Herz und Seele Frankreichs von RoostersCromedCDF

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Kapitel Kapitel 17

Während Aramis von seinen Männern in den Innehof geschleift wurde, musste Thernes sich selbst eingestehen, dass er diesen Teil des erweiterten Verhörs am atemberaubendsten fand, war doch der Ausgang jedes Mal aufs Neue gänzlich unvorhersagbar und überraschend. Im Grunde hatte die ungebrochene Willensstärke dieses Scharfschützen seine Jagdlust immer weiter angefeuert und Thernes genoss den wohligen Schauer, der ihn bei dem Gedanken, den Mann an seine endgültigen Grenze zu führen, durchlief. Zugegebenermaßen hatten ihn die letzten Stunden auch ein wenig erschöpft, aber so gut hatte er sich dennoch seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Der Gefangene hatte in der Tat alles gehalten, was er sich von ihm bei ihrem ersten Zusammentreffen versprochen hatte und das war zigfach mehr wert gewesen als ein geruhsamer Nachtschlaf. Dass er seine übliche Maske der Contenance dann doch so rasch verloren hatte, ärgerte Thernes immer noch, er hasste es zutiefst, wenn andere Menschen seine Schwäche so offensichtlich sehen konnten. Was ihn allerdings tröstete war die Tatsache, dass der Mann jetzt ganz andere Probleme hatte, als über seine Unzulänglichkeiten nachzudenken.

Thernes stellte sich direkt neben das Exekutionskommando, damit ihm keine einzige Regung des Scharfschützen entgehen würde. Er hatte diese Art der Scheinexekution unzählige Male durchführen lassen, als eine Art ultima ratio, um auch den letzten widerspenstigen Gefangenen zu brechen und dabei viele Reaktionen gesehen. Menschen, die im Angesicht des unerbittlichen Todes laut schrien und bettelten, Menschen, die sich einnässten vor Angst oder sich übergeben mussten, Menschen, die offen weinten und sich mit aufgerissenen Augen und verzerrten Mienen gegen die Wand drückten, als könnten sie so ihrem Schicksal entgehen, Menschen, die starr und stumm dem Tod ins Auge sahen. Allen gemeinsam war, dass sie im Anschluss ihren Widerstand aufgegeben und in der Hoffnung, dem Tod entkommen zu sein, alle Geheimnisse offenbart hatten, die sie vorher so beharrlich gehütet hatten. Allen gemeinsam war aber auch, dass Thernes sie im Augenblick ihrer Kapitulation immer getötet hatte und das Erstaunen in ihren Gesichtern, als sie die Wahrheit erkannten und mit diesem Wissen starben, amüsierte Thernes stets aufs Neue.

Nun war er gespannt, was Aramis ihm bieten konnte! Thernes entging weder, dass der Scharfschütze völlig entkräftet war, noch, dass er trotz allem versuchte, aufrecht stehend seinem Tod entgegen zu treten. Nichtsdestotrotz konnte er sie nun deutlich sehen, die Todesangst, die in Aramis dunklen Augen aufflackerte und Thernes spürte, wie seine Hände vor Erregung feucht wurden.

„Achtung!“, rief er mit fester Stimme und legte Wert darauf, den deutschen Befehlston akkurat zu treffen.

Thernes war ein wenig enttäuscht, dass der Scharfschütze die Augen schloss und den Kopf gesenkt hielt, ganz so, als wollte er dem Unausweichlichen entfliehen. Es war Zeit, für den nächsten Schritt.

„Legt an!“

Thernes spürte seine eigene Irritation wie ein Insekt, das überaus lästig durch seinen Verstand glitt, als Aramis nun doch aufsah und nichts anderes als Selbstachtung in seinem Blick zu finden war. Verschwunden war die Todesangst, er hatte tatsächlich die Nerven, zu lächeln, während er an ihm vorbei zur Kirchturmspitze blickte. Die ganze Haltung des Scharfschützen schrie förmlich nach Lebendigkeit und Lebenswillen und doch konnte Thernes genau erkennen, dass er bereitwillig all dies losließ und sich seinem Schicksal ergab. Völlig unvorstellbar, wusste Thernes doch, dass die Endgültigkeit der Macht, mit der er über das Leben und den Tod dieses Mannes nach Belieben verfügen konnte, in seinen Händen lag und nicht in den Händen irgendeines Gottes, zu dem Aramis nun zu beten schien. Die Intensität des Momentes hatte Thernes nun vollständig erfasst und er konnte seine Erregung kaum unterdrücken, als er den endgültigen, den letzten Befehl gab, der den Scharfschützen wohl ein für alle Mal brechen würde.

„Feuer!“

Die Gewehrsalve krachte über das alte Kloster und der laute Knall der Schüsse, vervielfacht durch das Echo des Innenhofs, schmerzte ihn wie jedes Mal in den Ohren. Und wie immer dauerte es ein paar Sekunden, bis der Delinquent fassen konnte, dass dies hier nicht die Stunde seines Todes war. Thernes starrte unentwegt zu Aramis, er wollte keinen einzigen Moment verpassen, denn dieser Augenblick war der Höhepunkt der Folter, den er mit allen Sinnen auskosten wollte.

Aramis blieb länger stehen als die meisten, aber Thernes sah voller Befriedigung, dass selbst der Scharfschütze von der überwältigenden Macht des Ereignisses in die Knie gezwungen wurde und mit einem ungläubigen Ausdruck in den Augen auf die Knie sank. Ich habe ihn gewarnt, dass dies hier seine Fähigkeiten übersteigt!, sinnierte Thernes und das Gefühl der Genugtuung breitete sich sämig wie Öl in ihm aus. Er fühlte sich erhaben, gottgleich, der Herr über Leben und Tod als er sah wie Aramis sich zusammenkrümmte und eine Träne über dessen blutige Wange lief. Während der Scharfschütze schwer zur Seite fiel, wusste Thernes, dass er gewonnen hatte.

 

Der Kommissar betrachtete den am Boden liegenden Gefangen ein letztes Mal und fügte das Bild wie eine Trophäe den anderen inneren Bildern hinzu, ehe er sich schon wieder gelangweilt abwandte. Er bedauerte es jedes Mal, dass dieser Höhepunkt allzu schnell wieder vorüber war und verspürte keinerlei Lust, dem Mann dabei zuzusehen, wie er um Fassung rang. Thernes empfand nicht das geringste Maß an Mitleid oder Gnade, aber dennoch konnte er sich einer gewissen Achtung für die Art und Weise, wie Aramis die gesamte Tortur ertragen hatte, nicht erwehren. Aus einem spontanen Impuls heraus beschloss Thernes, Aramis die Zeit, die sein Verstand benötigen wurde, um wieder zu sich zu kommen, zu gewähren, denn auch wenn er im Moment mehr einem waidwunden Tier glich, so wusste Thernes doch, dass dies kein Zeichen der Schwäche war, sondern des puren Lebenswillens, den er für seine Zwecke nutzen konnte. Er war in der Tat fasziniert…und das war seit langer Zeit nicht mehr vorgekommen!

„Wir geben ihm zehn Minuten, danke schön, die Herren!“, wandte Thernes sich nun an das immer noch wartende Exekutionskommando. „Wegtreten!“

Die Sturmmänner verließen, zufrieden mit ihrer Arbeit, den Innenhof und postierten ohne weitere Aufforderung eine Wache an der Tür. Auch Thernes ließ Aramis einfach liegen und machte sich zurück auf den Weg in in sein Büro, denn er war nun doch etwas hungrig geworden. Als er im oberen Stock angekommen war, wunderte er sich, dass das immer so zuverlässige Fräulein Konstanze nicht wie üblich im Vorzimmer bei ihren Schreibarbeiten saß und er wollte schon enttäuscht nach ihr rufen, als er sah, dass auf seinem Tisch bereits ein Teller mit zwei Croissants und einer großen Tasse Kaffee stand. Auf diese Dame ist wirklich Verlass!, dachte Thernes voller Vorfreude auf das Frühstück und setzte sich an seinen Schreibtisch. Die Morgensonne brach mittlerweile durch die weite Fensterreihe und tauchte das große Zimmer in ein oranges, warmes Licht. Der Kommissar genoss die ersten Schlucke seines Kaffees, der vielleicht einen Hauch zu kühl geworden war. Während er vom Croissants abbiss, lehnte er sich in seinen Sessel zurück und rekapitulierte die Eindrücke der letzten Stunden. Die Widerstandskraft dieser minderwertigen Kreatur ärgerte ihn immer noch ein wenig, aber er musste sich eingestehen, dass ihm das Spiel dennoch über alle Maße gefallen hatte. Und wenn er in Kürze sämtliche Informationen über das Ziel des Konvois und im besten Fall auch die Stützpunkte der Resistance hatte, dass würde er dem Scharfschützen höchst persönlich eine Kugel in den Kopf jagen!

Der Gedanke daran schmeckte beinahe besser als das Frühstück, das er sich redlich verdient hatte und voller Ungeduld auf das, was noch vor ihm lag erhob er sich aus dem Sessel und trat mit der Tasse Kaffee in der Hand ans Fenster. Die Gasse unterhalb des Fensters lag noch im Schatten der Häuser, die Morgensonne hatte sich noch nicht ihren Weg hinunter bahnen können, und die zwei Wehrmachtssoldaten, die eben vor dem weißen Gittertor stehen blieben, hatten gegen die Kühle des Morgens ihre Mantelkrägen hochgeschlagen. Gedankenverloren schaute er dem Schauspiel unten zu, denn offensichtlich waren sich die Soldaten über irgendetwas uneins; harsch riss der eine den Jüngeren zurück und sie fingen an, mit gedämpften Stimmen zu diskutieren. Thernes beobachtete gelangweilt, wie der Streit rührselig – Du meine Güte! - beigelegt wurde, als einer der beiden Soldat ihn erblickte und wenigstens den Grips hatte, vor ihm zu salutieren. Auch der andere Mann hatte nun wohl kapiert, wer er war, denn auch er stand zackig und stramm, die Hand zum obligatorischen Gruß erhoben. Dennoch: Ein solches Verhalten war eines jeden Soldaten, der die deutsche Uniform trug, unwürdig, und auch wenn Thernes sich nicht die Hochstimmung angesichts des bevorstehenden nächsten, und wohl letzten, Verhörs verderben lassen wollte, so konnte er einfach nicht anders. Diese beiden Hohlköpfe würden es nie mehr wagen, sich so in der Öffentlichkeit zu benehmen! Thernes griff zum Fenster, um es zu öffnen, als plötzlich das Alarmsignal schrill und durchdringend ertönte.

„Der Gefangene ist weg, Herr Kommissar!“ Kleindienst stürzte ohne zu klopfen in sein Zimmer, sein Gesicht gerötet von der Anstrengung, die es ihm gekostet haben musste, durch die Aula über die Haupttreppe zu ihm zu laufen.

„Was heißt das: weg?“

„Weg! Er ist nicht mehr im Innenhof, die Wache sagt, dass sie ihren Posten nicht verlassen und sich niemand der Tür genähert hat! Alle Fenster sind intakt, er hat sich einfach in Luft aufgelöst!“, stammelte Kleindienst unterwürfig.

Thernes spürte, wie die Beschwingtheit, die ihn eben noch erfasst hatte, einer eisigen Wut wich, die für einen kurzen Moment seinen Blick weißglühend eintrübte. Er sprang auf und stürzte zur Tür.

„Ausschwärmen! Sofort!“, brüllte er über den Gang und augenblicklich kam Bewegung in das Hauptquartier. Kleindienst stürzte hinter ihm die Haupttreppe hinunter und binnen Sekunden waren voll bewaffnete Sturmmänner durchs ganze Haus unterwegs. Thernes rannte zur Holztür, die in den alten Klostergarten führte und riss sie auf, während er die davorstehende Wache grob zur Seite stieß. Ihm blieb für einen Moment die Luft weg, als er mit eigenen Augen sah, dass dort, wo vor wenigen Minuten der Scharfschütze gelegen hatte, nur ein paar frische Blutspuren schimmerten. Der Hof füllte sich mit Sturmmännern, die systematisch das kleine Areal durchkämmten, Efeu zur Seite schoben und jedes einzelne Fenster auf Schäden oder lose Gläser prüften. Doch sie fanden nicht den kleinsten Hinweis, Kleindienst hatte Recht gehabt, hier gab es keinen Weg hinaus.

Thernes brüllte vor Wut auf, sein Verstand weigerte sich anzuerkennen, was seine Augen gerade gesehen hatten, es war einfach unmöglich – Unmöglich! - dass der Gefangene sich mir nichts dir nichts in Luft aufgelöst hatte. Mitten in dem hektischen Trubel fror Thernes plötzlich ein, da ihm ein Gedanke in den Sinn kam, der ihn schon seit den frühen Morgenstunden irritiert hatte. Er drehte sich zu Kleindienst um und fixierte ihn mit starrem Blick.

„Wo ist Fräulein Konstanze?“

„Das Fräulein Konstanze? Aber Herr Hauptkommissar, was hat denn das Fräulein damit zu tun?“, fragte Kleindienst verwirrt zurück und Thernes sah, dass dem Rottenführer die Verbindung, die er soeben hergestellt hatte, in keinster Weise klar war.

„Wo ist sie?“, fragte er nun eisig noch einmal nach.Er hasste es, wenn er sich wiederholen musste, das musste Kleindienst doch klar sein.

„Wo sie immer ist? Im Archiv?“, stotterte Kleindienst. „Warum?“

„Weil sie heute morgen zu früh da war!“ blaffte Thernes den begriffsstutzigen Mann an. „Sehen Sie das denn nicht? Sie war in aller Herrgottsfrühe beim Gefangenen und nun ist er weg!“

„Aber Herr Kommissar! Nie im Leben hat das Fräulein etwas mit dem Verschwinden des Ungeziefers zu tun, sie ist eine wahre Patriotin und ich lege für sie meine Hand ins Feuer! Dr. Rausch hat die Behandlung angeordnet und das Fräulein hat wie immer all ihre Pflichten äußerst gewissenhaft erledigt, das wissen Sie doch!“, verteidigte Kleindienst Constance mit erstaunlicher Vehemenz und seine Stimme überschlug sich beinahe, was Thernes nicht entging.

Er stutzte nun doch ein wenig, sollte er sich tatsächlich irren? Kleindienst war ganz und gar nicht der Typ Mensch, der sich von einer einfachen Frau aufs Glatteis führen ließe. Dennoch nagte der Verdacht, dass seine Sekretärin etwas mit dem Verschwinden des Scharfschützen zu haben könnte, an ihm, auch wenn er sich nicht wirklich einen Reim darauf machen konnte. Das Fräulein kannte den Mann nicht und bisher hatte sie noch nie ihre Pflichten vernachlässigt, geschweige denn in irgendeiner Weise Sympathien für einen Gefangenen gehegt. Im Gegenteil, das resolute Persönchen hatte sich trotz ihrer französischen Herkunft tadellos in den deutschen Betrieb eingeordnet und ihre Referenzen waren einwandfrei gewesen. Dennoch, sie war die einzige offensichtliche Schwachstelle in dem ganzen Betrieb, und er wäre ein Narr, wenn er seinen Verdacht nicht überprüfen würde.

„Ihr da, mitkommen!“, befahl er drei Sturmmännern, die bei ihm gewartet hattet. „Kleindienst, los!“

Er lief in schnellem Tempo die Haupttreppe zurück hinauf, am Bürotrakt vorbei in den zweiten Stock und hatte mit wenigen Schritten den Gang zum Aktenarchiv überquert. Mit der Gewissheit, dass die Dachkammer leer sein würde, stieß er die Tür auf, die mit einem Krachen gegen die Wand schlug.

Die Dachkammer war tatsächlich leer! Thernes sah die Staubteilchen im Gegenlicht der Morgensonne tanzen; mit einem Blick hatte er erfasste, dass niemand hier war. Ich wusste es!, dachte er triumphierend. Nun hatte er Gewissheit, dass das Fräulein Konstanze nicht diejenige war, die sie vorgab zu sein.

„Fräulein Konstanze! Fräulein Konstanze!“, rief nun Kleindienst völlig sinnlos in den Raum hinein.

„Ja bitte?“

Thernes konnte kaum fassen, als hinter einem großen Aktenschrank tatsächlich seine Sekretärin auftauchte. Ihr akkurat aufgestecktes Haar hatte sich ein wenig gelöst und umrahmte neckisch ihr hübsches Gesicht. Die Knöpfe ihrer Bluse hatten sich gelöst und man konnte tatsächlich die Spitzen ihres Büstenhalters sehen. Eine Staubwolke hing über ihr und sie hielt einen Berg von Akten in beiden Händen. Sie schaute Thernes und seine Sturmmänner mit großen Augen an und ihr war deutlich anzumerken, dass sie nicht wirklich wusste, was hier vor sich ging.

„Meine Güte, haben Sie mich erschreckt“, sagte Constance. „Ist etwas passiert? Was kann ich für Sie tun? Bitte entschuldigen Sie die Unordnung, mir ist ein ganzer Aktenstapel umgekippt und unter die Regale gerutscht. Möchten sie noch mehr Croissants? Dann mache ich mich gleich noch einmal auf den Weg…!“

„Nicht nötig, Danke, Fräulein Konstanze!“, unterbrach sie Thernes konsterniert und er verkniff es sich, Kleindienst genauer anzusehen, von dem er wusste, dass er selbstgefällig neben ihm grinste. „Wir sind auf der Suche nach dem Scharfschützen! Haben Sie den Alarm nicht gehört?“

„Doch, schon! Und sie glauben er versteckt sich hier?“ Das Gesicht seiner Sekretärin wirkte nun etwas entrüstet und Thernes war klar, dass er sie ein wenig verärgert hatte.

„Nein, natürlich nicht! Aber Sie wissen, dass in solch einem Fall alle Räume überprüft werden müssen, also seien Sie bitte nachsichtig mit mir und meinen Männern.“, versuchte Thernes sie zu beschwichtigen, denn solch eine gute Sekretärin würde er so schnell nicht mehr finden, und wenn sie gehen würde, dann müsste er sich um jemand anders bemühen und dazu hatte er nun wahrlich keine Lust.

„Aber so ein Fall ist doch noch nie vorgekommen, wie kann das denn passieren?“, brüskierte sich die junge Frau und Thernes hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, als würde sie absichtlich Salz in seine Wunde streuen. Die junge Dame war tatsächlich tiefgründiger als er bisher gedacht hatte.

„Natürlich nicht, bitte entschuldigen Sie die Störung und machen Sie bitte weiter mit...“, Thernes unterstrich seinen Auftrag mit einer diffusen Handbewegung und wendete sich um, um wieder zu gehen.

„Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar! Kann ich im Moment noch etwas für Sie tun?“

„Nein, wohl eher nicht! Sie haben da übrigens einen Fleck auf ihrem Rock!“

Constance's Hände fuhren fahrig über den rostbraunen Fleck. „Ja, ich weiß, danke! Ich habe vorhin den Tee, den ich der Mannschaft gebracht habe, verschüttet. Ich werde mich natürlich sofort säubern, wenn ich hier fertig bin!“, antwortete sie beflissen und lächelte Thernes an.

Der Kommissar musterte sie noch einmal durchdringend – Ihr gelöster Blusenkragen ließ tatsächlich tief blicken! - und nickte wohlwollend.

„Kleindienst, durchkämmen Sie mit ihren Männern noch einmal das Gebäude und alarmieren Sie die Einheiten auf den Straßen. Sagen Sie ihnen, wir haben einen Flüchtigen, der unter allen Umständen wieder verhaftet werden muss!“, bellte Thernes voll erneut aufwallendem Zorn den Rottenführer an, während er aus dem Raum ging. Die Sturmmänner schlossen hinter ihm die Tür.

Hätte Thernes durch die Tür hindurch sehen können, dann hätte er nur allzu deutlich ausmachen können, wie Constance jegliche Gesichtsfarbe verlor, während sie eine Hand über den Mund schlug und sich mit der anderen krampfhaft am Aktenkasten festhielt, um nicht an Ort und Stelle umzufallen!

***

Währenddessen führte die Treppe Aramis immer tiefer in den Untergrund und bald stand er in einem engen, schmalen Gang, der nach alter, abgestandener Erde und jenem feuchten Moder roch, der so typisch für die tiefen Pariser Kellergewölbe war. Die Taschenlampe der Wehrmacht hatte ein starkes Licht und Aramis kam gut voran. Er wusste, dass es unter Paris eine „Stadt in der Stadt“ gab, ein riesiges Geflecht aus Wegen und Gängen bis hin zu uralten Steinbrüchen, deren Errichtung weit in die Römerzeit zurückreichte, und Katakomben, in denen die Gebeine von Millionen Toten gelagert wurden. Er selber hatte die „schrecklichen Keller“, wie sie von der Pariser Bevölkerung genannt wurden, immer wieder genutzt, um ungesehen zu seinen Scharfschützenstellungen zu gelangen oder um gemeinsam mit Porthos die eine oder andere Schmuggelware in die Stadt zu bekommen. Er hatte sich hier unten immer wohl gefühlt, ihn störte die Enge und klamme Feuchtigkeit nicht und es kam ihm ein wenig vor wie ein Wink des Schicksals, dass das Reich der Dunkelheit nun sein Leben retten würde – zumindest hoffte er das.

Schritt für Schritt ging er immer weiter und folgte den Windungen des Ganges ohne stehen zu bleiben. Er versuchte, die Schmerzen, die unbarmherzig durch seinen Körper hämmerten, zu ignorieren und die Bilder der letzten Stunden und Minuten, die sich in der Finsternis hier unten ungefragt in sein Bewusstsein drängten, auszublenden. Er zitterte nach wie vor und jeder Atemzug tat weh, aber sein gesamtes Denken war darauf ausgerichtet, an sein Ziel zu kommen, das irgendwo da vorne sein musste. Das Gefühl der Gelähmtheit war einem Gefühl des puren Überlebenswillens gewichen und der Gedanke, dass tatsächlich die Möglichkeit bestand aus dieser Hölle zu entkommen und seine Brüder ebenso wie Anna wiederzusehen, half ihm dabei, seine letzten Kräfte zu mobilisieren. Ihm war klar, dass dies hier der Kampf seines Lebens war und dass er niemals zuvor, mit einer Ausnahme, dem Tod so nahe gekommen war.

Es hatte ihn bis in sein tiefstes Inneres erschüttert, einem Menschen derartig ausgeliefert zu sein und jeglicher Kontrolle oder Entscheidungsmöglichkeiten beraubt zu werden. Er wusste, dass die Ereignisse der letzten 16 Stunden ihn nie wieder loslassen würden, doch im Moment war weder die Zeit noch der Ort um sich damit zu beschäftigen. Widerwillig schüttelte er heftig den Kopf um sich von dem Gespinst dieser unheilvollen Erinnerungen zu befreien, denn sie waren jetzt weder hilfreich noch notwendig. Der scharfe Schmerz, der ihn dabei unweigerlich durchfuhr und kurzfristig seinen Blick vernebelte, half ihm dabei, seine Gedanken zu fokussieren und dem Soldaten in ihm erneut die Oberhand zu gewähren. Diesen Teil seines Charakters ließ er nur im Gefecht oder während seiner Missionen als Scharfschütze frei, es war der Teil seines Wesens, der rücksichtslos und kaltblütig das tun konnte, was getan werden musste und ihm die Kraft verlieh, sich dem Unmöglichen zu stellen: Leben zu nehmen ohne dabei sich selbst zu verlieren. Er benötigte nun diese Stärke dringend im Kampf gegen sich selbst, seinen zerschlagenen Körper und die beinahe unerträglichen Schmerzen, die jeden Schritt zur Qual machten. Der Soldat in ihm zwang ihn jedoch mit zusammengebissenen Zähnen weiter voran, der unterirdische Weg, der ihn zu Beginn in die Tiefe geführt hatte, war nun wieder zunehmend steiler geworden und es kostete ihm enorme Anstrengung weiter zu gehen. Aramis spürte, wie das Salz seines Schweißes in den unzähligen offenen Wunden brannte und je länger er ging, umso mühsamer wurde es, genug Luft in seine Lungen zu bekommen. Er hatte sich so sehr auf jeden einzelnen Schritt vor ihm konzentriert, dass er beinahe in die Wand, die das Ende des Tunnels markierte, gelaufen wäre.

Erleichterung durchflutete Aramis und er lehnte sich schwer mit der Schulter an die Mauer. Er hätte sich gerne hingesetzt und ausgerastet, aber er war sich nicht sicher, ob er dann jemals wieder würde aufstehen können. Daher begnügte er sich damit, seinen Kopf gegen die kalten Ziegel fallen zu lassen und seine Atmung mit geschlossenen Augen unter Kontrolle zu bringen. Natürlich wusste er, dass er keine Zeit hatte und ihm dämmerte gerade, dass Constance sehr vage hinsichtlich der Details des Fluchtplans gewesen war. Eine Ziegelwand am Ende des Weges, eine unbelebte Seitengasse, das waren nicht besonders dienliche Informationen!

Seufzend schob er sich von der Wand weg und betrachtete die Mauer vor ihm. Constance hatte von einer Tür gesprochen, doch er konnte beim besten Willen keine solche ausmachen. Vielleicht war die ganze Wand die Tür, aber dennoch blieb das Problem, wie er sie öffnen sollte. Er spürte, wie sich leichte Panik in ihm ausbreitete, möglicherweise war er an der falschen Stelle, doch er konnte sich nicht erinnern, eine Abzweigung gegangen zu sein. Nein, Constance hatte ihn hier her geschickt, also musste es auch einen Weg hier raus geben! Er hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seit seiner Flucht vergangen war und ob die Gestapo ihm auf den Fersen war, aber alles in ihm drängte zur Eile. Er begann die Ziegelmauer vor ihm systematisch von links nach rechts und von oben nach unten mit der Taschenlampe abzuleuchten und ihm blieb beinahe das Herz stehen, als das Licht kurz aufflackerte und schließlich ausging. Verdammt, bitte nicht jetzt! Aramis klopfte hektisch die deutsche Gerätschaft – von wegen Präzisionsarbeit! - an die Wand und die Batterie schien wohl wieder an die richtige Stelle gerutscht zu sein, denn zu seiner Erleichterung wurde es wieder hell. Er bemühte sich, die Taschenlampe nicht allzu schnell zu bewegen und setzte seine Suche fort. Irgendwo musste es eine Möglichkeit geben, diese Wand zu öffnen, ein verborgener Mechanismus oder Griff und er atmete erlöst aus, als er endlich ein winziges Loch entdeckte, das darauf hindeutete, dass es hier tatsächlich einen Ausgang gab.

Er steckte seinen Finger in die Öffnung, zögerte dann aber, den kleinen Mechanismus, der in der Öffnung verborgen lag, zu betätigen, als sein Blick auf seine Hand fiel. Die Leinenbinden um seine Hände waren blutverschmiert und hingen nur mehr rudimentär daran. Blitzartig flackerte die Erinnerung auf, wie die Wucht der Schläge ihn tief in die Handschellen, mit denen er an die Säule gekettet worden war, gerissen hatte. Dabei mussten sich die Verbände wieder gelöst haben und die Wunden erneut aufgegangen sein, denn die Blutflecken waren hell und feucht. Aramis war klar, dass er sich, wenn er nur halb so schlimm aussah, wie er sich fühlte, so nicht auf die Straße wagen konnte.Er würde auffallen wie ein rosa Elefant. Mit einem Seufzer schob er sich die Taschenlampe zwischen die Zähne, um beide Hände frei zu haben. Langsam fing er an, die Leinenbinden fester um seine Hände zu wickeln, die Teile mit dem frischen Blut so gut es ging nach innen gewendet. Anschließend holte er die schwarze Wollmütze, die Constance ihm zugesteckt hatte, aus seinem Hosenbund und presste sie an der Ziegelwand. Die Wolle zog ein wenig Feuchtigkeit und Aramis begann, sich damit über das Gesicht zu fahren, um wenigstens das verkrustete Blut von seinen Schläfen zu bekommen. Er bückte sich mit einem Stöhnen und fuhr mit seinen Fingern über den blanken Erdboden. Der Staub haftete gut und er hoffte, dass er genügen würde, die blutigen Stellen in seinem Gesicht zu überdecken – Besser schmutzig als blutig, dachte er sich. Er wiederholte die Prozedur und klopfte diesmal Staub über seine Hose, die besonders an der Rückseite, soweit er das sehen konnte, ebenso blutdurchzogen war. Zum Schluss zog er die Ärmel des Pullovers weit über seine Hände hinunter und er hätte beinahe aufgeschrien, als sich deswegen die raue Wolle schmerzvoll in seine offenen Wunden am Rücken spannte. Als er sich wieder ein wenig gesammelt hatte, setzte er die Mütze auf und hoffte, dass er mit viel Glück als übernächtigter Bauarbeiter durchgehen könnte.

Aramis zog die Taschenlampe aus seinem Mund und plötzlich konnten seine tauben, noch immer geschwollenen Finger, die kleine Lichtquelle nicht mehr halten. Die Lampe viel zu Boden und schlagartig war es rund um ihn wieder stockdunkel. Mierda! Aramis hielt sich jedoch nicht mehr damit auf, die Lampe zu suchen, sondern konzentrierte sich darauf, mit seinen Fingern, die er langsam über die Mauer laufen ließ, die kleine Öffnung wieder zu finden. Er dürfte die Höhe und Position richtig eingeschätzt haben, denn er fand sie nach kurzem Suchen. Aramis atmete einmal tief ein, hielt die Luft an und betätigte den Mechanismus. Es klickte tatsächlich und die Mauer verschob sich beinahe unmerklich nach außen. Aramis übte nun mit beiden Händen Druck aus und der gesamte Wandteil ließ sich nach vorne schieben. Er musste die Augen zusammenpressen, denn augenblicklich fiel grelles Licht in den Tunnel und blendete ihn, dennoch verlor er keine Sekunde, sondern blinzelte mehrmals und zwang sich, in die Helligkeit zu sehen und hinaus zu treten.

Die kleine Gasse war eng und schmal, doch die aufgehende Morgensonne flutete ihr Licht bis ans Ende der Straße. Es war niemand zu sehen und Aramis beeilte sich, die Wand hinter sich so schnell wie möglich wieder zurück zu drücken. Als er erneut das leise Klicken des Mechanismus hörte, drehte er sich um und war unschlüssig, was er als Nächstes tun sollte. Aus der Ferne waren Sirenen zu hören, die schnell näher kamen und er war sich sicher, dass sie ihm galten. Die Gestapo suchte also schon nach ihm und er durfte keine Zeit mehr verlieren. Aramis spürte die Nervosität und Anspannung, die vor jedem Kampf seine Sinne schärften und er zwang sich, langsam und bedächtig, um nicht aufzufallen, Richtung Straßenkreuzung, die ca. 20 Meter vor ihm lag, zu gehen.

Die Sonne blendete ihn, deswegen bemerkte er den gepanzerten Wagen der Wehrmacht, der von der Seite auf ihn zuschoss und ihm den Weg versperrte erst im letzten Moment. Er schreckte zurück und blinzelte gegen das grelle Licht. Mit dem untrüglichen Gespür des erfahrenen Soldaten wusste er, dass sein Kampf verloren war. Schmerzliches Bedauern und die tiefe Verzweiflung darüber, dass er so weit gekommen und am Ende doch alles umsonst gewesen war, lähmt ihn und er fand kaum die Kraft, sich ein letztes Mal entschlossen aufzubäumen. Er starrte die zwei schwer bewaffneten Wehrmachtssoldaten an, deren Umrisse er kaum im Gegenlicht ausmachen konnte. Irgendwoher kam noch ein dritter Mann dazu und Aramis versuchte verzweifelt abzuwägen, welche Optionen er noch hatte, was er ihnen noch entgegensetzen konnte. Nichts, wurde ihm bewusst, als er einen der Soldaten einen Schritt auf sich zumachen sah, nichts außer der Sache hier und jetzt ein Ende zu bereiten. Besser im Kampf zu sterben als vor eine Wand gestellt und vor den sadistischen Augen Thernes' erschossen zu werden, dachte Aramis und spannt in einem letzten Willensakt seinen ermüdeten Körper an. Er würde hier nicht kampflos sterben und war fest entschlossen, so viele der verhassten Besatzer wie möglich mit in seinen Tod zu reißen. „Vive la France“, flüsterte er, senkte den Kopf und stürzte sich wie ein Wahnsinniger auf den ersten Soldaten.