Die Nacht von Louise
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 2 BewertungenKapitel Die Nacht
Die Nacht war kalt und ungewöhnlich dunkel. Der Mond zeigte sich nur selten zwischen den Wolken, und sein Licht schien matter zu sein als gewöhnlich. Auf der Straße nach Paris ritt ein junger Mann, der durch die Einsamkeit der Nacht nicht daran gehindert wurde, seine Reise fortzusetzen. Im Gegenteil, es schien sogar, als würde dieser junge Edelmann die Einsamkeit jeglicher Gesellschaft vorziehen. Daß er ein Edelmann war, daran ließen seine Haltung im Sattel und der Degen, den er an seiner Seite trug, keine Zweifel. Noch deutlicher allerdings war die Uniform, die ihn bekleidete. Es war die Uniform der Musketiere des Königs.
Dieser Edelmann, den sein ganzes Wesen als Adligen höherer Geburt auszeichnete, trug den schlichten Namen Athos. Nichts konnte darüber hinwegtäuschen, daß dies nur ein Pseudonym war, doch keiner hatte bisher gewagt, nach dem echten Namen des Mannes zu fragen, denn auch wenn dieser kaum 24 Jahre alt sein mochte, so waren seine Fechtkünste doch schon allseits bekannt. Niemand, der Pläne für die Zukunft gemacht hatte, würde ihn auch nur aus Neugierde herausfordern. In ganz Frankreich gab es nur zwei Menschen, seine Eltern ausgenommen, die seinen wahren Namen kannten. Da war einmal der Hauptmann der Musketiere, Monsieur de Tréville, und Grimaud, der Diener des Musketiers. Und beide hatte ihre Gründe dieses Geheimnis zu wahren. Für Monsieur de Tréville war es Ehrensache und für Grimaud lebensnotwendig.
Unter seinen Kameraden galt Athos als sehr schweigsam und unzugänglich, und es war nicht zu empfehlen, seine Gesellschaft aufzusuchen, da er kaum lächelte und nie lachte. Selbst bei den üblichen Trinkgelagen der Musketiere blieb Athos stets Außenseiter. Nicht, daß er nicht trinken würde: er trank eher mehr als die anderen, doch auch dies tat er mit klarem Bewußtsein und ohne größere Gefühlsregungen. Viele machten darum einen größeren Bogen um ihn, da sie vermuteten, daß er ein sehr dunkles Geheimnis mit sich herumtrug. Allein Porthos, ein Musketier von 20 Jahren von großer Statur, kümmerte sich nicht darum, sei es aus Unwissenheit oder Desinteresse. Wenn Athos in Gesellschaft war, dann immer in der des Riesen. Beide hätten unterschiedlicher kaum sein können, dennoch oder gerade deswegen waren sie gute Freunde, die sich Treue hielten. Wann immer ein Freund gebraucht wurde, sei es als Sekundant bei einem Duell oder als letzt möglicher Geldverleiher, Athos und Porthos waren füreinander da. Trotz seiner Eigenheiten hatte Athos einen tadellosen Ruf, und alle waren sich einig, daß er ein vollendeter Ehrenmann war. Seit er in den Dienst des Königs getreten war, hatte er sich ausgezeichnet. Bevorzugt nahm er Aufträge an, die ihn aus Paris herausführten. Wie auch in dieser Nacht, in der er für Monsieur de Tréville eine wichtige Botschaft zu überbringen hatte, von deren reibungsloser Übergabe das Schicksal des Königs und somit Frankreichs Schicksal abhing. Es handelte sich um eine sehr heikle Angelegenheit, die die Ehre der Königin betraf. Monsieur de Tréville, der genauestens über die Staatsaffären informiert war, kannte seinen Gegner und hatte Athos nicht durch Zufall für diese Mission ausgewählt. Er schätzte seinen Kampfesmut ebenso wie seine absolute Verschwiegenheit und wußte, daß er sich auf diesen jungen Mann verlassen konnte, falls der Kardinal es wagen sollte, sich einzumischen, woran Monsieur de Tréville nicht zweifelte. Es war also eine gefährliche Mission von größter Wichtigkeit, für die es außergewöhnliche Männer braucht, sie zu einem guten Ende zu bringen.
Athos hatte nicht geplant, eine Rast einzulegen, denn in wenigen Stunden war er mit Porthos in einer Schenke der Ortschaft Boissy-la-Rivière verabredet, um von dort aus zu zweit nach Paris weiterzureisen, doch als ihm gewahr wurde, daß sein Diener meilenweit hinter ihm war, zügelte er sein Pferd im nächsten Dorf. Er liebte das Reiten, denn es war ein Ausdruck der Freiheit. Wenn er über die Straßen galoppierte, dann fielen die weltlichen Sorgen von ihm ab, und ein seltenes Glück zeigt sich auf seinem Gesicht und verschönte seine edlen Züge.
Er hielt nah bei einem Kloster, in dem er auf etwas Brot und Wein hoffen konnte. Dort stieg er vom Pferd und führte es zur Pforte. Nach mehrmaligen Klopfen erschien denn auch endlich ein feister Mönch, der den Musketier einließ und Knechte rief, die sich um das Pferd kümmerten. Während Athos, der trotz des langen Tagesrittes weder müde noch besonders erschöpft erschien, auf Grimaud wartete, unternahm er einen Spaziergang durch das Dorf, um die Ruhe der Nacht zu genießen. Er schätzte die Stille sehr und zog die Einsamkeit der Nacht oft der Gesellschaft eines Kameraden vor. Allein der Riese Porthos nahm es nicht übel, wenn Athos sich zurückzog. Er war ein sorgloser Mensch, der den älteren aufrichtig und auch etwas neidisch bewunderte.
Athos schritt durch die Nacht, als er im Schatten eines Baumes eine Gestalt zu erkennen glaubte. Vorsichtig legte er die rechte Hand auf seinen Degen und verlangsamte seine Schritte, denn er wußte genau, wie gefährlich es für eine sehr hohe Persönlichkeit werden könnte, sollte die Botschaft, die er in seinem Wams versteckt hielt, in die falschen Hände geraten. Athos war grob von Monsieur de Tréville in die Affäre, um die es sich handelte, eingeweiht worden, und da er am Hof lebte, wußte er, wieviel an einem glücklichen Ausgang seiner Mission hing. Tatsächlich schien die Gestalt sich ihm zu nähern, und nach wenigen Sekunden trat schließlich ein Jüngling von kaum 20 Jahren aus dem Schatten des Baumes auf Athos zu und verneigte sich ehrfürchtig vor diesem.
"Monsieur", sprach er, "verzeiht, daß ich Euch so überfalle, doch ich bin wahrlich versucht zu glauben, Euch schickt der Himmel! Mein Name ist René d'Herblay und ich bitte Euch, mir eine Gunst zu gewähren."
Athos, der von solcher Rede völlig überrascht wurde, und der sich seit einigen Jahren Fremden gegenüber sehr distanziert verhielt, hatte er doch aufgrund seiner Gutgläubigkeit und der Neigung, die Menschen immer von ihrer guten Seite zu sehen, sein glückliches Leben zerstört, war drauf und dran abzulehnen, allein die feine Sprache und die Jugend des Mannes ließen ihn seinen Entschluß ändern.
Er konnte die Erregung des jungen Mannes in dessen Gesicht sehen, und sein Herz bewegte ihn dazu, zu antworten: "Sprecht!"
"Ihr seid sehr gütig, Monsieur", sprach der Jüngling, "Eurer Edelmut und Eure Uniform lassen mich in Euch einen ehrenvollen Mann des Adels erkennen, und nur ein solcher kann mir helfen! Ich habe vor wenigen Minuten einen Mann gefordert, doch habe ich keinen Sekundanten. Da mein Gegner und ich selbst von Adel sind, kann ich ohne einen Sekundanten das Duell nicht antreten und muß mich als besiegt erklären. Ich flehe Euch an, dieses Amt zu übernehmen, auch wenn Ihr nichts von mir wißt, ebensowenig wie ich von Euch weiß! Ich bitte Euch im Namen der Ehre und der Gerechtigkeit, mir diese Gunst zu gewähren und ich werde, so Gott will, ewig in Eurer Schuld stehen!"
Diese edlen Worte berührten Athos tief in seiner Seele, und so antwortete er: "Im Namen der Ehre und der Gerechtigkeit werde ich Euch beistehen, ich werde das Amt Eures Sekundanten übernehmen, doch nicht mehr! Ich bin nur auf der Durchreise und werde nach dem Duell weiterziehen. Ich weiß nichts von Eurem Grund und will ihn auch nicht wissen. Nun denn, man nennt mich Athos, das soll Euch genügen!"
René d'Herblay verneigte sich und wies Athos an, ihm zu folgen. Nebeneinander schritten sie schweigend die Straße entlang. Sie erreichten einen kleinen Platz, der umsäumt war von zahlreichen Buchen. Der Platz war gut gewählt, dachte Athos, als er die Größe mit den Augen abmaß. Der Gegner und sein Sekundant standen etwas abseits. René trat, gefolgt von Athos, auf die Männer zu, und man grüßte sich. Daraufhin trennten sich die Gegner, und die Sekundanten berieten über die Bedingungen. Athos war oft Sekundant gewesen und hatte auch selbst oft einen benötigt. Nachdem alles notwendige geklärt war, trennten sich die Sekundanten und während der andere Edelmann sorglos und lachend mit seinem Sekundanten schwatzte, trat Athos auf den jungen René zu, der blaß und unbeweglich an einen Baum gelehnt stand und schweigend in die Nacht hinaus blickte. Mit wenigen Worten teilte er ihm die Bedingungen des Duells mit, mit denen sich der junge Edelmann still einverstanden erklärte. Athos hatte das Gefühl, irgend etwas sagen zu müssen, doch er fand nicht die richtigen Worte. Zu lange schon hatte er seine eigenen Gefühle unter die kalte Berechnung seiner Gedanken gestellt. Im Gesicht des Jünglings konnte er erkennen, daß es diesem nicht leichtfiel, dieses Duell zu führen. Endlich nahmen die beiden Edelmänner Aufstellung und taten die vorgeschriebene Verbeugung. Athos lehnte am gleichen Baum wie zuvor René d'Herblay und verfolgte mit den Augen den Kampf. Schon als sich die Degen zum ersten Mal kreuzten, erkannte er, daß der junge René seinem Gegner weit überlegen war. Athos hatte ein sehr geübtes Auge, was das Fechten betraf und so erkannte er an der Art, wie der Jüngling seine Waffe hielt und wie er sich bewegte, daß er von einem der besten Degenfechter Frankreichs unterrichtet worden war. Die einzigartige Anmut, mit der sich der Zwanzigjährige bewegte, kam ihm zugute, denn sein Gegner schien fast von doppeltem Gewicht zu sein. Auch machte der ältere den Fehler, seinen Gegner aufgrund des Alters zu unterschätzen. Es war also nicht weiter verwunderlich, daß René den Edelmann schon bei seiner ersten offensiven Ausführung mitten ins Herz traf. Sein Gegner war sofort tot. Athos war kaum überrascht und auch beruhigt, daß sein "Schützling" gesiegt hatte. Der Musketier und der Sekundant des anderen beugten sich hinab zu dem Sterbenden.
René, der einige Schritte zurückgetreten war, schauderte. Auf seinem jugendlichen Gesicht zeichnete sich das Entsetzen ab, was er empfand, als ihm seine Tat wirklich bewußt wurde. Es war ein Gefühl, das einmalig im Leben eines jungen Mannes ist, und das er angesichts seines ersten tödlichen Schlages empfindet. Schlagartig verschwand die Unschuld aus dem Gesicht des jugendlichen Rächers. Wer hatte ihm das Recht gegeben zu töten? Er, der seit seinem neunten Lebensjahr nichts als Nächstenliebe und Vergebung gelehrt bekommen hatte, erschauerte vor seiner Tat. Mit einem einzigen Schlag seines Degens hatte er das Leben eines Edelmannes ausgelöscht. Dafür gab es keine Entschuldigung. Darauf war er nicht vorbereitet gewesen. Sein jugendliches Herz voller Unschuld konnte seinen edlen Gedanken von Ehre und Ruhm nicht standhalten.
Athos, der bis jetzt seine ganze Aufmerksamkeit dem Toten und dessen Sekundanten gewidmet hatte, drehte sich nun, nachdem der Tote fortgeschafft worden war, zu dem jungen Mann um. Er wollte dem Sieger zu seinem Erfolg gratulieren und sich verabschieden , doch als er das, just in diesem Moment vom Mond beschienene Gesicht des Mannes sah, hielt er inne. Er sah die jugendliche Verzweiflung dieses kühnen Jünglings und er verstand, wie es nur jemand tun kann, der selbst in der gleichen Lage gewesen sein mußte. Dieser junge Mann erinnerte ihn an seine Jugendzeit und an den Mord, den er unlängst begangen hatte. Lautlos trat er auf ihn zu und legte ihm die Hand auf die Schulter. René blickte auf. Seine sanften schwarzen Augen blickten in das ernste Gesicht des Musketiers. Auch wenn beide nur durch sieben Jahre getrennt waren, so sah er doch die Weisheit in den Zügen des Älteren, die nur durch Erfahrung gewonnen werden kann. René vergoß keine Träne, doch der Schmerz der ihn übermannte, zeichnete sich deutlicher in seinen Zügen ab, als jede Träne es vermocht hätte. Die Arme, die sich um ihn schlossen, wirkten wie Balsam für seine Seele. Es war eine Geste, wie sie ehrlicher nicht sein konnte. Beide Männer kannten sich nicht und doch verstanden sie einander. Athos, der seit Monaten jede ehrliche Gefühlsregung zu unterdrücken gewußt hatte, konnte angesichts dieses Jünglings, der von seinem Schmerz überwältigt wurde, nicht ohne Mitgefühl bleiben. Vorsichtig und kaum spürbar strich er mit der Hand über das schwarz glänzende Haar des Jüngeren. Unsicher hob René sein Haupt und sprach mit erstickter Stimme: "Monsieur, vergebt mir, ich...." Weiter kam er nicht, denn die erste Träne benetzte seine Wange. Von Scham erfüllt, vor dem Älteren zu weinen, wollte er sich abwenden, doch Athos hielt ihn zurück und drückte ihn an sich.
Er ließ ihn gewähren, als er seinen Kopf an die Brust des Musketiers legte und seinen Tränen freien Lauf ließ. "Weint nur, d'Herblay, es ist das beste was Ihr tun könnt. Laßt den Schmerz heraus und verschließt ihn nicht in Eurem Herzen, denn sonst werdet Ihr ihn nie mehr überwinden." So sprach Athos, indes er sich selbst an seinen eigenen Schmerz erinnerte und sein Herz sich innerlich verkrampfte.
So standen die beiden jungen Männer in der klaren stillen Nacht. Athos verfluchte innerlich seinen Auftrag, der ihn in kurzer Zeit von diesem Jüngling trennen würde, spürte er doch, daß diesem mehr als nur das Duell auf der Seele lag. Doch schon hörte er in der Ferne den Hufschlag eines Pferdes. Wenn Grimaud ihn erreicht hatte, mußte er weiter. Vorsichtig legte er seine Hände auf die Schulter des Jungen, woraufhin dieser einen Schritt zurücktrat und Athos ansah. Seine schwarzen Augen waren voll Wärme und Dankbarkeit und so sprach er: "Monsieur, ich danke Euch von Herzen für Euren Beistand. Vergebt mir meine Schwäche, daß ist alles, worum ich Euch bitte." Athos lächelte, als er den Jungen so sprechen hörte und wollte antworten, als ihm plötzlich gewahr wurde, daß es nicht nur die Hufschläge eines Pferdes, sondern zweifellos die von mehreren schnell galoppierenden Pferden sein mußten. Eine schlimme Ahnung überkam ihn, die sich auch auf seinem Gesicht zeigte, denn der junge René d'Herblay fragte beunruhigt: "Was ist Euch, Monsieur? Seid Ihr auf der Flucht? Bedeuten diese Männer eine Gefahr für Euch?" Athos wandte sich wieder ihm zu und antwortete mit ruhiger beherrschter Stimme: "Monsieur, ich bin Musketier des Königs und in einem Staatsauftrag unterwegs. Es ist offensichtlich, daß die Männer, die sich uns nähern, es auf die Botschaft abgesehen haben, die ich in meinem Wams trage. Ich werde Euch also jetzt verlassen müssen und bitte Euch ebenfalls um Vergebung, daß ich nicht länger verweilen kann." Überrascht starrte ihn der Junge an, während Athos, eine kurze Verbeugung andeutend, auf dem Absatz kehrtmachte und mit großen Schritten zum Kloster lief. René rannte ihm nach, noch ehe er den Gedanken, der ihm soeben gekommen war, richtig erfaßt hatte. Er erreichte Athos, der schneller laufen konnte, im Stall des Klosters, wo dieser sein Pferd losband. "Monsieur, ich bitte Euch, nehmt mich mit Euch!" Athos blickte weder auf, noch hielt er in seiner Arbeit inne, er sagte nur: "Völlig unmöglich!"
"Aber Monsieur, ich bin des Fechten kundig und könnte Euch vielleicht helfen. Ich kann hier nicht bleiben, denn der Mord, den ich beging, wird mir hier nicht vergeben!" Die letzten Worte hatte er mit wachsender Verzweiflung in der Stimme gesprochen.
Athos schwang sich auf sein Pferd und sagte: "Ich kann Euch nicht mit mir nehmen!" Daraufhin gab er seinem Pferd die Sporen und ließ René zurück, in dem Glauben, ihn nie wieder zu sehen.
Als er die Straße erreichte, wagte er einen Blick zurück zu seinen Verfolgern. Es waren ihrer mindestens zehn an der Zahl, und Athos, indes er sein Pferd zum äußersten trieb, verfluchte sich, daß er in diesem Dorf gehalten und damit seine Mission gefährdet hatte. Während er die Straße entlang galoppierte, kehrten jedoch seine Gedanken immer wieder zu dem Jungen zurück, und Athos war sich nicht sicher, ob er richtig gehandelt hatte. Der Schuß, der plötzlich durch die Nacht hallte, erschreckte ihn mehr als der Sturz seines Pferdes. Wäre er nicht ein so guter Reiter gewesen, so hätte sein Pferd ihn sicherlich unter sich begraben, doch Athos wußte, wie er sich vor den Hufen retten konnte. Sofort war er wieder auf den Beinen und hatte seine Pistolen gezogen. Zwei der Angreifer fielen von den Kugeln getroffen von ihren Pferden, während die anderen Athos umzingelten. Dieser hatte indes seinen Degen gezogen und war bereit, die Botschaft mit seinem Leben zu schützen. Ihm war bewußt, daß er, so gut er auch kämpfen konnte, gegen die Überzahl von acht Degen, die auf ihn gerichtet waren, nicht ankommen konnte. Doch kampflos aufgeben würde er nicht.
"Monsieur", sprach einer der Gardisten, "wir haben den Befehl, Euch lebend zu bringen, also ergebt Euch und händigt uns Euren Degen sowie die Botschaft für Monsieur de Tréville aus. Wir wollen Euch doch nicht verletzen." Das hämische Grinsen, das diesen Worten folgte, ließ Athos' Blut in Wallung geraten. Es hätte nicht viel gefehlt und er hätte sich auf diesen unverschämten Gardisten gestürzt. Doch es lag nicht in Athos' Natur, seinen Gefühlen voreilig nachzugeben, und so unterdrückte er seine verzweifelte Wut und antwortete mit ruhiger Stimme: "Messieurs, ich bin im Auftrag des Königs unterwegs und genieße somit dessen Schutz. Seid Ihr dennoch gewillt, mich zu verhaften, so müßt ihr mit mir kämpfen, denn ergeben werde ich mich niemals!" Kaum hatte er das gesagt, sprang er zwischen zwei Gardisten hindurch, so daß er bereits einen ersten Vorteil errungen hatte, denn nun war zumindest sein Rücken geschützt. Sofort stürzten sich die Gardisten in den unfairen Kampf.
Dank seiner Gewandtheit und seiner bemerkenswerten Degenführung gelang es Athos, drei seiner Angreifer außer Gefecht zu setzen, noch ehe der Kampf richtig begonnen hatte. In diesem Gefecht konnte Athos niemanden schonen, denn es ging nicht nur um Leben und Tod, sondern auch um das Königreich. Während drei der Gardisten tödlich verletzt am Boden lagen, stürmten ihre fünf Kameraden auf Athos zu. Diesem gelang es, mehrere gefährliche Hiebe abzuwehren. Geschickt setzte er seine Beinkraft ein, um den fünf Degen auszuweichen und sich dennoch weiterhin den Rücken freizuhalten. Die Dunkelheit machte es ihm schwer, seine Gegner wahrzunehmen und rechtzeitig auf deren Attacken zu reagieren. Allein sein Ehrgefühl bewahrte ihn davor aufzugeben, denn Athos hatte erkannt, daß er keine reale Chance hatte, aus diesem Kampf lebend herauszukommen. Seine Gedanken kreisten um die ihm anvertraute Botschaft und seine Mission. Wie sollte er verhindern, daß man die Botschaft bei ihm fand? Ein Blick genügte, um festzustellen, daß auch eine Flucht unmöglich war, denn die Pferde der Gardisten standen zu weit von Athos entfernt. Warum, verflucht, hatte er in diesem Dorf gehalten? Warum hatte er diesem jungen Mann geholfen und damit seine Mission zum Scheitern verurteilt? Wie er es auch wendete, ihn traf die alleinige Schuld, und nicht zum ersten Mal schwor er sich, sollte er aus dieser Situation je lebend herauskommen, dann würde er seine Gefühle ein für alle mal begraben.
Diese verzweifelten Gedanken kamen ihm, während er Hieb um Hieb zurückschlug und sich mit unmenschlicher Kraft gegen seine Angreifer wehrte. Wie lange konnte er in diesem ungerechten Kampf noch bestehen?
Plötzlich ertönten Hufschläge. Athos, der überzeugt war, daß sich noch mehr Gardisten näherten, versuchte, diese kleine Unterbrechung zu nutzen und zu den Pferden zu rennen, doch kurz vor seinem Ziel wurde er von einem tödlich verwundeten Gardisten aufgehalten, der ihn kurzerhand zu Boden zerrte. Athos verlor keine Zeit und versuchte, sich wieder auf die Beine zu kämpfen, doch es war schon zu spät. Die Gardisten hatten ihn ein weiteres Mal umzingelt, und nun konnte er nicht mehr ausweichen: ein Degenhieb erwischte ihn unterhalb seiner rechten Schulter. Der Schmerz, der sich durch seinen Körper zog, raubte Athos fast die Sinne. Ihm wurde bewußt, daß er verloren hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er versagt. Vielleicht: Sein sonst so sicheres Gespür für Gefahren hatte ihn im Stich gelassen, als er an dem Kloster halt gemacht und dem jungen Edelmann geholfen hatte. Diesmal konnte er der Übermacht seiner Gegner nicht standhalten. Während er schon die Ohnmacht kommen fühlte, kehrten seine Gedanken zu seinem Auftrag zurück...und er spürte eine unglaubliche Leere. Er hatte nicht nur sich selbst verraten, sondern auch den König und die Königin.
René d'Herblay sah Athos zu Boden stürzen und überlegte nicht lange. Er stieß seinem Pferd die Sporen in die Flanken und galoppierte auf die Gardisten und Athos zu. Einen Mord hatte er in dieser Nacht ohnehin schon begangen. Warum sollten diesem nicht weitere folgen? Sein bisheriges Leben war zerstört, und so machte es auch nichts, wenn er sein zukünftiges - so es denn eins geben sollte - ebenfalls zerstörte. Es war die Kraft und der Mut der Verzweiflung, die ihn dazu trieben, in die Reihe der Gardisten zu reiten. Zwei von ihnen konnten nicht mehr ausweichen und wurden von seinem Andalusier unter den Hufen begraben. Die anderen stürzten ihm mit ihren Degen nach, und auf diese Weise gelang es ihm, sie geschickt von dem verwundeten Musketier fortzulocken. Denn auch wenn ihn der Mut der Verzweiflung zu dieser Handlung geführt hatte, so drängte ihn doch ebenso das Bedürfnis, dem Fremden zu Hilfe zu eilen. Die kurze Zeit, die er mit Athos zusammen verbracht war, hatte ausgereicht, um diesem seine Bewunderung und Ehrfurcht zu sichern. Der Edelmut, die Kraft und auch die Uniform des Musketiers hatten René tief beeindruckt, und so war es nicht verwunderlich, daß er sein Leben dafür einsetzte, um Athos das Seine zu retten.
Mit seiner ganzen jugendlichen Kraft trieb er sein Pferd gegen die drei noch verbliebenen Gardisten. Das Pferd verschaffte ihm einen großen Vorteil, denn keiner der Gardisten wagte sich nah genug heran, um dem fremden Helfer ernstlich gefährlich werden zu können.
Athos, der alle Hoffnung bereits aufgegeben hatte, nahm seine ganze Kraft zusammen, um bei Bewußtsein zu bleiben. In der Dunkelheit vermochte er den Fremden nicht zu erkennen, der ihm zu Hilfe kam, doch beinahe erschien er Athos wie eine übernatürliche Erscheinung. Er, der voller Gewißheit gewesen war, versagt zu haben und schlimmer noch, nicht fähig gewesen zu sein, die ihm anvertraute Botschaft zu verteidigen, schöpfte neue Hoffnung. Er sah, wie der Fremde sein Pferd geschickt zwischen die Gardisten lenkte, wie er Hieb um Hieb parierte, wie er das Pferd steigen ließ, es gnadenlos über die toten Körper der am Boden liegenden Gardisten trampeln ließ, wie er den einen von den Hufen seines Pferdes erschlagen zurückließ, um einem anderen seinen Degen in die Brust zu stoßen, und wie er schließlich den letzten der Gardisten - der angesichts der für ihn nun hoffnungslosen Situation zu fliehen versuchte, kaltblütig erschoß. Ein unfairer Kampf war mit unfairen Mitteln gewonnen worden.
René war völlig außer Atem. Die Brutalität, mit der er soeben vorgegangen war, und die ihm bis zu der heutigen Nacht völlig fremd gewesen war, hatte ihn sowohl körperlich als auch seelisch erschöpft. Er erkannte sich selbst nicht wieder. Auf der Erde lagen die Leichen von acht Gardisten, von denen er fünf eigenhändig getötet hatte. Ungläubig, verwirrt und auch voller Angst stieg er aus dem Sattel und kniete sich zu dem ihm am nächsten liegenden Gardisten. Was hatte er getan? Er kannte diese Männer doch überhaupt nicht. Was hatten sie ihm denn getan? Der Versuch, seine Tat zu begreifen, schlug fehl. René war völlig verzweifelt und er wußte nicht was er jetzt machen sollte. Sich selbst eine Kugel in den Kopf schießen? Warum hatte er diese Männer niedergemetzelt? Erst nach einem kurzen Moment der Besinnung fiel ihm wieder die Situation ein, die er vorgefunden hatte, als er auf seinem Pferd dem Musketier und seinen Verfolgern hinterher geritten war. Athos... Er atmete tief die kalte Nachtluft ein. Er hatte den Musketier beschützen wollen. Das war die Antwort. Unruhig ließ er seinen Blick über das Schlachtfeld gleiten und versuchte, sich zu entsinnen, wo Athos niedergestürzt war. In der dunklen Nacht war es nicht einfach, sich zu orientieren, doch René war sich fast sicher, die richtige Stelle gefunden zu haben und lief darauf zu.
Athos, der mit dem Rest seiner Kraft den Kampf des Fremden verfolgt hatte, richtete nun seine Augen in die Richtung, aus der sich der Fremde ihm näherte. Es konnte nur ein Verbündeter sein, denn sonst lägen hier nicht so viele tote Feinde. Plötzlich vernahm er seinen Namen. Jemand rief nach ihm, und die Stimme kam ihm seltsam bekannt vor. Just in diesem Moment kam der Mond hinter den dunklen Wolken hervor und beschien das Gesicht des Mannes, der nun fast an der Stelle angelangt war, wo Athos lag. Obwohl halb ohnmächtig, erkannte Athos ihn: Es war der Jüngling, um dessen Willen er seine Mission und sein Leben gefährdet hatte und der ihm soeben mehr als das Leben gerettet hatte.
René d'Herblay kniete neben dem Musketier nieder und beugte sich über ihn. Als er merkte, daß Athos noch atmete, fragte er vorsichtig: "Monsieur, hört Ihr mich? Könnt Ihr sprechen?"
Athos, der kurz die Augen geschlossen hatte, öffnete sie wieder und antwortete: "Monsieur d'Herblay, habt Dank für Eure Hilfe."
Ohne auf diese Worte näher einzugehen, erkundigte sich der junge Mann nach Athos' Verletzungen und untersuchte sie mit großer Vorsicht. Der Mond war nun gänzlich hinter den Wolken hervorgekommen und ermöglichte es René d'Herblay, die Wunden näher zu betrachten. "Ihr seid schwer verletzt, Monsieur, wir müssen Euch so schnell wie möglich zu einem Arzt bringen. In Boissy-la-Rivière gibt es einen guten Arzt - meint Ihr, Ihr könnt die Schmerzen so lange ertragen, bis wir dort angekommen sind?"
"Monsieur, ich danke Euch ein weiteres Mal für Eure Sorge, doch das was Ihr vorschlagt, ist leider völlig unmöglich. Ich muß nach Paris und zwar sofort." Bei diesen Worten versuchte der Musketier sich aufzustützen, doch der Schmerz, der seine Schulter durchzog, ließ diesen Versuch scheitern, und so sank Athos zurück und verlor nun das Bewußtsein.
René war völlig verwirrt, nicht so sehr über die Ohnmacht des Musketiers, sondern vielmehr über dessen Unvernunft. Während René unglaublich erleichtert war, ihn nach diesem Kampf lebend und wahrscheinlich ohne eine tödliche Verletzung vorzufinden, wollte Athos bereits wieder nach Paris reiten. Kopfschüttelnd begann er, die Wunden zu verbinden, um den Blutfluß zu stoppen. Kaum hatte er geendet, als Athos die Augen wieder aufschlug.
"Monsieur", sagte René sofort, um Athos zuvorzukommen, "angesichts Eures Zustandes ist es völlig unmöglich, daß Ihr ein Pferd besteigt. Ich werde so schnell ich kann nach Boissy-la-Rivière zurückreiten, eine Kutsche bestellen und den Arzt benachrichtigen. Danach werde ich auf der Stelle zu Euch zurückkehren."
"Monsieur..." Athos hub an, ihm zu widersprechen, doch er wurde von René unterbrochen, der mit ungewöhnlich fester Stimme sprach: "Athos, Eure Verletzungen sind schwerer als Ihr vielleicht denkt. Ich rate Euch, so still wie möglich zu liegen, bis ich zurück bin. Vermeidet jede Bewegung, sonst kann Eure Wunde wieder aufbrechen. Ich verspreche Euch, daß ich in kürzester Zeit wieder bei Euch bin. Ich lasse Euch diesen Dolch hier." Mit diesen Worten, die Athos in Erstaunen versetzten, denn er hätte dem jungen Mann kaum eine solche Entschlossenheit zugetraut, legte René einen Dolch neben ihn. Mit einer schnellen Bewegung legte er seinen Mantel ab und deckte Athos zu. Dann eilte er zu seinem Pferd und schwang sich in den Sattel.
Athos hörte die Hufe auf die Steine treffen. Kurz darauf war René verschwunden. Athos atmete tief durch, doch er war zu benommen, als daß er einen klaren Gedanken hätte fassen können. Er spürte nur, daß der junge Mann recht hatte. Er konnte nicht reiten, er konnte seine Mission trotz seiner Rettung nicht erfüllen.
René stieß seinem Pferd die Sporen in die Flanken. Noch nie in seinem Leben war er so schnell geritten. Seine Orientierung hatte ihn nicht betrogen. Es waren tatsächlich nur wenige Meilen, die zwischen Boissy-la-Rivière und dem Gefechtsplatz lagen. Als er das Dorf erreichte, hielt er zuerst an dem Haus des Arztes Herolaz, den er gut kannte. Dieser war auch sofort bereit zu helfen und ließ alles nötige vorbereiten.
Währenddessen war René wieder aufgesessen und trieb sein Pferd zum Kloster. Dort holte er den Mönch, der für die Pferd verantwortlich war, aus dem Bett und bat ihn, so schnell er konnte den Wagen anzuspannen und ihm auf der Straße nach Paris entgegen zu reiten. Es handle sich um einen verletzten Edelmann, der dem Tod nur knapp entronnen war. Mit diesen Worten hatte er die Kammer des Mönchs bereits wieder verlassen und stürmte in den Hof des Klosters, wo er sein Pferd stehengelassen hatte. Als er sich erneut in den Sattel schwang und die Straße entlang ritt, spürte er, wie heftig sein Herz klopfte. Der Gedanke, den verletzten Musketier zurückgelassen zu haben, war ihm unerträglich, aber was hätte er anderes tun können? Langsam kam der Kampfplatz in sein Blickfeld, und der junge Mann atmete erleichtert auf, als ihm gewahr wurde, daß Athos noch an der gleichen Stelle lag, wo er ihn verlassen hatte und daß er allein war. Mit wenigen Schritten war er bei dem Musketier. Er fand ihn bei vollem Bewußtsein vor. "Monsieur", sagte René, "in kurzer Zeit wird ein Wagen hier eintreffen. Der Arzt ist auch informiert. Macht Euch keine Sorgen. Man wird Euch helfen können." "Monsieur d'Herblay, meine Gesundheit ist zweitrangig. Wenn meine Mission scheitert, ist mein Leben bedeutungslos geworden. - Bitte hört mich an, denn ich habe eine Bitte an Euch!" René kniete sich neben Athos und nickte leicht. "Wie ich Euch in Boissy-la-Rivière sagte, trage ich eine Botschaft in meinem Wams, die für gewisse Menschen sehr wichtig ist. Sie muß bis spätestens morgen mittag in Paris sein. In Villers wartet ein weiterer Musketier auf mich, mit dem ich nach Paris hätte reiten sollen. Ich kann nicht selbst gehen, wie Ihr richtig erkannt habt. Aber Euch kann ich die Botschaft nicht anvertrauen. Mißversteht meine Worte nicht. Ich achte Euch hoch für das, was Ihr getan habt und ich bin Euch zutiefst dankbar, jedoch ist es nicht mein Schicksal, welches mit dieser Botschaft besiegelt wird, so daß es nicht in meiner Verantwortung steht, sie in Eure Hände zu legen. Doch ich bitte Euch, diesen Musketier, der voller Ungeduld in Villers auf mich wartet, aufzusuchen und ihn zu mir zu bringen. Ich weiß, ich verlange viel von Euch, doch wenn Ihr dies für mich tun wollt, dann werde ich Euch Zeit meines Lebens lieben." An dieser Stelle hielt Athos inne und ließ René einen Moment um darüber nachzudenken. Er war sich bewußt, daß es keine leichte Entscheidung für den jungen Mann war. "Nun sagt, René d'Herblay, wollt Ihr das für mich tun?"
René zögerte keinen Augenblick. "Monsieur, es wird mir eine Ehre sein, dies für Euch zu tun, auch, wenn ich weder weiß, um wen noch um was es sich handelt. Ich weiß nur, daß Ihr ein Edelmann seid und ich größte Ehrfurcht für Euch empfinde. Nennt mir den Namen des Edelmannes und ich werde mich so schnell ich kann auf den Weg machen."
Athos betrachtete das junge Gesicht, das vor Erregung glühte und legte seine Hand auf die Renés. "Er nennt sich Porthos. Ihr werdet Ihn mühelos erkennen, denn er ist von sehr großer Statur, hat langes braunes Haar und ist überhaupt ein sehr auffälliger Mensch. Ihr werdet ihn im Gasthaus zur "Alten Eiche" zu finden. Dieser Ring gehört mir. Porthos kennt ihn. Ich hoffe, er wird ausreichen, um ihn zu überzeugen." Bei diesem Worten legte er dem jungen Mann einen silbernen Ring in die Hand. "Geht nun, und beeilt Euch. Ich vertraue Euch, René."
Der junge Mann stand wortlos auf, bestieg sein Pferd und schlug die Straße nach Villers ein. Ein letzter Blick über seine Schulter überzeugte ihn davon, daß der Wagen des Klosters sich näherte. Dann gab er seinem Pferd die Sporen und verschwand aus Athos' Blickfeld.
Als René d'Herblay das Gasthaus "Zur alten Eiche" betrat, klopfte sein Herz, als wolle es zerspringen. Nun, da er diesen Auftrag angenommen hatte, fühlte er auch die Verantwortung, die auf ihm lastete. Er mußte Porthos finden und ihn dazu bringen, ihm zu vertrauen. Dies war keine einfache Aufgabe.
Er ließ seinen Blick durch das halb leere Gasthaus streifen, und er glaubte, Porthos sofort erkannt zu haben. An einem Tisch in einer Ecke saß ein großer Mann, der ungeduldig umherblickte. Sein Äußeres paßte genau zu der Beschreibung, die ihm Athos gegeben hatte.
Er erhob sich jedesmal, wenn ein Gast beim Vorbeigehen seine freie Sicht auf die Tür verdeckte. René näherte sich dem Musketier unauffällig. Dieser beachtete ihn nicht bis zu dem Moment, als René neben dem Tisch stehenblieb und Porthos respektvoll grüßte.
"Was wollt Ihr, Monsieur, macht es kurz, ich erwarte jemanden!" Wortlos holte René den Ring, den ihm Athos gegeben hatte, aus seinem Wams. Als Porthos diesen erblickte, packte sein starker Arm Renés Hemd und zog ihn auf einen Stuhl neben ihn. Mehr besorgt als drohend zischte er René zu: "Woher habt Ihr diesen Ring?"
René beeilte sich dem Riesen zu antworten, denn er war durch dessen Körperkraft sehr beeindruckt. "Ich nehme an, Ihr seid Monsieur Porthos! Durch einen Zufall habe ich vor wenigen Stunden Monsieur Athos kennengelernt und bin hier, um Euch von ihm Nachricht zu bringen."
Sein Gegenüber starrte ihn an, nickte stumm, um dem zögernden René zu bezeigen, daß er fortfahren konnte.
"Er hat mir diesen Ring gegeben, damit Ihr überzeugt seid, daß ich von ihm komme, und er hat mir aufgetragen, Euch zu ihm zu bringen. Er ist schwer verletzt und konnte den Weg von Boissy-la-Rivière nach Villers nicht selbst antreten."
Porthos streckte nun seine Hand nach dem Ring aus und betrachtete ihn eine Weile. Unentschlossen blickte er René an. "Das ist Athos' Ring, zweifellos. Doch wie kann ich sicher sein, daß Ihr nicht ein Mann des Kardinals seid, und mich in eine Falle locken wollt, so wie Ihr wahrscheinlich auch Athos in eine Falle gelockt habt!"
"Monsieur, ich verstehe Eure Bedenken, dennoch müssen wir uns beeilen. Wenn Ihr fürchtet, ich könnte mich gegen Euch wenden, so nehmt meinen Degen, so daß ich unbewaffnet bin. Wenn Ihr es wünscht, so werde ich Euch auch meine Zügel überlassen. Nur bitte ich Euch, Euch zu entscheiden, denn wenn ich richtig verstanden habe, gibt es für den Auftrag, den Ihr und Monsieur Athos zu erfüllen habt, keinen Aufschub."
Diese so edel gesprochenen Worte überzeugten Porthos völlig, der auch schon durch Renés Auftreten für ihn eingenommen war. Dennoch nahm er Renés Degen und schob den jungen Mann vor sich aus dem Gasthaus. Dort stieg er auf sein Pferd und bedeutete René, es ihm gleich zu tun. Als beide Männer im Sattel saßen, gab Porthos das Zeichen zum Start. Daß er René die Zügelführung selbst überließ, bezeugte, daß er seinem Gefühl nach handelte und René nicht als Feind sondern als Freund sah. René wiederum war Porthos dankbar, daß er ihm glaubte. Auch der Riese übte eine große Wirkung auf ihn aus. War er von Athos vor allem wegen dessen Edelmut und Adel fasziniert, so beeindruckten ihn Porthos' Natürlichkeit und Stärke. Während sie nebeneinander durch die dunkle Nacht ritten, war zwischen ihnen ein stummes Einvernehmen zu spüren. René war nicht Porthos' Geisel, sondern sein Begleiter.
Als sie in Boissy-la-Rivière ankamen, führte der junge Mann den Musketier zum Haus des Arztes Herolaz, wo sie Athos auf einem Bett liegend fanden. Porthos eilte zu ihm und drückte Athos vorsichtig an sich. Athos lächelte und zog dann die Botschaft aus seinem Wams. "Porthos, jetzt ist keine Zeit für große Reden, bring diese Botschaft so schnell Du kannst nach Paris zu Monsieur de Tréville. Du kannst unserem jungen Freund René d'Herblay voll vertrauen, nimm ihn mit Dir, er wird Dir sicher eine Hilfe sein. Ich werde nachkommen, sobald es mir erlaubt ist." Porthos wußte, daß Athos recht hatte, und so schwieg er und verließ das Haus.
René, der Athos' Worten still gelauscht hatte, trat nun vor und verbeugte sich vor Athos. "Monsieur, ich soll nach Paris?"
"Ja, junger Mann, denn wie ich mitbekommen habe, sucht man hier bereits nach Euch. Der sicherste Ort für Euch wird Paris sein. Meine Freundschaft ist Euch gewiß. Die Musketiere des Königs brauchen Männer wie Euch, also folgt Porthos und erweist unseren König Euren ersten Dienst."
Als René auf die Knie sinken wollte, um Athos' Hand zu küssen, sagte dieser: "Dafür haben wir keine Zeit. Geht nun, wir sehen uns in Paris!"
René verließ schweigend das Zimmer, doch als Porthos, der vor dem Haus mit zwei frischen Pferden wartete, in sein junges Gesicht blickte, sah er, wie Freudentränen seine Wangen bedeckten. Gerührt klopfte er auf Renés Schultern und nachdem sie aufgesessen waren, schlugen sie nun abermals die Straße nach Paris ein.
Die Reise war nicht lang, aber um so gefährlicher. Zwei weitere Male wurden sie von Gardisten angegriffen, jedoch waren es nie so viele, als daß sie sie nicht hätten besiegen können. In Paris angekommen, führte Porthos den jungen Mann zum Palais des Herrn de Tréville. Dort wurden sie von dem besorgten Hauptmann wärmstens empfangen. Als dieser die Botschaft, die Porthos ihm überreichte , gelesen hatte, erteile er einige Befehle und kehrte dann zu den beiden jungen Männern zurück und ließ sich die Geschehnisse genauestens berichten. Er war sehr angetan von René, und als Porthos Athos' Vorschlag wiedergab, den jungen Mann bei den Musketieren aufzunehmen, zögerte Tréville keine Sekunde und unterzeichnete das Papier sofort.
Als Athos nach wenigen Tagen geheilt nach Paris zurückkehrte, war René bereits bei den Musketieren des Königs unter dem Namen Aramis aufgenommen.