Die Eiserne Maske von andrea
Durchschnittliche Wertung: 4, basierend auf 1 BewertungenKapitel Der falsche König
... Im selben Augenblick erschien Colbert und reichte d'Artagnan ein Blatt.
“Was gibt es?” fragte der Prinz.
“Lesen Sie selbst, Monseigneur.”
"Herr d'Artagnan wird den Gefangenen zur Insel Sainte Marguerite bringen. Er wird ihm das Gesicht mit einem Visier aus Stahl verdecken, das der Gefangene bei Todesstrafe Zeit seines Lebens nicht abnehmen darf."
"Das ist gerecht", sagte Philippe ergeben. "Ich bin bereit."
"Aramis war klug ", murmelte Fouquet dem Musketier zu, "dieser hier ist mindestens so königlich wie der andere."
"Noch mehr sogar", erwiderte d'Artagnan, "ihm fehlen nur Sie und ich."
Kapitel Ein Leben in Gefangenschaft?
Noch am selben Tag ritt d'Artagnan neben einer Kutsche und in Begleitung von sechs Musketieren über die Stadtgrenze von Paris in Richtung Marseille. Der König selbst hatte den Auftrag gegeben, schnellstmöglich abzureisen.
Philippe hatte sich bereitwillig in sein Schicksal ergeben und die eiserne Maske, die für ihn angefertigt worden war, ohne einen Einwand angelegt.
D'Artagnan hatte Befehl gegeben, in einer Gastwirtschaft die Nacht zu verbringen, doch der Prinz, dem dieser Plan mitgeteilt wurde, bat, mit dem Musketieroffizier zu reden.
D'Artagnan ließ sich zurückfallen und ritt nah an die Kutsche Philippes heran. "Sie wollten mich sprechen, Monseigneur?"
Philippe steckte den Kopf aus dem Wagen. Für einen Moment dachte d'Artagnan, sein Pferd wolle sich bei dem Anblick dieses stählernen Gesichtes bäumen, aber es blieb ruhig.
"Ja, mein Herr, ich wollte mit Ihnen sprechen." Die Stimme des jungen Mannes klang merkwürdig blechern hinter dieser Maske.
"Herr d'Artagnan, ich bin mir sicher, daß es nicht empfehlenswert wäre, in einer Gastwirtschaft einzukehren. Denn wäre es nicht möglich, daß ich versuche zu fliehen?"
"Sie sind ein ehrlicher Mensch, Monseigneur, und ich würde meinen Kopf darauf verwetten, daß Sie keinen Fluchtversuch unternehmen würden, aber Sie haben recht. Es würde sicherlich komisch anmuten, wenn ein Mann mit einer eisernen Maske in einer Schenke einkehrt. Sebastian, reite nach Nemours voraus und kaufe in der Wirtschaft Brot und Wein!"
Der angesprochene Musketier gab seinem Pferd die Sporen und verschwand in der Dunkelheit.
"Monseigneur, glauben Sie, daß Sie vier Nächte in Ihrer Kutsche übernachten können?"
"Natürlich", antwortete der Prinz. "Aber wo werden Sie schlafen?"
"Nun, das ist nicht das Problem. Meine Männer können auch ein paar Nächte auf dem Waldboden neben ihren Pferden übernachten, das Wetter ist ja gut."
Wie d'Artagnan vermutete, erreichte man am Abend des vierten Tages Marseille.
Hier sollte, so der Befehl des Königs, ohne Umschweife ein Schiff bestiegen werden, um nach Sainte Marguerite zu fahren. Die sechs Musketiere sollten nach Paris zurückreiten und d'Artagnan sollte den Gefangenen begleiten und bewachen.
Bereits im Morgengrauen stach der Kahn, den d'Artagnan gemietet hatte, in See. Dem Kapitän wurde der Befehl des Königs mitgeteilt, einen Gefangenen auf die Insel Sainte Marguerite zu bringen.
Um die Mittagszeit begab sich d'Artagnan in Philippes Koje. Der junge Mann saß auf seinem Bett und ließ den Kopf - auch beim Eintritt d'Artagnans - hängen. Er sah nicht mehr so stolz und majestätisch aus wie bei der Abfahrt aus Paris. Die Schwere der Maske drückte seinen Kopf unweigerlich nach unten und verlieh ihm eine gebückte Haltung.
D'Artagnan blieb beim Eintritt in die Koje einen Moment lang stehen, betrachtete den Prinzen und dachte nach. Sein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, daß dieser Mann, der doch kaum 23 Jahre alt war, sein Leben lang diese eiserne Maske tragen müßte. Nie hätte er darüber nachgedacht, daß der König von Frankreich in dem Alter wäre, sein Sohn zu sein, doch als er Philippe vor sich sah, regten sich fast väterliche Gefühle in ihm. Die beiden Brüder waren sich vielleicht äußerlich gleich, aber im Inneren doch völlig verschieden. Seine Gedanken schweiften ab, und er sah Athos und Raoul, Vater und Sohn.
"Was ist?" - Die Worte Philippes rissen d'Artagnan aus seinen Gedanken. Immer noch klangen sie hohl, aber schon irgendwie vertrauter.
"Monseigneur, Sie sollten etwas essen! Sie verweigern es schon seit zwei Tagen."
"Haben Sie sich einmal gefragt, wieso ein Gefangener in seinem Gefängnis fast wahnsinnig wird aber trotzdem weiterleben will?"
"Wieso?" fragte d'Artagnan.
"Weil er die Hoffnung hat, wieder heraus zu kommen, weil er hofft, daß das Verbrechen, daß er begangen hat, irgendwann hinfällig wird. Wissen Sie jetzt, warum ich nichts mehr esse?"
"Nein, Monseigneur", antwortete d'Artagnan, der ganz genau wußte, was Philippe sagen würde, und er bemerke ein leichtes Zittern in seiner Stimme: "Nein, das weiß ich nicht."
"Weil ich mein Verbrechen nicht wieder gutmachen kann. Weil dieses Verbrechen mir von Gott vorbestimmt wurde, schon als ich auf die Welt kam. Weil mein Verbrechen einzig und allein darin besteht, dem König ähnlich zu sehen." Aber der junge Mann sprach diese Worte nicht mit Traurigkeit oder Wehmut, sondern nur mit der Stimme eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergeben hat.
Nach einer Viertelstunde verließ d'Artagnan die Koje des Prinzen, sein Entschluß war gefaßt. Er ging zum Steuermann. "Monsieur, auf welcher Höhe befinden wir uns?"
"Wir werden in Kürze die Insel Elba umschiffen", antwortete der Steuermann.
"Das ist gut, drehen Sie jetzt bei und fahren Sie nach dem Hafen Port-Saint-Louis-de Rhône!"
"Monseigneur, wenn Sie mir bitte die Anweisung vom Kapitän vorzeigen könnten?"
"Wieso Anweisung, ich denke doch, daß ich hier, als diensttuender Offizier, Anweisungen zu geben habe, oder nicht? Ich sage also, Sie werden jetzt den Hafen ansteuern!"
"Entschuldigen Sie vielmals, Monseigneur, aber der Kapitän hat ausdrücklich den Befehl gegeben, die Insel Sainte Marguerite anzusteuern und den Kurs nur dann zu ändern, wenn er eine schriftliche Anweisung gibt. Er hat nämlich einen Befehl vom König."
D'Artagnan, der sehr wohl merkte, daß er hier nichts erreichen konnte, zog es vor, seine Wut herunterzuschlucken und erst einmal den Kapitän aufzusuchen.
Er fand diesen auch, an seinem Schreibtisch sitzend. D'Artagnan bemerkte auf den ersten Blick, daß es sich hier um einen alten Offizier noch aus der Zeit Heinrich IV handelte, königstreu wie eh und je, und sicher nicht so leicht von seinem Standpunkt abzubringen. Das ging d'Artagnan durch den Kopf, als er eintrat.
"Kapitän, ich muß mit Ihnen reden."
"Was gibt es, aber rasch, ich hab zu tun!"
"Ich war gerade bei Ihrem Steuermann, um eine Kursänderung zu veranlassen. Und wissen Sie, was er mir sagte?"
"Er wird den Kurs nicht geändert haben, denn ich habe den Befehl gegeben, ohne Umschweife nach Sainte Marguerite zu fahren. Denn so lautet der Befehl des Königs, dem ich natürlich nachkommen werde", antwortete der alte Offizier.
D'Artagnan war auf solch eine Antwort gefaßt gewesen, deswegen antwortete er auch ohne Umschweife: "Ja, so lautet der Befehl des Königs. Aber auch ein König ändert manchmal seine Meinung, und ich überbringe Ihnen den Befehl, den Kurs zu ändern."
"Gut, aber er ist doch hoffentlich schriftlich, oder?"
"Nein er ist mündlich, aber ich hoffe, Sie werden ihn trotzdem ausführen."
"Wieso sollte ich das tun?"
"Weil der Befehl mündlich vom König kommt."
"König Ludwig XIV. ist hier?"
"Ja", antwortete d'Artagnan, erfreut über den Eindruck, den seine Worte auf den Kapitän machten, "ja, er ist hier."
"Führen Sie mich zu ihm!"
Beide begaben sich in den unteren Teil des Schiffes, zu Philippes Koje.
"Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich werde Sie dem König melden."
D'Artagnan öffnete die Tür und zog sie rasch wieder hinter sich zu. Philippe saß immer noch auf seinem Bett. Diesmal hob er den Kopf ein wenig, er war wohl nicht darauf gefaßt, zweimal am Tag Besuch zu bekommen. Bevor er noch etwas sagen konnte, ergriff d'Artagnan das Wort.
"Monseigneur, hier ist der Schlüssel zu Ihrer Maske, Sie werden sie abnehmen, sich rasieren und sich dann wieder setzen!"
"Aber warum dies?"
"Das werden Sie gleich sehen."
Philippe nahm den Schlüssel und öffnete die Maske.
Fünf Minuten später öffnete d'Artagnan dem Kapitän, der geduldig gewartet hatte, die Tür. Dieser verbeugte sich tief vor Philippe. "Nun, Majestät, Sie haben einen Befehl für mich?"
"Ja, das hat er. - Also, Majestät, teilen Sie dem Kapitän Ihre befehligte Kursänderung mit!"
Ohne es zu merken, hatte d'Artagnan sich soeben zum Vormund des Prinzen gemacht. Aber was Philippe sagte, hatte er nicht erwartet: "Es tut mir leid, Herr Kapitän, aber diesen Befehl kann Ihnen nur der König von Frankreich geben. Und der bin ich nicht."
"Sind Sie nicht?"
"Nein, ich bin nur sein Doppelgänger, und Ludwig XIV hat den Befehl gegeben, mich in einer stählernen Maske auf die Insel Sainte Marguerite zu bringen. Monsieur d'Artagnan, geben Sie mir die Maske zurück, denn ich soll sie bis zu meinem Tode tragen."
Bei diesen Worten zerriß es dem Musketiermarschall fast das Herz. Dieser Mann war der einzig wahre Herrscher Frankreichs, wenn er es auch nie regieren würde.
"Nein, Monseigneur", erwiderte er dann, "ich werde Ihnen die Maske nicht zurückgeben. Wenn Sie schon die Wahrheit sagen wollen, so müssen Sie auch die ganze Wahrheit sagen, denn ich bin mir sicher, daß Ihnen das Geheimnis Ihrer Abstammung bekannt ist." Dann wendete er sich an den Kapitän, der immer noch steif und fest vor dem angeblichen König stand.
"Monsieur, ich appelliere an Ihre Vernunft. Dieser Mann ist der Bruder - der Zwillingsbruder - des Königs Ludwig XIV. Er ist ein rechtmäßiger Anwärter auf Frankreichs Thron und aus Angst vor den Folgen für das Königreich hat Ludwig XIII damals, nach der Geburt der Zwillinge, den Befehl gegeben, ihn auf immer versteckt zu halten. Mein Plan ist es nicht, wie Sie vielleicht glauben, diesen Mann auf den Thron von Frankreich zu setzen, sondern ich will ihm das menschenverachtende Leben, das Ludwig XIV ihm aufbürdet, ersparen. Ich will diesem Prinzen von Frankreich ein abgeschiedenes und stilles Leben auf einem Flecken Erde Frankreichs ermöglichen, wo er es ruhig und glücklich verbringen kann. Nun Kapitän, was sagen Sie dazu?"
"Monsieur, ich bin derselben Meinung wie Sie." Er verbeugte sich vor Philippe und sprach dann: "Mein Prinz, ich bin ein königstreuer Offizier, aber ich bin auch ein gottesfürchtiger Katholik. Ich glaube, daß ich keinen Eidesbruch am Königtum begehe, sondern eher ein Verbrechen vor Gott und den Menschen verantworten würde, wenn ich keine Kursänderung veranlassen würde."
Dann verbeugte er sich erneut vor dem Prinzen und verließ die Koje, um den Befehl zu geben, den nächsten Hafen anzusteuern.
Als d'Artagnan sich ebenfalls zum gehen wenden wollte, hielt Philippe ihn zurück. "D'Artagnan, ich danke Ihnen, Sie haben ein wirklich edles Herz. Nie hätte ich Sie ersucht, meine Strafe zu lindern, da ich um Ihre Königstreue weiß. Nun danke ich Ihnen, mein Freund, und nehme Ihr Anerbieten an." Mit diesen Worten umarmte er den Musketier. D'Artagnan mußte an sich halten um nicht vor Rührung in Tränen auszubrechen.
Wenige Stunden später ging das Schiff im Hafen von Port-Saint-Louis-de-Rhône vor Anker.
Kapitel Der Weg nach Bas Poitou
Phillippe schlief in dieser Nacht so ruhig wie schon lange nicht mehr.
Schon am frühen Morgen wurde der Prinz von d'Artagnan geweckt. Man frühstückte und bestieg dann die gesattelten Pferde, die im Hof standen. Der Weg sollte nun per Pferd über Land gehen. D'Artagnan war sich sicher, daß man ohne Gefahr, daß man Phillippe erkennen würde, reisen könnte, solange man die großen Städte mied.
Man umritt also Nîmes und gelangte schon nach wenigen Tagen auf die Höhe von Limoges.
Der Tag war sehr schön, nur ein paar Wolken bedeckten den Himmel. Gegen Abend erreichten d'Artagnan und Philippe eine Lichtung, auf der man den wunderschönen Sonnenuntergang beobachten konnte. Philippe, der sich an der Schönheit der Natur gar nicht satt sehen konnte, bat den Musketier, kurz an dieser Stelle zu verweilen.
Die Pferde hatten sich kaum dem frischen Gras auf der Lichtung zugewandt, als sie die Ohren spitzten und sich etwas unruhig hin und her bewegten. Auch d'Artagnan wurde aufmerksam und wand sich im Sattel um. "Monseigneur, wir sollten weiter reiten! Die Pferde wittern irgend etwas, und ich glaube, es raschelte gerade in diesem Busch. Vielleicht ist es ein wilder Eber."
"Wir können weiterreiten, Monsieur."
"Gut, dann kommen Sie!"
Beide setzten ihre Pferde wieder in Bewegung und überquerten rasch die Lichtung. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt, aber trotz der anbrechenden Dunkelheit gewahrte Philippe einen schwarzen Gegenstand, der auf der Straße, kurz vor dem Waldrand, lag.
"D'Artagnan, da liegt etwas auf der Straße."
"Ja, mein Prinz, das habe ich auch schon bemerkt. Aber tun Sie mir den Gefallen und reiten Sie weiter."
"Aber das kann ich nicht tun", antwortete Philippe und zügelte sein Pferd, "das ist ein Mensch, der dort liegt."
Auch d'Artagnan zügelte sein Pferd und stieg ab. Es lag wirklich ein Mann, wie ohnmächtig, auf der Straße. Aber er traute dem Anschein nicht, und er sollte recht behalten. Plötzlich regte sich der Mann und zog ein Pistol. D'Artagnan zog blitzschnell seinen Degen und stach den Räuber nieder, ehe dieser abdrücken konnte.
"Monseigneur, passen Sie auf, das ist eine Falle!"
Schon bei diesem Ruf sprangen Männer aus den Büschen und versuchten, Philippe vom Pferd zu ziehen. Dieser trat wild um sich und versuchte sich so gut als möglich gegen die Angreifer zu wehren. D'Artagnan griff nach dem Pistol des Toten und schoß einen der Strauchdiebe nieder. Nun ließen die Räuber von Philippe ab und gingen auf den Musketier los. Dieser stieß dem nächsten seinen Rapier durch den Leib und schnitt dem Darauffolgenden die Kehle durch, die anderen flüchteten zurück in die Wälder. D'Artagnan steckte den Degen in die Scheide, warf Phillippe, dem aber nichts passiert zu sein schien, einen besorgten Blick zu und bestieg dann wieder sein Pferd.
Lange ritten die beiden schweigend nebeneinander her. Erst als der Mond aufgegangen war, brach Philippe das Schweigen.
"Monsieur, es tut mir leid, daß ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereitet habe."
"Es muß Ihnen nicht leid tun, Monseigneur, aber ich muß zu geben, daß mir der Kampf nicht mehr so viel Spaß macht wie früher." antwortete d'Artagnan, indem er zu lächeln versuchte, doch ein plötzlicher Schmerz ließ das Lächeln von seinem Gesicht verschwinden.
"Aber Monsieur, was ist mit Ihnen?"
"Ach, ich glaube, der eine von ihnen hatte ein Messer."
"Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes?" fragte Philippe besorgt.
"Nein", antwortete d'Artagnan gerührt, "nein, nur ein kleiner Kratzer. Ich bin heilfroh, daß Ihnen nichts passiert ist, mein Prinz. Wir sollten jetzt schnell das nächste Dorf erreichen, denn um diese Zeit sollte man sich in dieser Gegend scheinbar nicht mehr draußen herumtreiben. Kommen Sie!"
Beide gaben ihren Pferden die Sporen.
Kapitel Glückliche Ankunft
Zwei Tage nach der eben geschilderten Begebenheit erreichten d'Artagnan und Philippe wohlbehalten Bas Poitou. Die Gegend war genauso, wie Aramis sie beschrieben hatte. Die Landschaft war wirklich ein Paradies. Die Tiere hier schienen nur selten Menschen zu sehen, denn sie dachten nicht daran, wegzulaufen und schauten neugierig den Dahinreitenden nach. Nur der Eichelhäher, der Wächter des Waldes, gab Alarm.
Ja, dies mußte die Gegend sein, von der Aramis erzählt hatte. Die beiden Männer erreichten schließlich eine kleine Siedlung. Es wäre schwer, genau zu beschreiben, wo diese Siedlung liegt noch wie das Dorf hieß, denn man sah nirgendwo ein Schild, das den Namen verraten hätte. Wir verzichten also lieber darauf und wollen nur eine Beschreibung des Dorfes geben.
Eigentlich wäre es falsch, von einem Dorf zu reden, denn es bestand nur aus zwei Höfen, ein paar Häusern und einer kleinen weißen Kapelle im Mittelpunkt der Siedlung. Philippe fand dieses Dörfchen einfach hinreißend.
"D'Artagnan, könnte es sein, daß wir unser Ziel erreicht haben?"
"Monseigneur, ich bin mir fast sicher darüber. Ich war schon einmal hier, vor ungefähr 30 Jahren. Ich weiß auch nicht mehr, wie es uns drei, Athos, Aramis und mich, Porthos hatte damals gerade die Witwe Coquenard geheiratet, wie es uns drei also hierher verschlagen hatte. Wir kamen damals am späten Abend hierher, und da es kein Wirtshaus gab, klopften wir einfach an eine Tür und baten um Einlaß und Quartier für die Nacht. Eine junge Frau hat uns damals geöffnet und hereingebeten. Sie lebte allein mit ihrer Mutter im Haus. Als Athos das erfuhr, wollte er umkehren."
Der Musketier lachte kurz, dann fuhr er fort:" Der gute Athos. Aber das Mädchen war gar nicht mehr daran interessiert, uns gehen zu lassen. Natürlich nicht, nachdem sie Aramis in die Augen geschaut hatte. Aramis, dem jungen, galanten Kavalier. Na ja, ich weiß selbst nicht, was in dieser Nacht vor sich gegangen ist. Wir sind am nächsten Tag weitergeritten."
Nun hielt d'Artagnan inne. "Kurze Zeit später machte Aramis eine lange Reise ins Lothringische und hörte irgendwann auf, uns zu schreiben. Athos verließ mich 2 Jahre später. Wir haben uns erst bei der Entführung des Herzogs von Beaufort wiedergesehen. Das waren noch Zeiten. Aber es ist Vergangenheit. - Kommen Sie, Monseigneur, wir wollen auch an eine Tür klopfen." D'Artagnan trieb sein Pferd, das während der Erzählung stehengeblieben war, wieder an.
"Ich danke Ihnen für die Geschichte, d'Artagnan. Glauben Sie, daß Sie die Tür, an die Sie damals geklopft haben, wiederfinden?"
"Nun, das dürfte so schwer nicht werden."
Sie hielten die Pferde vor einem kleinen Haus an. "Dieses müßte es sein."
D'Artagnan stieg ab und klopfte. Nach ein paar Minuten öffnete sich die Tür. Ein junges Mädchen von ungefähr 25 Jahren, mit schulterlangen braunen Haaren und klaren blauen Augen, ließ die Männer herein.
An der Tür zur Stube wartete eine ältere Frau, sicher die Mutter des Mädchens.
Der Musketier betrachtete sie aufmerksam, auch die Frau schien ihn wieder zu erkennen.
"Sie sind Sophie Dufour, nicht wahr?"
"Ja, die bin ich."
"Erinnern Sie sich noch an mich?"
"Ja, auch das, Monsieur, und ich erinnere mich auch an die Nacht damals."
Auf diese Antwort war der Gascogner nicht gefaßt gewesen. Wenn sich Sophie noch immer an die Nacht erinnerte, mußte diese nicht wenig Einfluß auf ihr Leben genommen haben. Die Frau sah die Entgeisterung d'Artagnans, so kurz sie sich auch auf dessen Gesicht widerspiegelte.
"Seien Sie unbesorgt. Ich verbinde keine schlechten Erinnerungen mit dieser Nacht."
"Ist sie seine Tochter?" fragte d'Artagnan gefaßt.
"Ja", antwortete die Frau, "aber zweifeln Sie nicht an der Ehre Ihres Freundes. Als ich mir der Schwangerschaft bewußt wurde, schrieb ich einen Brief nach Paris. Ich bekam auch Antwort. Ihr Freund sagte, daß er nicht persönlich kommen könne, aber er versprach, lebenslang 20.000 Franc jährlich für das Kind zu zahlen. Dieses Versprechen hat er auch eingehalten. Seien Sie also unbesorgt. Mir wurden zwar eine Weile schlimme Dinge nachgesagt, aber die Leute hier sind herzensgut und verzeihen."
"Gut", erwiderte d'Artagnan, "da ich mir nun der Loyalität meines Freundes versichert bin, möchte ich nun mein Anliegen vorbringen."
"Sprechen Sie!"
"Ich habe meinen Neffen hierher begleitet, dem der Arzt Landluft verschrieben hat. - Philippe, komm doch bitte her!"
Der junge Mann trat vor und verneigte sich vor Sophie Dofour. Diese lächelte.
D'Artagnan fuhr fort: "Ich hätte nun die Frage, ob man hier im Dorf oder in der Nähe ein Grundstück erwerben könnte?"
"Jawohl", erwiderte Sophie, "unser Nachbar, ein älterer Herr, ist vor kurzem bei einem Jagdunfall ums Leben gekommen. Da er weder Frau noch Kinder hatte, steht sein Haus leer."
"Nun, was dem einen Leid ist, dem anderen Freud. Ich werde zum Notar gehen. Können Sie einen Moment hier warten, Philippe?"
Philippe zuckte zusammen. D'Artagnan hatte ihn bei einer Beobachtung gestört.
"Ja ja, natürlich", antwortete er. "Solange es Madame nicht stört?"
"Aber nein, bleiben Sie nur, Herr Philippe."
Nach dieser Antwort wandte sich Sophie Dufour wieder ihrer Hausarbeit zu. Auch Philippe setzte seine Beobachtung fort. Dieser galt aber nicht etwa dem Inventar des Zimmers, sondern dem jungen Mädchen, der Tochter von Sophie, die sich in ein Nebenzimmer zurückgezogen hatte und stickte. Philippe betrachtete sie durch den Türspalt.
Nach ungefähr zwei Stunden kehrte d'Artagnan zurück.
"Das Haus ist sehr schön, Philippe. Es ist zwar etwas altmodisch möbliert, aber ich glaube, es wird Ihnen gefallen."
Philippe schien nicht zu reagieren. "Philippe, haben Sie mich verstanden?"
Jetzt sah Philippe sich um. D'Artagnan konnte sich eines breiten Lächelns nicht erwehren. Der junge Mann hatte feuerrote Wangen und glühende Augen.
"Philippe", sagte der Musketier eindringlich, "wollen Sie mir in das Haus folgen?"
"Ja." antwortete dieser, ohne sich jedoch vom Fleck zu rühren. Noch einmal lächelte d'Artagnan. "Dann kommen Sie!"
Philippe stand auf und lief hinter d'Artagnan her, bis auf die Straße. "Monseigneur, wissen Sie, daß Sie krank sind?"
"Nein, was sollte ich denn haben?"
"Die schlimmste Krankheit von allen."
Philippe guckte den Musketier verwundert an. "Nicht möglich."
"Mein Prinz, Sie sehen aus, als wären Sie verliebt."
"Ach was." erwiderte der junge Mann, wobei er purpurrot wurde.
Nun war d'Artagnan vollends überzeugt, aber da er Bescheid wußte, lohnte es sich nicht, Philippe noch weiter zu löchern.
Die beiden gingen weiter und blieben vor einem schönen, sauberen Häuschen stehen. Sie traten ein und beschauten sich die verschiedenen Zimmer.
Das Haus war zweistöckig, und bestand aus vier Zimmern, einer großen Stube, einer Küche und einem Bad.
"Was halten Sie davon?", fragte d'Artagnan.
"Ich glaube, es ist etwas zu geräumig für einen einzelnen Mann."
"Nun, Monseigneur, vielleicht werden Sie ja nicht mehr allzulange allein sein."
Diesmal wurde Philippe noch röter als das erste mal, sagte jedoch kein Wort.
"Sie haben also keine Einwände?"
"Nein."
"Gut", sagte d'Artagnan erfreut, "Dann gehe ich jetzt zum Notar, um das Haus zu kaufen."
Einige Tage später bestieg der Musketieroffizier sein Pferd. Er mußte zurück nach Paris. Schweren Herzens trennte er sich von Philippe. Er liebte den jungen Mann wie seinen Sohn und um so schlimmer war es für ihn, nun an den Hof des Königs zurückzukehren, der seinem Bruder ein Leben mit einer eisernen Maske vorbestimmt hatte.
D'Artagnan verabschiedete sich von Sophie Dufour und ihrer Tochter Marie und umarmte Philippe.
Als er sich in den Sattel, sah er die lebhafte Aufregung Philippes.
"Aber Monseigneur, was haben Sie denn?"
"D'Artagnan, was werden Sie dem König sagen, wenn er Sie über meine Ablieferung auf Sainte Marguerite befragt?
"Oh, machen Sie sich keine Sorgen, das Lügen war noch nie ein Problem für mich."
Dann gab d'Artagnan seinem Pferd die Sporen.
Drei Wochen später
An einem schönen Vormittag hielt d'Artagnan seinen Einzug in Paris. ...