der sich schon entschieden hatte der profanen Welt zu entsagen und in ein Kloster einzutreten, überredet hatte den Beruf als Musketier doch noch nicht an den Nagel zu hängen, was Bazin wiederum ein weiteres qualvolles Jahr in den Diensten eines „Vagabunden und Abenteurers“ beschert hatte, hasste er ihn wie die Pest. Es hatte ihm daher nicht mit allzu großem Bedauern erfüllt, die Bibel einmal zu einem ganz nüchternen profanen Zweck zu gebrauchen, indem er sie diesem elenden Schnüffler über sein gascognisches Gesicht gezogen hatte, und selbst den langen qualvollen Ritt quer durch Paris mit einem Ohnmächtigen, der ihm jeden Moment aus dem Sattel zu fallen drohte, hatte er nahezu mit Freuden auf sich genommen. So murmelte der Küster nun auch nur irgendeine halbherzige Entschuldigung und machte sich nicht einmal die Mühe, sie ehrlich klingen zu lassen.
„Was ist eigentlich mit dem Marquis und der Duchesse geschehen, nachdem sie wieder erwacht sind? Laufen die Totgeglaubten jetzt etwa irgendwo in Paris herum?“ lenkte Porthos das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurück.
„Nein!“ Aramis schüttelte lächelnd den Kopf, „Das würde einen schönen Aufruhr geben! Julie und ich haben du Lû und du Val de Cy noch schlafend ins Hôtel de Rambouillet verfrachtet. Was sie sich gedacht haben mögen, als sie im Gästezimmer der Marquise erwacht sind, kann ich nicht sagen. Sie werden wohl getobt haben, als sie festgestellt haben, dass man sie eingesperrt hat – besonders Monsieur du Lû . Doch nur so konnten wir ihnen das Leben retten.“
„Eines ist mir noch immer unklar.“ meinte Rochefort, der Aramis, anders als Porthos und d’Artagnan noch immer mit einem gewissen Argwohn betrachtete „Weshalb legte die Marquise so viel Wert darauf festgenommen zu werden? Wozu all die Indizien?“
„Wir wollten Famulus in Sicherheit wiegen, er sollte glauben, dass seine Rechnung aufgeht. Morgen früh findet der Hexenprozess statt. Was wirklich geschehen ist, wird sich dann aufklären.“ Seinen Freunden entging nicht die Aufregung, die Aramis beim Gedanken an den nächsten Tag ergriffen hatte, „Famulus selbst wird den Vorsitz der Inquisition führen. Doch noch ein anderer Inquisitor, ein Dominikanermönch, wird der Verhandlung beiwohnen, wie es Brauch ist, und ihm wird Catherine diese Geschichte in allen Einzelheiten berichten und sie wird den unwiderlegbaren Beweis erbringen, dass es Famulus war, der die Morde von Saint-Eustache inszeniert hat, dass er es ist, der den Custos des Couvent des Cordeliers hat ermorden lassen und dass auch er es ist, der ihren Neffen, Jérémie de Vivonne, auf dem Gewissen hat.“
„Ein gefährliches Spiel, auf das sie sich da eingelassen hat!“ murmelte d’Artagnan, „Was nun, wenn es ihr nicht gelingen sollte ihre Unschuld zu beweisen?“
„Man wird sie keines Mordes mehr bezichtigen können, wenn die vermeintlichen Opfer selbst bei der Verhandlung erscheinen, oder etwa doch? Und zumindest Athos, der in das Geheimnis eingeweiht ist, wird ihre Berichterstattung stützen. Im übrigen ist die Marquise noch immer im Besitz jenes Briefes, den Famulus glaubt längst vernichtet zu haben: Der Wisch, den ich ihm besorgte, war eine Fälschung!“
Eine Weile herrschte Stille. Nur der feine Regen, der begann gegen die Fensterscheibe zu prasseln, war zu hören.
„Aramis.“ Mit einem ernsten Ausdruck in den Augen blickte d’Artagnan den Freund an. Dann hielt er ihm verlegen seine Hand hin. „Ich... bitte vergebt mir, dass ich Euch des Verbrechens verdächtigt habe, Athos...“ Er stockte, „ Vergebt mir.“
Aramis erhob sich und sah d’Artagnan in die Augen. Er zögerte.
Es war seine Trauer, sein Schmerz. Er hat nicht wirklich ...
Doch dann erinnerte er sich an die Kaltblütigkeit, mit der d’Artagnan ihm ins Gesicht geschlagen hatte.
Aramis, wir werden uns duellieren, wenn Ihr es nicht fertig bringen solltet, mir eine ehrliche Antwort zu geben...
Abrupt wandte er sich ab ohne d’Artagnans Hand zu ergreifen. Dieser fühlte, wie etwas seinem Herzen einen Stich versetzte, doch gleichzeitig begriff er, dass die Ohrfeige, die er Aramis versetzt hatte, einen Balken zwischen sie getrieben hatte, der durch ein einziges Wort nicht wieder fortgeschwämmt werden konnte.
„Wir müssen los.“ sagte Aramis hastig, um seine Gefühle vor d’Artagnan zu verbergen. „Wir müssen in Saint-Eustache sein, bevor Athos erwacht.“
Er wandte sich zur Tür... und erstarrte in der Bewegung. Der erste Blitz zuckte vom Himmel und ließ für einen Augenblick eine hochgewachsene Gestalt mit einem Totengesicht in bläulichem Licht erscheinen, die schon seit einer Weile reglos in der geöffneten Tür gestanden haben musste, ohne dass einer der fünf Männer sie bemerkt hatte. Mit Famulus‘ Erscheinen brach das Gewitter los. Wolkenbrüche, Stürme und Donnerwirbel, die die Hütte erbeben ließen, setzten ein und dicht aufeinander folgende Blitze erhellten die erschrockenen Gesichter der fünf Belauschten und ließen sie noch bleicher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit waren. Famulus wies mit dem Finger auf Aramis und sagte nur ein einziges Wort: „Verräter.“
Er erhebt die Hand. Ein langer knochiger Finger. Er deutet auf einen der Gesichtslosen. Er deutet auf ihn und spricht ein Wort. Er klagt ihn an.
Aramis spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er Famulus‘ leere Augenlöcher auf sich ruhen spürte. Rochefort, Porthos und d’Artagnan zogen ihre Degen und machten Anstalten auf den Custos loszugehen. Dieser jedoch ließ nur ein leises verächtliches Lachen hören, als er das klirrende Geräusch der Waffen hörte. Er machte mit der Hand ein Zeichen, worauf hinter ihm eine Kuttengestalt in die Hütte trat. In der Hand hielt sie eine selbst fabrizierte Handgranate, ein mit Schießpulver gefülltes Tongefäß, das sie auf eine weitere Handbewegung des Custos erhob.
„Ein Schritt weiter, Messieurs, und ich lasse diese Hütte in die Luft sprengen.“
Zögernd ließen die drei Männer ihre Waffen sinken. Famulus trat einen Schritt näher an Aramis heran. „D’Herblay, ich muss Euch meine Bewunderung aussprechen.“ sagte er mit einer samtweichen Stimme, die nicht recht zu dem bösen Lächeln passen wollte, das von seinen Lippen Besitz ergriffen hatte, „Ihr seid ehrgeizig, eine recht brauchbare Tugend! Was hat Euch der Bischof von Nancy, der lieber seinen Bruder als mich als Vorsteher des Klosters sehen würde, für Euren Verrat geboten? Das Amt seines Erzdiakons womöglich?“
„Dachte ich es mir doch, dass dieser falsche Mönch aus reiner Nächstenliebe handelt!“ murmelte Rochefort triumphierend.
„Euer Plan wäre geglückt.“ fuhr Famulus derweil an Aramis gewandt fort, „ Ich bin sicher, dass er bei jedem anderen geglückt wäre. Doch Famulus Diaboli hat noch kein Mann je überlistet. Ich habe Euer Schauspiel genossen.“
„Ihr habt es gewusst.“ flüsterte Aramis. Alles begann sich um ihn zu drehen und er ließ sich kraftlos in den Sessel zurücksinken, „Von Anfang an habt Ihr es gewusst.“
„Ich hatte meine Informanten..., nicht wahr, Bazin?“ Der Blinde wandte den Kopf in Richtung des Dieners, der sich still in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen hatte, und nun wie vom Blitz getroffen zusammenfuhr und vor Verlegenheit nicht wusste, wohin er blicken sollte.
„Bazin? Du hast mich verraten?“ Aramis sprang auf. In seinem Blick spiegelten sich gleichzeitig Ungläubigkeit, Zorn und noch etwas anderes, das den Abbé in späteren Jahren lehren würde, Freund wie Feind zu misstrauen. Dieses Misstrauen war Bazins Vermächtnis an seinen Herrn.
„Ihr werdet nicht ungestraft davon kommen!“ mischte sich nun d’Artagnan leidenschaftlich in das Gespräch mit ein.
„Leere Worte!“ erwiderte Famulus ohne sich auch nur zu dem Musketier umzuwenden und zog ein Briefcouvert unter seiner Mönchskutte hervor, das er bedächtig in die Flammen des flackernden Kamins hielt. (Entweder er hatte vergessen, dass er dem Feuer misstraute oder aber er hatte bereits zu Abend gespeist!) Die Flammen verschlangen wie hungrige Wölfe das Dokument. Aramis sog scharf die Luft ein.
„Jérémies Brief! Woher...?“
„Als Inquisitor ist es mir erlaubt Hausdurchsuchungen bei den Verdächtigen zu machen. Das hattet Ihr wohl nicht bedacht, mio amico?“ Er überließ den letzten Fetzen Papier, der noch von dem einzigen Beweismittel übrig war, das die Marquise gegen ihren Ankläger in der Hand hatte, der unstillbaren Gier des Feuers. „Ich habe im Hôtel Rambouillet noch andere ganz erstaunliche Funde gemacht. “
Aramis schrie entsetzt auf. „Die Duchesse und der Marquis! Was habt Ihr mit ihnen gemacht?“
Mit einem seltsam verklärten Lächeln zuckte Famulus mit den Schultern. „Was bedeuten sie Euch? Wollt Ihr nicht lieber erfahren, was ich mit Eurem Freund vorhabe... jenem jungen Mann, der noch immer in Saint-Eustache den Schlaf der Gerächten schläft...?
„Athos!“
Scusi, signore, doch Ihr ließt mir, da Ihr ihm das Geheimnis verrietet, keine andere Wahl.“ Und mit einem zynischen Lächeln und einer Grabesstimme, die den Anwesenden einen Schauer über den Rücken jagte, fügte er hinzu, „Wer wird mich schon des Mordes an einer Leiche bezichtigen?“
„Ihr seid wahnsinnig!“ schrie d’Artagnan und wollte auf den Custos losgehen. Dieser jedoch wandte ihm ruckartig das Gesicht zu und sein dämonisches Antlitz ließ den Musketier in der Bewegung innehalten. Mit einem verächtlichen Zug um den Mund wandte Famulus sich zu dem Kuttenmann um, „Sprengt sie in die Luft. Ich erwarte Euch vor Saint-Eustache.“
Ein Schrei ertönte aus dem hinteren Teil der Hütte. Bevor Famulus aus der Tür treten konnte, warf sich ein totenbleicher, erbärmlich wimmernder Bazin ihm vor die Füße, „Das... Das könnt Ihr nicht machen! Für Euch habe ich meinen Herrn verraten! Und nun wollt ihr auch mich in die Luft sprengen?“
„Warum sollte ich gerade einen Verräter verschonen?“ Mit einem Fusstritt stieß Famulus die erbärmliche Kreatur zu seinen Füßen beiseite, „Noch dazu einem doppelten Verräter? ...Arrivederci, adieu, Messieurs.“ Er trat in das Unwetter hinaus und kurz darauf hörte man ein Pferd durch den Schlamm galoppieren.
„Ich habe Euch gewarnt.“ flüsterte Aramis „Ich wollte Euch nicht mit hinein ziehen in diese Geschichte.“ Porthos legte ihm stumm seine starke Hand auf die Schulter. Der Regen trommelte auf das Dach der Holzhütte und der Donner übertönte das Klopfen der Herzen jener fünf Männer, die mit gesenkten Köpfen auf das Geräusch der Explosion warteten. Doch diese blieb aus. Stattdessen war auf einmal ein leises Lachen zu hören und d’Artagnan, Aramis, Porthos, Rochefort und Bazin hoben verblüfft die Köpfe. Der Kuttenmann hatte sich die Kapuze der Kutte vom Kopf gezogen, unter der sich –zur allgemeinen Verblüffung – ein dunkelbrauner hübscher Lockenkopf mit verschmitztem Gesicht versteckte.
„Wie waren die Worte des Custos? ‚Famulus hat noch kein Mann überlistet‘? Nun, da gebe ich ihm recht. Ein Mann bin ich wahrhaftig nicht!“
„Julie!“
Das Mädchen drückte kurzerhand Porthos, der ihr am nächsten stand, die Granate in die Hand und fiel dem entgeisterten Aramis um den Hals.
„Was starrt Ihr mich an? Als dieser Famulus mit seinem Diener kam, um den Palais meiner Mutter zu durchsuchen, dachte ich mir, dass er unseren Plan durchschaut haben musste und Euch in Schwierigkeiten bringen würde. So beschloss ich, mir die Kutte seines Gefährten ‚auszuleihen‘, denn an deren Geruch schien er seinen Lakaien zu erkennen, und ihm zu folgen...“
Aramis schüttelte bewundernd lächelnd den Kopf, „Wahrscheinlich habt Ihr es fertig gebracht den armen Mann, dem diese Kutte gehört, mit einem Küchenmesser zu bedrohen, dass er vor Angst meilenweit davon gelaufen ist!“
„Aber René!“ Gespielt empört schüttelte Julie den Kopf, „Ich bin eine Frau! Ich kenne andere Mittel als Waffen, um einen Mann dazu zu bringen seine Kleider für mich auszuziehen, das solltet Ihr wissen!“
D’Artagnan räusperte sich, „Verzeiht die Unterbrechung, doch unser Freund Athos ist in größter Gefahr. Wir sollten aufbrechen und so schnell wie möglich nach Saint-Eustache reiten. Ich kann nicht wieder ruhig schlafen, bevor ich nicht weiß, dass der Kopf dieses Italieners nicht mehr auf seinen Schultern sitzt!“
„Nein!“ sagte Julie entschieden, während sie sich zu d’Artagnan umdrehte. „Wenn Ihr ihn tötet, so wird niemand je wissen, dass er es war, der die Morde von Saint-Eustache inszenierte, denn er hat alle Beweise vernichtet. Auch wohin er du Lû und du Val de Cy gebracht hat, weiß ich nicht. Wenn sie bei der Verhandlung morgen früh nicht auftauchen, ist meine Mutter verloren! Famulus muss auf frischer Tat ertappt werden!“
„Und wie stellt Ihr Euch das vor?“
„Hier, zieht das über!“ Julie entledigte sich der schwarzen Kutte und reichte sie d’Artagnan, „Reitet nach Saint-Eustache, wie Famulus es seinem Diener befohlen hat, doch schreitet nur ein, wenn es unbedingt nötig ist und versucht sein Spiel solange mitzuspielen, bis wir kommen. René, Rochefort, Euer Freund und ich, wir werden zum Kardinalspalais reiten.“
„Zum Kardinalspalais?“ Aramis wechselte einen verständnislosen Blick mit Porthos. Die Augen des Chevaliers de Rochefort dagegen blitzten verstehend auf und er warf der Tochter der Marquise einen anerkennenden Blick zu.
„Was für eine Frau!“ raunte er d’Artagnan zu, der neben ihm stand und nur stumm nicken konnte, die Augen verträumt auf Julies Gesicht gerichtet. Schließlich jedoch gab er sich einen Ruck und wandte den Blick von ihr. „Lasst uns keine Zeit verlieren!“ Er trat auf die Tür zu.
Als die anderen bereits ihre Pferde bestiegen hatten, fragte Porthos, der noch immer mit der Granate in der Hand dastand, etwas ratlos: „Freunde, was soll ich mit diesem Zeug machen?“
„Gebt her! Ich sprenge sie in die Luft.“ erwiderte Aramis.
„Wen?“
„Die Hütte! Ich will sie nie wieder sehen! Ein entsetzlicher Ort!“
Aramis war gerade im Begriff das Tongefäß in Richtung der Holzhütte zu schleudern, als plötzlich Bazin in der Türöffnung erschien. Seit Julies Erscheinen hatte keiner mehr auf ihn geachtet. Zorn flackerte in den Augen des Abbés auf und er erhob die Flasche zum Wurf.
„Herr!“ Bazin stand starr vor Schreck.
Es war weniger Mitleid als eine abgrundtiefe Verachtung für diesen Wurm, für den selbst der Tod noch zu schade war, die Aramis innehalten ließ.
„Lauf!“ befahl er kalt, „ Mach, dass du mir nie wieder unter die Augen kommst!“
Das ließ Bazin sich nicht zweimal sagen. Schneller, als man es seinen kurzen Beinen zugetraut hätte, rannte er auf sein Pferd zu, sprang in den Sattel und galoppierte los.
Aramis warf und der Knall der Explosion ließ zusammen mit dem Donnerwirbel, der noch immer am Himmel tobte, die Erde erzittern.

Kapitel Freundschaft

Sein Vater, ein reicher italienischer Kaufmann und Günstling der Familie Medici, war viel auf Reisen gewesen, die ihn weit fort aus der Heimat geführt hatten. Luciano selbst dagegen verließ sein Dorf auf der Insel Elba, wo er aufgewachsen war, bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr nicht .Für ihn endete die Welt dort, wo die Strände ins Meer übergingen. Schon, als er noch ein Kind war, fürchteten ihn die Menschen in jenem kleinen Dorf. Es hieß, er habe Hexenaugen, böse Augen, mit denen er die Menschen zwingen konnte Sachen zu tun, die sie nicht tun wollten. Oft warfen die Jungen mit Steinen nach ihm und übertrafen sich im Erfinden von schmutzigen Schimpfwörtern, die sie ihm nachriefen. Einmal fragte er seine Mutter, weshalb Gott ihn schlechter gemacht habe als die anderen, und sie antwortete ihm, dass er ihn nicht schlechter, sondern anders und mächtig gemacht habe und dass die Menschen diejenigen fürchteten, die mächtig waren. Gott habe ihn zu etwas besonderem auserkoren und ihm darum diese Augen geschenkt. So wartete der kleine Luciano also geduldig darauf, dass Gott ihm seine Aufgabe offenbaren würde.
Als die Spanier schließlich nach Elba kamen, begannen schlechte Zeiten für die Familie Carmini, und Lucianos Vater floh mit Frau und Kindern nach Pisa. Luciano betrat eine Welt voller Wunder, ein Hafen, in den Schiffe aus Indien, Afrika und der Neuen Welt einliefen, ein Turm, der so schief stand, dass er es vermied in seine Nähe zu kommen, aus Angst er könne ihm auf den Kopf fallen und überall Künstler, Wissenschaftler und Musiker, die über Fragen diskutierten, die Luciano niemals zu stellen gewagt hätte: Wer ist Gott? Was ist der Mensch? Wohin führen uns unsere Wege? Gemäß dem Wunsch seiner Mutter besuchte der junge Luciano die Universität von Pisa, um Theologie zu studieren. Doch seine heimliche Leidenschaft galt den Naturwissenschaften. Einer seiner Professoren war ein junger Wissenschaftler namens Galileo Galilei, der seit seiner Entdeckung der Fallgesetze ein angesehener Mann in Pisa war. Er erkannte schnell die wissenschaftliche Begabung und die fast an Fanatismus reichende Wissbegierde seines Schülers, und weihte ihn in seine Beobachtungen in der Astronomie ein, dass die Erde sich um die Sonne drehe und nicht der ruhende Pol im Universum sei, um den die anderen Planeten kreisten, wie es Aristoteles behauptet hatte; eine Erkenntnis, die er vor dem Rest der Welt noch Jahrzehnte lang geheim halten würde. Wohlwissend dass seine Entdeckung neuen Streit zwischen den Wissenschaftlern und der Kirche hervorrufen würde, die Aristoteles‘ Lehre zum Dogma erklärt hatte.
Luciano war sich sicher, nun endlich seine Bestimmung gefunden zu haben: Er glaubte nicht, dass Galileis Beobachtungen dem Wort Gottes entgegen standen, und wenn sie der Bibel widersprachen, die die Erde als den Mittelpunkt der Welt festgelegt hatte, so mochte dies daran liegen, dass es Menschen waren, die die Bibel auslegten; Menschen jedoch waren fehlbar. Gott aber hatte beschlossen sie aus ihrer Unwissenheit zu befreien und darum hatte er ihn, Luciano Carmini auserkoren, das Wissen um die Bewegung der Himmelskörper unter den Menschen zu verbreiten. So kehrte er nach Abschluss seines Theologiestudiums in sein Heimatdorf auf der Insel Elba zurück und von der Kanzel herab predigte der junge Priester vom Anfang eines neuen Zeitalters und sein flammender Blick, dem sich keiner entziehen konnte, vermochte diejenigen zu überzeugen, die wissenschaftlichen Beweisen keinen Glauben schenken wollten. Doch die Kunde von den „ketzerischen Predigten“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Umgebung und Bischöfe und andere Kirchenfürsten, die die Unantastbarkeit der Kirche durch die Verbreitung des heliozentrischen Weltbilds bedroht sahen, beschlossen den „Hexer mit dem dämonischen Blick“ aus dem Weg zu räumen. Luciano Carmini wurde der Ketzerei und Hexerei angeklagt und zu lebenslanger Haft verurteilt: Fünfundzwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er in einem Gefängniskerker auf der Insel Palmaiola. Bei seiner Einkerkerung stach man ihm die Augen aus, da man fürchtete er könne versuchen einen Gefängniswärter zu verhexen und zu fliehen. In dem Moment, da man ihm das Augenlicht raubte, schwor Luciano dem Gott ab, der ihn verraten hatte und verpfändete seine Seele dem Teufel. Luzifer, der gefallene Engel, hatte wie er selbst versucht den Menschen die Wahrheit zu bringen und wie er von der Kirche, so war Lucifer von Gott verdammt worden. Sie waren Brüder. Dieser Moment war die Geburtsstunde des Famulus Diaboli. Und in den Jahren seiner Haft reifte sein wahnwitziger Plan, der Luzifer die Herrschaft über die Menschen und ihm seine Rache an Gott und der Kirche bringen sollte.
Im Jahre 1627 wurde Famulus von einem französischen Mönch befreit. Der Custos des Franziskanerklosters in Nancy hatte seinem 8o-jährigen Vater , der, nachdem der Name Carmini nach Lucianos Verurteilung in der ganzen Toskana als geächtet galt, ins Ausland geflohen war, an dessen Sterbebett die Absolution erteilt und ihm versprochen seinen Sohn mit dem hinterlassenen Geld aus der Kerkerhaft freizukaufen. Um die Bestechung zu vertuschen, ließ der Gefängniswärter Luciano Carmini offiziell an einer Lungenentzündung sterben. Famulus Diaboli jedoch begab sich als Mönch unter den Schutze seines Befreiers...
Als er den Klostervorsteher vier Jahre darauf durch seine Kuttendiener töten ließ, antwortete er auf die Frage des sterbenden Custos, warum er das getan habe, mit einem kalten Lächeln: „Ich habe meine Schuld beglichen. Ihr befreitet mich aus der Haft, nun befreie ich Euch vom Leben.“
Als Athos erwachte, blickte er in zwei dunkle leere Augenhöhlen. Ein Blitz erhellte in flüchtigem blauem Licht den Totenkopf, der sich über ihn beugte. In der erhobenen Hand hielt der Fremde einen Dolch. Hinter ihm erkannte Athos eine gesichtlose Gestalt in einer schwarzen Kutte. Mit einem Ruck setzte der Musketier sich auf und griff neben sich. Doch der Degen, den er dort vermutete, war nicht, wo er zu sein hatte. Wo, zum Teufel, befand er sich hier? wie war er hierher gekommen? Wer war jener Mann, der ihn bedrohte und...?
Die Kerzen. Das Kruzifix. Saint-Eustache. Aramis. Der Wein.
Mit einem Schlag kehrte Athos Erinnerung zurück. ‚Wenn alles gutgeht‘ hatte Aramis gesagt, nachdem Athos das Gift geschluckt hatte, ‚werde ich bei Euch sein, wenn Ihr morgen um Mitternacht in Saint-Eustache erwacht‘. Wenn alles gutgeht! Nun, es schien nicht alles gutgegangen zu sein! Der, den er vor sich sah, konnte kein anderer sein als Famulus Diaboli, der Wahnsinnige. Der Mörder von Saint-Eustache. Vorsichtig erhob sich Athos. Famulus schien jede seine Bewegungen zu spüren und folgte ihnen mit seinen leeren Augen.
„Ihr seid erwacht, de la Fère?“ Die Stimme klang leise und beinahe zart.
„Was habt Ihr mit Aramis getan?“ fragte Athos kalt, jedoch ohne die bange Erregung in seiner Stimme völlig unterdrücken zu können.
„Ihr meint den Verräter d’Herblay? Aramis?“ Famulus lächelte falsch, „So nannte ihn auch sein hitziger Freund mit dem gascognischen Akzent.“
„D’Artagnan!“ Athos wurde totenbleich. Was hatte das zu bedeuten?
„Ihr könnt Euch glücklich schätzen! Ihr habt sie überlebt, alle vier, um etwa eine halbe Stunde: d’Herblay, Euren d’Artagnan, den Stallmeister des Kardinals und jenen, den sie Porthos nannten...“
Donner krachte und Blitze schossen wie Schmerzenspfeile vom Himmel und bohrten sich in Athos‘ Herz. Er schwankte und griff hinter sich, als suche er Halt. Doch in diesem Moment geschah etwas eigenartiges: Der Kuttenträger, der bis hierhin reglos hinter Famulus verharrt hatte, nahm für die Dauer eines Blitzschlages die Kapuze seiner Kutte vom Kopf.
D’Artagnan?!
Spielte sein Verstand ihm einen Streich? War diese... Vision nichts weiter als ein Gespenst? Nein, es war keine Einbildung: D’Artagnan war quicklebendig und gab sich als der Handlanger des Custos aus. Doch weshalb schritt er nicht ein, obgleich er den schwächlichen alten Mann mit Leichtigkeit überwältigen könnte? Er schien auf etwas zu warten... auf jemanden! Dann mussten auch die anderen noch am Leben sein! Athos musste sich dazu zwingen nicht erleichtert aufzuatmen und den Custos dadurch misstrauisch zu machen.
Ihr... werdet auch mich töten?“ fragte er, um Zeit zu gewinnen.
„Ich?“ Beinahe angewidert verzog Famulus die Lippen, „Die Mächtigen der Welt sind mächtig, weil sie töten ohne jemals ihre Hände mit Blut zu beflecken! Das hat mich einmal mein Kerkermeister gelehrt. Ein weiser Mann. Nein, ich werde Euch nicht töten, de la Fère... und ich kann auch dafür sorgen, dass es kein anderer tut.“
Athos schwieg verwirrt.
„Ich sehe in Euch einen Seelenverwandten.“ Als der Musketier scharf die Luft einsog, lachte Famulus kurz auf und trat einen Schritt näher an Athos heran, „Glaubt mir, de la Fère, sehen kann auch, wer blind ist. Und wer gelitten hat, wie ich, der erkennt eine Seele, in der der gleiche Schmerz wohnt. Wie Ihr glaubte ich einst an die Güte Gottes und die Gerechtigkeit unter den Menschen und wie Ihr wurde ich von beiden enttäuscht: von der Menschheit ebenso wie von dem, den sie den Herrn nennen... Versucht nicht mir weiszumachen, Ihr wüsstet nicht, was Rache bedeutet!“
Für einen Augenblick stand Athos wie versteinert vor jenem Mann, der in seiner Seele zu lesen vermochte wie in einem offenen Buch, und er begann zu begreifen, wie dieser Mann es fertig gebracht hatte gläubige und herzensgute Menschen zu Teufelsanbetern und Mördern zu machen.
„Ihr wollt mich verführen...“ sagte er schließlich mit einer Stimme, die nicht so ruhig und fest klang, wie es ihm lieb gewesen wäre, „Doch mein Vertrauen in Gott – was immer dieses Wort, diese Idee auch bezeichnen mag – könnt Ihr nicht erschüttern.“
„Gott!“ Die Stimme des Custos war schrill und verächtlich geworden, er wandte seinen Kopf und starrte mit leeren Augen auf das Kruzifix „Gott ist ein Betrüger, der sich als Schöpfer der Welt darstellt und sie in die Gestalt zwängt, die er für sie vorgesehen hat! Katholiken, Hugenotten – allesamt naive Mitläufer. Die Bibel – ein einziger Schwindel, der den Betrug Gottes legitimiert! Warum hat Er die Menschen in Stände unterteilt? Die, die Seinen Schwindel kennen, sind reich und mächtig durch Ihn – warum sollten sie Ihn verraten? Und die anderen lässt Er in Unkenntnis über die Wahrheit, für sie hat Er die Hölle erschaffen,. damit sie lernen Ihn zu fürchten! Warum verdammte Er Luzifer! Weil er sich erhob, weil er zweifelte am Wort Gottes!“
„Das ist nur ein Bild!“ Athos beobachtete durch die Kirchenfenster, wie dunkle Schatten gebückt um die Kirche herum schlichen, „ Sowie die Bibel aus Gleichnissen und Bildern besteht, so ist der Teufel ein Bild für die Versuchung, das Böse!“
„Das Böse?“ In den Augenhöhlen des Custos schien ein Funke zu glühen, „Was ist das, das Böse? Versucht garnicht erst mir zu antworten, Ihr werdet keine Antwort finden! Es sind die Mächtigen, die definieren, was gut und böse ist! Seht, im alten Rom war es etwas durchweg Gutes heidnischen Göttern ein Opfer darzubringen, in der heutigen Zeit gilt es als Sünde. Verpönt ist, wer der hugenottischen Konfession angehört, doch wer weiß, wie man in der Zukunft dazu stehen wird? So, wer kann schon sagen, was gut und böse ist? Und wer kann beweisen, dass wir nicht alle Opfer eines gigantischen Schwindels sind, der das zum Guten macht, was eigentlich böse ist und umgekehrt? Wer kann beweisen, dass wir nicht in dem unseren Gott sehen, der in Wahrheit der Teufel ist?“
„Ihr seid verrückt!“
Was für ein Wahnsinn! Das Opfer einer Welt, die von Zweifeln zerrissen ist!
„Nun gut“ Der Custos spielte mit dem Dolch in seiner Hand, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. „Ich habe Euch Eure Chance gegeben...Sie nicht zu ergreifen war Eure Entscheidung.“ Er warf seinem Kuttenmann die Waffe zu, „Tötet ihn!“
In diesem Moment wurden sämtliche Eingänge der Kirche gleichzeitig aufgerissen. Durch das Hauptportal und die Seiteneingänge strömten Gardisten Seiner Eminenz, angeführt von Rochefort in die Kirche und in dem Seiteneingang, der dem Kruzifix, unter dem sich die Szene abgespielt hatte, am nächsten war, erschienen Aramis und Porthos und zwischen ihnen die Marquise de Rambouillet, ihre älteste Tochter Julie sowie ein Mönch mittleren Alters, der dem Gewand nach zu urteilen, dem Orden der sogenannten „domini canes“ angehörte, bei dem es sich demzufolge also um den Inquisitor handelte, der zusammen mit Famulus die Untersuchung gegen die Marquise leiten sollte. Das Entsetzen auf dem Gesicht des letzteren zeugte davon, dass er den kleinen Disput zwischen dem Klostervorsteher und dem Totgeglaubten mitangehört hatte.
„Ihr hattet recht, Abbé“, sprach er zu Aramis, „Dieser Mann ist tatsächlich der Mörder von Saint-Eustache!“
„...und das Oberhaupt des Lucifer-Paktes.“ setzte dieser hinzu.
Seiner Selbstsicherheit beraubt, aufgrund der vielen Geräusche, die auf ihn eindrangen und die er zuzuordnen versuchte, drehte Famulus sich ein paarmal um die eigene Achse. „Nein!“ krächzte er mit der erstickenden Stimme eines Mannes, der weiß, dass sein Plan durchkreuzt, sein Lebenswerk zerstört und sein Tod nahe ist. Seine Hände ballten sich in einer hilflosen Geste zu Fäusten und mit einem Mal strömten all die Gefühle, die er über Jahre hinweg in seinem Herzen verschlossen hatte, unkontrollierbar wie eine Meute halb verhungerter Wölfe aus seinem Innern und entluden sich in einer Aufwallung von Hass, der sich gegen denjenigen richtete, den er für seine Niederlage verantwortlich machte: den Abbé d’Herblay. Mit einem unmenschlichen Schrei, der die Anwesenden sekundenlang lähmte, riss er d’Artagnan seinen Dolch aus der Hand und schleuderte ihn in die Richtung, aus der er Aramis‘ Stimme vernommen hatte, während ein letzter ohrenbetäubender Donnerschlag den Himmel zerriss. Wie in Zeitlupe sah Aramis die Waffe auf sich zufliegen, die mit kaltblütiger Genauigkeit auf sein Herz gerichtet war. Unfähig sich zu rühren, unfähig zu schreien, nahm er aus den Augenwinkeln Porthos und Julie wahr, die entsetzt die Augen aufrissen. Doch auf halben Weg stieß das Mordwerkzeug auf ein Hindernis: D’Artagnan war in die Schussbahn des Dolches gerannt, um den tödlichen Stoß abzuwehren. Mit einem Stöhnen brach er zusammen, als der Dolch seine Schulter durchbohrte.
Gleichzeitig schrien seine drei Freunde auf und rannten auf ihn zu. Athos, der ihm am nächsten stand, fing d’Artagnan auf, als er fiel. Inzwischen überwältigte Rochefort den Verursacher der gesamten Aufregung von hinten.
„D’Artagnan! D‘Artagnan, könnt Ihr sprechen?“
Es kostete den Musketier seine ganze Kraft die Augen zu öffnen und den Mund zu einem etwas missglückten Lächeln zu verziehen.
„Dieser Fall...“ stammelte er, „hat mir schon... ein paar geprellte Rippen .... tausend blaue Flecken... au... und eine Beule eingebracht. Da fällt ein Arm in der Schlinge doch kaum noch auf!“
Porthos konnte sich ein Grinsen unter Tränen nicht verkneifen und Athos seufzte erleichtert auf, als er d’Artagnan sprechen hörte. Aramis jedoch stand totenbleich vor dem Verwundeten und starrte ihn nur aus großen Augen an. D’Artagnan erwiderte den Blick, so gut er es vermochte, und hob dem Abbé seinen gesunden Arm entgegen.
„würdet Ihr... vielleicht jetzt meine Hand ergreifen, Aramis? Ich fürchte nämlich, dass ich... alleine nicht hoch komme!“
Statt die dargebotene Hand zu nehmen, ließ sich Aramis auf die Knie nieder und umarmte den Freund stumm. Doch sein Schweigen sagte mehr, als es leere Phrasen wie „Ihr habt mir das Leben gerettet“ oder „Vergebt mir, mein Freund!“ in dieser Situation vermocht hätten. Mit einem erleichterten Seufzer schloss d’Artagnan die Augen. Endlich konnte er es seinem Körper erlauben ohnmächtig zu werden.

Kapitel 31. Dezember 1631 (Epilog)

Am Morgen des letzten Tages des alten Jahres fand ein Wanderer auf einer einsamen Straße etwa fünf Wegstunden von Paris entfernt eine dunkle Kutsche mit vernagelten Türen und Fenstern am Wegrand, aus der polternde Geräusche drangen. Als er die beiden Gespenster zu Gesicht bekam, die er daraufhin aus dem Gefährt befreite, und die zweifellos der Teufel, der sie erst kürzlich umgebracht nun zum Leben erweckt hatte, rannte er fort so schnell ihn seine Beine trugen. Der Marquis du Lû hatte gemeinsam mit der Witwe du Val de Cy die entsetzlichste Nacht seines Lebens verbracht. Nicht genug damit, dass die Duchesse bei jedem Donnerschlag, der die Kutsche erschüttert hatte, einen markerschütternden Schrei ausgestoßen hatte, hatte sie sich in ihrer Höllenfurcht dem Gardeleutnant auch noch jedesmal mit vollem Gewicht an den Hals geworfen, sodass dieser nach dem zehnten Donnerschlag fast wünschte ihre Befürchtung, dass die Kutsche von einem Blitz getroffen werde, möge sich bewahrheiten. Eine zufriedenstellende Erklärung, weshalb ihre Dienerschaft zu Tode erschrocken vor ihnen davonlief beziehungsweise in Ohnmacht fiel, als ihre Herren endlich erschöpft und vom Schnee durchweicht Paris erreichten, erhielten übrigens weder der Marquis noch die Duchesse.
Der Custos des Couvent des Cordeliers von Nancy wurde indessen zum Tode verurteilt, doch zur Vollstreckung des Urteils sollte es niemals kommen: In seiner Kerkerzelle in der Bastille gab sich der Mörder von Saint-Eustache selbst den Tod, indem er sich an den Ketten erhängte, in die man ihn gelegt hatte. Den Beginn des neuen Jahres erlebte er nicht mehr.
Mit der Begründung, er habe wesentlich zur Ergreifung des wahren Schuldigen beigetragen, nahm Seine Eminenz der Kardinal den Chevalier de Rochefort wieder in seine Dienste auf. Noch während er ihm dies mitteilte, gab er ihm jedoch mit einem langen düsteren Blick zu verstehen, was er in Wirklichkeit davon hielt, dass man die Marquise für unschuldig erklärt hatte und sein Ziel den Grafen von Montmorency loszuwerden, damit in unerreichbare Ferne gerückt war. Entsprechend plagten ihn am Silvesterabend seine Kopfschmerzen wie schon seit langem nicht mehr. Im übrigen sollten sich seine Ängste vor einer Adelsverschwörung um Gaston d’Orléans im neuen Jahr als nicht unbegründet herausstellen...
Porthos erfuhr zwar nicht die erhoffte Genugtuung, dass seine widerspenstige Gattin ihn auf Knien kriechend um Vergebung für ihre Unverschämtheiten bat, doch immerhin schrieb sie ihm, dass sie gewillt sei ihm wieder bei sich Einlass zu gewähren. Der Brief aus Saint-Cloud erreichte Porthos, als er sich gerade mit seinen drei Freunden in der Rue de Fosseyeurs ein von Planchet und Grimaud in Zusammenarbeit bereitetes Festtagsessen schmecken ließ, da d’Artagnans Gesundheitszustand es ihnen nicht erlaubte, den Abend des einunddreißigsten auswärts zu verbringen. Die Stimmung der drei Freunde war ausgelassen wie zu alten Zeiten, als gemeinsame Feste wie dieses für sie noch an der Tagesordnung gewesen waren. Einzig Aramis war merklich still. Immer wieder wanderte sein Blick zum Fenster in die Nacht hinaus, und mit seinem Blick, wie es schien, auch seine Gedanken. Als er sich nach der Mahlzeit ein wenig verlegen erhob und erklärte, dass es für ihn noch eine wichtige Angelegenheit zu regeln gebe, warfen sich seine Freunde nur einige vielsagende Blicke zu und nickten ihm zu ohne zu fragen, was das denn für eine dringende Angelegenheit sei, die ihn davon abhalte den Silvesterabend mit seinen Freunden zu verbringen.
Anders als in der turbulenten Nacht zuvor, wehte in dieser kein Lüftchen. Große Schneeflocken fielen lautlos auf die Straße und hüllten die Stadt in einen weißen Umhang des Friedens. Vor dem Tor eines Palais in der Nähe des Louvre standen zwei Liebende. Sie blickte in die Nacht hinaus, während er mit dem Fuß einen kleinen Schneehügel zusammenscharte. Schließlich wandte er den Blick vom Boden und holte tief Luft.
„Julie...“ begann er, „Meine Aufgabe in Paris ist nun erledigt. Ich werde nach Nancy zurück kehren.“
„Und ich werde mich mit dem Duc de Montausier verloben.“ kam die prompte Antwort.
„Montausier?“ Aramis stand da wie vom Donner gerührt. Julie starrte weiterhin in die Nacht, als bemerke sie seine Verblüffung nicht und vergrub ihre Hände tief in ihrem wärmenden Muff.
„Er ist ein begabter Poet“, erklärte sie, „ ein honnête homme wie er im Buche steht...“
„Nun, da kann ich wohl nicht mit ihm konkurrieren!“ erwiderte Aramis mit kaum verhohlener Bitterkeit in der Stimme.
„René, was erwartet Ihr eigentlich von mir!“ Endlich wandte sich Julie mit glühenden Wangen zu ihrem pauvre amant um, der zu seiner Freude in ihren Augen ebensoviel Schmerz entdeckte wie Groll in ihrer Stimme, „Soll ich etwa aus Solidarität mit Euch zur Nonne werden? Oder hier in Paris ewig darauf warten, dass es Euch beliebt in die Stadt zu kommen, wenn es Euch in Eurem Kloster einmal wieder zu langweilig wird?“
Stumm blickte Aramis sie an. In diesem Moment war Julie schöner als er sie je gesehen hatte. Ihre Augen glänzten feucht und ihre Wangen waren von der Kälte und der Aufregung gerötet. Kleine dunkelbraune Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und umspielten ihre Stirn. Aus Wut auf sich selber, die sie ihre Erregung vor Aramis nicht verbergen konnte, biss sie sich auf die Lippen, bis sie blutig waren. Mit einem Lächeln legte der Abbé den Arm um die junge Frau, zog sie näher zu sich heran und küsste sie sanft auf die Stirn.
„Was...?“ fragte Julie und leistete ihm halbherzig Widerstand.
„Mögen das nächste und die folgenden Jahre dem Marquis de Montausier gehören, ma fleur,“ sagte Aramis leise, „ Dieses gehört mir!“
So erwarteten die beiden Liebenden eng umschlungen den Klang der Kirchenglocken, die das neue Jahr einläuten würden.