Gefallener Engel von Engel aus Kristall

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Kapitel Gefallener Engel

Gefallener Engel

von Engel aus Kristall


Sie steht an der regennassen Reling. Eine schmale Gestalt, deren ganze Haltung von dem Schmerz kündet, den sie in sich trägt. Ihre Hand umklammert das Holz, sodass die feinen Knöchel weiß hervor treten. Vor ihr in den Nebeln zeigt sich bereits Englands Küste. Bald wird das Schiff im Hafen anlegen. Sie hat Angst davor den ersten Schritt an Land zu machen. Es ist fremder Boden. Diesen Weg hat sie nicht aus freiem Willen eingeschlagen. Nie wollte sie fort aus Frankreich, ihrem Vaterland. Und nie wollte sie getrennt sein von ihm.
Was er jetzt wohl macht? Ob er sie schon ganz vergessen hat? Wehmütig wendet sie ihren Blick in die Richtung, aus der das Schiff gekommen ist. Irgendwo weit entfernt liegt ihre Heimat. Ihr Herz ist immer noch dort, sie hat es bei ihm gelassen. Ein Zittern erfasst ihren Körper. Sie zieht den langen schwarzen Mantel enger um sich. Es ist so kalt. Die Nässe ist längst bis unter ihre Haut gekrochen.
Aber das ist nicht die Ursache, sondern die tief sitzende Furcht, dass ihr Liebster sie einfach vergisst. In ihrem Inneren glimmt das Feuer der Hoffnung kaum noch. Er selbst hat es fast ausgelöscht. Ihr Herz war fest in seinen Händen, doch nun ist es zu Boden gefallen. Sie möchte glauben, dass er sich an den Scherben bitter geschnitten hat, und ihn die Narben für immer an sie erinnern.

Als sie die Augen schließt, findet sie sich in ihrem Geist an die rauen Holzbretter der Stallwand gepresst wieder. Erneut ist sie blutjung, unschuldig und befindet sich hilflos im Angesicht des Mannes, der in einem kurzen Augenblick ihr ganzes Leben zerstört. Sie ist gefangen wie eine Meise in den Klauen eines Habichts. Angsterfüllt windet sie sich in seinem eisernen Griff. Doch sie kann nicht entkommen. Es bleibt ihr keine Wahl, als das wilde Verlangen, mit dem er ihren Körper in Besitz nimmt, zu ertragen. Stumme Tränen fließen ihre Wangen hinab. Warum tut er ihr das nur an? Ist er nicht ein Priester, ein Mann Gottes?
„Du kannst dich wehren so viel du willst, Kleine“, sagt er mit leiser rauer Stimme. Er zwingt sie den Kopf zu heben und ihm ins Gesicht zu sehen. Hass und Furcht in ihren Augen scheinen ihm zu gefallen. Etwas in ihr zerbricht gleich eines zarten Kristalls, als sich seine Lust in ihrem Blut ergießt.

Abrupt hebt sie den Kopf. Die eben noch klaren Bilder in ihrem Inneren lösen sich auf. Sie schlingt die Arme fest um ihren Körper. So fühlt sie sich nicht mehr ganz so schutzlos und entblößt. Das Mal an ihrer Schulter scheint plötzlich wieder so zu schmerzen als wäre es ganz frisch. Wie sie es hasst. Zu Unrecht ist sie gebrandmarkt und für immer gezeichnet. Aber wer schenkt schon einem hergelaufenen jungen Mädchen Glauben, wenn sein Wort gegen das eines Kirchenmannes steht? Geschändet und dafür auch noch bestraft. Inzwischen hat sie es aufgegeben in einer Welt, in der die Männer regieren, als Frau Gerechtigkeit zu suchen. Es gibt keine.
Der Schrei einer Möwe lässt sie aufsehen. Im Nebel erkennt sie die dunklen Umrisse des Hafens. Nun dauert es nicht mehr lange. Sie seufzt. Sobald sie den ersten Schritt an Land macht, wird ein Abschnitt ihres Lebens für immer vorbei sein, und ein neuer beginnen. Das weiß sie. Wie in Trance greift ihre Hand nach dem Ring, den sie an einer Kette um den Hals trägt. Das letzte, was ihr von ihm geblieben ist. Mit Ausnahme ihrer Erinnerung. So wie ihn, hat sie noch nie jemanden geliebt. Allein er war in der Lage ihr den Schmerz zu nehmen. Doch nun sind sie getrennt. Weil er am Ende auch nur ein Mann ist. Am Himmel zeigt sich hinter Wolkenfetzen der aufgehende Mond, obwohl es noch lange nicht Nacht ist. Wie sie ihn hasst. Sein Licht war es, das ihr Schandmal vor den Augen ihres Liebsten entblößt hat.

Zärtlich gleiten seine Hände über ihren Körper. Sie spürt alles an ihm, was er macht, wie er aussieht, mit ihrem Herzen. Mit den Augen kann sie ihn nicht sehen, denn im Raum herrscht absolute Dunkelheit. Auch ihn verlangt es danach sie betrachten zu dürfen, er bittet sie jedes Mal darum. Wie gerne würde sie ihm diesen Wunsch erfüllen. Doch zu tief sitzt die Angst davor, ihn für immer zu verlieren, sollte er jemals die eingebrannte Lilie an ihrer Schulter finden.
„Ich liebe dich, mein Engel“, murmelt er. Sein Gesicht ist in ihrem weichen duftenden Haar verborgen, doch sie versteht ihn genau. Lächelnd wendet sie sich zu ihm um, will ihn leidenschaftlich küssen. Doch da fällt ein Schimmer von Mondlicht auf ihre nackte Schulter. Der Vorhang ist nicht richtig zugezogen. Sie kann seine Miene in der Finsternis nicht sehen. Das muss sie auch gar nicht. Die heftige Bewegung, mit der er sie von sich stößt, ist genug.

Wieder fühlt sie ihr Herz brechen, so oft sie diesen Moment in ihrer Erinnerung neu durchlebt. Ihn liebt sie jetzt noch über alles, selbst nachdem auch er sie in den Staub geworfen hat. Unzählige Tränen sind seinetwegen ihre Wangen hinabgeflossen. Irgendwann muss damit Schluss sein, sagt sie sich selbst. Nachdenklich streicht sie sich eine Strähne des roten Haars, die ihr den Blick verschleiert, aus dem Gesicht.
Sie weiß was sie zu tun hat. Wenn sie zulässt, dass das Schicksal sie weiter mit Füßen tritt, obgleich sie schon längst blutend am Boden liegt, wird sie zugrunde gehen. Und dann hätten die Männer über sie triumphiert. Das kann und wird sie nicht zulassen. Niemals! Jetzt wird sie sich wehren und mit ganzer Kraft zurück treten.
Mit einem Ruck läuft das Schiff im Hafen ein. Während es noch sicher vertäut wird, holt sie ihre wenige Habe. Ehe sie sich versieht, steht sie am Steg, der hinunter ans feste Land führt. Zunächst zögert sie. Aber dann entsinnt sie sich ihres Entschlusses. Es gibt keinen Rückweg mehr, sie kann nur noch nach vor, und daraus das Beste machen. Egal was auch immer noch kommen möge. Entschlossen geht sie hinab zur betonierten Anlegestelle. Ein letzter Schritt bringt sie vom Ende an den Neubeginn.