Kapitel Kapitel 3
Athos blieb drei Tage lang. Er hatte in einem nahe gelegenen Gasthof ein Zimmer genommen; dort, im Stall des Gasthofes, verblieb jedoch nur sein Pferd, er selbst verbrachte fast die gesamte Zeit im Konvent, genauer gesagt, in den Zimmern des Abbé d´Herblay, und noch genauer, in dessen Bett. Sie ließen sich die besten Speisen kommen, zogen sich, wenn die Diener des Kollegs das Bestellte brachten, hastig an und setzten sich sittsam in die Sessel, scheinbar in ein ernsthaftes Gespräch vertieft, nur um gleich darauf in Gelächter auszubrechen und sich die kaum zugenestelten Kleider wieder vom Leib zu reißen. Abends verließ Athos mit großem Tamtam und laut gerufenen Abschiedsworten den Konvent durch die Vordertür und kehrte kurze Zeit später im Schutz der Dunkelheit mithilfe einer Leiter durch das Fenster zurück. Beide wussten jedoch, dass sie dieses Possenspiel nicht länger als wenige Tage würden spielen können, ohne dass ihnen ein misstrauischer Jesuitenkollege draufkam - schon bald warf ihnen Pater de Montfaucon schiefe Blicke zu - und so verabschiedete sich der Graf am Abend des dritten Tages ohne Tamtam, aber mit Trauer im Herzen, um nach Bragelonne zurückzukehren. Dort erwarteten ihn nur leere Zimmer und kalter Stein, aber immerhin würde die Erinnerung an die gemeinsam verbrachten Tage die Geister ein wenig in Zaum halten. Zumindest eine kurze Zeit. Denn sie ließen ihn nicht in Frieden, die Verschwundenen und Getöteten, sie eröffnete den Reigen, doch ihr folgten viele andere. Gesichter des Todes, Gesichter des Krieges, die um sein Bett tanzten und die er selbst eingeladen hatte. Er hätte gedacht, dass sie in der neuen Umgebung, in dem unschuldigen, kleinen Schloss, das keine Erinnerungen barg, verschwinden oder zumindest verblassen würden, aber das Gegenteil war der Fall. In den langen, dunklen Abendstunden, in denen er allein am Feuer saß, luden sie sich ein, setzten sich neben ihn in die Sessel und hielten ihm die Hände hin, um ihn mit sich zu ziehen ins Nichts. Sie hatten Recht, die Geister, was hielt ihn denn noch in diesem Leben, was erwartete ihn? Er hatte getötet, er hatte gemordet, und auch wenn er das Meiste im Dienst und auf Befehl des Königs getan hatte, so war es doch Unrecht gewesen. Jeder gewaltsame Tod war Unrecht und verlangte Sühne, das wusste er, hatte es schon immer gewusst, und doch gehörten die Gewalt und der Tod seit jeher zu seinem Leben, seit damals, als er als Junge auf einem Kriegsschiff angeheuert hatte. Schon seit jenem Tag, an dem er dem ersten feindlichen Matrosen die Kehle durchgeschnitten und ihm in die brechenden Augen geblickt hatte, lebte er mit dem Bewusstsein, dass er einmal den Preis würde zahlen müssen. So wie es schien, war der Tag der Abrechnung nicht mehr fern, denn die kleinen Besuche bei seinem Freund waren nur kurze Lichtblicke in einer immer tieferen Dunkelheit, so wie der Ertrinkende ab und an es noch einmal schafft, die Wasseroberfläche zu durchbrechen und Luft zu holen, bevor es ihn unabwendbar in die Tiefe zieht. Er wehrte sich nicht gegen diese Erkenntnis, es war nur gerecht, und abends, wenn er allein vor seinem Feuer saß und Flasche um Flasche leerte, blieb ihm ob seiner Trunksucht noch nicht einmal mehr ein schlechtes Gewissen. Ganz im Gegenteil.
Auch jetzt, bevor er sein Pferd bestieg, zog er eine kleine Flasche Cognac aus der Manteltasche und trank sie auf einen Zug. Der Weinbrand betäubte ein klein wenig den Abschiedsschmerz, und als er das Bein über den Sattel schwang, schalt er sich einen Feigling. Sein Weg führte ihn noch einmal in die Nähe des Klosters, er wandte sich um und betrachtete die hohen Mauern, die das Beste verschlossen, was ihm im Leben je zugestoßen war. Das Einzige, das ihn davon abhielt, sich gründlich in den Tod zu saufen. Der letzte Schein der Abendsonne färbte den Stein rötlich, schon verschwammen die Konturen, und er trieb sein Pferd zu einem leichten Trab an, da gewahrte er eine seltsame Gestalt an der Klostermauer. Sie stand neben der Eingangspforte, als warte sie auf etwas oder jemanden. Athos parierte sein Pferd durch und versuchte im Dämmerlicht Einzelheiten zu erkennen - die Person war recht groß und schien hager, doch ein langer Umhang ließ keine Vermutungen bezüglich Alter oder Geschlecht zu, außerdem trug sie einen breitkrempigen Hut mit einer Feder. Unter dem Habit konnte sich ein Mann oder eine Frau verbergen, obwohl die Größe für eine Frau ungewöhnlich gewesen wäre - ungewöhnlich, doch nicht unmöglich. Der Graf wusste nicht recht, warum er hier verharrte und diesen abendlichen Besucher beobachtete, waren Besucher in dem Konvent doch nichts Seltenes, aber irgendetwas hatte diese Gestalt an sich, das ihn nachdenklich machte. Er hätte es nicht benennen können, vielleicht war es diese völlige Reglosigkeit, gepaart mit dem Fund des Briefes? Sein Pferd strauchelte über einen Stein, er nahm die Zügel fester auf, wollte schon wenden und zur Klosterpforte reiten, da sah er wieder hin - die Person war fort.
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