Der Wald von Amboise von Rochefort

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Kapitel Verhängnis

 

August 1627. Rochefort war stolz und zufrieden. In den letzten Wochen hatten er und seine Männer gute Arbeit geleistet. Einem Hinweis der Marquise de Rambouillet folgend, hatte sich seine Vermutung, dass ein bestimmter, in Adelskreisen zu schnellem Ruhm aufgestiegener Poet in Wahrheit ein feindlicher Spion war, als goldrichtig erwiesen. Mehr noch - der Mann, sein richtiger Name war Robert Duvall, war Mittelpunkt eines ganzen englischen Informantennetzwerkes! In sorgfältiger Kleinarbeit und unter Mithilfe von Lady de Winter, die wie stets in unnachahmlicher Weise ihre weiblichen Reize ausgespielt hatte, war es gelungen, die meisten seiner Helfershelfer und Kontaktleute ausfindig zu machen und sie schließlich in einem gut geplanten Handstreich gefangen zu nehmen. Sogar einigen Angehörigen des französischen Adels konnte in diesem Zusammenhang ein verräterisches Doppelspiel mit den Engländern nachgewiesen werden.

 

Der englische Premierminister Buckingham hatte im Juli dieses Jahres eine Flotte zur Unterstützung der von den Truppen König Louis XIII. belagerten protestantischen Stadt La Rochelle über den Kanal geschickt. Dementsprechend hatte sich auch die englische Spionagetätigkeit in Frankreich und besonders in Paris intensiviert, denn natürlich wollte der Herzog von Buckingham darüber informiert sein, was seine französischen Gegenspieler planten.

 

Besagter Robert Duvall selbst war durch einen für ihn glücklichen Zufall der Festnahme entgangen. Nun war Rochefort ihm persönlich auf den Fersen. Er hatte vom Kardinal freie Hand, ihn tot oder lebendig zu fassen. Fast alle wichtigen Informationen waren bereits in den Händen Richelieus, es war also nicht mehr von großem Belang, ob der Agent ums Leben kam oder nicht. Und der Geheimdienstchef Seiner Eminenz hatte in Bezug auf diesen Mann auch keine Skrupel mehr. Der Engländer hatte sich als äußerst rücksichtslos in seinem Vorgehen gezeigt; wie diesbezügliche Recherchen ergeben hatten, war er rasch mit der Waffe bei der Hand und schreckte auch vor Mord nicht zurück, wenn es seinen Zwecken diente. Rochefort verfolgte den Spion nun schon den dritten Tag; es war offensichtlich, dass der Mann bereits wusste, dass ihn jemand jagte, denn er versuchte alles, um seinen Gegenspieler in die Irre zu führen. Rochefort musste widerwillig anerkennen, dass Duvall offenbar sein Geschäft verstand.

 

Und gerade das weckte seinen Ehrgeiz! Er fühlte sich wie der Jagdhund auf der Fährte des Wildes - der Kerl würde ihm nicht entwischen!

 

Gerade hielt er mit seinem Pferd vor einem Wirtshaus an der Straße nach Amboise. Dem Hinweis eines Fuhrmannes zufolge konnte Duvall hier vorbeigekommen oder sogar abgestiegen sein. Der Abend war nicht mehr weit und der Mann hatte auf seiner Flucht vermutlich seit Tagen kaum noch geschlafen. Vielleicht war er hier untergeschlüpft um sich zu erholen. Am Himmel zogen sich dunkle Wolken zusammen, Donner grollte und es fielen bereits die ersten dicken Regentropfen.

 

Rochefort glitt aus dem Sattel und ging zur Tür der Schenke, als ihm auch schon der Wirt entgegentrat. Er wirkte schmierig und hatte einen verschlagenen Blick und als Rochefort begann, Fragen nach dem Gesuchten zu stellen, fühlte er gleich, dass sein Gegenüber etwas zu verbergen versuchte. Doch es bedurfte nur einiger Münzen und einem nachdrücklichen Hinweis auf Seine Eminenz, den Kardinal, um dem Mann klarzumachen, wo sein Vorteil lag. Gerade wollte er mit der gewünschten Information herausrücken, als ein Reiter in höllischem Tempo aus dem Hinterhof des Wirtshauses auf die Straße preschte. Im Vorbeigaloppieren feuerte er eine Pistole ab. Die Kugel streifte Rocheforts linke Schulter - zum Glück kam dabei nur sein Wams zu Schaden, die Haut war kaum geritzt - und bohrte sich in die Wand der Schenke. Der Wirt floh mit einem hysterischen Schrei. Duvall! Offenbar hatte er wieder rechtzeitig Lunte gerochen. Mit einem Fluch fuhr Rochefort herum, war mit einem Satz bei seinem Pferd und sprang wieder in den Sattel. Sein Gegner preschte querfeldein davon und hielt auf die großen Wälder von Amboise zu, die eines der berühmten königlichen Jagdreviere waren.

 

Wenn er dort untertauchen konnte, standen seinen Chancen gut, seinen Verfolger abzuhängen. Das durfte ihm nicht gelingen! Rochefort trieb seinen Braunen zu höchster Geschwindigkeit an und holte langsam auf. Trotz allem, was er über ihn wusste, hätte er den Mann lieber lebend in Gewahrsam genommen - man konnte nie wissen, ob nicht doch noch nützliche Informationen aus ihm herauszuholen waren. Aber nun konnte er darauf keine Rücksicht mehr nehmen. Besser er war tot, als er entkam!

 

Rochefort ließ die Zügel los und lud im Reiten seine Pistole. Dasselbe hatte inzwischen auch Duvall wieder getan, wandte sich im Sattel um und feuerte nochmals. Rochefort duckte sich über den Hals seines Pferdes und die Kugel pfiff über seinen Kopf hinweg. Verdammt! Der Kerl war wirklich gut! Der Waldrand kam näher. Inzwischen war auch das Gewitter mit voller Intensität losgebrochen. Ein Sturm tobte und peitschte den Regen vor sich her. Als der feindliche Agent den Wald erreichte, hatte Rochefort ihn fast eingeholt. Doch nun wurde die Jagd erst richtig halsbrecherisch. Die Pferde preschten zwischen den dicht stehenden Bäumen hindurch, jeden Moment war man in Gefahr von einem tief hängenden Ast aus dem Sattel geschleudert zu werden. Rochefort musste seine volle Konzentration darauf richten sein Pferd zu kontrollieren und gleichzeitig den Gegner nicht aus den Augen zu verlieren. Eine ganze Weile bot sich keine Gelegenheit, einen gezielten Schuss anzubringen. Dann endlich lichtete sich der Wald etwas und Duvall war direkt vor ihm, etwa fünf Pferdelängen entfernt. Rochefort hob seine Waffe und drückte ab. Mit wilder Genugtuung sah er, wie der Mann vor ihm im Sattel zusammensackte, sich noch krampfhaft festzuklammern versuchte und dann zu Boden stürzte.

 

Der Graf brachte sein Pferd zum Stehen und atmete tief durch. Um ihn herum tobte das Unwetter. Blitze zuckten und der Sturm hatte sich zu einem wahren Orkan gesteigert. Er schob die Pistole zurück in das Halfter am Sattel und strich sich die nassen Haare aus der Stirn. Dann ritt er im Schritt an, um nach seinem Gegner zu sehen. Vielleicht lebte er ja noch. Im selben Moment ertönte ober ihm ein ohrenbetäubendes Bersten und Splittern. Etwas traf ihn an der Schläfe, dann wurde es kurz dunkel um ihn. Als seine Benommenheit wieder wich, fand er sich eingeklemmt unter dem Astwerk eines großen Baumes. Wie durch ein Wunder hatte der Baum ihn nicht erschlagen oder zerquetscht, soweit er fühlen konnte, war er nicht einmal ernstlich verwundet. Er war lediglich zu Boden gerissen worden, doch er lag so unglücklich zwischen dicken Ästen, dass er sich kaum bewegen konnte. Seine erste Sorge galt dem Engländer. Wenn der Mann doch noch lebte, dann hatte er jetzt die beste Gelegenheit sich zu rächen. So blieb Rochefort vorerst einmal völlig reglos und wartete ab. Schließlich ließ das Unwetter nach und es kehrt wieder Stille im Wald ein. Aus der Richtung, wo Duvall liegen musste, kam kein Laut. Der Mann schien also tot zu sein. Zu seiner unendlichen Erleichterung registrierte der Graf nun auch, dass sein treues Pferd Bacardi überlebt hatte – offenbar war er dem stürzenden Baum in letzter Sekunde durch einen beherzten Sprung entgangen. Rochefort versuchte nun, sich irgendwie und sei es auch nur millimeterweise unter den Ästen hervorzuarbeiten, doch er musste bald erkennen, dass er sich in einer fatalen Lage befand. Auch nach stundenlangen Anstrengungen gelang es ihm nicht einmal eine Hand frei zu bekommen. Die Nacht verging und der nächste Morgen dämmerte bereits.

 

Rochefort war inzwischen so ermüdet, dass er für einige Zeit in eine Art Dämmerschlaf fiel. Als er wieder erwachte, setzte er seine verzweifelten Befreiungsversuche fort, jedoch ohne den geringsten Erfolg. Mit einem Mal wurde ihm mit niederschmetternder Klarheit bewusst, dass er hier sterben würde, wenn ihn niemand fand. Und diese Wahrscheinlichkeit war sehr gering, denn der Wald von Amboise war riesig und niemand außer den Waldhütern des Königs, die ab und zu nach dem Rechten sahen, durfte sich in diesem Jagdrevier aufhalten. Er begann um Hilfe zu rufen - mit dem einzigen Erfolg, dass er am Ende heiser und noch erschöpfter war. Wieder wurde es Abend, die Nacht verging und der nächste Tag brach an, ohne dass jemand kam. Inzwischen quälten ihn der Hunger und mehr noch ein rasender Durst. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte höllisch und er musste alle Willenskraft aufbieten um nicht von panischer Verzweiflung überwältigt zu werden. Bilder und Geschehnisse seines Lebens begann vor seinem inneren Auge vorüber zu ziehen. Hier elend und langsam zu verrecken … nein, so hatte er sich sein Ende nicht vorgestellt…

 

Kapitel Rettender Engel

Bisher hatte er standhaft in der Nähe des Unglücksortes ausgeharrt, doch nun wurde Bacardi immer unruhiger. Natürlich fühlte er, dass sich Rochefort in Gefahr befand, witterte die immer größer werdende Todesangst seines Herrn. Mehrmals hatte er versucht, sich dem Eingeklemmten zu näheren, doch die ausladenden, dicken Äste des großen Baumes hinderten ihn daran, direkt bis zu ihm zu gelangen. Schnaubend stampfte das braune Pferd hin und her, ab und an stieß es ein lautes Wiehern aus als wolle es Hilfe herbeirufen. Doch dann, irgendwann gegen Mittag des zweiten Tages, warf sich Bacardi herum, als hätte er einen plötzlichen Entschluss gefasst und jagte davon. Etwas in ihm drängte ihn dazu, sich auf den Weg zurück nach Paris zu machen, in die Sicherheit seines heimatlichen Stalles. Pferde besitzen ein phänomenales, dem Menschen weit überlegens Orientierungsvermögen; Wegstrecken prägen sich einer Landkarte gleich in ihr Gedächtnis ein, sodass sie in der Regel selbst über weite Distanzen immer wieder zurück zu einem ihnen vertrauten Ort finden.

Der Braune galoppierte also in die Richtung zurück, aus der er mit Rochefort gekommen war und erreichte bald den Gasthof an der Landstraße. Es war ein heißer Sommertag. Im Wald hatte der Wallach wohl Gras und Blattwerk fressen können, jedoch kein Wasser vorgefunden. So widerstand er seinem ersten Impuls, sich, als er wieder auf der Straße ankam, sogleich Richtung Paris zu wenden und weiterzulaufen, sondern hielt inne und strebte zuerst dem Brunnen neben der Taverne zu, in dem verheißungsvoll das kühle Nass plätscherte.

Vor dem Haus hielt gerade eine vornehm aussehende, wappengeschmückte Kutsche. Im Schatten der Hausmauer stand eine auffallend attraktive blonde junge Frau in einem hellblauen, mit zahlreichen cremefarbenen Bändern und Rüschen verzierten Reisekleid und trank durstig einige Schlucke aus einem Becher, den ihr ein Schankbursche gerade unter zahlreichen unterwürfigen Verbeugungen gereicht hatte. „Heute ist es eindeutig zu heiß um zu reisen“, seufzte Mylady genervt und fächelte sich hektisch Kühlung zu, „wie schön wäre es jetzt in einer schattigen Laube zu sitzen und ...“ Sie brach ab und wandte den Kopf, als sie raschen Hufschlag vernahm. Ein reiterloses Pferd! Was war hier passiert? Stirnrunzeln ging sie einige Schritte auf den Braunen zu, der am Brunnen zu trinken begonnen hatte. Dann weiteten sich ihre Augen überrascht. Dieses Pferd, der Sattel, die Zäumung – das alles kam ihr seltsam bekannt vor. „Bacardi?“

Beim Klang einer vertrauten Stimme hob der Wallach den Kopf. Charlotte war inzwischen neben ihn getreten und spätestens als sie die Reiterpistole mit der Gravur eines Pferdkopfes am Knauf in dem Halfter am Sattel entdeckt hatte, waren ihre letzten Zweifel verflogen. „Kitty!“ rief sie und winkte energisch ihrer Zofe. „Komm‘ her, schnell!“ Mit gedämpfter Stimme sprach sie weiter: „Sieh doch, das ist Monsieur de Rocheforts Pferd. Da stimmt etwas nicht. Hol mir den Wirt!“ Kitty eilte um den Befehl auszuführen und kam wenige Augenblicke später mit dem Besitzer des Gasthofes zurück.

„Kennst Du dieses Pferd?“ verlangte Mylady zu wissen. Hast Du eine Ahnung, was mit dem Reiter geschehen ist? Ist er hier eingekehrt?“ Sie hatte inzwischen Bacardis Zügel ergriffen, da dieser nervös zu schnauben und mit dem Vorderhuf aufzustampfen begann. Der Wirt schielte unbehaglich zwischen dem Pferd und der adeligen Dame hin und her. Er glaubte sich zu erinnern, dass das Tier einem der beiden Männer gehört hatte, die in die Schießerei vor zwei Tagen verwickelt gewesen waren. Doch mit solchen Dingen wollte er lieber nichts zu tun haben...

Myladys Stimme wurde zu einem samtweichen Gurren. „Es ist wichtig ... bitte ... denk‘ nach! Es soll Dein Schaden nicht sein.“ Sie schenkt ihm einen verführerischen Augenaufschlag und legt ihm vertraulich eine Hand auf den Arm. Im Nu schmolz der Widerstand des Mannes dahin wie Butter in der Sonne. Er räusperte sich, während sein Atem merklich schneller ging. „Ähm ... nun ja ... es gab da einen Vorfall...“ Rasch berichtete er, was sich vor seinem Gasthof zugetragen hatte.

Myladys schöne Stirn umwölkte sich zusehends. „Hier stimmt etwas ganz und gar nicht – wir müssen sofort handeln“, stellt sie mit einem Blick auf den sichtlich unruhigen Bacardi klar. Sie wandte sich wieder dem Wirt zu: „Hast Du ein Reitpferd hier?“

„Ja, Madame. Wozu...“

„Ich möchte es ausleihen“, unterbrach sie ihn. „Ich muss eine Botschaft überbringen lassen. Mein Kutscher übernimmt das. – Kitty, entlohne den guten Mann für sein Entgegenkommen!“ Sie reichte der Zofe ihre Börse und diese zählte eine großzügig bemessene Summe in die Hand des Wirtes. Dann entnahm Mylady ihrem Reisegepäck Papier und Schreibzeug und kritzelte in fliegender Hast eine Nachricht auf ein Blatt, das sie anschließend sorgfältig faltete und ihrem Kutscher in die Hand drückte: „Reite unverzüglich nach Paris und gib‘ diesen Brief Seiner Eminenz persönlich, oder, falls dies nicht möglich sein sollte, Hauptmann Jussac.“

„Jawohl, Mylady!“ Wenige Augenblicke später schwang sich der Kutscher auf das geliehene Pferd und preschte in Richung Hauptstadt davon.

Der Anblick des davongaloppierenden Rosses veranlasste Bacardi dazu, wiehernd hochzusteigen, doch Charlotte hielt die Zügel verbissen fest, während sie nach dem Stallknecht des Gasthofes rief: „Komm her, Bursche! Binde ihn fest, damit er nicht weglaufen kann.“ Mylady atmete erleichtert auf, als der Braune sicher verwahrt war. Sie hatte sich schon öfters gefragt, wie Rochefort mit dem manchmal überschäumenden Temperament dieses Tieres zurecht kam.

Und nun? Sollte sie hier untätig ausharren, bis Hilfe aus Paris eintraf? Wenn der Graf in Gefahr war, vielleicht verwundet irgendwo lag, konnte das zu lange dauern. Nervös schritt sie ein paar Mal vor ihrer Kutsche auf und ab. Dann richtete sie ihren Blick wieder auf Bacardi und fasste einen raschen Entschluss. „Kitty, ich brauche Dich.“ Sie öffnete die Tür der Karosse, stieg ein und deutete dem Mädchen, ihr zu folgen. „Ich muss diesen Unterrock loswerden. Komm‘, hilf mir. Beeil Dich!“ Energisch schürzte Charlotte ihr Kleid und begann sich des darunter befindlichen steifen Reifrockes zu entledigen, der es in Form hielt.

„Aber Mylady“, fragte die Zofe irritiert, weshalb...?“

„Mit dem Ding kann ich nicht reiten.“

„Reiten?“ Kittys Verwirrung wurde immer größer.

„Ich muss versuchen, Rochefort zu finden. Bis die Leute des Kardinals aus Paris hier sind, kann es zu spät sein.“

„Aber Mylady, Ihr könnt doch nicht eines der Kutschpferde reiten und außerdem ist das zu gefährlich.“

„Unsinn. Ich nehme Bacardi.“

Erschrocken schlug die Zofe ihre Hand vor den Mund. „Er ist viel zu wild. Er wird Euch abwerfen. Bitte tut das nicht!“

„Ich muss. Der Kardinal erwartet in einer solchen Situation von mir, dass ich handle. Ich bin seine Agentin. Ich kann nicht einfach die Hände in den Schloss legen.“ Ohne auf die ängstlichen Einwände von Kitty noch weiter zu achten, verließ Charlotte die Kutsche und wandte sich an den Wirt und den Stallknecht, die noch immer dienstbeflissen in der Nähe warteten: „Haltet das Pferd, damit ich aufsteigen kann.“

Die beiden Männer tauschten einen beredten Blick, doch sie wagten nicht zu widersprechen. Der Braune war immer noch nervös und begann sofort wieder zu tänzeln. Erst beim dritten Versuch schaffte es Mylady in den Sattel zu kommen. Rasch nahm sie die Zügel auf, während Bacardi ein paar Sprünge vorwärts machte und dann wieder stieg – allerdings nicht, um die Frau auf seinem Rücken loszuwerden, sondern schlichtweg vor Anspannung. Doch Charlotte hielt sich tapfer und es gelang ihr, ihn einigermaßen unter Kontrolle zu bringen. Seit ihrer Zeit in England war sie eine gute Reiterin. Seine Leidenschaft für Pferde war eines der wenigen positiven Dinge, an die sie sich erinnerte, wenn sie an ihren damaligen Gemahl Lord Winter zurück dachte. Sie waren fast täglich ausgeritten und wenn sie im Galopp über Wiesen und Felder jagen konnte, hatte sie ein berauschendes Gefühl von Freiheit verspürt.

„Du sagtest, die beiden Männer sind in diese Richtung geritten?“ vergewisserte sie sich nochmals, indem sie mit der Hand Richtung Waldrand deutete.

Der Wirt nickte. „Ja!“

Also wandte sie den Wallach dorthin und trieb ihn vorwärts. Schnaubend und in rasantem Tempo preschte der Braune los. Fremde duldete er grundsätzlich nicht auf seinem Rücken, doch die blonde Frau kannte er ja. Er fühlte ihre Entschlossenheit und es beruhigte ihn, dass da wieder jemand war, der ihm „sagte“, was er tun sollte. Erst kurz vor dem Wald drosselte er seine Geschwindigkeit und Mylady lenkte ihn in das schattige Dunkel. „Wo hast Du Rochefort gelassen? Bring‘ mich zu ihm!“ murmelte sie drängend. Natürlich war ihr klar, dass das Tier ihre Worte nicht verstehen konnte, aber sie hoffte, dass es instinktiv zu seinem Herrn zurückkehren würde. Einen Versuch war es wert, denn es war ihre einzige Hoffnung, dem Grafen rasch zu Hilfe eilen zu können – falls es noch Hilfe gab, falls er nicht entführt worden war oder Schlimmeres...

Als das Pferd merkte, dass man ihm keine bestimmte Richtung mehr vorgab, tat es tatsächlich das, worauf seine Reiterin gehofft hatte: Es schlug wieder den Weg zu dem umgestürzten Baum ein. Dort angekommen, blieb Bacardi stehen, wieherte leise, schüttelte wie in einer Geste der Ratlosigkeit die Mähne und scharrte mit einem Vorderhuf. Charlotte wusste zuerst nicht recht, warum der Wallach gerade hier Halt gemacht hatte. Sie wollte ihn zum Weitergehen bewegen, doch er rührte sich nicht. Unsicher geworden, ließ sie ihre Blicke rundum schweifen, ob sie irgendetwas Verdächtiges entdecken konnte – und dann gewahrte sie zwischen dem Blättergewirr eine am Boden liegende menschliche Gestalt.

„Mon dieu!“, entfuhr es ihr erschrocken. In fliegender Hast glitt sie vom Pferd und begann sich zwischen den Ästen hindurchzuarbeiten; ihr Kleid nahm dabei Schaden, doch sie achtete nicht darauf. Nun sah sie, dass es tatsächlich Rochefort war. Im ersten Moment war sie überzeugt, dass er tot war. Er war leichenblass, regte sich nicht. Der riesige Baum musste ihn erdrückt haben.

Als sie sich endlich zu ihm durchgearbeitet hatte, kniete sie nieder, tastete mit der Hand nach seinem Hals – und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Die Haut war warm und sie konnte den Puls fühlen. Der Graf lebte! Sie untersuchte den Bewusstlosen eingehender; zumindest rein äußerlich betrachtet schien er nicht ernsthaft verletzt zu sein. Es grenzte an ein Wunder, aber offenbar hatte ihn der stürzende Baum tatsächlich nur eingeklemmt.

„Monsieur! Monsieur Rochefort!“ Energisch begann Charlotte den Verunglückten an der Schulter zu rütteln. Einige Atemzüge vergingen, dann öffnete er mit einem leisen Stöhnen langsam die Augen.

Er gewahrte die Stimme und die Berührung anfangs wie durch einen Nebel. Dann sah er ein engelsgleiches Gesicht, umrahmt von blonden Locken, das über ihm zu schweben schien. Narrten ihn Halluzinationen oder war er schon ins Jenseits hinüber geglitten? Erst allmählich klärte sich sein Blick und jetzt erkannte er, wer sich da über ihn beugte. Lady de Winter! Aber das konnte doch nicht sein. Wie kam sie hierher? Er versuchte zu sprechen, doch seine ausgedörrte Kehle brachte nur ein unartikuliertes Krächzen hervor.

Charlotte richtete sich wieder auf und kämpfe sich durch das Ästegewirr zurück zu Bacardi. Sie wühlte in den Satteltaschen und fand einen noch zur Hälfte gefüllten Trinkschlauch. Der Inhalt musste zwar abgestanden sein, aber besser als nichts. Rasch kehrte sie damit zu Rochefort zurück und setzte ihm den Schlauch an die Lippen. Er war so entsetzlich durstig, dass es ihn schier übermenschliche Anstrengung kostete, nur ganz kleine Schlucke zu nehmen, doch er wollte das kostbare Naß um keinen Preis gleich wieder von sich geben. Als schließlich der letzte Tropfen getrunken war, hätte er immer noch am liebsten einen ganzen Teich in einem Zug geleert, doch zumindest gehorchte ihm nun seine Stimme wieder.

„Wie habt Ihr mich gefunden?“

„Nennt es Glück, Schicksal, göttliche Fügung...“, erwiderte sie leichthin und zuckte die Schultern, ihr Erschrecken über den Unfall des Grafen gekonnt überspielend. „Ich machte gerade Rast in dem Gasthof unten an der Straße, als Euer Pferd reiterlos daherkam. Ich habe Bacardi erkannt und natürlich war mir klar, dass etwas passiert sein musste...“ Dann, mit einem neuen Anflug von Sorge, fragte sie: „Seid Ihr verletzt?“

„Nein. Nichts Ernstes.“

„Gut. Dann hole ich jetzt Hilfe. Alleine bekomme ich Euch hier nicht heraus.“

Rochefort brachte ein Nicken zustande, dann schloss er erschöpft wieder die Augen. Glück. Ja, manchmal bedurfte es puren Glücks um zu überleben...

Eine gute Stunde später saß er im Sattel von Bacardi. Vorneweg marschierten der Wirt und zwei Knechte, alle drei mit Äxten und Sägen „bewaffnet“. Mylady in ihrem nun völlig ramponierten Kleid hielt sich an der Seite des Pferdes; sie hatte darauf bestanden, dass er ritt und sie nebenher ging, damit sie ihn stützen konnte, sollte ihn ein jäher Anfall von Schwindel oder Schwäche überkommen. Noch immer schmerzten ihn alle Glieder, doch was zählte das gegenüber der Tatsache, dass er noch vor kurzem den sicheren Tod vor Augen gehabt hatte? Er blickte auf die Gräfin de Winter herab. Irgendwie lag doch eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet sie, deren außerordentliche Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit ihn immer wieder verblüfften, zu seinem „rettenden Engel“ geworden war...