Januarherausforderung 2005 von
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 6 BewertungenKapitel Januarherausforderung 2005
Für diesen Januar soll es einmal eine etwas ungewohntere Herausforderung geben. Es ist eine Gemeinschaftsaufgabe für 2 und mehr Autoren, für den Anfang empfehle ich aber, es erst zu zweit zu versuchen und wenn es Spaß macht, den Schwierigkeitsgrad mit mehreren Teilnehmern zu erhöhen.
Die Aufgabe: Schreibt einen Dialog (per Chat, Mail, PN...)
zwischen den Charakteren, die euch gefallen. Die Anzahl der
auftretenden Charaktere entspricht der Anzahl der schreibenden
Autoren.
Worüber sie sich unterhalten? Das soll ganz den Schreibern
überlassen sein, manchmal entwickeln sich Gespräche in die
interessantesten Richtungen, wenn man sie einfach laufen lässt. Von
Belanglosigkeiten hin zu ernsten Themen oder sehr witzigen
Dialogen. Vor allem aber soll das Ganze auch Hand und Fuß haben,
Anfang und Ende, ein Ergebnis und Sinn! Es kann eine Parodie mit
OOC sein, oder eine Szene an einem Handlungsort und zwischen
wenigen Charakteren.
Ein Tipp: Witzig wäre es, auch einmal in die Haut des anderen hineinzuschlüpfen - Jeder übernimmt den Sprechpart des Lieblingscharakters des anderen Autors! Ich will aber niemanden zwingen, darum ist das kein Teil der Aufgabe.
Am Ende soll es eine ganze Geschichte ergeben. Nicht nur der pure Dialog, auch Handlung soll zu lesen sein. Die Geschichte hat einen Ort, wo sie spielt und es muss Sinn machen, warum sich zwei Charaktere dort treffen und unterhalten! Einige unter uns haben das ja schon öfters gemacht, aber eher selten mit der Vorgabe, NICHT den eigenen Lieblingscharakter zu nehmen.
Noch ein Tipp zum Verfahren: Das lässt sich gut schreiben in
Form eines Dramen-Dialogs, so etwa:
Charakter A: *Regieanweisung* "blablabla" *evt. noch eine
Regieanweisung*
Wer jetzt keine Idee für eine Handlung hat, dem gebe ich auch noch Stichwörter zwecks Ideenfindung: Peinliche Situation, Meinungsverschiedenheit, aneinander vorbeireden, flirten, in der Wirtschaft leicht angetrunken, Friedhof, unerwarteter Besuch...
Ich hoffe, das ist keine zu dumme Idee. Wenn doch, schreibt mir 'ne PN. ;-) Ansonsten viel Spaß bei der Partnerwahl *g*
Kapitel Rückfall und Rückkehr von Silvia
Anmerkung: Diesen Herausforderungsbeitrag haben Maike und ich geschrieben. Maike hat Athos geschrieben, während ich Raoul übernommen habe. Der Dialog basiert auf einer Stelle im dritten Roman, dem Abschied von Athos und Raoul, als letzterer nach Algerien aufbricht. In unserer Version verläßt er noch vor dem Auslaufen das Schiff – und Vater und Sohn begegnen sich in einem Gasthaus wieder.
Rückfall und Rückkehr
“Adieu!“ rief Raoul.
Athos antwortete nur mit einer Handbewegung. Da aber spürte er
etwas Heißes auf seiner Hand: Das war der respektvolle Handkuß
Grimauds, das letzte Lebewohl des treuen Dieners. Nach diesem
Handkuß sprang Grimaud vom Absatz der Mole vorn auf eine Jolle mit
zwei Rudern, die sich von einem Transportschiff ziehen ließ, das
von zwölf Galeerenrudern vorwärtsbewegt wurde.
Verloren, betäubt, verlassen setzte sich Athos auf die Mole. Er
sah, wie sein Sohn die Leiter des Admiralschiffes erklomm, er sah,
wie er sich an die Reling lehnte, so daß ihn sein Vater bis zuletzt
nicht aus den Augen verlieren konnte.
Raoul erreichte das Gasthaus an der Straße nach Lyon lange,
nachdem es dunkel geworden war. Seit seinem Aufbruch von Toulon war
er ununterbrochen geritten, doch nun forderte diese Anstrengung
ihren Tribut. Er mußte für die Nacht eine Pause einlegen, wenn er
nicht wollte, daß sein Pferd am nächsten Tag lahm ging.
Er übergab das Tier einem Knecht des Gasthauses und betrat die
Schankstube, in der auch zu dieser späten Stunde noch viel Betrieb
herrschte. Es war eine recht heruntergekommene Absteige, in der
nicht unbedingt die besten Leute zu verkehren schienen, und so
wurde Raoul hellhörig, als er ein Gespräch der Wirtsleute
aufschnappte, in dem es um einen vornehmen Herrn ging, der in einer
der Gästekammern seinen Rausch ausschlief.
Der Vicomte überlegte nicht lange. Ein vornehmer Herr, in diesem
Gasthaus, das nur eine Zwischenstation auf der Strecke von Toulon
nach Lyon war, die, wie er sicher wußte, sein Vater für seiner
Heimreise ins Berry gewählt hatte – er mußte wenigstens nachsehen,
ob er richtig vermutete. Es war nicht schwer, die richtige Kammer
zu finden, das Gasthaus verfügte nur über wenige Räume. Leise
öffnete Raoul die Tür, hinter der er seinen Vater vermutete und
schlich auf Zehenspitzen in die Kammer. Nachdem seine Augen sich an
die Düsternis gewöhnt hatten – und er beinahe noch über eine am
Boden liegende, leere Weinflasche gestolpert war – konnte er vage
einen Mann ausmachen, der angekleidet, aber wie es schien tief
schlafend, quer über dem Bett lag, die rechte Hand noch am Hals
einer leeren Anjou-Weinflasche. Raoul tastete sich bis zum Bett
vor. Lag dort etwa sein Vater? Es schien kaum möglich, und doch…
Als er das Bett erreichte und genauer hinsehen konnte, mußte er
konstatieren, daß dies in der Tat der Graf von la Fère, sein Vater,
war, der dort seinen Rausch ausschlief. Doch seit wann trank er so
viel? Raoul konnte sich nicht erinnern, ihn jemals auch nur
ansatzweise betrunken erlebt zu haben. Vorsichtig berührte er den
Grafen an der Schulter, doch ohne jeglichen Erfolg; zwei Flaschen
besten Anjouweins waren stärker als ein zaghafter Vicomte.
Raoul sah sich im Zimmer um, vielleicht gab es hier etwas
wirksameres, mit dem er seinen Vater wecken konnte. Sein Blick fiel
schließlich auf einen Wasserkrug am Fenster. Er befeuchtete rasch
sein Taschentuch und kehrte zum Bett zurück, um es dem nach wie vor
tief schlafenden Athos ins Gesicht zu legen. Ein bißchen schämte er
sich, erschien ihm dies doch wie eine recht rabiate Methode, seinen
verehrten Vater aus dem Schlaf zu reißen.
Der gab nun einen unwilligen Laut von sich und machte mit der
linken Hand eine Geste, als ob er den ungebetenen Besucher
verscheuchen wollte.
„Monsieur le comte...“ sagte Raoul nun drängend und berührte Athos
noch einmal an der Schulter.
Die Augen des Grafen flatterten auf, und er blinzelte benommen, im
Versuch, in der Düsternis irgend etwas zu erkennen. War das nicht
Raouls Stimme gewesen? Was war das für ein merkwürdiger Traum
gewesen…
Raoul kniete nun genau vor ihm nieder und sah ihn eindringlich an –
nun, da der Graf einmal wach war, sollte er nicht gleich wieder
einschlafen, dafür war es zu schwierig gewesen, ihn zu wecken. „Ich
bin es, Monsieur le comte, wacht doch bitte auf...“ Er angelte nach
dem Wasserkrug. Diese Bewegung – und vermutlich die Ahnung, daß
sein Sohn diesen Krug gebrauchen würde – schien den Grafen nun
endgültig zu wecken, er richtete sich so würdig auf, wie es sein
Zustand so gerade noch erlaubte. „Raoul.“
„Ja, Monsieur le comte, ich bin es...“ erwiderte der Vicomte,
erleichtert, daß sein Vater, den er noch nie in einem solchen
Zustand erlebt hatte, endlich zu sich kam. „Was habt Ihr denn nur
gemacht?“
Athos streckte nun zögernd die Hand aus und berührte seinerseits
Raouls Schulter, die bohrenden Kopfschmerzen ignorierend. Sein Sohn
war da, wirklich da, warm und lebendig… Doch höchst merkwürdige
Fragen stellte er! „Ich hätte Euch in der Tat das Trinken besser
lehren sollen“, bemerkte er, „so, wie Ihr fragt, hättet Ihr ja noch
böse Überraschungen erlebt auf Eurem Feldzug - den Ihr ganz
offensichtlich abgebrochen habt.“ War es denn zu glauben?
Fünfhundert Jahre glorreicher Familiengeschichte - und sein Sohn
mußte der erste Deserteur der Bande sein... Er überspielte die
erste Regung, Raoul einfach an sich zu drücken, mannhaft und
betrachtete ihn streng.
Raoul wich diesem Blick, der forschend bis in ihn hineinzusehen
schien, unsicher aus, obgleich es ihm schien, als sei sein Vater
hinter der strengen Miene, mit der er ihn musterte, recht glücklich
und erleichtert. Vielleicht war es aber gerade diese Beobachtung,
die es dem Vicomte schwermachte, in Athos Augen zu blicken, denn
mit einem Mal fühlte er sich sehr reumütig – doch nicht, weil er
vom Schiff gegangen war, das ihn nach Algerien hätte bringen
sollen, sondern weil er überhaupt erst auf dieses Schiff hatte
gehen müssen, um zu erkennen, was er eigentlich wollte. Dort erst
war ihm aufgegangen, wie viel er seinem Vater verdankte und daß er
ihn nun nicht einfach im Stich lassen konnte. „Der Herzog war
einverstanden“, sagte er etwas hilflos und sah seinen Vater wieder
an. „Als ich dort auf dem Schiff stand, hatte ich plötzlich das
Gefühl, daß ich dort nicht hingehöre - ich bin zum Herzog von
Beaufort gegangen und habe ihm alles erklärt, er hat mich gehen
lassen.“ Er feuchtete das Taschentuch erneut an und reichte es
Athos, der es ihm sacht aus der Hand nahm.
„Ihr schuldet dem Duc de Beaufort großen Dank für seine Geduld mit
Euren Gefühlsaufwallungen“, bemerkte der Graf mit einer Ruhe, die
seine eigene große Dankbarkeit gegenüber Beaufort, der seinen Sohn
hatte gehen lassen, und sein heftiges Herzklopfen gut
kaschierte.
„Ich habe ihm auch sehr aufrichtig gedankt, Monsieur le comte, ich
glaube, er wußte, warum ich mich anders entschieden habe“, sagte
Raoul und bemühte sich, dem Blick des Grafen diesmal standzuhalten.
„Verzeiht mir, daß ich Euch im Stich gelassen habe.“
Athos, der alles erwartet hatte, doch nicht diese Aussage, zog
Raoul mit aller Kraft in eine feste Umarmung, halb, um ihn
festzuhalten, halb um seine Tränen, die nun trotz aller
Beherrschung in seine Augen traten, nicht vor seinem Sohn, sondern
diskret über dessen Schulter zu vergießen.
„Ihr müßt meine Verzeihung nicht erbitten“, sagte er mit gleichwohl
recht beherrschter Stimme, die jahrelange Übung in vollendeter
Haltung verriet. „Es wäre verfehlt gewesen, zu behaupten, Ihr
hättet mich im Stich gelassen - es ist ein Vorrecht der Jugend, die
Fremde zu erkunden und auf die eigensüchtigen Nöte und Bedürfnisse
der Eltern wenig Rücksicht zu nehmen. Und doch....“ Er atmete tief
durch und sprach sehr leise weiter. „Und doch hättet Ihr mich nicht
reicher beschenken können, als Ihr es eben getan habt.“
Raoul, der noch nicht die jahrelange Erfahrung seines Vaters besaß,
kämpfte bei diesen Worten vergeblich um seine Fassung. „Ihr habt es
verdient, Monsieur le comte, ich verdanke Euch alles und es wäre
ein schlechter Dank gewesen, wäre ich wirklich nach Algerien in den
Krieg gezogen und das nur aus enttäuschter Liebe heraus.“ Er hielt
sich an Athos fest, der ihn nur sehr langsam wieder aus seiner
Umarmung entließ.
„Es stünde mir nicht an, über die Taten zu richten, die Ihr aus
Liebe, enttäuscht oder nicht, begangen habt“, sagte der Graf
nachdenklich. „Erweist mir nur den Gefallen, Vicomte, an einer
Liebe fürderhin nicht zu zweifeln - der, die ich Euch
entgegenbringe.“ Er lächelte sacht.
„Daran habe ich niemals gezweifelt, Monsieur le comte“, sagte der
Vicomte sehr ernst, so ernst, daß Athos fast ein schlechtes
Gewissen bekam. „Ihr denkt besser von mir, als ich es zuweilen
verdienen mag, Raoul“, sagte er sehr gerührt. „Und nun tut mir den
Gefallen, mir diese Branntweinflasche dort zu reichen -
gelegentlich muß man sich auf alte Mittel aus dem Feldlager
besinnen, um einen wenig erstrebenswerten Zustand zu bekämpfen.“
Mit dieser Bitte wollte er zugleich auch ein wenig die Rührung
überspielen, die ihn ergriffen hatte. Raoul sah ihn jedoch recht
verdutzt an und fragte, während er ihm die gewünschte Flasche
gehorsam reichte: „Ihr wollt Alkohol mit Alkohol bekämpfen,
Monsieur le comte?“ – „Das Wasser wäre wahrhaftig zu schwach.“ Der
Graf nahm einen tiefen Schluck, während Raoul sehr skeptisch
dreinsah. „Ich kann den Wirt bitten, etwas zu essen
heraufzubringen...“ sagte er schließlich, in der Hoffnung, seinen
Vater davon abzubringen, noch mehr zu trinken und selbst endlich
etwas in den Magen zu bekommen, der schon seit einer Weile hungrige
Töne von sich gab.
Athos nickte, er hatte zwar selbst nicht gerade großen Appetit,
erkannte aber, daß sein Sohn etwas zu essen nötig hatte. „Tut das
nur, es wird nicht das Schlechteste sein.“
Raoul nickte erfreut und ging nach unten, um die Bestellung
aufzugeben. „Er wird es gleich bringen“, sagte er, als er wieder
nach oben kam und betrachtete seinen Vater prüfend und ein wenig
besorgt. „Wie geht es Euch jetzt, Monsieur le comte?“
Athos lächelte ein wenig. „Viel besser, sorgt Euch nicht. Und
selbst, wenn es mir weitaus schlechter ginge, hätte Eure Rückkehr
mir den Tag ein wenig erhellt... Nicht allein Eure Rückkehr, auch
Euer Mut; Ihr seid Eures Blutes würdig, Monsieur le vicomte.“ Er
nahm noch einen Schluck Branntwein, während Raoul glücklich
errötete, dann jedoch den Kopf senkte. „Es war nicht sehr mutig,
davonlaufen zu wollen, nachdem Mademoiselle de la Vallière mich
enttäuscht hat“, sagte er leise.
Sein Vater betrachtete ihn ruhig. „Ihr seid jung, Raoul, und müßt
noch eines lernen - Eure eigenen Fehler mit Abgeklärtheit und mit
Nachsicht zu betrachten. Ist man jung, so scheint die Enttäuschung
über eine Frau und das, was sie einen hat tun lassen, die ganze
Welt zu bedeuten. Ihr werdet einmal, in langen Jahren, mild darüber
lächeln, oder mit der Melancholie, die mit dem reiferen Alter
kommt, und werdet Eurem Sohn die nämlichen weisen Ratschläge
erteilen.“ – „Wenn es mir gelingt, Eure Weisheit zu erlangen…“
sagte Raoul leise. „Euer Rat hätte mir sehr gefehlt.“
Athos lächelte ein wenig. „Ihr schmeichelt mir, mein Raoul, doch
wenn Ihr meinen Rat auch schätzen mögt, so ist er Euch doch nicht
mehr nötig; das habt Ihr bewiesen.“
Raoul errötete erneut und drückte die Hand des Grafen. „Ich danke
Euch, Monsieur le comte.“
In diesem Moment klopfte es, und der Wirt trug äußerst appetitlich
aussehende Speisen, die man dieser Spelunke kaum zugetraut hätte,
herein. Athos sandte ihn rasch wieder fort; er wollte mit seinem
Sohn allein sein, der sich bereits daran gemacht hatte, die Speisen
auf dem kleinen Tisch schön anzuordnen. „Wollt Ihr nichts essen,
Monsieur?“ fragte er schließlich etwas zögernd, als der Graf keine
Anstalten machte zuzugreifen.
Athos lächelte angesichts dieser Besorgnis. „Ein wenig.“ Um Raouls
Willen nahm er ein wenig Brot und Braten, er war nicht sonderlich
hungrig. Raoul jedoch, nun einigermaßen erleichtert, griff tüchtig
zu, wenn er auch wohlerzogen darauf achtete, sich zu beherrschen
und manierlich zu essen, so hungrig er auch war. Nachdem der erste
Hunger gestillt war, sah er Athos an. „Darf ich Euch etwas fragen?
Warum habt Ihr Euch heute betrunken?“
Athos schüttelte innerlich den Kopf, war aber weise genug, die
Geste nicht äußerlich zu wiederholen; besagter Kopf hätte es ihm
kaum gedankt. Welche Neugier – schickte sich das für einen La Fère?
Doch er antwortete trotzdem. „Manche mögen trinken, um zu feiern
oder sich einen lustigen Abend zu machen... Das war nie meine Art.
Der Wein bietet aber auch ein erzwungenes Vergessen; berauscht kann
man vor Feinden fliehen, denen man nicht mit dem Degen begegnen
kann.“ Er lächelte müde, er war nicht sehr glücklich über diesen
Rückfall in schlechte, alte Gewohnheiten. „Sagt, daß ich aus
Feigheit getrunken habe.“
„Ihr, feige?“ rief Raoul impulsiv. „Nein, Ihr seid nicht feige,
Monsieur le comte - ich kenne niemanden, der tapferer ist als Ihr!“
Doch über der Erklärung des Grafen wurde er nachdenklich, er ahnte,
was dieser mit dem Vergessen wollen gemeint hatte. „Dieser Feind,
dem man nicht mit dem Degen begegnen kann, war meine Abreise, nicht
wahr?“ – „Auch die“, gestand Athos ruhig ein und sah seinen Sohn
geradewegs an. „Doch ebenso eigene Scham über versäumtes,
unwiederbringlich seit Eurer Zeugung versäumtes... Das war
vielleicht der schlimmste Feind.“
Raoul sah ihn fragend an. „Was solltet Ihr versäumt haben?“ fragte
er ernst.
„Wahrhaftig genug Euch gegenüber zu sein, in vielen Dingen“,
erwiderte Athos ruhig. „Denn Eure Flucht war nicht Euer Fehler -
meiner dagegen, und mein Versagen an Euch. Hätte ich Euch besser
gelehrt, Euch mehr wie den Rohan und de la Fère, der Ihr nun einmal
seid, behandelt, statt Euch zu sehr in einer Unschuld, die Euch nur
schaden konnte, zu erhalten, dann...“ Er brach ab, lächelte aber.
„Doch Ihr seid gelegentlich weiser als Euer Vater, und gut
imstande, meine Fehler wieder wettzumachen; so soll es sein.“ –
„Ja, so soll es sein, und deswegen durfte ich nicht gehen“, sagte
Raoul fest. „Ich gehöre zu Euch und an Eure Seite und nicht auf ein
Schlachtfeld in Algerien, wo ich doch nur den Tod gesucht
hätte.“
„Ihr hättet den Euren und den meinen gefunden“, sagte Athos sehr
leise und fügte etwas lauter hinzu: „Doch laßt Euch Euer Essen
nicht von derlei Überlegungen verderben - über das zu erschrecken,
was doch nicht geschehen ist, ist nicht sinnreicher, als verlorenem
nachzutrauern. Wir sollten weit lieber Reisepläne machen.“
„Ja, das sollten wir, Monsieur le comte! Nebenbei...“ Raoul
knabberte an einem Stück Brot. „Wenn Ihr mir die Frage gestatten
wollt - was meintet Ihr eben mit 'Rohan'?“
Der Graf de la Fère nahm einen weiteren Schluck Branntwein. „Das
sage ich Euch gleich, Raoul, eine längere Geschichte... Aber, sagt
- wo habt Ihr eigentlich Grimaud gelassen? Ihr habt ihn nicht
erwähnt."
Der Vicomte erbleichte. "Grimaud... Grimaud... Oh - verflucht! Um
Vergebung, Monsieur le comte, aber... Verflucht nochmal in der Tat!
Ich wußte doch, daß ich etwas auf dem Schiff vergessen hatte!"
Kapitel Gespräche vor dem Feind und im Salon von Silvia
Anmerkung: Dieser Beitrag zur Januarherausforderung stammt von kaloubet und mir. Im ersten Teil hat Claudia Raoul geschrieben und ich d’Artagnan, im zweiten Teil war sie Madame de Chevreuse, während ich Raoul übernommen habe. Der dazukommende Athos wurde dann von uns beiden geschrieben.
Ein Gespräch vor dem Feind
Es war ein schöner sonniger Tag, aber die angenehme Sonne konnte
die Männer, die hinter den Schanzwerken und in den Schützengräben
die Bewegungen des Gegners beobachteten, nur äußerlich erwärmen,
wußten sie doch, daß die nächste Auseinandersetzung mit einem
zahlenmäßig überlegenen Gegner bevor stand – wenn sie ihren
Offizieren glaubten, würde es zwar noch eine Weile dauern, aber wie
zäh können Tage sein, die man mit Warten verbringt! Hier lagen
Eliteregimenter, deren Offizieren mit List und Erfahrung wohl
ausgleichen mochten, was ihnen rein zahlenmäßig fehlte. Zwei der
Offiziere eines dieses Regimentes standen gerade auf einer Bastion,
der eine, ein junger Mann von höchstens fünfundzwanzig Jahren, wies
gerade auf etwas, das er in der Ferne ausmachen konnte. „Capitaine,
seht, die graue Linie dort. Das ist der Feind, ich sehe die Sonne
auf den Kürassen blitzen.“ Sein Nachbar, dessen einstmals schwarze
Haare stark mit Grau durchsetzt waren, dessen von der Sonne
gegerbtes Gesicht aber trotz aller Falten einen jugendlichen
Ausdruck bewahrt hatte, antwortete gelassen: „Ruhig Blut, Raoul,
hier und jetzt wird nichts entschieden. Die werden nicht in der
hellen Sonne und frontal angreifen, eher ist ein Ablenkungsmanöver
zu erwarten. Nein, seid getrost, das dauert noch. Habt Ihr
Neuigkeiten von zu Hause?“ Raoul blickte zu Boden, seine Stimme war
leise. „Nein, nichts, keinen Brief, keine Nachricht, nichts. Nur
mein Vater schrieb mir vor ein paar Tagen schon. Aber sie? Und doch
kommen Briefe ins Lager, auch aus Paris, an der Post kann es nicht
liegen.“ D’Artagnan betrachtete Raoul forschend, hatte er doch in
der letzten Zeit deutliche Zeichen von Unruhe und Sorge an ihm
beobachtet. „Ihr seid sehr ungeduldig, Raoul... Wenn sie Euch
liebt, wird sie Euch schreiben - wenn nicht, ist sie es nicht wert,
daß Ihr Euch ihretwegen aufreibt... Was schrieb denn Euer Vater?“
Sein junger Freund hob den Blick und sah seinen Capitaine
verzweifelt an. „Nun, die üblichen Dinge, über die Ernte, die
Diener … und daß er nicht … daß er nicht …, nun daß er nicht noch
einmal bei dem König wegen Louise vorsprechen will. Worum ich ihn
gebeten hatte. Oh, ich verstehe einfach nicht, warum er so gegen
unsere Heirat ist.“ Nach einer Pause setzte er hinzu: „Er mag
Frauen nicht, nicht wahr?“
Nachdem er Raoul lange prüfend angesehen hatte, entschloß sich
d’Artagnan zur Aufrichtigkeit und sagte mit einem leichten Seufzen:
„Oh doch, schätzt ihn nicht falsch ein. Aber er braucht lange, um
ihnen zu vertrauen, so könnte man es eher ausdrücken, Raoul. Der
Grund dafür liegt lange zurück, aber ich glaube, er will Euch vor
einer ähnlichen Erfahrung schützen. Und wenn Eure Angebetete Euch
tatsächlich nicht schreibt, hat er vielleicht nicht ganz unrecht
damit, mein Freund.“
Raoul nickte. „Ich habe geahnt, daß mein Vater Frauen … nun,
skeptisch gegenüber steht. Aber Louise verdient seine und Eure
Skepsis nicht, sie ist aufrichtig, liebevoll. Wenn sie nicht
schreibt, dann muß sie einen anderen Grund haben. Warum mißtraut
Ihr ihr? Denn auch Ihr, Capitaine, auch Ihr mißtraut ihr.“ Sein Ton
wurde lauter, er redete sich fast in Rage. „Oh, könnte ich hier
weg, könnte ich nur zu ihr... Ich würde sie auf Knien bitten, meine
Frau zu werden, tudieu, auch ohne die Einwilligung meines Vaters.
Dieses Mißtrauen gegenüber dem schönen Geschlecht ist doch nur ein
Überbleibsel eines vergangenen Jahrhunderts...!“
D’Artagnan wandte den Kopf ab, musterte die stillhaltende Linie der
Feinde und bemerkte dann, ohne Raoul wieder anzusehen: „Seid
vorsichtig mit dem, was Ihr sagt und tut, Raoul, Mißtrauen
gegenüber jemandem, dessen Intentionen man nicht kennt, gleich ob
Mann oder Frau, ist nie falsch. Kennt Ihr Mademoiselle de la
Vallière so gut, daß Ihr mit Gewißheit sagen könnt, daß sie Euch
und nicht etwa jemand anderen liebt und deswegen nicht schreibt?
Wollt Ihr wirklich gegen den Willen Eures Vaters handeln und Euch
und ihn unter Umständen unglücklich machen? Kennt Ihr die Liebe so
gut?“
Sein junger Freund erbleichte, zum einen, weil er sich seinen
Ausbruch zum Vorwurf machte, zum anderen aufgrund der Worte des
Capitaines. „Monsieur, wie könnt Ihr der, die ich anbete,
unterstellen, sie könnte einen anderen lieben? Wißt Ihr etwas, was
ich nicht weiß? Wir sind uns versprochen schon seit vielen Jahren.
Sie ist das Licht, das mein Leben erleuchtet, ohne sie ... nein,
ich mag es mir nicht vorstellen. Mein Vater sah unserer Verbindung
immer wohlwollend zu, zumindest schien es mir so, er widersetzte
sich ihr nicht. Warum also diese plötzliche Ablehnung? Es steht mir
fern, ihn kränken zu wollen, aber was die Liebe angeht... was weiß
er denn von ihr? Wie könnte er meine Gefühle für Louise verstehen,
wenn er selbst nur schlechte Erfahrungen gemacht hat? Muß ich sein
Mißtrauen erben, obgleich ich mir nur eines wünsche, nämlich meiner
Angebeteten rückhaltlos vertrauen zu können?“
D’Artagnan musterte ihn mit einem ganz leisen traurigen Lächeln.
„Seid Ihr denn sicher, Ihr so rückhaltlos vertrauen zu können,
Raoul? Ich bin bei weitem nicht so mißtrauisch wie Euer Vater
gegenüber dem schönen Geschlecht, aber es gibt mir zu denken, daß
sie Euch nicht schreibt und daß unser König, wie Ihr sagt, die
Verbindung ablehnt. Ist sie nicht eine Ehrendame seiner
Schwägerin?“
Der letzte Satz hatte einen Beigeschmack, der Raoul nicht entging.
„Was unterstellt Ihr ihr? Reicht es heute aus, das Amt einer
Ehrendame zu bekleiden, um sofort einen schlechten Ruf zu bekommen?
Vergeßt nicht, daß die Mutter meines Vaters Ehrendame der Maria von
Medici gewesen ist. Reicht das aus in Euren Augen, um ihr einen
schlechten Leumund zu verleihen? Und der König hat unserer
Verbindung nicht zugestimmt, da mein Vater ihn nur halbherzig bat,
das hat er mir selbst gesagt. Mir scheint, auch Ihr traut den
Frauen nicht, Monsieur. Mon dieu, was habt Ihr erlebt, um so zu
urteilen? Ihr seid nicht verheiratet, kinderlos, lebt mit einer
Frau zusammen, die eine Gaststätte führt - Ihr, ein Capitaine der
Musketiere - findet Ihr das nicht seltsam? Wärt Ihr ein Jüngling
von zwanzig Jahren, gut, aber Ihr seid ein gestandener Mann.
Monsieur, was haben die Frauen Euch getan, Euch und meinem
Vater?“
Trotz dieses zweiten Ausbruches und der Impertinenz der Fragen, die
er in einem anderen Zusammenhang wohl streng gerügt hätte, blieb
d’Artagnan gelassen, eine gewisse Altersweisheit im Blick, und
vermied, auf die Vorwürfe seines Freundes einzugehen. „Raoul, Ihr
mißversteht mich - ich unterstelle Eurer jungen Freundin gar
nichts. Was ich mit meiner Frage in Erfahrung bringen wollte, war
einzig und allein, ob sie sich des öfteren in der Nähe unseres
Königs aufhält, der ja die Heirat zwischen Euch und ihr abgelehnt
hat.“ – „Als Ehrendame am Hof muß sie sich ja in seiner Nähe
aufhalten. Aber ich sehe, wohin Eure Frage zielt, Monsieur. Und ich
wiederhole Euch, daß Louise nicht diese Art Frau ist. Wir haben uns
Treue geschworen, und ich glaube an dergleichen Schwüre.“ Wieder
sah er seinen Capitaine fragend an, schon innerlich Abbitte
leistend für seine doch recht forschen Fragen, noch dazu einem
Vorgesetzten gegenüber – der aber, und das hatte Raoul nur zu gut
verstanden, hier nicht als Vorgesetzter, sondern als väterlicher
Freund vor ihm stand. „Woran Ihr aber nicht mehr zu glauben
scheint. Erlaubt mir, noch einmal zu fragen, was haben die Frauen
Euch nur getan?“ Gleich nachdem er diese Frage gestellt hatte – die
er nur deswegen zu stellen gewagt hatte, weil sie ihm schon so
lange, eigentlich seit seiner Kindheit durch den Kopf gegangen war,
und die er auch seinem Vater so gerne gestellt hätte – biß er sich
auf die Lippen, als er den nachdenklichen und melancholischen
Gesichtsausdruck sah, mit dem ihn d’Artagnan betrachtete. „Ihr seid
hartnäckig, mein Freund - und ich hoffe für Euch, daß Euer fester
Glaube in Mademoiselle de la Vallières Integrität nicht eines Tages
enttäuscht wird. Die Frauen haben mir nichts getan, zumindest nicht
mehr, als ich ihnen selbst getan habe.“ Seine Worte verklangen
leise, Raoul wagte nicht, das längere Schweigen zu unterbrechen,
das ihnen folgte. Schließlich fuhr der Capitaine der Musketiere
fort, aufseufzend, aber mit gefestigter Stimme: „Euer Vater hat
Grund, den Frauen mißtrauisch gegenüberzustehen und doch hat er
trotz einiger Zweifel an Eurer Wahl seine Einwilligung gegeben, er
will das Beste für Euch, Raoul.“ Traurig, nachdenklich, aber immer
noch im Ungewissen antwortete Raoul: „Ich bin meinem Vater zu
großem Dank verpflichtet, Monsieur d’Artagnan, haltet mich bitte
nicht für undankbar. Aber er hat sein Leben und ich das meine,
seine Erfahrungen sind nicht die meinen ... auch wenn sein Rat in
vielen Dingen für mich sehr wichtig ist. Aber in Fragen der Liebe
scheinen wir uns zweier verschiedener Sprachen zu bedienen ... und
ich habe nie gewagt, ihn zu fragen, wo der Grund dafür liegt.
Deswegen erlaubte ich mir, Euch diese Frage zu stellen, aber ich
sehe, Ihr haltet Euch ebenso bedeckt wie mein Vater. Entschuldigt,
wenn ich dennoch vermute, daß Ihr großen Schmerz erlitten habt,
ebenso wie er, aber ich werde nicht weiter in Euch drängen. Bedenkt
nur, daß ich bis heute nicht weiß, wer meine Mutter war ...“
D’Artagnan spürte die Berechtigung dieses Vorwurfs und Mitleid mit
diesem jungen Mann regte sich in ihm. Aber es war nicht an ihm,
diese Fragen zu beantworten. „Fragt ihn, wenn Ihr ihn wiederseht,
Raoul, und sprecht mit ihm über das, worüber Ihr heute mit mir
gesprochen habt. Ihr habt recht, ich habe einen großen Schmerz,
einen großen Verlust erlitten, er wurde mir von einer Frau zugefügt
und er hat mir eine Frau genommen. Ihr seht, es ist vertrackt…
Niemand verlangt von Euch, den Frauen zu mißtrauen, nur weil Euer
Vater es tut und weil ich ebenfalls meine Bedenken habe, aber rennt
auch nicht mit geschlossenen Augen durch die Welt, Raoul, sie kann
Euch unvorhergesehenen Kummer bescheren...“ Diese Worte stimmten so
sehr mit seinen Gefühlen überein, daß Raoul nur nickte. „Seid
getrost, Monsieur, das tut sie jetzt schon. Ah, welch Hoffnung bei
jedem Verteilen der Post und welch Enttäuschung, wenn wieder kein
Brief dabei ist. Und welch quälender Zweifel an mir, was habe ich
getan, nicht getan? Was gesagt oder nicht gesagt, um diese Stille
zu verdienen?“ – „Sucht die Schuld nicht bei Euch, Raoul. Ich bin
davon überzeugt, daß Ihr alles richtig gemacht habt, sie weiß um
Eure Zuneigung zu ihr und Ihr habt Euch ihr gegenüber tadellos
verhalten, wenn ich richtig informiert bin. Wenn sie Euch also
tatsächlich nicht schreibt, wird das andere Ursachen haben.“ Mit
einer Stimme, als frage er einen Untergebenen, ob die Stellungen
gut angeordnet seien, fügte er hinzu: „Habt Ihr ihr einmal
geschrieben und sie gefragt, warum Ihr nichts von ihr hört?“
„Oh ja, ich sandte ihr schon drei Briefe, einer dringlicher als der
andere. So werfe ich mir schon vor, zu sehr in sie zu dringen, zu
sehr auf eine Antwort zu drängen. Ich beteuerte ihr meine
ungebrochene Liebe ... in den stärksten Worten zu denen ich fähig
war. Was soll ich ihr denn noch versprechen?“ Innerlich den Kopf
schüttelnd über diesen jugendlichen Ungestüm antwortete d’Artagnan:
„Drei Briefe, und sie hat nicht einen davon beantwortet? Vielleicht
solltet Ihr die junge Dame einmal zur Rede stellen, aber nicht in
einem Brief, sondern von Angesicht zu Angesicht. Findet heraus, wie
es um ihr Herz bestellt ist, Raoul.“ Mit einer Handbewegung zu der
Linie des Feindes bemerkte Raoul mit einer gewissen Bitterkeit:
„Ihr habt gut reden, ich bin hier in diesem Lager, in diesem Krieg.
Wenn ich Urlaub erbitte, wird man mich nicht als Deserteur
hinstellen? Und was wird mein Vater dazu sagen, wenn ich von meinen
Posten weiche, nur um eine Privatangelegenheit zu klären?“
„Er wäre wenig entzückt, da habt Ihr recht. Doch macht aus dem Wort
‚Privatangelegenheit’ doch einfach das Wort
‚Familienangelegenheit’, es ist nicht so falsch und eine Erklärung
für beinahe alles, da habe ich Erfahrung und Euer Vater ebenso...
Und, mein lieber Junge, wenn Ihr um Urlaub bittet und ihn erhaltet,
seid Ihr kein Deserteur, darum gibt es ja den Urlaub – und in den
nächsten Tagen wird hier noch nichts entschieden, ich kenne unseren
Gegner. Ihr hättet genügend Zeit, nach Paris zu reiten und
rechtzeitig wieder zurück zu sein, bevor es ernst wird.“ Diese
Worte weckten Hoffnung im Herzen Raouls, seine Augen blitzten. „Ich
nehme an, Ihr habt Recht, Monsieur.“ Etwas geknickt vor der
Großzügigkeit d’Artagnans und seine so unbedacht geäußerten Worte
überdenkend fügte er hinzu: „Verzeiht meine Ungeduld und meine
unhöflichen Worte und schiebt sie auf meine übergroße Sorge um
Louise. Ich bitte Euch also in aller Form, mir einige Tage Urlaub
zu gewähren.“ – „Ich gewähre Euch diesen Urlaub, aber nutzt ihn
auch, Vicomte, klärt diese Sache mit Eurer Dame... Und grüßt Euren
Vater von mir, falls Ihr ihm über den Weg laufen solltet.“
Ein Gespräch im Salon
Nach einem langen schnellen Ritt erreichte Raoul Paris und
machte sich gleich als erstes auf den Weg zu Louise de la Vallière,
die sich, wie er wußte, bei Madame im Louvre aufhielt. Doch obwohl
er fast zwei Stunden wartete, traf er sie dort nicht an und niemand
konnte ihm sagen, wo sie sich aufhielt oder wann sie zurückkehren
würde. Ein wenig ratlos zog er sich zurück, ohne zu wissen, wie er
nun weiter verfahren sollte. Schließlich besann er auf Madame de
Chevreuse, der er durch seinen Vater vorgestellt worden war und die
er seither immer wieder gern besucht hatte, und entschloß sich, bei
ihr sein Glück zu versuchen. Der Graf wäre sicher zufrieden mit
ihm, wenn er erfuhr, daß er seinen kurzen Urlaub auch genutzt
hatte, um seiner Gönnerin einen Besuch abzustatten. Er ritt also zu
ihrem Stadtpalais und ließ sich melden.
Die Herzogin, die entspannt auf eine Chaiselongue ausgestreckt
gelegen hatte, in der einen Hand nachlässig ein Buch, auf einem
kleinen Tisch Confiserien, richtete sich halb auf. „Raoul de
Bragelonne? Mein kleiner Vicomte? Ich lasse bitten.“
Nur kurze Zeit später trat ihr Gast ein und verneigte sich tief.
„Madame la duchesse, verzeiht meinen unangemeldeten Besuch, doch
ich bin für kurze Zeit in Paris und wollte Euch gern besuchen,
bevor ich wieder ins Feldlager aufbreche.“ Die Herzogin sah dem
jungen Mann an, daß er sich etwas unsicher fühlte, sich aber
dennoch auf seine gute Erziehung besann und etwaige Unbeholfenheit
geschickt überspielte. Sie lächelte innerlich, ihr junger Gast, der
nicht so recht wußte, wo er seinen Hut lassen sollte, war reizend
anzusehen. „Monsieur le vicomte, ich freue mich, Euch wieder einmal
bei mir zu sehen. Legt doch Euren Hut dorthin und nehmt Platz. Eine
Confiserie? Von Berteuil, die besten von Paris. Ich habe Eure
Besuche schon vermißt - aber was ist geschehen? Euer Vater sagte
mir, Ihr wärt auf längere Zeit im Lager?“
Raoul sah sich unsicher um und legte dann seinen Hut und Mantel
schließlich auf einen Stuhl, wo sie wenig später ein Diener diskret
entfernte. Mit einem dankenden Nicken nahm er Platz. „Ich habe
einige Tage Urlaub erhalten... um eine... persönliche Angelegenheit
zu klären.“
Madame de Chevreuse setzte sich nun ganz auf und betrachtete ihren
recht betrübt dreinsehenden Besucher fragend. „Mein Lieber, eine
persönliche Angelegenheit? Und das sagt Ihr mir in diesem Ton? Mit
dieser Miene?“ Mit plötzlicher Angst in der Stimme setzte sie
hinzu: „Ist Olivi ... ist Eurem Vater etwas geschehen?“
Raoul war so in Gedanken versunken, daß er ihren Versprecher gar
nicht bemerkte. „Meinem Vater? Nein, nein, ihm geht es gut,
zumindest nach den letzten Nachrichten, die ich von ihm habe... Es
geht um etwas anderes... eine... nun, eine Liebesangelegenheit.“
Langsam wurde er etwas mutiger.
„Eine Liebesangelegenheit?“ erkundigte sich die Herzogin sogleich.
„Eurem traurigen Gesicht entnehme ich, daß Ihr die Gunst der
Schönen verloren zu haben glaubt ... oder irre ich mich?“
Raoul seufzte leise. „Sie schreibt mir nicht... Drei Briefe
schickte ich ihr, einer drängender als der andere, doch ich erhielt
keine Antwort. Ich bin hergekommen, um mit ihr zu sprechen, sie zu
sehen, doch nun habe ich sie nicht angetroffen... Sagt, Madame la
duchesse, was bedeutet es, wenn eine Dame auf solche Briefe nicht
antwortet?“ Er schaute sie ängstlich an, als erwarte er, daß sie
nun das Urteil über seine Liebe zu Louise fällen würde.
Auch Madame de Chevreuse seufzte nun leise. „Oh, ich beneide die
Auserwählte ... drei Briefe! Und von einem solch schönen Kavalier,
wie Ihr es seid! Aber Ihr schriebt diese Briefe ja nicht, ohne sie
vor Eurer Abreise gesprochen, ohne ... hm ... in einer gewissen
Relation zu ihr gestanden zu haben. Wie ... eng ... war denn Eure
Verbindung?“
„Das ist es eben...“ rief Raoul ungestüm. „Wir sind einander
versprochen... seit unserer Kindheit! Wir waren uns immer zärtlich
zugetan und nun schreibt sie mir nicht... Was kann ihr nur passiert
sein?“
Madame de Chevreuse beugte sich interessiert vor. „Zärtlich
zugetan? Seit Eurer Kindheit?“ Dann schlich sich eine leise Skepsis
in ihre Stimme. „Nun, Ihr seid aber keine Kinder mehr, mein Freund.
Ich kenne diese Freundschaften, man schmachtet gemeinsam den Mond
an, verspricht sich alle Sterne des Himmels - daran glaubt ein
Kind, ein Mädchen ... aber keine Frau. in welcher Kondition ließet
Ihr sie denn in Paris zurück?“
Raoul sah sie bei dieser Frage nachdenklich an. „In keiner
besonderen, eigentlich... Wir verblieben wie immer, und ich nahm
natürlich an, ihre Gefühle zu mir seien unverändert... denn die
meinen zu ihr sind es...“ Er seufzte leise, „Monsieur d’Artagnan
meint, man kann sich bei den Frauen nie sicher sein... verzeiht,
Madame la duchesse.“ Doch die Herzogin lachte nur. „Nun, wenn sich
die Euren nicht geändert haben, so können doch die ihren nicht mehr
dieselben sein ... wer kann das wissen, man selbst weiß es ja oft
nicht einmal. Und was Monsieur d’Artagnan angeht, nun, ich kenne
den Herrn ein wenig, es stimmt, man kann ihm keine großen
Gefühlsschwankungen gegenüber unserem Geschlecht nachsagen -
vielleicht, weil er seit mehr als zwanzig Jahren keine Gefühle mehr
hat. Aber wie dem auch sei, mein Lieber, mir klingt dieses ‚wir
verblieben wie immer’ etwas - entschuldigt - lau. Wartet sie denn
auf Euch in ihrer Familie? Oder wo habt Ihr sie
zurückgelassen?“
Ihr Gast schüttelte etwas verlegen den Kopf, „sie ist Ehrendame bei
Madame, der Schwägerin des Königs, dort habe ich sie
zurückgelassen, im Glauben, sie stünde immer noch so zu mir wie sie
es immer getan hat... Und das glaube ich auch jetzt noch - Madame,
denkt Ihr wirklich, ihre Gefühle hätten sich verändert? Welchen
Grund sollte es dafür geben?“ Ein leichtes melancholisches Lächeln
schlich sich auf seine Lippen. „Ihr redet ja beinahe wie mein Vater
oder Monsieur d’Artagnan...“ – „Schiebt es auf mein, auf unser
Alter, mein Lieber. Die Illusionen der Jugend sind zwar schön, aber
erweisen sich dennoch zu oft als trügerisch. Versteht mich wohl,
ich möchte Eurer Gefährtin nicht Wankelmütigkeit unterstellen, aber
Euch vor zu großen Hoffnungen warnen. Hat sie Euch je die Größe
ihrer Gefühle bewiesen? Oder tauschtet Ihr nur leere Phrasen? Das
mag grausam klingen, aber ich bitte Euch, mir ehrlich zu
antworten.“ Ein Moment des Schweigens folgte ihren Worten, während
Raoul versuchte, seine Gedanken zu ordnen. „Leere Phrasen? Beweise?
Wie meint Ihr das, Madame? Wir haben einander oft unsere Liebe
beteuert, und ich meinte es immer aufrichtig und sie auch - glaube
ich, hoffe ich! Auch Monsieur d’Artagnan hat mich vor zu großen
Hoffnungen gewarnt - wie mir scheint, glaubt niemand außer mir an
Mademoiselle de la Vallières Treue und Zuneigung zu mir.“ Madame de
Chevreuse nahm seine Hand in die ihre. „Raoul – erlaubt, daß ich
Euch so nenne, ich… habe ja ein kleines Recht darauf – Raoul, wie
alt seid Ihr jetzt? Mir scheint, Ihr habt die fünfzehn schon lange
hinter Euch gebracht? Worte sind eines, aber sie sind wie das
Gerede vom Brot einem Hungernden gegenüber. Habt Ihr Euren Worten
nie Taten folgen lassen?“ Ihre Frage ließ sein Gesicht hell
erröten. Wie jung er war! „Taten, Madame? Aber wie könnte ich...
ich meine, wir sind ja nicht... verheiratet... und das schickt sich
doch nicht... Ihr meint, ich sollte ihr meine Liebe...
zeigen?“
Madame de Chevreuse lächelte angesichts der sichtlichen
Verlegenheit ihres Besuchers. Sie hielt immer noch seine Hand in
der ihren, die er ihr in seiner Verwirrung nicht entzogen hatte,
und drückte sie nun leicht. „Mein Lieber, Zurückhaltung und
Ehrenhaftigkeit sind schön und gut, aber sie taugen nicht in der
Liebe. Glaubt mir, Eure Auserwählte erwartete – erwartet- anderes
von Euch als nur Worte. Mademoiselle de La Vallière sagt Ihr? Ich
habe von ihr gehört, habe sie sogar schon einmal gesehen. Sie ist,
wenn ich sie richtig einschätze, eine Frau, die an Worte glaubt,
aber auch solchen Frauen genügen Worte nach zu langer Zeit nicht
mehr. Ihr kennt sie schon seit langem, sagte mir Euer Vater?
Raoul nickte und sah Madame de Chevreuse mit einer Mischung von
Hoffnung und Melancholie im Blick an. „Schon sehr lange, schon seit
unserer Kindheit... Sie war fünf oder noch jünger, als ich sie
kennenlernte und ich habe sie vom ersten Augenblick an geliebt.“ Er
seufzte leise. „Ich weiß nicht, wie ich nun weitermachen soll...
Monsieur d’Artagnan sagt, ich soll sie zur Rede stellen, Ihr sagt,
ich solle mit Taten meine Liebe beweisen... Aber was, wenn das
alles nichts hilft?“
Angesichts seines fragenden und zweifelnden Blickes spürte sie eine
gewisse Traurigkeit, gemischt mit einem Anflug an Zorn. Zorn, weil
hier ein junger Mensch, ihr Sohn, vor ihr saß, der in vielen Dingen
ein mutiger Mann, in manchen Dingen aber so hilflos wie ein Kind
schien. Gleichzeitig warf sie sich selbst ebendiese Hilflosigkeit
vor, wäre es nicht an ihr gewesen, ihn gegenüber den
Angelegenheiten des schönen Geschlechts zu wappnen? „Raoul, Ihr
sagt, Ihr kennt sie schon sehr, sehr lange. Nun sind es leider
diese langen Bekanntschaften, die man leicht für Liebe hält, die
sich aber oft als liebgewonnene Gewohnheiten herausstellen.
Deswegen rate ich Euch noch einmal, und mein Rat widerspricht dem
d’Artagnans in keinster Weise, zeigt ihr Eure Liebe auf andere Art
als mit Worten. Entweder sie wartet seit langen Jahren darauf und
ist bereit, Eure Geliebte und später Eure Frau zu werden, oder sie
weist Euch ab und Ihr wißt, daß Ihr von ihr nichts mehr zu erwarten
habt. Ich sage es Euch, wie es ist, glaubt mir. Wenn sie Euch im
Namen einer falschen Tugend von sich weist, so glaubt ihr nicht –
Ihr habt ja schon einmal um ihre Hand gebeten, und wenn Ihr Euren
Vater und den König vor vollendete Tatsachen stellt, wird weder der
eine noch der andere etwas gegen Eure Heirat einzuwenden haben.“
Mit einem leisen Lächeln fügte sie hinzu: „was Euren Vater angeht,
so habe ich genügend Argumente, sollte er sich widersetzen wollen.
Aber er wird vielleicht Eure Wahl, nicht aber Euer Vorgehen
kritisieren, das versichere ich Euch.“
Raoul sah nachdenklich zu Boden. Allein die Möglichkeit, daß
Mademoiselle de la Vallière ihn abweisen konnte, so wenig er das
auch glaubte, machte ihm Angst und ließ ihn vor der
unausweichlichen Aussprache zurückscheuen. Beinahe war er froh, daß
er sie noch nicht angetroffen hatte, denn so konnte er noch eine
Weile länger hoffen, daß sie seine Liebe erwiderte und nur ein
unglücklicher Zufall daran schuld war, daß seine Briefe
unbeantwortet geblieben waren. Doch etwas anderes hatte ihn
aufhorchen lassen. „Ihr habt Argumente, meinen Vater umzustimmen,
Madame la duchesse?“
Marie de Chevreuse, die seinen inneren Kampf beobachtet hatte,
mußte bei dem geschickten Themenwechsel lächeln. Nun, es war
vielleicht an der Zeit, diesem jungen Mann beizustehen. Hatten sie
sich beide nicht wie Egoisten benommen, sie noch mehr als der Graf,
ihn so lange im Ungewissen zu lassen? Er brauchte sie, heute
vielleicht mehr denn je. „Oh, ja, und meine Argumente sind auch die
Euren in einem gewissen Sinn.“ erwiderte sie. „Raoul, Euer Vater
ist ein Ehrenmann, aber was Frauen anbelangt, schätzt Ihr ihn
sicher sehr falsch ein. Ich möchte damit nicht sagen, daß er sich
ihnen gegenüber unehrenhaft verhielte – ganz im Gegenteil – aber
Ihr sagtet vorher, es schicke sich nicht, daß Ihr - hm, nun,
Mademoiselle de la Vallière zu Eurer Geliebten macht. Ich nehme an,
Ihr redet Euch das ein, weil Ihr befürchtet, Euer Vater könnte
dieser Ansicht sein? Nun, so sagt mir, war er mit Eurer Mutter
verheiratet?“
Raoul sah sie groß an. „Madame, ich weiß gar nicht, wer meine
Mutter war... Mein Vater hat es mir nie gesagt, er sagte immer nur,
sie wäre eine Dame von wahrem Adel und großer Schönheit gewesen,
aber ihren Namen kenne ich nicht. Wißt Ihr mehr von ihr? Wißt Ihr,
ob sie verheiratet gewesen sind?“ Er konnte sich kaum vorstellen,
daß sein Vater, der soviel auf Anstand und Ehre gab, nicht mit
seiner Mutter verheiratet gewesen sein könnte, doch war das
vielleicht die Erklärung dafür, daß er nichts über seine Mutter
wußte... War er am Ende ein Bastard?
„Eine Dame von wahrem Adel und großer Schönheit?“ erwiderte sie,
„das sieht Eurem Vater ähnlich, immer ein Kompliment zur Hand. Aber
um es Euch rundheraus zu sagen, nein, Euer Vater und Eure Mutter
waren nicht verheiratet.“ Sie ließ ihren Worten eine kleine Pause
folgen und studierte das Gesicht Raouls. Betroffenheit war darauf
zu lesen, gemischt mit der Hoffnung, endlich mehr zu erfahren.
Seine Hände zitterten, sie sah es deutlich, obgleich er versuchte,
es zu verbergen. War es das Zittern, das den Ausschlag gab? Mitleid
durchflutete sie, der Wunsch, ihn in den Arm zu nehmen, ihn endlich
als das zu behandeln, was er war, ihr Sohn. Sie stand auf und
setzte sich direkt neben ihn auf das Kanapee. „Raoul, was ich Euch
jetzt sagen will, ist schwer für mich, denn ich klage mich an. Es
war ungerecht, Eurer nicht würdig, Euch so lange im Ungewissen zu
lassen. Klagt Euren Vater nicht an, er schwieg, um mich zu schützen
und weil es an mir war, Euch die Wahrheit zu sagen … ich hätte es
schon lange tun sollen …“ Nach einer weiteren kleinen Pause sah sie
ihn ernst an und erklärte, ohne weitere Vorrede und als ob sie das
Geheimnis, das sie so lange getragen hatte, nun schnell loswerden
wolle: „Raoul, Ihr seid mein Sohn.“
Raoul konnte eine ganze Weile lang gar nichts sagen, er war wie
betäubt von dieser Eröffnung. Niemals hätte er erwartet, daß Madame
de Chevreuse seine Mutter sein könnte, daß sein Vater und seine
Mutter nicht verheiratet gewesen sein könnten... Er bemühte sich
nach Kräften, das Zittern seiner Hände zu unterdrücken, doch er war
so aufgeregt und durcheinander, daß ihm das nicht gelang. Er hatte
eine Mutter... er kannte ihren Namen, sie saß neben ihm!
Schließlich wandte er den Kopf und sah sie an. „Madame...“, sagte
er mit rauher, und vor Aufregung ein wenig belegter Stimme. „Ist
das wirklich wahr? Ihr seid meine Mutter?“
Die Herzogin kam nicht dazu, auf diese immer noch ein wenig
ungläubigen Frage zu antworten, denn in diesem Moment trat ein
Diener mit einer Verneigung in das Zimmer und meldete den Grafen de
la Fère.
Raoul wandte sich um, zu betäubt von all den Neuigkeiten, um zu
realisieren, wen der Diener da gemeldet hatte, während Madame de
Chevreuse aufstand und ihrem Gast entgegeneilte. Sie verschwand in
das Nebenzimmer, und Raoul hörte nur durch die halb geöffnete Tür
leise Stimmen, die sich flüsternd unterhielten. Dann das Geräusch
von Stoff, der zerknittert wird, und kurze Stille, dann und wann
unterbrochen von kleinen Lauten, die der Vicomte in seiner
Verwirrung nicht zu deuten wußte. Die er sich vielleicht auch zu
deuten weigerte, denn je mehr er darüber nachdachte, desto
unglaublicher erschien ihm all das, was er soeben erfahren hatte.
Als sein Verstand ganz langsam zu realisieren begann, daß sein
Vater, der Comte de la Fère und seine … seine Mutter, die Duchesse
de Chevreuse … nun eindeutig noch immer … noch immer? … nun,
befreundet zu sein schienen, traten die beiden gerade auch wieder
ins Zimmer. Für einen unbeteiligten Beobachter hatte die Duchesse
verräterische rote Flecken auf den Wangen und die Art und Weise,
wie sie den Grafen ins Zimmer zog, hatte nichts von einer nur
freundschaftlichen Verbundenheit, aber Raoul bemerkte diese Dinge
nicht. Er vergaß sogar aufzustehen und sah nur stumm fragend mit
großen Augen seinen Vater an, der sich nun vor ihn kniete.
„Nun wißt Ihr, wer Eure Mutter ist, Raoul“, sagte er und sah seinen
Sohn ruhig und ernst an. „Vergebt mir, daß ich es Euch niemals
gesagt und Euch damit Eure wahre Herkunft vorenthalten habe. Ich
tat es, um die Herzogin zu schützen und sie selbst entscheiden zu
lassen, wann sie es Euch anvertraut.“ Er erkannte die Verwirrung
und die Aufregung im Gesicht seines Sohnes, nahm seine Hand und
drückte sie zärtlich. „Ich bin froh, daß Ihr es nun wißt, so
verwirrend und überwältigend diese Neuigkeit nun für Euch sein
muß.“
„Verwirrend in der Tat, Vater“, erwiderte Raoul, von seinem Vater
zu Madame de Chevreuse blickend, die hinter dem Grafen stand und
ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte. „Und doch bin ich
glücklich … Madame, ich hätte nie zu hoffen gewagt, mich eines
Tages Euren Sohn nennen zu dürfen.“ Marie setzte sich wieder neben
den Vicomte, während Athos noch immer vor den beiden kniete, und
zog ihn sacht an sich. Dann betrachtete sie ihn lächelnd. „Wie
stolz war ich, an dem Tag, an dem Euer Vater mir Euch vorstellte.
Ihr übertraft meine Erwartungen, Ihr wart ein so schöner Kavalier
und seid es noch. Wie kann eine Frau wie Louise nur zögern, hättet
Ihr Euch vor vielen Jahren um mich beworben, glaubt mir, ich hätte
Euch die Antwort gegeben, die Ihr verdientet.“ Athos blickte sie
bei diesen Worten lächelnd an, ergriff ihre Hand und küßte sie
zärtlich. „Madame, n´oubliez pas l´histoire d´Oedipe[1], ich habe
es Euch schon einmal gesagt. Wollt Ihr mich unglücklich machen?“
Lachend schlug sie spielerisch nach ihm. „Monsieur le charmeur,
helft mir lieber bei der schwierigen Aufgabe unseren Sohn gegen die
Liebe zu wappnen. Seht Ihr nicht, daß er leidet?“
Athos wurde ein wenig ernster und sah Raoul nachdenklich an. „Und
ich weiß, warum er leidet“, sagte er leise. „Doch es gibt keine
Liebe ohne Leid, keine Liebe ohne Schmerz, für niemanden, auch
nicht für unseren Sohn. - Raoul, Ihr müßt lernen, hinter die Worte
zu blicken, Ihr müßt lernen zu erkennen, was Eure Angebetete
wirklich denkt und will. Und Ihr müßt lernen, auch eine eventuelle
Zurückweisung mit Ehre und Würde hinzunehmen.“
Eine Zurückweisung? Auch sein Vater sprach von Zurückweisung? So
hatten sie sich alle gegen ihre Liebe verschworen, so glaubte nur
er an die Liebe von Louise? Tränen stiegen ihm in die Augen, er
blickte hilfesuchend zu seiner Mutter. „Madame, ist denn wirklich
alles verloren? Glaubt Ihr auch, daß es keine Hoffnung mehr gibt?
Mon dieu, wie könnte ich weiterleben? Wie am Morgen aufstehen und
wissen, daß alles vorbei ist? Ich … nein … ich möchte das nicht
einmal denken müssen!“ Marie sah ihren Sohn traurig an. „Raoul, so
leid es mir tut, Euer Vater hat Recht. Aber zügelt Euren
jugendlichen Ungestüm, solange Ihr nicht mit ihr gesprochen habt
und ihr das … Angebot machtet, von dem ich Euch sprach, solange ist
nichts entschieden. Aber wenn sie Euch hier abweist, dann mein
Lieber, kommt so schnell als möglich zu mir, glaubt mir, wir werden
Wege finden Euch zu trösten.“
Raoul sah sie traurig an, es machte ihm Angst, wie pessimistisch
sein Vater und seine Mutter - und immer noch war es ein
merkwürdiges, aber dennoch schönes Gefühl, von der Herzogin als
seiner Mutter zu denken - über seine Liebe zu Louise dachten. Sie
schienen wirklich zu glauben, daß seine Louise ihn abweisen würde,
ihn, dem sie seit ihrer gemeinsamen Kindheit zärtlich zugetan
war... Schließlich faßte er sich ein Herz. „Ich werde mit ihr
sprechen, so bald wie möglich, und dann... dann werde ich sehen,
woran ich bin... und entsprechend handeln.“
Diese Worte klangen so entschlossen, daß Athos beinahe Angst bekam.
Was würde sein Sohn tun, wenn er tatsächlich zurückgewiesen wurde?
Er war sich, im Gegensatz zu Marie, nicht so sicher, daß sie ihn
dann aus seiner Verzweiflung und Enttäuschung würden reißen können.
Er kannte Raoul, er wußte, wie leidenschaftlich und ungestüm er
handeln konnte. Er nahm die Hand seines Sohnes. „Versprecht mir,
nichts Unkluges zu tun, Raoul“, bat er ihn eindringlich.
Raoul nickte, er sah die Sorge in den Augen seines Vaters und wenn
er an das Gespräch mit d’Artagnan zurückdachte, so erschien ihm
diese Sorge durchaus berechtigt. Es war ihm immer noch ein wenig
peinlich, wie sehr er in den alten Soldaten gedrungen war, welch
impertinente Fragen er ihm gestellt hatte. Aber sie hatten ihn
schon so lange geplagt, so lange umhergetrieben – nun, wenigstens
ein paar waren nun beantwortet. Und auf eine gewisse Art und Weise
gab ihm das Bild, das er vor sich hatte, seine … Eltern …. so
besorgt vor sich zu sehen, eine neue Ruhe, eine innere Kraft, die
er bisher noch nie so gespürt hatte. Er wußte nun, wohin er
gehörte, er hatte fast eine Familie. Auch wenn er illegitim gezeugt
worden war, bekannten sich sein Vater und seine Mutter zu ihm, da
wog das Wort `Bastard´ nicht mehr sehr schwer. Wie viele der
höchsten Würdenträger des Reiches waren Bastarde? Hatte man nicht
selbst dem großen Condé eine zweifelhafte Herkunft
nachgesagt?
Und die beiden, die ihn so besorgt ansahen, schienen sich immer
noch zueinander hingezogen zu fühlen, das sah er an kleinen
Blicken, die sie tauschten, zärtlichen Zeichen einer intimen
Sprache, die nur sie beide verstanden und die ihn glücklich machte
– und an die Zukunft, wie sie auch aussehen mochte, glauben ließ.
Er ertappte sich sogar dabei zu denken, daß seine Mutter vielleicht
Recht hatte – sie hatte sicher genug Erfahrung in diesen Dingen –
und daß er Louise, wenn sie ihn abwies, wohl am besten vergessen
sollte. Nur ganz kurz blitzte dieser Gedanke in ihm auf, aber lang
genug, damit er sich selbst über ihn wundern und ihn dennoch nicht
ganz verwerfen konnte.
[1] Vergeßt nicht die Geschichte von Ödipus!