Je suis une femme von Engel aus Kristall
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 38 BewertungenKapitel Prolog
Je suis une femme
- Die Schuld eine Frau
zu sein -
von Engel aus Kristall
Prolog
Mein Herz rast. Die kalten Steinwände des Klosters verschwimmen vor
meinen Augen, der Hall meiner eigenen Schritte klingt sonderbar
irreal. Er ist hinter mir, ich kann ihn hören. Welches
Schicksal mir blüht, möchte ich mir nicht ausmalen. Treppen um
Treppen scheuchen er und seine Begleiter mich aufwärts. Schließlich
erreiche ich eine kleine Tür, die sich unversperrt heraus stellt,
als ich die Klinke hinunter drücke. Dahinter liegen erneut Stufen.
Bevor ich mich noch über das Vorhandensein der kühlen Zugluft
wundern kann, stehe ich im Freien auf einer schmalen Plattform
direkt unter dem Dach des großen Karmeliterklosters.
Hier geht es nicht mehr weiter, ich habe das Ende erreicht. Das Ende wovon? Meine Hände umfassen das schmiedeiserne Geländer und ich schaue darüber hinweg. Weit unter mir liegt der Platz vor dem Gebäude Ich sehe die gepflegten Blumenbeete, sowie den kunstvoll verzierten Brunnen. Die Spitze eines Degens berührt mein Schulterblatt, ich drehe mich daraufhin ruckartig um. Im hellen Sonnenlicht erkenne ich in seinen Augen beißenden Hass, von dem ich weiß, dass er mir gilt. Mein Herz krampft sich zusammen, und ich senke den Blick.
„Wartet...“, beginne ich. „Was habt Ihr nun mit mir vor? Wollt
Ihr mich einfach hinunter stoßen? Dazu habt Ihr kein Recht!“
„Ihr habt einen Menschen getötet, Ihr wisst doch nicht einmal, was
das Wort Recht bedeutet“, herrscht mich einer der beiden anderen
Männer an, der große rundliche mit den braunen Locken.
„Ich handelte im Auftrag des Kardinals...“
„Schweigt!“
Der dritte im Bunde, drahtig und dunkelhaarig, hebt abwehrend die
Hände. „Immer mit der Ruhe, Porthos. Eine letzte Beichte steht
jedem zu – auch ihr.“
Weil er bisher geschwiegen hat, suche ich den
Blickkontakt zu ihm. Was mag in seinem Kopf vorgehen? Er sieht mich
ebenfalls an. Kalt.
„Warum bist du zurück gekommen?“
„Deinetwegen, Olivier.“ Verzweifelt suche ich in seinem Gesicht
nach irgendeiner Regung. „Aber zuerst musste ich meine Ehre
wiederherstellen. Richelieu versprach mir, mich von meinem
Schandmal zu befreien. Und dann wollte ich mich auf die Suche nach
dir machen...“
Sein Ausdruck bleibt unverändert. Ich weiß nicht einmal,
ob er noch etwas für mich empfindet, oder ob ich einer
Illusion nachgelaufen bin.
„Euer Urteil“, sagt er schließlich an seine Gefährten gewandt.
Ich schlucke hart, mir ist klar, was nun folgt. So schwer es mir fällt, dieses Gefühl vor mir selbst einzugestehen, ich habe Angst. Wenn ich jetzt sterbe, sterbe ich allein und ungeliebt. Vielleicht habe ich es auch nicht anders verdient. Jener Satz begleitet mich schon seit meiner Kindheit, die ich in einer Ortschaft nahe Lille verlebte. Mein Vater besaß dort ein Weingut. Ich hatte das Glück in eine Familie niederen Adels hinein geboren zu werden, zumindest sollte man dies annehmen. Aber so war es nicht. Das Schicksal tritt mich, seit ich ein kleines Mädchen war, und irgendwann habe ich aufgehört nach einem Grund dafür zu suchen. Die einzige Schuld, die ich schon seit damals trage, ist die, eine Frau zu sein.
Kapitel Kapitel 1
Kapitel 1
Vor dem Fenster ging langsam die Sonne unter. Ich saß auf meinem
Bett und starrte vor mich hin. Meine Eltern und meine beiden
Halbbrüder, die Mama aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte, waren
noch unten beim Essen. Papa hatte mir befohlen auf mein Zimmer zu
gehen, weil ich versehentlich mit der Bratensoße gekleckert hatte.
Es war doch keine Absicht gewesen. Auch Etienne, mein Bruder, der
neben mir saß, sagte das. Doch Papa hörte nicht darauf, er sah
keine Notwendigkeit dazu, Pascal und er waren ja nicht seine
richtigen Söhne. Ich war sein einziges Kind. Noch jedenfalls. Aber
bald würde sich das ändern. Mamas Bauch war schon so groß, lange
konnte es nicht mehr dauern. Und Papa redete ständig davon, wie
sehr er sich auf seinen Sohn freute. Die Möglichkeit, dass es ein
Mädchen wurde, wie ich, schien für ihn gar nicht zu bestehen.
Daran, dass er sich bereits bei meiner Geburt einen Jungen erhofft
hatte, bestand kein Zweifel, das hatte er mich sechs Jahre lang
spüren lassen.
Im Grunde war ich froh nicht mehr beim Essen sitzen zu müssen.
Ich fühlte mich matt, hatte keinen Appetit und das Schlucken tat
mir weh. Nachdem ich in mein Nachtgewand geschlüpft war, kroch ich
unter die warme Bettdecke, um darauf zu warten, dass Mama gute
Nacht sagen kam. Eine ganze Weile lauschte ich der Stille. Mir war
kalt, obwohl ich mir die Decke bis zum Kinn hoch gezogen
hatte.
Irgendwann wurde die Tür meines Zimmers geöffnet und Mama betrat
den Raum. Ich musste nicht hinsehen, um das zu wissen, denn ich
erkannte es an ihren Schritten. Liebevoll strich sie mir übers
Haar, legte gleich darauf etwas verwundert die Hand auf meine
Stirn.
„Anne, Chérie, du bist ja ganz heiß. Fühlst du dich nicht gut?“
fragte sie ein wenig besorgt, mit ihrer warmen sanften Stimme, die
ich so liebte.
„Ich bin nur ein bisschen müde“, antwortete ich leise.
Für einen Moment verzog sie das Gesicht, dann lächelte sie, nahm
meine kleine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Ich grinste breit,
als ich die Bewegungen des Kindes fühlte. Das war mein kleines
Geschwisterchen!
„So, nun musst du aber schlafen“, sagte sie schließlich. „Träum
süß.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mein Zimmer
verließ und hinter sich sacht die Tür schloss.
Am nächsten Morgen konnte ich kaum aufstehen. Mir war schlecht,
mein Hals tat so weh, dass ich kaum schlucken konnte, und obwohl
ich fast nichts aß, musste ich mich übergeben. Abwechselnd war mir
heiß und kalt. Als Mama mich so sah, steckte sie mich sofort wieder
ins Bett. Sie machte sich große Sorgen, und obwohl sie mir
versicherte, dass es mir bald wieder besser gehen würde, ahnte ich,
dass ich mir etwas Schlimmes eingefangen hatte.
Der Arzt kam, um mich zu untersuchen. Ich mochte ihn nicht, hatte
Angst vor seinen Geräten. Dennoch ließ ich alles klaglos über mich
ergehen, für einen Protest fühlte ich mich zu ausgelaugt. Er gab
mir etwas, das mein Fieber senken sollte, und das einfach
fürchterlich schmeckte. Hoffentlich half es.
Mama kümmerte sich die nächsten Tage jede Minute aufopfernd um
mich. Ich war ihr dafür unendlich dankbar. Dagegen schien es Papa
überhaupt nicht zu interessieren, dass ich so krank war. Als Mama
mein Zimmer verließ, um wieder etwas von dem Medikament für mich zu
holen, konnte ich hören, wie er vor meiner Tür mit ihr schimpfte.
Jedes Wort verstand ich.
„Thèrèse, ich will nicht, dass du ständig bei der Kleinen bist, du
könntest dich anstecken“, sagte er vorwurfsvoll. „Sie schläft
sowieso fast die ganze Zeit.“
„Woher willst du das wissen?“ entgegnete Mama scharf. „Du hast kein
einziges Mal nach ihr gesehen. Anne braucht mich, ich werde sie
jetzt nicht allein lassen!“
Er schnaufte, das tat er immer, wenn er wütend war. „Herrgott, denk
doch auch an das Kind, das du unter dem Herzen trägst! Was ist,
wenn du dich ansteckst?“
„Das Risiko muss ich eben eingehen. Und nun geh mir bitte aus dem
Weg, unsere Tochter muss ihre Medizin bekommen.“
„Thèrèse“, begann er ein weiteres Mal, seine Stimme war nun leiser.
„Hast du die Worte des Arztes schon vergessen?“
Mama schnappte nach Luft. „Claude, wie kannst du so etwas nur
sagen? Überhaupt nur denken? Anne wird nicht sterben! Sie wird
gesund, ich weiß es.“
Traurig wandte ich mich ab, wünschte ich hätte dieses Gespräch
nie gehört. Alles was Papa interessierte, war das noch nicht
geborenen Kind, von dem er hoffte, nein erwartete, dass es ein
Junge war. Ob ich lebte oder starb, war ihm egal. Konnte ich denn
etwas dafür, dass ich als Mädchen auf die Welt gekommen war? Ich
hatte mir das doch nicht ausgesucht. Warum gab er mir die
Schuld?
Aber in einem hatte er recht. Ich wollte auch nicht, dass Mama sich
bei mir ansteckte und selbst krank wurde. Sie ließ sich jedoch
nicht davon abhalten, mich zu pflegen. Stundenlang saß sie an
meinem Bett und hielt meine Hand, als das Fieber so hoch war, dass
es meine Sinne vernebelte. Ihre Fürsorge ließ mich kämpfen, und
schließlich begann es mir wieder besser zu gehen. Doch dann geschah
das, was Papa befürchtet hatte. Mama wurde krank.
Ich machte mir solche Vorwürfe, sie hatte sich bei mir
angesteckt. Immer wieder bettelte und bat ich sie sehen zu dürfen,
doch Papa ließ mich nie zu ihr. Ab und zu schaffte ich es mich
heimlich in ihr Schlafzimmer zu schleichen. Einmal, als mir das
wieder gelungen war, saß ich bei ihr auf dem Bett und hielt ihre
Hand. Genauso wie sie es bei mir getan hatte. Sie sah mich aus
trüben Augen an, dankbar dafür, dass ich gekommen war.
„Mama, du wirst doch gesund, oder?“ flüsterte ich. „Und meinem
Geschwisterchen wird auch nichts geschehen, richtig?“
Sie seufzte schwach, drückte zärtlich meine Hand. „Ja natürlich,
mein Schatz. Es geht mir bestimmt schon bald wieder besser.“ Für
einen Moment unterbrach sie sich. „Anne, du musst jetzt gehen,
bevor der Papa zurück kommt. Sonst wird er furchtbar böse mit
dir.“
„Ich will aber bei dir bleiben“, jammerte ich verzweifelt. Ich
konnte nicht verstehen, warum ich nicht zu Mama durfte.
„Anne!“
Als Papa meinen Namen schrie, erschrak ich furchtbar, ich hatte die
Tür gar nicht gehört. Er riss mich grob am Arm fort von dem Bett
und zog mich aus dem Raum.
„Claude bitte, sei nicht so streng mit ihr“, hörte ich im
Hintergrund Mamas Stimme. Dann fiel die Tür zu.
„Ich hatte dir doch verboten, dich auch nur in der Nähe des Zimmers
blicken zu lassen!“ donnerte er. „Warum kannst du nicht
hören?“
Er schlug mich so heftig, dass ich gegen die Wand hinter mir fiel.
Vor Schmerz und Angst schrie ich auf, Tränen strömten meine Wangen
hinab. Doch er ließ mich nicht los, sondern zerrte mich zu meinem
Zimmer, wo er mich einschloss. Ich weinte bitterlich, verstand die
Welt nicht mehr. Was war denn so falsch daran, dass ich Mama lieb
hatte, mir Sorgen machte, und sie sehen wollte?
Erst im Laufe des nächsten Tages ließ mich Pascal wieder aus dem
Zimmer. Er nahm mich in den Arm, tröstete mich. Etienne und er
hatten mich gern. Sie verstanden wohl auch nicht, warum Papa so
garstig zu mir war. Im Blick meines Halbbruders erkannte ich, dass
etwas Schlimmes vorgefallen war.
„Pascal... was ist denn?“ fragte ich ihn leise. Er wollte mir etwas
sagen, doch offenbar wusste er nicht wie. „Ist etwas mit Mama? Ist
sie...“
Behutsam ergriff er mich an den Schultern, sah mich ernst an. „Mama
geht es so weit gut, du musst dir um sie keine Sorgen machen,
Anne...“
„Was dann? Bitte sag es mir!“
„Unser kleiner Bruder, er... wurde heute morgen tot geboren.“
„Nein!“ rief ich aus. Das konnte nicht sein! Mein Geschwisterchen
lebte nicht mehr? Dass Pascal von einem Bruder gesprochen hatte,
bekam ich zunächst nicht richtig mit. Tränen liefen unaufhaltsam
meine Wangen hinab. Ich war unfähig noch irgendetwas zu sagen,
weinte nur verzweifelt in Pascals Schulter. In meinem Inneren
wusste ich, dass nun einiges anders würde.
Kapitel Kapitel 2
Kapitel 2
Ich sollte recht behalten. Das Leben ging zwar weiter, für uns
alle, doch für mich änderte es sich fast schlagartig. Wenn Papa
mich nur weiterhin einfach nicht beachtet hätte. Aber jetzt hasste
er mich nur noch. Seiner Ansicht nach war ich dafür verantwortlich,
dass er niemals den ersehnten Sohn haben würde, der eines Tages das
Weingut erben sollte. Vermutlich hatte er recht. Mein kleiner
Bruder war tot, weil Mama durch mich krank geworden war.
Der Winter kam und ging. Als sich auch der Sommer dem Ende
zuneigte, brach die Zeit der Weinlese an. Für mich bedeutete dies
etwas Ruhe, weil Papa über die Tage in den Gärten zu tun hatte.
Etienne und Pascal halfen ihm dabei. Früher hatte ich gerne immer
wieder ein paar von den süßen dunkelroten Trauben stibitzt, sie
schmeckten einfach zu gut. Nachdem Papa mich in diesem Jahr
allerdings dabei erwischte und ich mir Schläge einfing, wagte ich
das später nicht mehr.
Nach der Arbeit, wenn der heurige Wein in den großen Fässern im
Keller lagerte, wurde gefeiert. Zu diesen Festen waren meist alle
besseren Familien des Städtchens eingeladen. Und natürlich die
anderen Weinbauern der Umgebung, damit sie untereinander angeben
konnten, die allerbesten Trauben geerntet zu haben. Ich verstand
solche Dinge noch nicht, und hatte keine Ahnung davon, wie sehr
Papa es auf einen bestimmten Weingarten abgesehen hatte. Zum Glück
ahnte ich nicht, welche Rolle ich dabei noch spielen sollte.
Während sich die vielen großen Leute glänzend amüsierten, stand ich nur in einer Ecke unserer großen Terrasse herum und sah zu. Auf diese Weise konnte ich nichts falsch machen. Schließlich wollte ich nicht, dass Papa wieder wütend wurde. Ich langweilte mich entsetzlich, meine einzige Gesellschaft war Cloé, meine Lieblingspuppe, die ich die ganze Zeit über festhielt. Nachdem Papa sie für Tage weggesperrt hatte, war sie nun endlich wieder bei mir. Das war das Schlimmste, was er mir antun konnte. Cloé war mein einziger Trost, wenn er mich schlug, oder einschloss. Diese Art der Bestrafung war ich mittlerweile gewöhnt, und ich wusste sie zu überstehen.
Ich sah auf, als sich ein Junge mir näherte. Er mochte ein paar
Jahre älter sein als ich, bestimmt schon über zehn, und war somit
ein ganzes Stück größer. Sein Gesichtsausdruck behagte mir nicht,
dennoch grüßte ich ihn höflich.
„Eine schöne Puppe hast du da. Lass doch mal sehen“, sagte er in
einem Tonfall, der mich Cloé noch enger an mich drücken ließ. Damit
vermochte ich nicht zu verhindern, dass er sie mir aus der Hand
riss.
Spöttelnd lief er quer durch den Garten davon. „Komm und hol dir
dein Püppchen, wenn du kannst!“
Natürlich folgte ich ihm, rief dabei immer wieder Cloés Namen. Weil
er viel längere Beine hatte, schaffte ich es nicht ihn einzuholen.
Erst als er wieder auf der Terrasse angelangt war, und im Zickzack
an den Erwachsenen vorbei rannte, hatte ich überhaupt eine Chance.
Und dann kam es, wie es kommen musste. Eine ältere Dame machte
einen Schritt zur Seite, dem der Junge nicht mehr ausweichen
konnte. Er lief ihr direkt in den Arm, sodass sie ihr Glas fallen
ließ, und er selbst stolperte. Weil ich auch nicht mehr anhalten
konnte, landeten wir gemeinsam in einem heillosen Durcheinander auf
dem Boden.
„Gib mir meine Cloé wieder!“ fauchte ich ihn wütend an, ehe er sich
aufrappeln konnte. Scheinbar hatte er überhaupt kein Interesse mehr
an meiner Puppe, sodass ich sie selig wieder an mich drücken
konnte. Erst als ich das Keifen der Dame hörte, und die Blicke der
umstehenden Leute sah, wurde mir klar, warum der Junge so schnell
hatte verschwinden wollen. Es war ihm jedoch nicht gelungen, seine
Eltern nahmen ihn im Empfang. Ich bekam gerade noch mit, dass er
Raymond hieß. Ein Name, den ich nicht zum letzten Mal gehört haben
sollte.
Und dann stand Papa plötzlich vor mir. Die Ader auf seiner Stirn
pulsierte gefährlich. Er sagte kein Wort, zerrte mich nur ins Haus
hinein, wo die Festgäste nichts mitbekommen würden. Wahrscheinlich
wäre es ihnen sowieso egal gewesen, ich war ja nur ein dummes
ungehorsames Kind.
„Papa, bitte nimm mir Cloé nicht weg! Nimm sie mir nicht weg...“,
flehte ich ihn verzweifelt an, doch es nützte nichts. Nachdem er
meine Puppe im Schrank eingesperrt hatte, setzte es für mich
Prügel. Zitternd vor Angst musste ich alles über mich ergehen
lassen. Er stieß mich, trat mich und beschimpfte mich.
„Du dummes Kind! Dass du einen nur blamieren kannst!“, schrie er
mich an. „Schämen muss ich mich für dich.“
Ich flehte ihn an, aufzuhören. „Bitte Papa, tu mir nicht weh! Es
war doch nicht meine Schuld...“ Es hatte keinen Sinn. Dass das nur
passiert war, weil mir Raymond meine Puppe weggenommen hatte,
interessierte ihn nicht.
Als er endlich aufhörte auf mich einzuschlagen, war ich benommen
vor Schmerz. Aus eigener Kraft konnte nicht mehr auf mein Zimmer
gehen, weswegen er mich dann dorthin zerrte, und mich einfach auf
dem Boden liegen ließ. Ich hasste ihn dafür, ich hasste auch diesen
Jungen, aber am meisten hasste ich mich selbst.
Später kam Mama, um meine Verletzungen zu versorgen und mir
etwas zu essen zu bringen. Ich fragte mich immerzu, warum sie Papa
nicht davon abhielt, mir weh zu tun. Dass sie so erzogen worden
war, Männern bedingungslose Gefügigkeit entgegen zu bringen,
begriff ich damals nicht. Das Gleiche wollte Papa bei mir
erreichen, indem er meine Angst benutzte, um mich zum Gehorsam zu
zwingen.
Es war nicht das einzige Mal, dass er mich so verprügelte. Meine
körperlichen Wunden heilten meist schon nach ein paar Tagen wieder,
aber die Narben in meiner Seele würden niemals ganz verschwinden.
In diesen Jahren lernte ich meinen eigenen Vater mehr zu fürchten,
als Tod und Teufel. Mit der Zeit gelangte ich jedoch zu einer
Erkenntnis, die mir half meine von Gewalt gezeichnete Kindheit zu
ertragen. Was mich nicht umbrachte, das machte mich stark.
Mit etwa zwölf oder dreizehn begann sich mein Körper zu
verändern. Vom Mädchen wurde ich zur Frau. Sonst blieb aber alles
beim Alten. Ich sehnte den Tag herbei, an dem ich endlich aus
meinem Elternhaus entfliehen konnte, und Papa hoffentlich nie
wieder zu sehen brauchte. Vor mir selbst legte ich einen Schwur ab.
Wenn ich einmal Mutter war und eine Tochter hatte, würde ich
niemals zulassen, dass ihr so etwas widerfuhr.
Was ich nicht wusste, war dass Papa bereits Ausschau nach der für
ihn vorteilhaftesten Möglichkeit hielt, mich an den Mann zu
bringen. Während er sich von meiner Heirat Gewinn erhoffte, machte
ich meine ersten eigenen Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht.
Ich lernte Michel auf dem Heimweg vom Markt kennen. Er war der Sohn
des Bäckers und von einfacher Abstammung.
Leises Flötenspiel erweckte meine Aufmerksamkeit. Es mischte
sich mit dem Singen der vielen Vögel, die rund um den nahen Weiher
lebten. Die Sonne verriet mir, dass ich noch etwas Zeit hatte, bis
ich zuhause sein musste, und so versuchte ich die Quelle der
schönen Musik zu finden. Direkt am Wasser entdeckte ich schließlich
einen Jungen, der in etwa so alt sein mochte wie ich selbst. Er
spielte auf einer holzgeschnitzten Flöte. Als er mich bemerkte,
hielt er inne.
„Hör doch nicht auf. Das klingt wunderbar“, bat ich ihn.
Er lächelte mich an. „Vielen Dank. Bestimmt würde es noch besser
klingen, wenn die richtige Stimme dazu sänge.“
Mich hatte noch nicht oft jemand so ehrlich angelächelt. Ehe ich
mich versah, sang ich zu seinem Flötenspiel sämtliche Kinderlieder,
an die ich mich von früher erinnerte. Als ich noch klein war, hatte
Mama mich abends mit diesen Melodien zum Einschlafen
gebracht.
„Du hast eine schöne Stimme“, lobte mich der Junge gut gelaunt.
„Leider muss ich jetzt nach Hause gehen, aber wir könnten uns ja
morgen wieder hier treffen und zusammen singen.“
Ich erschrak bei diesen Worten zu Tode. Über den Spaß, den ich
gehabt hatte, war mir die Zeit völlig entglitten, und ich hätte
schon lange daheim sein müssen. So schnell ich konnte, rannte ich
die Wege entlang, die zu unserem Weingut führten. Natürlich kam ich
viel zu spät und Papa war sehr böse mit mir. Am nächsten Tag konnte
ich darum Michel nicht wieder sehen. Mit geschwollenem Gesicht lag
ich auf meinem Bett und dachte an ihn, sein wunderbares
Flötenspiel, sowie die Freude, die ich in seiner Gegenwart
empfunden hatte.
Kapitel Kapitel 3
Kapitel 3
Einmal mehr war ich unglaublich dankbar für die Zeit der Weinlese,
die dem fünfzehnten Sommer meines Lebens folgte. Papa war
beschäftigt, und das wusste ich zu nutzen. Er merkte es nicht, wenn
ich mich davon schlich, um die Tage mit Michel zu verbringen. Mit
meinem besten Freund hatte ich jede Menge Spaß, in seiner Gegenwart
fühlte ich mich frei. Er brachte mir in dem Weiher, der unser
Treffpunkt war, das Schwimmen bei, und zu seinem Flötenspiel lernte
ich viele neue Lieder.
Als dann das große Fest ins Haus stand, war Papa der Meinung, dass
ich ein neues Kleid brauchte. Kein ganz normales, sondern ein
besonders hübsches und teures. Ich war darüber sehr verwundert, er
hatte noch nie mehr Geld als unbedingt nötig für mich ausgegeben.
Das Aussuchen des Stoffs und selbst das Anpassen beim Schneider
zusammen mit Mama machte mir großen Spaß. Ich genoss es auch einmal
etwas Schönes zu bekommen.
Später erzählte ich aufgeregt Michel davon, und beschrieb ihm in
allen Details den Stoff, und den Schnitt, den das Kleid haben
sollte. Er hörte zu, obwohl er als Junge sicher nicht sehr viel mit
einem solchen Thema anzufangen wusste.
„Weißt du was ich seltsam finde?“ fragte ich ihn schließlich.
Er grinste. „Nein, aber du wirst es mir sicher gleich sagen.“
Da hatte er natürlich recht. „Die älteren Jungen im Dorf sehen mich
in letzter Zeit irgendwie ganz komisch an. Aber im Grunde ist das
gar kein schlechtes Gefühl. Ich verstehe nur nicht wieso sie es
tun...“
Michel schien mein Unverständnis zu amüsieren, er lachte. „Weil du
wunderhübsch bist, du Dummerl.“
Eigenartigerweise störte mich diese Bezeichnung aus seinem Munde
nicht. Schließlich wusste ich, dass er es nicht so meinte wie Papa,
wenn er Ähnliches zu mir sagte. Ich ließ mich von ihm ans Ufer des
Weihers ziehen. Unsere Gesichter spiegelten sich auf der glatten
Wasseroberfläche.
„Siehst du dich nie selber im Spiegel an?“ fragte er, während er
mich von der Seite her betrachtete.
„Doch schon...“ Ich hielt inne. Natürlich wusste ich wie ich
aussah. Es hatte mir nur nie jemand wirklich das Gefühl gegeben,
dass ich schön war. Durch Michels Augen erkannte ich das nun zum
ersten Mal. Ich hatte rotes Haar, das mir glatt und seidig über die
Schultern fiel, tiefgrüne Augen und helle, fast weiße Haut.
Bei meinem nächsten Gang in die Stadt genoss ich die Blicke der
jungen Männer ganz bewusst. Ich hätte mich aber nie getraut einen
von ihnen anzusprechen. Inzwischen hatte der Schneider mein Kleid
fertig, sodass ich es abholen konnte. Es war noch schöner als ich
es mir vorgestellt hatte. Der Schnitt war schlicht, doch er betonte
meine Figur sehr. Am besten gefiel mir der fliederne Farbton. Ich
konnte es kaum erwarten Michel das Kleid zu zeigen. Zum Glück traf
ich ihn auch an diesem Tag mit seiner Flöte beim Weiher an.
Irgendwie schaffte er es mich dazu zu überreden, es anzuziehen,
damit er sehen konnte, wie es mir stand. Ich drehte mich vor seinem
kritischen Blick und wartete auf seinen Kommentar.
Lächelnd streckte er beide Daumen nach oben. „Hinreißend schaust du
aus. Bestimmt bist du auf dem Fest das hübscheste Mädchen.“
Diese Bemerkung gab mir dann doch etwas zu denken. Natürlich fühlte
ich mich geschmeichelt, jedoch verstand ich nicht, weshalb Papa
offenbar plötzlich wollte, dass ich auffiel. Für gewöhnlich war es
ihm am liebsten, wenn ich keinen Mucks von mir gab.
Als ich mich von ihm in dem neuen Kleid begutachten ließ, musste
ich unwillkürlich schaudern. Er schien jedoch zufrieden und trug
mir auf, mein Haar bei dem Fest aufgesteckt zu tragen. Lieber hätte
ich es offen gelassen.
Dann war es so weit. Voller Vorfreude sah ich dem Abend entgegen,
während Mama mir dabei half mich zurecht zu machen. Dass es so
einen Unterschied machte, auf einmal nicht mehr ein stiller
Beobachter, sondern mittendrin zu sein, hätte ich nie gedacht.
Teils genoss ich die Aufmerksamkeit, die man mir entgegen brachte,
teils war sie mir unangenehm.
Nach einer Weile, als das Fest in vollem Gange war, kam Papa mit
einem jungen Mann auf mich zu. Offenbar wollte er, dass ich Zeit
mit seinem Begleiter, den er mir als Raymond d’Arlais vorstellte,
verbrachte. Noch war ich viel zu naiv um den Grund dafür zu
erkennen.
Beim Tanz hatte ich mehr Gelegenheit als mir lieb war, Raymond
aus der Nähe zu betrachten. Er mochte an die zwanzig Jahre alt
sein, und war mit seinem dunkelblonden Lockenkopf und den lebhaften
nussbraunen Augen auch durchaus gut aussehend. Sein ganzes
Auftreten ließ darauf schließen, dass er aus einer ähnlich wohl
situierten Familie wie ich stammte.
Nach einer Weile hatte er zum Glück genug. Er zog mich fort vom
Geschehen des Festes. Wohl oder übel musste ich ihm folgen und
dabei ein halbwegs zufriedenes Gesicht machen.
„Ihr seid eine gute Tänzerin, Anne“, lobte er mich lächelnd.
Ich versuchte bei dieser nur allzu offensichtlichen Schleimerei
nicht das Gesicht zu verziehen, die Wahrheit war, dass ich auf der
Tanzfläche ähnlich unbeholfen war, wie ein Albatross beim
Laufen.
„Vielen Dank, Monsieur d’Arlais“, sagte ich dennoch höflich. Seinen
Namen betonte ich besonders, um ihn darauf hinzuweisen, dass ich
ihm nie erlaubt hatte, mich beim Vornamen zu nennen. Seine
Vertrautheit behagte mir nicht.
Er lächelte. „Aber warum so distanziert, meine Liebe? Bitte, nennt
mich doch Raymond.“ Als er mir mit dem Handrücken über die Wange
strich, war ich erst wie versteinert. „Ihr seid wunderschön, hat
Euch das schon jemand gesagt?“
Die Worte holten mich aus der Starre und ich schob seine Hand
nachdrücklich weg. „Mäßigt Euch, Monsieur!“
„Wie Ihr wollt, Anne. Aufgeschoben ist in diesem Fall ja keineswegs
aufgehoben. Ich kann warten.“
„Bitte?“ Verblüfft hielt ich inne. „Für wen haltet Ihr Euch
eigentlich? Ich bin nicht Eure Frau! Adieu, Monsieur d’Arlais!“
Ohne eines weiteren Wortes wandte ich mich ab, um zu den anderen
Festgästen zurück zu kehren. Ein paar weitere Schläge von Papa
würde ich überstehen, wie ich es ja immer tat.
Kaum war ich in Sichtweite der Terrasse, eilte Mama auf mich zu.
Ihren Gesichtsausdruck wusste ich nicht zu deuten, es war eine
Mischung aus Aufregung, Freude und Besorgnis.
„Anne, Chérie, da bist du ja! Komm mit, dein Vater wartet schon auf
dich.“ Sie scheuchte mich in Richtung der Steinplattform, über die
man ins Haus gelangte. Dort oben, und damit eine Stufe höher als
die anderen Anwesenden, stand Papa. Offenbar wollte er etwas sagen.
Erst als ich neben ihm stand, merkte ich, dass Raymond auf die
andere Seite getreten war. Was wollte er hier nur?
Ich hatte jedoch keine Zeit weiter darüber nachzudenken. Papa
klopfte ein paar Mal mit einem Löffel auf sein Glas, um
Aufmerksamkeit zu erregen. Als er alle Blicke auf sich hatte, legte
er beides zur Seite.
„Liebe Gäste, ich bin glücklich heute ein erfreuliches Ereignis
bekannt geben zu dürfen.“ Sein Blick fiel auf mich, und dann auf
den jungen Mann. „Die Verlobung meiner Tochter Anne mit Raymond,
dem ältesten Sohn von meinem guten Freund Pierre d’Arlais.“
Ehe ich reagieren konnte, legte er meine Hand in die Raymonds. Alle
umstehenden Menschen begannen zu jubeln und zu klatschen. Es war
mir allerdings überhaupt nicht klar, wieso sie das taten. Die
Bedeutung von Papas Worten begriff ich in diesem Moment nicht.
Sicher hatte ich ihn deutlich gehört, jedoch weigerte ich mich
schlicht die Aussage anzuerkennen.
Den Rest der Feierlichkeit erlebte ich nur wie durch einen
Nebelschleier. Hier und dort wurden mir Glückwünsche entgegen
gebracht, die ich mit äußerst knapp ausfallendem Dank beantwortete.
Am liebsten wäre ich jetzt allein gewesen, doch es war dauernd
jemand um mich, sodass ich keine Gelegenheit hatte, mich davon zu
stehlen.
Zumindest erkannte ich nun, warum Papa auf einmal wollte, dass ich
auffiel. Das neue Kleid, passender Schmuck. Ich sollte schön
aussehen für den Mann, an den er mich bringen wollte. Plötzlich
fühlte ich mich unter all den bewundernden Blicken gar nicht mehr
wohl, sondern kam mir vor wie eine Kuh auf dem Viehmarkt. Zum Glück
wusste ich noch nicht, wie recht ich mit diesem Vergleich
hatte.
Kapitel Kapitel 4
Kapitel 4
Erst zwei oder drei Stunden später war das Fest offiziell zu Ende,
die Gäste machten sich nach und nach auf den Heimweg. Papa war
damit beschäftigt sie alle zu verabschieden, besonders mit den
Messieurs d’Arlais unterhielt er sich ausgiebig. Mir konnte das nur
recht sein, es gab mir Gelegenheit, mich endlich zurück zu ziehen.
Ich wollte nur noch ins Bett.
Im Badezimmer zog ich mir eine Klammer nach der anderen aus dem
Haar, bis es mir wieder offen über die Schultern fiel, entkleidete
mich und schlüpfte in mein Nachthemd. Das schöne fliederfarbene
Gewand fand ich auf einmal überhaupt nicht mehr so reizvoll.
Ein leises Klopfen an der Tür holte mich aus meinen Gedanken.
Mamas Stimme bat um Einlass. Mit einem lautlosen Seufzen drehte ich
den Schlüssel im Schloss herum, sodass sie den Raum betreten
konnte.
„Anne, Chérie“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
Ich wusste nicht was ich ihr antworten sollte. Im Moment erschien
mir die ganze Situation absurd wie die meisten Träume, an die ich
mich nach dem Aufwachen noch erinnern konnte. Mama trat hinter
mich, nahm mir die Bürste aus der Hand und begann liebevoll mein
Haar zu frisieren, ganz so wie sie es getan hatte, als ich noch ein
kleines Mädchen gewesen war.
„Das geht alles zu schnell für dich, es tut mir so leid. Ich habe
versucht mit deinem Vater das auszureden, aber du weißt ja selber
wie er ist, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat“, fuhr sie
fort, während ich weiterhin schwieg. „Versuch einfach das Beste
daraus zu machen, dann erscheint es dir bestimmt nicht mehr ganz so
schlimm. Und die Ehe hat auch sehr schöne Seiten, das wirst du
merken, wenn du dein erstes Kind in den Armen hältst.“
Diese Worte waren zweifellos gut gemeint, doch sie heiterten mich
nicht sonderlich auf. Wie konnte es schließlich erstrebenswert
sein, Tag und Nacht mit einem Mann zusammen zu leben, den ich nicht
mochte? Einmal hatte Mama zu mir gesagt, man könne lernen jemanden
zu lieben. Ich glaubte es nicht. Papa hatte diesen Mann nach seinen
Vorstellungen ausgesucht, und darin hatte ich noch nie einen Platz
gehabt.
Mama drehte mich zu sich herum und drückte mich für einen Moment
zärtlich an sich. „Schlaf eine Nacht darüber. Wir reden morgen
weiter, wenn du willst.“
Dankbar dafür, dass sie mein Schweigen verstand und nicht
verärgert war, wandte ich der großen mit Wasser gefüllten Schale
vor mir zu. Es war schon lange kalt, aber ich wollte das
Dienstmädchen jetzt nicht mehr darum bitten, neues einzufüllen.
Schließlich ging es auch so.
Gerade suchte ich nach einem Handtuch, als die Tür abrupt
aufgerissen wurde und Papas wutverzerrtes Gesicht im Rahmen
auftauchte. Ich erschrak, offenbar hatte ich vergessen
abzuschließen, nachdem Mama den Raum verlassen hatte.
„Wie kannst du es nur wagen, mich so zu blamieren“, keuchte er.
„Du hast Raymond d’Arlais nicht umsonst eine Abfuhr erteilt!“
Bevor ich auch nur irgendwie zu reagieren vermochte, flog ich gegen
den Tisch mit der Schüssel. Etwas knackte scheußlich in meiner
Schulter, der Schmerz ließ mich aufstöhnen. Das Möbelstück hielt
meinem Gewicht stand, und es gelang mir nach der Schale zu greifen,
ehe sie hinunter glitt und unweigerlich auf dem Boden zerschellte.
Das Überschwappen des Wassers konnte ich jedoch nicht
verhindern.
Papas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Dummes Ding,
kannst du nicht aufpassen!“ Erneut schlug er nach mir. Als er mit
seinen Stiefeln in die Wasserlacke auf dem Boden trat, kam es wie
es kommen musste, er rutschte aus. Mit einem Fluch fing er den
Sturz ab, war fast sofort wieder auf den Beinen. Den Moment der
Unaufmerksamkeit versuchte ich zu nutzen, um hinaus zu rennen, doch
an ihm vorbei schaffte ich es nicht, er ergriff mich am Arm, riss
mich grob zurück.
„Ich werde Raymond niemals heiraten! Nie!“ hörte ich auf einmal
mich selbst schreien. Dass ich ihn damit nur noch mehr aufregte,
war mir egal. Zum ersten Mal schaffte ich es ihm wirklich zu
widersprechen, und trotz dem was folgte, war es ein sehr gutes
Gefühl.
Als ich später endlich in meinem Bett lag, konnte ich mich kaum
rühren, ohne dass eine Welle der Pein meinen Körper durchflutete.
Aber ob es das auch wert gewesen war? Er hatte endlich erkannt,
dass ich keines seiner Pferde war, die er einfach brechen konnte,
auch wenn er es immer wieder versuchte. Als Strafe für meinen
Widerstand hatte er mich mit dem breiten Lederriemen verprügelt,
der eigentlich zum Messer schleifen gedacht war.
Die Striemen auf meinem Rücken brannten auch am nächsten Morgen
noch furchtbar. Ich war wie gerädert, hatte kaum Schlaf gefunden.
Meine Tür stand einen Spalt breit offen und ich konnte die
Geräusche des Familienfrühstücks aus der Stube hören. Zwar knurrte
mir der Magen, doch Papa wollte ich auf keinen Fall unter die Augen
treten. So schloss ich lediglich die Tür und ging wieder ins
Bett.
Ich wusste nicht, ob eine oder drei Stunden vergangen waren, als
irgendwann jemand herein kam. Es war nicht Papa, um das zu
erkennen, brauchte ich nicht einmal aufzusehen.
„Anne, schläfst du?“ fragte Etienne leise, während er sich dem Bett
näherte. Ein wohltuender Duft stieg mir in die Nase, veranlasste
mich dazu, mich aufzurichten. Er hatte mir Frühstück mitgebracht.
Auf dem Teller waren ein Buttercroissant, sowie etwas Käse und
Obst. Dankbar biss ich in das Gebäck.
„Effienne, du biff ein Faff“, murmelte ich kauend. Beim Geschmack
des Essens spürte ich schlagartig wieder wie hungrig ich eigentlich
war.
Mein Bruder musste lachen. „Vergiss nicht aufs Schlucken, sonst
verstehe ich kein Wort.“
„Ich sagte du bist ein Schatz“, wiederholte ich kichernd. Einen
Augenblick später verzog ich allerdings das Gesicht, weil ich
äußerst schmerzhaft an die Begegnung mit dem Schleifriemen erinnert
wurde.
„Stimmt etwas nicht?“ Etienne sah mich prüfend an. Er gab nicht
nach, bis ich ihm erzählt hatte, was vorgefallen war. Damit war die
gute Stimmung dahin.
Als ich mit dem Essen fertig war, versorgte Etienne die Striemen
auf meinem Rücken. Es brannte heftig, doch ich versuchte still zu
halten. Wenn er der Meinung war es half, vertraute ich ihm.
Er seufzte leise. „Ich verstehe zwar nicht, warum Papa immer so
gemein zu dir ist, aber du hättest ihm nicht widersprechen
sollen.“
„Wieso nicht?“ fragte ich schlicht. „Was gibt ihm das Recht über
mein Leben zu bestimmen?“
„Die Tatsache, dass er dein Vater ist. Frauen müssen ihren Männern
gehorchen und Töchter ihren Vätern. So ist das eben, so war es
schon immer.“
Das konnte ich nicht verstehen. Mir fiel kein Grund ein, der ein
Mädchen weniger wertvoll machte als einen Jungen. Beide hatten doch
ihre Vorzüge, oder etwa nicht?
„Etienne? Würdest du denn deine Frau oder deine Tochter jemals
schlagen?“
Darauf erwiderte er nichts, und dieses Mal verzichtete ich darauf
weiter zu bohren. Vielleicht würde er mir meine Frage zu einem
anderen Zeitpunkt beantworten. Wir sprachen jedoch über viele
andere Dinge, er gestand mir sogar, dass er sich verliebt hatte und
über die Ehe nachdachte. Pascal, der ältere meiner Brüder war schon
seit einem Jahr verheiratet.
Nach ein paar Tagen ging es mir auch dieses Mal wieder gut. Bei der nächsten Gelegenheit versuchte ich am Weiher Michel zu treffen, doch er war nie dort. Zum Glück wurde ich oft genug ins Dorf geschickt, meistens am Markttag. In der Bäckerei seiner Eltern konnte ich kurz mit ihm sprechen. Sein Vater war krank, deswegen musste er jeden Tag helfen. Für eine längere Unterhaltung reichte weder Zeit, noch war dies der passende Ort. Michel war der einzige, mit dem ich über alles reden konnte. Auch über Politik hatten wir schon gesprochen. Ich fand es durchaus interessant, was im Land so vorging. Leider erfuhr ich außer durch meinen besten Freund nichts davon, denn Frauen hatten sich mit anderen Dingen zu beschäftigen.
Der nahende Winter schüttelte nach und nach die letzten
goldbraun verfärbten Blätter von den Bäumen. Kahl standen sie da,
bis eine dicke weiße Schneedecke Äste, Felder, Weingärten und
Häuser bedeckte. Einzig die schwarz gefiederten Leiber der Krähen,
die auf den Feldern nach Nahrung pickten, bildeten einen scharfen
Kontrast. Obwohl ich ein Kind des Sommers war, liebte ich Winter
und Schnee. Oder vielleicht gerade deswegen. Gerne wäre ich den
ganzen Tag im Freien geblieben, um ausgedehnte Streifzüge durch die
in der Sonne wie in Zauberlicht gehüllte Landschaft zu
unternehmen.
Die Stimmung daheim war gedrückter als sonst. Zu dieser Jahreszeit
hatte Papa nichts mit dem Weinbau zu tun und langweilte sich. Mamas
Lächeln wurde dann auch immer seltener. Um Papa keinen Anlass zu
geben böse mit mir zu sein, war ich stets pünktlich zu Hause. Doch
er fand immer etwas, und waren es nur eine Hand voll in der Küche
gesammelter Essensreste, die ich an die Krähen verfütterte.
Mit der Zeit begann ich mich zu fragen, ob die Ehe wirklich eine so
schlechte Wahl war. Immerhin wäre ich dann endlich fort aus meinem
Elternhaus und damit außerhalb von Papas Reichweite. Allerdings
wusste ich noch immer nicht was ich von Raymond halten sollte. Wir
waren uns erst einmal begegnet und im Grunde kannte ich ihn nicht.
Vielleicht täuschte der erste Eindruck ja.
Kapitel Kapitel 5
Kapitel 5
Als sich die kalte Jahreszeit dem Ende neigte, bekam ich
Gelegenheit meine Ansicht von dem jungen Mann, dem ich versprochen
war, von Grund auf zu revidieren. Eines Morgens beim gemeinsamen
Frühstück in der holzgetäfelten Stube bedachte Papa mich mit einem
langen prüfenden Blick.
„Mach dich heute Abend hübsch, die Messieurs d’Arlais kommen zum
Essen“, ordnete er an.
Ich nickte nur. Inzwischen hatte ich endgültig beschlossen Raymond
eine Chance zu geben. Vielleicht behielt Mama am Ende doch recht
und ich konnte lernen ihn zu lieben. Die Zeit selbst würde die
Antwort geben.
Etienne und ich saßen auf dem hellbraunen Kuhfell vor dem Kamin,
während wir auf die Ankunft von Papas Freund und dessen Sohn
warteten. Das Geräusch von Pferdehufen vor dem Haus sagte uns
schließlich, dass die Gäste angekommen waren und wir gingen
gemeinsam in den Vorraum, um sie zu begrüßen.
Ich hielt mich Raymond gegenüber an meinen Vorsatz. Beim Dîner
erlebte ich ihn als höflich und wohlerzogen, jedoch das
Dienstmädchen behandelte er äußerst herablassend. Mein Freund
Michel hatte mir einmal geraten, wenn ich wissen wollte, welch ein
Mensch jemand war, darauf zu achten, wie er mit Untergebenen
umging. Auf diese Weise erfuhr ich einiges von meinem
Gegenüber.
Nach dem Essen bat Raymond mich zum Spaziergang draußen. Obwohl
er mich höflich fragte, zeigte mir Papas Blick auf, dass ich keine
Wahl hatte. Ich hakte mich bei dem jungen Mann ein, ließ mich von
ihm ins Freie geleiten. Sobald wir allein waren, befreite ich
meinen Arm schnell wieder.
Raymond hob sichtlich amüsiert die Augenbraue. „Immer noch so
zickig? Jetzt stell dich doch nicht so an, ich bin nicht
giftig.“
Wer weiß, dachte ich bei mir, hielt jedoch den Mund. Seine
plötzliche Vertrautheit in der Anrede widerstrebte mir. Für eine
Weile sagte keiner etwas. Ich kam zu dem Schluss, dass ich die
direkte Konfrontation suchen musste, wenn ich einen Eindruck davon
bekommen wollte, wer dieser Mann eigentlich war.
„Der Winter ist heuer hart“, begann er unvermittelt. „Ich mag
diese Jahreszeit nicht, es ist viel zu kalt.“
„Ich schon. Die Landschaft ist wundervoll, wenn sie von frisch
gefallenem Schnee bedeckt ist.“
Sein irritierter Blick verriet mir, dass er mit einer solchen
Antwort nicht im Mindesten hatte. Ich verkniff mir ein
Grinsen.
„Dein Vater erwähnte, du wärst im Sommer geboren. Seltsame
Einstellung für ein Kind der warmen Jahreszeit. Ich kam im Frühling
zur Welt.“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es war Spätsommer um
genau zu sein. Und von meiner Mutter weiß ich, dass der Winter in
diesem Jahr früh kam. Vielleicht hängt es ja damit zusammen.“
„Na ja, nicht so wichtig... Das Dîner war gut, oder?“ Als ich nicht
reagierte, sah er mich von der Seite her an. „He, ich rede mit
dir?“
„Über solche Belanglosigkeiten wie das Wetter oder das Abendessen
zu sprechen, langweilt mich ein wenig, wenn ich ehrlich sein
darf...“
Ein undeutbares Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ach so ist
das. Dann möge Mademoiselle ein Thema beginnen.“
Erneut musste ich ein Kichern unterdrücken. Genau darauf hatte ich
hinaus gewollt. Das war leicht gewesen. „Hm... du könntest mir zum
Beispiel davon erzählen, was du von den letzten Erlässen unseres
Königs hältst?“
Verblüfft sah er mich an. „Bitte was? Du solltest deinen hübschen
Kopf nicht mit Dingen voll stopfen, die zu hoch für ihn sind.
Politik ist für eine Frau genauso unnütz wie lesen und
schreiben.“
„Ich kann lesen und schreiben!“ zischte ich mit zusammen gebissenen
Zähnen. Pascal und Etienne hatten es mich hinter Papas Rücken
gelehrt, weil Mama es sich gewünscht hatte. Sie bedauerte oft es
selbst nicht zu können.
Raymonds Augenbrauen zogen sich zusammen. Er grinste jetzt nicht
mehr so unsagbar arrogant und überlegen. „Wenn du erst einmal meine
Frau bist, ist sofort Schluss mit solchem Unsinn! Dafür wirst du
sowieso keine Zeit haben, schließlich musst du dich dann um unsere
Kinder kümmern.“ Er sah mich prüfend an. „Du wirst gesunde Söhne
auf die Welt bringen.“
Das war alles wofür ich in seinen Augen zu gebrauchen war. Eine
Zuchtstute, die nur ihren Wert hatte, solange sie erstklassige
Fohlen werfen konnte. Damit hatte er mir deutlich gemacht, was mich
in einer Ehe mit ihm erwartete. Und ich wusste jetzt, dass ich
niemals lernen würde diesen Mann zu lieben. Für ihn war mein
einziger Zweck ihm Gehorsam zu leisten. Er war wie mein
Vater.
„Oder Töchter“, stieß ich bitter hervor.
„Nun, passieren kann das....“ Er blieb stehen, hielt mich dabei am
Arm zurück. Seine Finger strichen über mein langes Haar. Ich
versuchte mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr es mich anwiderte
von ihm berührt zu werden. „Du hast eine ganz außergewöhnliche
Haarfarbe.“
„Mir ist kalt, ich möchte wieder hinein gehen.“ Zugegeben, es gab
viele Orte, an denen ich mich lieber aufgehalten hätte, als in der
Stube, wo Papa war. Doch allein mit Raymond hier draußen bleiben
wollte ich noch weniger.
„Fast wäre ich ja geneigt zu glauben du magst mich nicht. Zu
schade. Aber das ändert nichts daran, dass du mir versprochen bist.
Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen.“
Ich schwieg beharrlich. Dass ich mich hartnäckig wegdrehte, als er
versuchte mich zu küssen, ließ ihn amüsiert auflachen. „Ach schau
an, wir haben hier einen richtigen Wildfang, der erst noch gezähmt
werden will.“
„Für was hältst du dich eigentlich?“ rief ich plötzlich voller Wut
aus. „Ich bin ein Mensch wie du und kein Pferd, das du besitzen und
über das du bestimmen kannst, wie es dir beliebt!“
Er packte mich daraufhin grob am Kinn, zwang mich ihn anzusehen,
„Du kleine... Dir treibe deinen Widerwillen schon noch aus. Ich
erwarte Gehorsam von meiner Frau, schreib dir das hinter die Ohren,
Anne!“
Nun ließ er mich zumindest in Ruhe, sah mich nicht einmal an.
Ich verstand zwar nicht, was er mit seinem und meinem Vater
besprach, doch dann streifte mich ein kalter Blick Papas. So lange
die Messieurs d’Arlais bei uns weilten, konnte er jedoch nichts
weiter machen. Als er die Besucher ausgiebig verabschiedete, nützte
ich die Gelegenheit mich oben in meinem Zimmer einzuschließen.
Natürlich hatte ich keinen Schlüssel, so verbarrikadierte ich die
Tür so gut es ging mit einem Stuhl.
Spätestens als ich Papa die Stufen nach oben poltern hörte,
erkannte ich, dass ich den Schlägen auch dieses Mal nicht entgehen
würde. Das Holz des Sitzmöbels gab leicht nach. Im selben Moment
als ich das Splittern hörte, flog die Tür auf.
Meine Vermählung mit Raymond würde im Frühling stattfinden, eine
Woche nach dem einundzwanzigsten Geburtstag meines Bräutigams. Mama
versuchte das eine oder andere Mal mir die Ehe doch noch
schmackhaft zu machen, indem sie mir von den Freuden der
Mutterschaft erzählte und mir versicherte, dass das für alle Opfer
entschädigte, die die Ehe abverlangte.
Je näher der Tag rückte, desto weniger vermochten mich ihre Worte
zu trösten. Ich hatte das Gefühl trotz meiner fünfzehn Jahre schon
das Ende erreicht zu haben. Nicht das meines Lebens, aber das aller
Träume, die ich im Herzen trug. Nicht mehr für das bestraft zu
werden, was ich war. Jemanden zu finden, der mich bedingungslos
liebte, und dem ich mein Herz gerne schenkte.
Nicht einmal einen Monat vor der Hochzeit fasste ich einen
Entschluss. Was hatte ich schon zu verlieren? Ich packte ein paar
Sachen zusammen, stahl einige Nahrungsmittel aus der Küche. In der
Nacht wartete ich in meinem Zimmer bis alle tief und fest
schliefen. Als die Kirchenglocke im Dorf dumpf Mitternacht schlug,
schlich ich mich hinaus. Einmal knarrte die Treppe laut unter
meinen Füßen, doch zum Glück schien es niemand außer mir selbst
gehört zu haben. Auf Zehenspitzen tappte ich durch den Vorraum. Die
Eingangstür war natürlich versperrt, weswegen ich mich sofort
Richtung Küche wandte, um dort durch eines der Fenster zu
klettern.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich fuhr
erschrocken herum, unterdrückte gerade noch einen leisen Aufschrei.
Hinter mir stand jedoch nicht Papa, sondern Etienne, der mich
verwundert ansah.
„Anne, wo willst du denn um diese Nachtzeit hin?“ flüsterte er
ganz leise. Offenbar lag ihm auch nichts daran entdeckt zu
werden.
„Ich ähm... Moment, das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Ich
hoffte, dass er mein Bündel nicht bemerkt hatte, denn wenn doch
brauchte er nur zwei und zwei zusammen zu zählen. Im schwachen
Mondlicht, das durchs Fenster herein fiel, sah ich, dass er rot
wurde.
„Nun ja, also...“ stotterte er. „Meine Freundin besuchen.“
Beinahe musste ich lachen, doch ob des Ernstes meiner Lage verkniff
ich es mir. Sein Blick war auf meine zusammen gepackten
Habseligkeiten gefallen und er begriff was ich zu tun
beabsichtigte.
„Du willst weglaufen, oder?“
Ich nickte leicht. „Ich kann Raymond nicht heiraten, lieber würde
ich sterben...“ Natürlich erwartete ich nicht, dass er das
verstand, er war ein Mann. Einer, den mein Vater groß gezogen
hatte. „Bitte verrat mich nicht, Etienne.“
Er legte seine Hand auf meine. „Das werde ich nicht, kleine
Schwester. Komm mit, bevor uns doch noch jemand hört.“
Wortlos folgte ich ihm durchs Fenster hinaus ins Freie. Er holte
rasch sein Pferd aus dem Stall und nahm mich bis zum Dorf mit, weil
er nicht wollte, dass ich allein durch den nächtlichen Wald
irrte.
Als die ersten schattenhaften Häuser zu erkennen waren, setzte
er mich ab. Er drückte mich kurz an sich. „Viel Glück, Anne. Pass
bloß auf dich auf. Vor allem, dass Papa dich nicht erwischt. Er
wird dich suchen.“
„Das werde ich. Grüß bitte Mama und Pascal von mir.“
Für einen Moment nahm er meine Hand und als er sie wieder losließ,
spürte ich darin etwas festes Kühles. Es waren ein paar Münzen.
Dankbar lächelte ich ihn an. Dann schwang er sich auf seinen
Braunen und ritt davon.
Jetzt war ich auf mich gestellt. Ich wusste, dass Etienne Wort
halten und mich nicht verraten würde. Was Papa mit mir anstellte,
wenn er mich fand, wollte ich mir lieber nicht vorstellen. Dass er
keine Hemmungen hatte mich zu prügeln bis ich tot war, bezweifelte
ich nicht. Darum musste ich jetzt noch so weit wie möglich gehen
und ein gutes Versteck suchen, wenn der nächste Tag anbrach.
Kapitel Kapitel 6
Kapitel 6
Der Mond stand hell am Himmel. Er war nicht mehr ganz voll, doch
genug, um die Umgebung in fahles silbrigweißes Licht zu tauchen. So
verlor ich meinen Weg nicht aus den Augen. Die Nacht war keineswegs
still, die Grillen zirpten und manchmal schrie eine Eule. Ab und zu
raschelte oder knackte es auch, wenn sich ein Tier im Unterholz
bewegte. Ich hatte Angst. In der Dunkelheit war ich noch nie allein
so weit draußen gewesen, schon gar nicht in den umliegenden
Wäldern. Doch ein Zurück gab es jetzt nicht mehr, ich musste weiter
gehen.
Nach Stunden, als es bereits zu dämmern begann, erreichte ich einen
kleinen Bauernhof, der am Rande einer winzigen Ortschaft lag. Ich
schlich mich in die Scheune und kletterte auf den Heuboden, wo ich
mich im hintersten Winkel todmüde in eine Nische zwischen
aufgestapelten Strohballen zwängte. Fast sofort fiel ich in einen
traumlosen Schlaf.
Die nächsten Tage ging es ähnlich weiter und jetzt, wo ich alles
aufgegeben hatte, begann ich den Luxus eines weichen Bettes und
einer warmen Mahlzeit zu schätzen. Aber viel schlimmer noch, als
irgendwo im Stroh zu schlafen, oder von etwas gestohlenem Obst zu
leben, war es ganz allein zu sein. Ich vermisste Mama und meine
Brüder. Mit dem Gedanken, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte,
als von zu Hause fortzulaufen, versuchte ich mich darüber hinweg zu
trösten. Doch in den einsamen Nächten hatte ich einfach zu viel
Zeit, um meinen Gedanken nachzuhängen.
Mein Ziel war Lille, ich hoffte in der lauten hektischen Stadt
meine Spuren gut genug verwischen zu können, dass mich Papa nie
finden würde. Vielleicht sogar gelangte ich eines Tages nach Paris.
Darüber hatte ich Geschichten gehört. Es war so anders als die
kleinen ruhigen Dörfer auf dem Land, die ich kannte. Voller Leben
und unglaublich interessant. Zumindest in meiner Vorstellung.
Während ich einer Straße folgte, die mich Lille näher bringen
sollte, begann es plötzlich wie aus Kübeln zu gießen. Es war
eigentlich ein warmer Frühlingstag, doch durch das schlechte Wetter
kühlte es so ab, dass ich in dem durchnässten Gewand entsetzlich
fror. Dummerweise war ich mitten im Nirgendwo. Die letzte
Ortschaft, durch die ich gekommen war, lag schon viel zu weit
zurück, als dass ich hätte umkehren können. Und wo die nächste war,
wusste ich nicht.
Es schien als hätte der Himmel doch noch Einsehen mit mir. Ich
bemerkte den Einspänner erst, als er neben mir hielt. Der Mann, der
darin saß, lächelte mich an.
„Kann ich dich vielleicht ein Stück mitnehmen?“
Sein Tonfall war freundlich und ich kletterte dankbar auf den
Wagen. Kaum hatte ich mich neben ihn gesetzt, trieb er auch schon
sein Pferd zur Eile an. Nach ein paar Minuten hatte ich mich an das
unregelmäßige Holpern gewöhnt und musterte den Mann neugierig von
der Seite her. Er war nicht mehr ganz jung, hatte kantige Züge und
dunkelbraunes Haar, das an einigen Stellen bereits lichter zu
werden begann. Um den Hals trug er einen goldenen Anhänger in Form
eines Kreuzes. Falls er meinen Blick bemerkte, zeigte er es nicht.
Seine Augen waren die ganze Zeit über aufmerksam auf die Straße
gerichtet.
Nach einiger Zeit erreichten wir endlich ein Dorf. Offenbar war
es auch das Ziel des Mannes, denn vor einem der Häuser hielt er den
Wagen an und half mir zuvorkommend beim Absteigen.
„Wenn du willst, kannst du bei mir warten, bis der Regen vorbei
ist“, meinte er, während er die Tür aufschloss. „Ich muss nur rasch
mein Pferd wegbringen.“
Ich nickte, doch bevor ich etwas sagen konnte, hatte er mich schon
hinein geschoben und hinter mit zugeschlossen. Während ich auf ihn
wartete, rührte ich mich nicht von der Stelle. Unter meinen Füßen
bildete sich eine Wasserpfütze von meiner durchnässten Kleidung.
Ein paar Minuten später kam er zurück.
„So, das wäre erledigt.“ Er machte sich gleich daran in der Stube
ein Feuer im Kamin zu entzünden. Als er es geschafft hatte, bot er
mir an, mich davor zu setzen. Er war so nett, und das obwohl er gar
nicht wusste wer ich war.
„Vielen Dank für Eure Freundlichkeit, Monsieur...“ setzte ich
an.
„Dominic. Und das ist gerne geschehen. Als ein Diener des Herrn ist
es meine Pflicht, aber auch immer eine Freude, da zu helfen wo ich
kann.“ Er lächelte mich an. „Hast du auch einen Namen?“
„Anne.“
„Das ist ein schöner Name. Erzähl, Anne, was hast du bei so einem
Wetter ganz allein da draußen gemacht?“
Ich antwortete ihm nur, dass ich auf dem Weg nach Lille war. Woher
ich kam und dass ich davon gelaufen war, behielt ich für mich. Zum
Glück gab er es ob meines hartnäckigen Schweigens bald auf, mich
weiter zu fragen.
Die Wärme des Feuers durchdrang meine durchnässte Kleidung nur
quälend langsam. Ich blickte in die hell aufzüngelten Flammen, die
mir die Gesichter Papas und Raymonds vorgaukelten. Hoffentlich war
es ihnen nicht gelungen mir zu folgen. Die ganze Zeit über hatte
ich eine irrationale Furcht in mir, dass Papa plötzlich vor mir
auftauchen würde. Genau dann, wenn ich es am wenigsten
erwartete.
„Du wirst noch krank, wenn du die nassen Sachen
anbehältst.“
Die sanfte Stimme des Priesters ließ mich aufsehen. Er hielt mir
lächelnd eine Decke hin. „Damit wird es besser.“
In diesem Moment gab mein Magen ein sehr undamenhaftes Grummeln von
sich, und Monsieur Dominic lachte leise. „Meine Güte, da ist jemand
halb verhungert. Ich sehe nach, was sich dagegen unternehmen
lässt.“
Als er das Zimmer verlassen hatte, schälte ich mich rasch aus dem
triefend nassen Kleid, hängte es neben dem Kamin auf und wickelte
mich von oben bis unten in die Decke ein. Fast sofort wurde mir
deutlich wärmer.
Wenig später kam Monsieur Dominic mit einem Teller zurück, auf dem
sich etwas Brot, Käse und Weintrauben befanden. Nur sehr ungern
verließ ich meinen Platz am Feuer, doch im Moment war der Hunger
stärker. Der Priester sah mir eine Weile dabei zu, wie ich mich mit
großem Appetit über das Essen hermachte. Schließlich ließ sein
Blick mich inne halten, er sah mich irgendwie seltsam an. Da
bemerkte ich, dass die Decke durch die ständigen Bewegungen, und
weil ich ja nur noch eine Hand zum Festhalten hatte, meine
Schultern hinab gerutscht war. Meine Unterwäsche war noch immer
feucht und beinahe durchscheinend. Rot anlaufend zog ich die Decke
rasch wieder zurecht und starrte äußerst verlegen in den
Teller.
Erneut verließ Monsieur Dominic den Raum. Dieses Mal brachte er
eine Flasche Rotwein und zwei Gläser mit. Nachdem er in beide etwas
eingeschenkt hatte, reichte er mir eins davon weiter.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, vielen Dank, ich mag Wein nicht
besonders.“ Die süßen Trauben waren mir immer viel lieber
gewesen.
„Ach, probier ihn wenigstens. Zu dem Käse passt er ganz
hervorragend.“
Schließlich gab ich nach und trank einen kleinen Schluck. Die rote
Flüssigkeit schmeckte fruchtig. Monsieur Dominic ermunterte mich
hartnäckig mehr davon zu trinken, sodass das Glas schließlich leer
war. Und weil er nachschenkte auch bald ein zweites. Eine seltsame
doch angenehme Wärme breitete sich in mir aus. Mit dem Essen war
ich längst fertig, und als ich aufstand, um mich wieder vor den
Kamin zu setzen, schwankte ich beim Gehen ein wenig.
Der Priester ergriff meinen Arm und brachte mich in ein kleines
Zimmer, in dem es ein wackelig aussehendes Bett und eine schäbige
Kommode mit einem winzigen staubigen Spiegel gab.
„Mit einem besseren Gästezimmer kann ich leider nicht dienen, aber
zum Schlafen wird’s wohl genügen“, meinte er.
Als ich mich umdrehte, um mich bei ihm zu bedanken, trat ich auf
einen Zipfel der Decke, stolperte, und wäre gefallen, hätte er mich
nicht aufgefangen. Nur in Unterwäsche stand ich vor ihm, wollte
mich peinlich berührt bücken, doch er ließ es nicht zu.
„Wie schön du bist...“
Sein Tonfall behagte mir nicht. Er schob sich näher an mich heran,
ließ mich gleichzeitig zurück weichen, sodass ich schließlich die
Wand im Rücken hatte. Durch den Wein fühlte ich mich schwerfällig
und müde, meine Bewegungen waren langsam. Ich wusste gar nicht wie
mir geschah, als er mir über die Wange strich und mich küsste. Erst
als er sich an meiner Unterwäsche zu schaffen machte, überwand ich
meine Starre. Ich versuchte ihn weg zu drücken, doch er hielt mich
mit einer Hand fest, während die andere über meinen Körper
tastete.
„Halt still, meine Hübsche. Ich will dir doch nicht weh tun.“
Weil ich mir anders nicht zu helfen wusste, biss ich ihm in die
Lippe, als er mich erneut zu küssen versuchte, und trat ihm so fest
ich konnte auf die Zehen. Das wirkte, mit einem Schmerzenslaut ließ
er von mir ab und ich wollte an ihm vorbei aus dem Zimmer rennen.
Doch er hatte sich zu schnell wieder gefasst, riss mich zurück und
stieß mich heftig gegen die Wand. Meine vom Aufprall herrührende
Benommenheit nutzte er, um mich zum Bett zu zerren.
Das ganze Gewicht seines Körpers drückte auf mich. Ich war
gefangen, wehrlos, musste seine ekelhaften Berührungen erdulden. Es
gelang ihm schließlich mir die Unterwäsche auszuziehen, sodass ich
vollkommen nackt vor ihm lag. Seine Hände glitten ungeduldig über
meine Haut, griffen nach meinen Brüsten, fassten mir zwischen die
Beine. Ich wünschte in diesen Augenblick, ich wäre immer noch im
strömenden Regen auf der Straße unterwegs gewesen.
Schließlich ließ er von mir ab, öffnete seine Hose. Vom Schwimmen
im Fluss mit meinen Brüdern, als wir noch Kinder gewesen waren,
wusste ich zwar, wie sich ein Junge von einem Mädchen unterschied,
aber einen erwachsenen Mann hatte ich noch nie entblößt gesehen. Er
schob sich zwischen meine Schenkel, und das nächste was ich spürte,
war grauenvoller Schmerz, als seine harte Männlichkeit in mich
stieß. Schläge wusste ich zu ertragen, aber das war anders. Ich
schrie gequält auf, Tränen rannen meine Wangen hinab.
Kapitel Kapitel 7
Kapitel 7
Mit dumpf schmerzendem Unterleib kauerte ich zusammen gesunken in
der am weitesten vom Bett entfernten Ecke des Raumes. Die Tür hatte
er hinter sich abgesperrt. Ich war gefangen, war ihm ausgeliefert.
Warum hatte er mir das angetan? Er war doch am Anfang so nett und
hilfsbereit gewesen. Aber wahrscheinlich nur, damit ich ihm
vertraute und er ein leichtes Spiel mit mir hatte. Ich fühlte mich
so schmutzig und benutzt. Was gab ihm das Recht sich an mir zu
vergehen, weil es ihm gerade passte? Nur die Tatsache, dass ich
eine Frau, mehr noch ein Mädchen war?
Erst als es langsam hell wurde, fand ich genug Kraft, um mich auf
die Beine zu rappeln. Der Boden knarrte unter meinen Schritten. Ich
hielt in der Bewegung inne, als ich mit der Spitze meines Schuhs
gegen etwas Hartes stieß. Vor mir, und direkt neben dem Bett lag
eine Kette mit einem goldenen Kreuz als Anhänger. Es war seine, ich
musste sie ihm vom Hals gerissen haben, als er mich vergewaltigte.
Zögernd hob ich das Kreuz auf, es fühlte sich schwer und kühl in
meiner Hand an. Es war mit Sicherheit echtes Gold und das machte es
sehr wertvoll. Und Geld konnte ich gebrauchen, um mir etwas zu
essen zu kaufen, und vielleicht, wenn es reichte, sogar ein neues
Kleid.
Das erinnerte mich daran, dass ich im Moment nur die Unterwäsche
zum Anziehen hatte. Mein Kleid hing immer noch im anderen Zimmer
neben dem Kamin. Als ich das Schloss untersuchte, schwand meine
Hoffnung vollends. Ich hatte keine Möglichkeit es zu öffnen.
Resignierend ließ ich mich auf den Boden sinken. Alles was ich tun
konnte, war zu warten, dass er die Tür wieder aufschloss. Und
dann?
Es dauerte nicht sehr lange, bis ich eine Antwort erhielt. Ich
hörte Stimmen, offenbar hatte er Besuch. Und dann wurde der
Schlüssel im Schloss umgedreht. Meine blitzartige Überlegung,
einfach loszurennen und versuchen ins Freie zu gelangen, verwarf
ich wieder. Als ich sein Gesicht sah, kochten die Gefühle in mir
auf, ich spürte eine unbändige Lust es ihm zu zerkratzen, für das
was er mir angetan hatte.
„Guten Morgen, meine Hübsche. Ich hoffe du hast in dem alten Bett
auch halbwegs schlafen können.“
Ich schwieg, funkelte ihn nur voller Hass an. Lieber hätte ich auf
einem Nagelbrett übernachtet, als mich noch einmal in das Bett zu
legen, in dem er mich fast unter seinem Gewicht erdrückt
hätte.
„So still heute? Gestern Abend warst du gar nicht auf den Mund
gefallen.“ Er sah seinen Begleiter an, einen klein gewachsenen,
aber äußerst kräftig gebauten Mann mit ordentlich gebändigtem
hellbraunem Haar. „Die ist ganz und gar nicht so unschuldig, wie
sie wirkt, das kann ich dir sagen.“
Sein Blick fiel auf meine Hand, mit der ich das Kreuz fest
umschlossen hielt. „Was hast du denn da? Zeig es mir.“
Er packte mich eisern, sodass ich nicht anders konnte, als meinen
Fund loszulassen. Als er das Schmuckstück entdeckte, verzerrte sich
sein Gesicht im Zorn. „Du kleines Biest hast mich verführt und
jetzt bestiehlst du mich!“
In diesem Moment setzte in mir etwas aus. Ich schlug und trat um
mich wie ein wildes Tier, im Versuch mich aus seiner Umklammerung
zu befreien. Als ich ihn mit voller Wucht am Schienbein traf, stieß
er mich mit einem Schmerzenslaut von sich. Ich prallte heftig mit
dem Kopf gegen die Kante der Tür, und es wurde mir schwarz vor
Augen.
Zunächst wusste ich nicht wo ich mich befand, als ich wieder zu
mir kam. Mein Kopf schmerzte. Der Boden des kleinen Raumes war mit
Stroh ausgelegt, nur in einer Ecke lagen ein paar dreckige
zerschlissene Decken. In die massive Holztür war ein vergittertes
Fenster eingelassen, durch das ich draußen im Gang eine Reihe
gleichartiger Zugänge erkennen konnte. Das war ein Gefängnis. Aber
warum war ich hier? Ich hatte doch nichts verbrochen, nicht einmal
die Kette geklaut. Zugegeben, ich hatte sie bereits in der Hand
gehabt.
Es machte mich halb wahnsinnig in diesem beengenden Raum
eingesperrt zu sein, und nicht zu wissen weshalb, oder für wie
lange. Bald hatte ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ob Stunden
oder Minuten vergingen spielte keine Rolle.
Die einzige Ablenkung von der Trostlosigkeit und Einsamkeit dieses
Ortes bildete ein junger Bursche, der mir durch das vergitterte
Fenster etwas Brot und Wasser gab. Im spärlichen Licht konnte ich
erkennen, dass er etwa in meinem Alter sein mochte. Er wirkte
tollpatschig, weil er gar so groß und schlaksig war.
„Danke“, sagte ich zu ihm und trank gierig ein paar Schlucke
Wasser.
„Schon gut, ich mache ja nur meine Arbeit.“ Seine Augen suchten die
meinen. „Du musst es dir gut einteilen.“
Mit einem kaum merklichen Nicken stellte ich den kleinen Krug
beiseite. Mein Durst war noch lange nicht gestillt, aber er hatte
recht.
„Warum bist du eigentlich hier? Stimmt es, was Monsieur Dominic
sagt?“
Dieser Name ließ mich beinahe bittere Galle hochkommen. Ich konnte
mir schon vorstellen was er über mich erzählte, schließlich hatte
ich die an seinen Begleiter gerichteten Worte gehört. Wut zerrte
wie eine reißende Bestie an meinen Eingeweiden. Auf den Priester,
auf meinen Vater. Einfach auf alle Männer, die der Meinung waren
mit Frauen tun zu können, wonach ihnen war.
„Glaubst du ihm denn?“ fragte ich meinerseits.
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Hast du es
getan?“
„Nein.“ Und ich sagte ihm, dass der ach so feine Mann Gottes in
Wahrheit über mich hergefallen war. Ob er meiner Erlärung Glauben
schenkte, wusste ich nicht. Da rief eine harsche Männerstimme
seinen Namen und er musste gehen. Er hieß Paul.
Nach einer Ewigkeit des stetigen Stöhnens und Jammerns meiner
Mitgefangenen hörte ich endlich wieder Schritte auf dem Gang.
Jemand blieb vor der Tür zu meiner Zelle stehen. Ob es wieder der
junge Bursche war? Mein Herz tat einen Sprung, als das schwere
Schloss entfernt wurde. Würden sie mich einfach so gehen
lassen?
Endlich sah ich den Himmel wieder, aber die Freiheit blieb mir
verwehrt. Der finster aussehende Mann, der mich geholt hatte,
brachte mich zu einem Platz, in dessen Mitte ein hölzerner Pfahl
aufragte. Das andere Ende des Strickes, mit dem meine Hände
gefesselt waren, band er fest an diesen.
Nach und nach versammelten sich immer mehr Menschen, stierten mich
mit einer Mischung aus Neugier und Verachtung an. Dann sah ich ihn.
Er befand sich in Begleitung des Priesters. Sein Aussehen war edel,
die Gestalt hoch gewachsen und in teure Stoffe gehüllt. Das Rot
seiner Kleidung schimmerte im strahlenden Sonnenlicht wie Samt und
Seide. Ein großes goldenes Kreuz hing um seinen Hals, protzige
Ringe zierten seine Finger. Das fast bis zu den breiten Schultern
reichende Haar war fein säuberlich gekämmt. In seinen kleinen
stechenden Augen spiegelte sich ein überlegener Ausdruck wieder.
Mit diesem Mann wollte ich auf keinen Fall etwas zu tun haben.
Er ließ seinen Blick zunächst über die Menge schweifen, die sich
mittlerweile um den Platz herum versammelt hatte, ehe er mich
ansah.
„Du wirst beschuldigt einen ehrbaren Mann Gottes aufs Schändlichste
verführt und dann bestohlen zu haben.“ Seine Stimme war bedrohlich
kühl. „Wie eine dreckige Straßenhure.“
„Jaah, Hure!“ schrie da einer der anwesenden Menschen.
Ich starrte den feinen Herrn ungläubig an. „Aber das ist nicht
wahr, er ist…“
„Schweig!“
„Nein! Was Ihr mir vorw…“
Er schlug mir plötzlich ins Gesicht. „Ich sagte schweig!“
Hasserfüllt sah ich ihn an. Warum meinte jeder Mann, dem ich
begegnete, mit mir umgehen zu können, wie es ihm beliebte? Eine
sich mir von der Seite nähernde Gestalt erweckte meine
Aufmerksamkeit. Es war wieder der Finsterling, der mich hierher
gebracht hatte, und jetzt hielt er einen metallenen Stab in der
Hand.
„Dieses Zeichen wird dich und alle, die du triffst, dein Lebtag
nicht vergessen lassen, was du getan hast… was du bist“, verkündete
der rot gekleidete Herr.
Der andere stand nun dicht neben mir. Mit einem Ruck entblößte er
meine rechte Schulter und drückte mir das glühende Metall auf die
Haut. Die Pein trieb mir Tränen in die Augen. Damit mir nur ja kein
Laut entkam, biss ich mir auf die Lippe, bis ich warmes Blut
schmeckte. Den Triumph mich vor Schmerz schreien und winseln zu
hören, wollte ich ihnen nicht auch noch gönnen. Sie konnten mich
demütigen, aber wenn sie dachten sie hätten mich besiegt, dann
irrten sie.
Ich schwieg beharrlich, als der feine Herr mich am Arm zur Seite
zog, um das frische blutende Brandzeichen in meiner Haut der
neugierigen Menge zu präsentieren. Jetzt konnte ich es auch selbst
erkennen, es stellte eine bourbonische Lilie dar. Es war ein Fluch,
der für den Rest meines Lebens an mir haften und mich daran
erinnern würde, welcher Platz mir in dieser Gesellschaft zugedacht
war.
Kapitel Kapitel 8
Kapitel 8
Erneut saß ich in der beengenden Gefängniszelle fest. Meine Lippen
waren blutverkrustet und ganz ausgetrocknet, ich hatte solchen
Durst. An das Schmerzen meines Magens vor Hunger hatte ich
mittlerweile gewöhnt. Als ich schon fürchtete, verrückt zu werden,
näherten sich am Gang erneut Schritte. Diesmal musste es Paul sein,
dachte ich bei mir, doch ich lag falsch. Der Mann, der mir die
Lilie eingebrannt hatte, schloss die Tür auf. In seiner Begleitung
fand sich der feine rot gekleidete Herr.
„Nun, viel Glück, Eminenz. Aber glaubt mir, mit dieser kleinen
dummen Dirne verschwendet Ihr Eure Zeit.“
„Dass lasst nur meine Sorge sein. Und jetzt seid so freundlich,
lasst mich mit dem Mädchen allein. Bestimmt erfordern andere Dinge
Eure Aufmerksamkeit.“
Der kleinere Mann nickte und entfernte sich eilig. Hinter ihm
schwang die Tür leise knarrend zu. Ich starrte stur auf den
strohbedeckten Boden, dieser offenbar sehr angesehene Herr war mir
von Grund auf zuwider. Mein Gespür sagte mir, dass er durchtrieben
war.
„Schade, offenbar willst du nicht mit mir sprechen“, begann er
schließlich. „Ich ging davon aus, dass du keinen großen Wert darauf
legst, noch länger hier zu verweilen. Sollte ich einem Irrtum
aufgesessen sein?“
Jetzt sah ich doch auf. Um diesen Ort zu verlassen, war ich bereit
einiges in Kauf zu nehmen. „Ihr habt Euch nicht getäuscht...
Eminenz“, sagte ich leise. „Was verlangt Ihr von mir für die
Freiheit?“
Er ging dicht vor mir in die Hocke, fasste nach meinem Kinn, und
hob meinen Kopf an, sodass ich ihm in die Augen sehen musste. „Du
bist ausgesprochen hübsch, und in deinem Blick erkenne ich einen
starken Geist. In meinen Diensten könnte ich dich gut gebrauchen.
In meiner Position ist man darauf angewiesen immer gut informiert
zu sein, weißt du. Und du könntest für mich solche wertvollen
Informationen in Erfahrung bringen. Im Gegenzug erhältst du die
Freiheit, und wenn du deine Sache immer gut machst, werde ich mich
erkenntlich zeigen.“
„Und wie soll ich das tun?“ fragte ich schlicht. Irgendetwas
stimmte nicht, das Angebot klang viel zu gut.
„Glaub mir, alles was du dafür brauchst, hast du an dir. Wenn du es
richtig einsetzt, bekommst du alles was du willst. Kein Mann kann
einem solch unschuldigen hübschen jungen Ding widerstehen, wenn es
sich ihm anbietet.“
Das war also der Haken. Ich sollte mir mit Hilfe meiner weiblichen
Reize Männer gefügig machen, damit ich an bestimmte Informationen
gelangen konnte. Es hatte den Anschein, dass dies wirklich meine
einzige Möglichkeit war, wollte ich wieder frei sein.
„Ich habe noch Geschäfte in der Umgebung zu erledigen, in zwei
Tagen werde ich erneut hier sein. Bis dahin überlege dir, ob du
mich nach Paris begleiten möchtest, oder lieber in dieser Zelle
verbleibst.“ Er lächelte mich von oben herab an. „Ich empfehle
mich.“
Als er endlich gegangen war, verfiel ich in angestrengte
Überlegungen. Sollte ich dieses Angebot annehmen? Was erwartete er
von mir? Ich konnte mir nicht vorstellen einem Mann jemals wieder
körperlich nahe zu kommen. Vielleicht schaffte ich es ja
wegzulaufen, wenn er mich erst einmal aus dem Gefängnis geholt
hatte. Doch diesen Gedanken verwarf ich bald wieder. Das würde er
gewiss nicht zulassen. Entschied ich mich für seinen Weg, musste
ich ihn auch bis zum Ende gehen. Eine Zeit lang rang ich mit mir,
und schließlich siegte der drängende Wunsch diesen beengenden Ort
zu verlassen. Eine andere Wahl hatte ich nicht.
Doch dann erschien unerwartet Pauls Gesicht auf der anderen
Seite des vergitterten Fensters, und im nächsten Moment wurde mit
einem metallischen Klicken das Schloss entriegelt. Ich hatte ihn
gar nicht kommen gehört.
„Schnell“, flüsterte der junge Bursche. „Ich bringe dich hier raus.
Kein Wort mehr jetzt.“ Er legte mir den Finger auf die Lippen, ehe
ich antworten konnte.
Den Weg durch den spärlich beleuchteten Gang und die unregelmäßigen
Stufen hinauf legten wir schweigend zurück. Draußen war es dunkel,
der Mond schien. Erst als wir ein paar Hausecken hinter uns
gelassen hatten, blieb Paul stehen.
„Wohin willst du denn nun?“
„Nach Lille“, antwortete ich, während ich mich misstrauisch umsah.
Ich traute dem Frieden nicht ganz.
Er griff bemerkenswert vorsichtig nach meiner Hand. Wortlos folgte
ich ihm, bis wir das Dorf hinter uns ließen und am Rand einer
breiten Straße standen.
„Du musst dich immer diese Richtung einhalten. Wenn du dich
beeilst, kannst du in vielleicht zwei Stunden da sein.“
Verwundert legte ich den Kopf schief. „Warum hilfst du mir? Du
kennst mich doch gar nicht.“ In seinen Augen konnte ich die Antwort
lesen. Es war der gleiche Ausdruck wie Etiennes, als er von seiner
Angebeteten sprach. Der Bursche hatte sich in mich verliebt, und
das obwohl ich bestimmt keinen sehr schönen Anblick bot.
„Danke.“ Ich gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
„Warte! Ich kenne doch nicht einmal deinen Namen…“
Vielleicht war das auch besser so. Nach ein paar Metern warf ich
einen Blick über die Schulter zurück, sah im Mondlicht seine
Silhouette. Und dann wurde das Dorf von der nächtlichen Finsternis
verschluckt. Ich ging langsam, um mich nicht zu verirren, oder über
ein verborgenes Hindernis zu stolpern. Bald erreichte ich einen
Bach, an dem ich endlich meinen Durst ausgiebig stillen konnte.
Beim ersten Tageslicht setzte ich meinen Weg nach Lille fort.
Mein Magen war immer noch leer. Zwar fand ich Brombeersträucher und
wilde Apfelbäume, doch zu dieser Jahreszeit trugen sie keine
Früchte.
Die Stadt war so groß und aufregend, wie sie mir vorgestellt hatte,
doch ebenso war sie bedrohlich. Überall waren so viele Menschen,
und wann immer ich einen Mann sah, der auch nur entfernte
Ähnlichkeit mit dem Priester besaß, bekam ich es mit der Angst zu
tun, ohne dass ich es verhindern konnte. Vielleicht wäre die Stadt
schön gewesen, hätte ich die Mittel gehabt, sie zu genießen. Ich
lebte von einem Tag zum nächsten, und von dem was ich stahl, oder
mir durch ehrliche Arbeit verdiente.
Wann immer ich eines dieser leicht bekleideten Mädchen am
Straßenrand auf einen Freier warten sah, wurde mir klamm ums Herz.
So mochte ich auf keinen Fall enden. Und doch stand ich kurz davor,
auch wenn ich es nicht wahr haben wollte. Den ganzen Sommer blieb
ich in Lille. Als ich sechzehn wurde, saß ich allein in einem
verlassenen Hinterhof, und dachte darüber nach, wie mein Leben wohl
verlaufen wäre, hätte ich mich in die Ehe mit Raymond gefügt.
Geregelt, mehr oder weniger sorglos, aber bestimmt nicht glücklich.
Hunger zog ich Schlägen immer noch vor. Was ich alles nicht hatte,
spielte keine Rolle, denn zumindest war ich frei.
Mit der Zeit wurde mir der städtische Wirbel doch zu viel, ich
begann mich hauptsächlich in ruhigeren Randgegenden aufzuhalten.
Eines Tages stieß ich auf einen bunten Markt, auf dem es von den
verschiedensten Nahrungsmitteln bis zu edlen Stoffen und Kleidern
alles gab, was das Herz begehrte. Sehnsüchtig fiel mein Blick auf
einen Stand voller köstlich duftender Bäckereien. Was hätte ich
nicht für ein einfaches Croissant gegeben.
„Verschwinde! Du verscheuchst mir noch die Kundschaft“, herrschte
mich der untersetzte Mann auf der anderen Seite des Standes
an.
Da ich ja nicht einmal genug Geld für ein Stück Brot in der Tasche
hatte, wandte ich mich von den Leckereien ab, und ging neugierig
weiter. Anderswo erregte ein hübsches Kleid, schlicht aus
zartgrünem Stoff, meine Aufmerksamkeit. Ich konnte nicht anders,
als vorsichtig mit der flachen Hand darüber zu streichen.
„Gefällt es dir?“ Diese Stimme war sanft, sie gehörte einer kleinen
alten Frau mit glänzend silberfarbenem Haar und meerblauen Augen,
die mich freundlich anlächelte.
Ich nickte heftig. „Es ist wunderschön.“
„Und es würde hervorragend zur Farbe deines Haars passen.“
„Wirklich?“ Mit großen Augen sah ich das Kleid an. „Ach, ich kann
es mir ja doch nicht leisten.“
Die Alte hob ein wenig die Augenbraue. „Wie es der Zufall will,
könnte ich jemanden gebrauchen, der mir beim Aufräumen zur Hand
geht. Die müden Knochen wollen nicht mehr so wie früher, ein Jammer
ist das.“
Natürlich half ich ihr, zu zweit ging es schnell und es machte
Spaß, weil wir ins Reden kamen. Ihr Name war Mélisse, sie schien
ein herzensguter Mensch zu sein, wie sie leider selten waren.
Mit ein paar Münzen in der Tasche kehrte ich später zum
Bäckerstand zurück. Erneut hatten es mir die Croissants
angetan.
„So gut sind die gar nicht.“ Unbemerkt war Mélisse an mich heran
getreten. „François ist ein alter Griesgram, und so schmeckt auch
sein Gebäck.“
„Euch auch einen schönen Tag, Madame“, grummelte der beleibte
Mann.
Ich musste mir ein Lachen schwer verkneifen. So wie er die Anrede
betonte, war ich sicher, dass derartige Bemerkungen zwischen den
beiden öfter ausgetauscht wurden.
Die alte Frau wandte sich wieder mir zu. „Es wird Zeit für mich
aufzubrechen, ich habe einen sehr lange Weg vor mir. Und du musst
sicher auch heim...“
„Nicht wirklich... ich habe kein zu Hause.“
„Oh, armes Ding. Hast du denn keine Familie?“
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf. Mama und meine Brüder
fehlten mir noch immer, ich hätte gerne gewusst wie es ihnen ging,
aber inzwischen hatte ich akzeptiert, dass sie nicht mehr Teil
meines Lebens waren.
„Ich auch nicht mehr, seit mein Mann vor zwei Jahren gestorben
ist.“ Mélisse legte verständnisvoll die Hand auf meine
Schulter.
Wahrscheinlich tat ich ihr einfach nur leid, vielleicht mochte sie
mich auch irgendwie leiden. Sie bot mir an sie zu begleiten. Neben
ihr auf dem Kutschbock des Einspänners kehrte ich der Stadt endlich
den Rücken.
Kapitel Kapitel 9
Kapitel 9
Die Fahrt mit dem Wagen dauerte lange, bestimmt mehr als drei
Stunden. Wir sprachen viel miteinander, es schien mir als würde ich
Mélisse schon Jahre lang kennen, ich fühlte mich wohl bei ihr.
Hätte ich jemals eine Großmutter gehabt, dann bestimmt eine wie
sie. Als es schließlich zu dämmern begann, waren wir offenbar immer
noch nicht annähernd am Ziel. Bald darauf lächelte die liebe alte
Frau jedoch breit.
„Wir sind jetzt im Übrigen in der Champagne und haben die Grenze
zur Grafschaft de la Fére passiert. Hier lebe ich seit meiner
Geburt. Sieh dich nur gut um, es ist noch nicht zu dunkel.“
Ich wusste nichts zu erwidern, so ließ ich schlicht meinen Blick
über die Umgebung schweifen. Welche Bedeutung der Name de la Fére
für mich haben sollte, ahnte ich nicht einmal im Traum. Wir kamen
durch Wälder und fuhren Feldwege entlang. Als die Nacht herein
brach, wurde mir unwohl. In der Finsternis glaube ich manchmal
Schatten zu sehen, die Monsieur Dominic oder Seiner Eminenz
glichen.
„Mach dir keine Sorgen. Wir sind bald da. Meine treue Fleurette
kennt den Weg“, beruhigte mich Mélisse. Tatsächlich schien die
kleine robuste Stute genau zu wissen, wohin sie gehen musste. Nach
nicht allzu langer Zeit rollte der Wagen durch ein kleines Dorf,
und hielt schließlich vor einem etwas abseits gelegenen Häuschen.
Gemeinsam stellten wir den Wagen weg und versorgten die gute
Fleurette.
Danach aßen wir eine Kleinigkeit – nur Kaltes, das so gut schmeckte
wie das beste Dîner, das ich von zu Hause kannte, und legten uns
schlafen. Es war spät geworden. Mélisse richtete für mich das
Gästezimmer her. Offenbar war es lange nicht mehr benutzt worden.
Jedenfalls war es der schönste Raum, den ich mir hätte vorstellen
können.
Es war reichlich ungewohnt wieder in einem warmen Bett zu
schlafen, und am nächsten Morgen wusste ich nicht wo ich mich
befand. Erst Mélisses Stimme, die mich zum Frühstück rief, holte
mich in die Realität zurück. Ich zog eilends mein schäbiges Kleid
an und lief in die Küche. Wie das ganze übrige Haus war sie klein
und ein wenig herunter gekommen, aber sehr gemütlich.
„Ah da bist du ja, meine Liebe. Hast du gut geschlafen?“
Ich nickte. „Ja, Madame. Wunderbar. Ich bin Euch so dankbar für
Eure Gastfreundschaft.“
„Das ist gerne geschehen. Komm, nimm dir ein Croissant. Die sind
viel besser als François’ Gebäck.“ Sie zwinkerte mir zu. Dankbar
nahm ich eins aus dem Körbchen, es schmeckte wirklich
herrlich.
„Ich weiß nicht wie ich Euch danken soll…“ begann ich wieder.
Sie unterbrach mich. „Indem du dir jetzt anhörst, was ich dir sagen
möchte.“ Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Du merkst ja wie
es hier überall aussieht. Ich werde alt, die müden Knochen streiken
immer öfter. Deshalb könnte ich gut jemanden gebrauchen, der mir im
Haus zur Hand geht und für mich auf die nahen Märkte fährt, um zu
verkaufen was ich nähe. Vielleicht kennst du ja jemanden, der das
gerne machen würde. Gegen Kost, Unterkunft und jeden Monat etwas
Geld, selbstverständlich. Gute Arbeit will ich großzügig
belohnen.“
Meine Augen begannen zu leuchten. „Das würde ich sehr gerne für
Euch machen, Madame!“
Sie lachte. „Na gut, aber nur unter der Bedingung, dass du mich
Mélisse nennst.“ Sie legte mir vertraulich die Hand auf den Arm.
„Weißt du wie schön es ist, wieder Leben im Haus zu haben? Meine
Töchter sind schon so lange weg, ich weiß nicht mehr wie das ist.
Seit Oscar, mein Mann, nicht mehr lebt, ist es völlig still
geworden.“
An diesem Tag erfuhr ich noch einiges über ihre Familie. Ihre
beiden Töchter Virginie und Jeanne waren beide verheiratet und
lebten so weit weg, dass Mélisse sie inzwischen nicht mehr besuchen
konnte. Söhne hatte sie nie gehabt, doch ihr Oscar war ihr deshalb
nicht böse gewesen. Sie beschrieb ihn als liebevollen Ehemann, der
sie mit Respekt behandelt hatte, und auf seine Töchter immer voller
Stolz gewesen war. Oh, ich wünschte Papa hätte auch einmal so für
mich empfunden. Nur ein einziges Mal.
Meinerseits erzählte ich ihr von meiner Kindheit, der Verlobung mit
Raymond d’Arlais, und meiner Flucht von Zuhause, weil ich nicht in
der Ehe mit einem solchen Mann enden wollte. Viel mehr träumte ich
von einem, der respektvoll mit mir umging, und meine Fähigkeiten
schätzte. Was Monsieur Dominic mir angetan hatte, verschwieg ich,
doch sie wusste auch so, dass mir etwas Schlimmes widerfahren war,
über das ich nicht sprechen wollte. Sie akzeptierte es. Auch über
die in meine Schulter eingebrannte Lilie verlor ich kein Wort, denn
ich hatte Angst, sie würde dann auch nur das in mir sehen, was
diese Männer aus mir gemacht hatten.
Mein Leben wurde jetzt geregelter, ein Umstand, den ich sehr
genoss. Dank Mélisses guter Küche bekam ich wieder etwas Speck auf
die Rippen, meine Figur wurde richtig weiblich, viel mehr als
zuvor, und wann immer ich im Dorf unterwegs war, sahen mir manche
Männer hinterher. Ich ließ mich von diesen Blicken für gewöhnlich
nicht beirren, sondern wusste sie zu ignorieren. Die Arbeiten, die
mir meine Gönnerin jeden Tag auftrug, waren vielfältig und oft
anstrengend, doch ich tat sie gern. Die alte Frau brachte mir das
Kochen bei, jedoch beim Nähen verzweifelte sie. Zumindest schaffte
ich es, Risse zu verschließen und Knöpfe zu befestigen, das genügte
ja auch, fand ich.
Auf die Märkte zu fahren, machte mir besonders großen Spaß. Mit
Fleurette kam ich gut zurecht, so lange ich nicht selbst reiten
musste, mochte ich Pferde. Von Mélisses Kunden wurde ich zunächst
sehr argwöhnisch betrachtet, doch auch das gab sich bald, da die
hohe Qualität der Waren natürlich unverändert blieb.
Weil es auf den Winter zuging, bekam die alte Schneiderin eines
Tages den Auftrag einen Mantel zu nähen. Bestimmt war das gute
Stück für niemand geringeren als den jungen Grafen de la Fére, den
sie als wahren Edelmann beschrieb. Erst vor Kurzem hatte sein Vater
Henri de la Fére seinen Titel an den ältesten seiner Söhne weiter
gereicht.
Das Kleidungsstück wurde perfekt, wie alle Arbeiten Mélisses. Es
war schlicht, und doch vornehm. Ich stellte mir vor, wie der Mann
aussah, der es tragen würde, denn noch kannte ich den jungen Grafen
nicht.
Er kam früh morgens, um den Mantel abzuholen. Der Himmel war grau,
kühle Herbstluft umfing mich, als ich gut gelaunt vom Stall zurück
zum Haus lief, nachdem ich die zottige Stute versorgt hatte. Wie
vom Donner gerührt blieb ich in der Tür zur Stube stehen. Ein
junger Mann drehte sich unter Mélisses kritischem Blick in dem
schönen Mantel.
„Ah, da bist du ja.“ Die alte Frau lächelte mich an, ehe sie
sich wieder ihrem Kunden zuwandte. „Dies ist nun meine brave Anne.“
Ihr Blick wechselte erneut zu mir. „Und dies ist Olivier, Graf de
la Fére.“
Man sah ihm an, dass er Rang und Namen besaß. Seine durch und durch
edlen Gesichtszüge wurden von dunklem Haar umrahmt, das ihm über
die Schultern fiel. Die schönsten braunen Augen, die ich je gesehen
hatte, musterten mich neugierig.
„Ich bin sehr erfreut Eure Bekanntschaft zu machen“, sagte ich
scheu, und knickste, so wie man es mich in meiner Kindheit gelehrt
hatte.
Er reichte mir amüsiert lächelnd die Hand. „Die Freude ist ganz auf
meiner Seite. Madame Mélisse hat schon viel von Euch erzählt. Ich
bin sehr froh, dass sie jetzt eine so tüchtige Hilfe hat.“
Solche Worte trieben mir Röte auf die Wangen. Alles was ich tat,
war meine Aufgaben möglichst zur Zufriedenheit meiner Gönnerin zu
erledigen, damit zeigte ich ihr meine Dankbarkeit für die Chance,
die sie mir gegeben hatte.
„Ihr seid nicht aus dieser Gegend, oder?“ fuhr er fort.
Er sprach mich respektvoll an, das war ich gar nicht gewöhnt. Ich
schüttelte den Kopf. „Das ist wahr. Ich habe Mélisse in Lille
getroffen, und wie es der Zufall wollte, hat sie jemanden gesucht,
der ihr zur Hand geht. So kam ich mit ihr hierher.“
Ohne das gute Herz der alten Frau, wäre ich jetzt immer noch
hungrig und allein irgendwo in den Straßen der Stadt. Wenn ich denn
überhaupt noch lebte.
„Dann war es wohl Glück für sie und für Euch.“ Er zog den Mantel
wieder aus, und griff nach seinem Geldbeutel, um das Kleidungsstück
nun zu bezahlen. „Es wird bestimmt noch den ein oder anderen
schönen Tag geben, ehe der Winter herein bricht. Wenn Ihr mögt,
könnte ich Euch die Gegend zeigen. Die Grafschaft verfügt über
einige landschaftliche Besonderheiten, die man gesehen haben
sollte.“
Zunächst zögerte ich. Das letzte Mal, als ich einem fremden Mann
ohne weiteres vertraut hatte, hatte mir das Zeichen an meiner
Schulter eingebracht. Doch er junge Graf schien ein guter Bekannter
Mélisses zu sein, also nickte ich schließlich. „Das wäre sehr
schön, wenn Ihr denn die Zeit erübrigen könnt.“
Er schmunzelte. „Ja, ich hoffe doch sehr, dass ich das kann. Es
muss doch zu etwas gut sein, wenn man ein Graf ist, meine
ich.“
Dieser Kommentar brachte mich zum Lachen. Olivier de la Fére schien
wirklich sehr nett zu sein. Wir verabredeten für den nächsten
Sonntag eine Ausfahrt mit der Kutsche. Wie gut, dass er keinen
Ausritt vorgeschlagen hatte. Es wäre mir peinlich gewesen, zugeben
zu müssen, dass ich nicht reiten konnte. Bestimmt hätte er sich
köstlich darüber amüsiert.
Kapitel Kapitel 10
Kapitel 10
Am Samstag fuhr ich wie gewöhnlich zum Wochenmarkt, um Mélisses
Ware dort anzubieten. Es war ein sehr sonniger Herbsttag, ich
hoffte, dass das Wetter vorhalten würde. Obwohl es noch recht warm
war, kündigte sich der Winter langsam an. Die Blätter hatten sich
bereits bunt verfärbt, eins nach dem anderen riss der Wind von den
Bäumen. Es wurde sehr früh dunkel, in der Dämmerung machte ich mich
auf den Heimweg, in der Tasche die Einnahmen, mit denen die alte
Schneiderin durchaus zufrieden sein konnte.
In Gedanken weilte ich schon bei dem Ausflug mit dem jungen Grafen,
auf den ich mich die ganze Woche gefreut hatte. Von meiner Umgebung
bekam deshalb ich nicht mehr viel mit, und bemerkte erst als
Fleurette die Ohren zurück legte, dass etwas ganz und gar nicht
stimmte. Die Stute wieherte plötzlich schrill. Im selben Moment
brachen drei Reiter aus dem Gebüsch, umkreisten meinen Wagen.
Erschrocken erkannte ich, dass sie sich bis zur Unkenntlichkeit
vermummt hatten.
„Was wollt Ihr? Lasst mich zufrieden.“ Ängstlich blickte in von
einem zum anderen. Eine dumme Frage, natürlich waren sie auf das
Geld aus, sie mussten wissen, dass ich ein lohnendes Geschäft
bot.
Einer der Reiter versuchte plötzlich nach Fleurettes Zügeln zu
greifen, doch die Stute stürmte davon, als sie die Bewegung neben
sich bemerkte. So schnell hätte ich niemals zu reagieren vermocht.
Zitternd hielt mich auf dem heftig schaukelnden Wagen fest. Die
Männer jagten hinterher.
„Lauf, Fleurette, lauf!“ trieb ich die Stute an. Sie kannte den
Heimweg, ich verließ mich auf sie. Aber die Räuber hatten
gefährlich aufgeholt, auf der Straße gab es kein Entrinnen. Ich
ließ das Pferd jäh nach links wenden, das konnten die Männer nicht
voraus sehen. Ehe sie begriffen was ich vor hatte, holperte der
Wagen bereits die Böschung am Wegrand hinunter. Das weiche Gras
schluckte jedes Geräusch, aber es bremste auch die Fahrt.
„Sucht das närrische Ding!“ hörte ich einen der Banditen rufen.
Ich hatte erwartet, dass sie nicht so bald aufgaben. So schnell ich
konnte, band ich die Stute los, um sie laufen zu lassen. Fleurette
wusste auf sich selbst aufzupassen. Sie galoppierte Richtung des
Flusses davon. Die vermummten Männer fielen prompt darauf
herein.
So kam ich zwei Stunden später, aber heil mit Pferd und Wagen vor
Mélisses Haus an. Die alte Frau war schon ganz aufgebracht vor
Sorge. Sie schlug sich die Hände vors Gesicht, als ich ihr
berichtete, dass ich fast Wegelagerern zum Opfer gefallen
wäre.
„Gott sei Dank, bist du ihnen entkommen!“ Erleichtert drückte sie
mich an sich. „Das waren bestimmt die Vasseur-Brüder, mit denen ist
nicht zu spaßen! Der Graf hat eine hohe Belohnung auf ihre Köpfe
ausgesetzt.“
Lächelnd reichte ich meiner Gönnerin den Geldbeutel. Nachdem
Fleurette versorg war, tranken wir beide in der Küche noch eine
Tasse Tee, um die Nerven zu beruhigen. Es war fast elf, als ich
schließlich todmüde ins Bett fiel.
Am nächsten Morgen bemerkte ich, dass die zottige Stute das
Abenteuer nicht ganz so gut überstanden hatte. Ihr rechter
Vorderlauf war ganz heiß und geschwollen. Während ich das Bein
versorgte, kam Mélisse in den Stall, um zu sehen, wo ich
blieb.
„Aber Anne, solltest du dich nicht langsam zurecht machen? Oder
willst du so zu deiner Verabredung mit dem jungen Grafen gehen?“
fragte sie mich belustigt. „Ohne Frühstück verlässt du mir
jedenfalls nicht das Haus.“
Ich drehte mich um, als sie mich ansprach. „Nein, Madame, natürlich
nicht. Fleurette lahmt, sie wird in der Dunkelheit gestern Nacht
gestolpert sein.“
Die alte Frau trat neben mich. „Das ist schlecht. Aber du gehst
jetzt trotzdem ins Haus, Essen ist in der Küche. Ich werde mich um
die Stute kümmern.“
„Zu Befehl, Madame“, lachte ich. Sie würde ja doch keinen
Widerspruch dulden, also tat ich was sie wollte. Hastig schlang ich
das Croissant hinunter, das sie mir hingestellt hatte, und zog mich
danach um. Mélisse hatte mir als Lohn für meine Arbeit das hübsche
Kleid geschenkt, für das ich auf dem Markt in Lille voller
Bewunderung gewesen war.
Als ich noch versuchte meine rote Mähne zu bändigen, hörte ich
draußen bereits die alte Frau mit Olivier de la Fére sprechen. Ihn
warten zu lassen, würde einen denkbar schlechten Eindruck machen,
so ließ ich mein Haar wie es war, und eilte hinaus. Dummerweise
stolperte ich über die Türschwelle, sodass ich eher hüpfend und
fluchend erschien, als würdevoll, wie es sich für eine Dame
gehörte.
Der junge Graf lachte amüsiert auf. „Immer mit der Ruhe, wir haben
noch den ganzen Tag Zeit.“ Er bot mir die Hand an, um mir in den
Einspänner zu helfen, vor dem ein großer Schimmel stand. Ich
murmelte verlegen einen Gruß, mein uneleganter Auftritt war mir
äußerst unangenehm.
„Wartet noch einen Moment, meine Lieben“, bat Mélisse, als Olivier
den Wagen gerade in Bewegung setzen wollte. Sie eilte ins Haus, um
kurz darauf mit dem Butterkuchen zurück zu kehren, den sie diesen
Morgen gebacken hatte. „Und nun ab mit euch, viel Spaß.“
„Ich empfehle mich, Madame.“ Olivier bedachte sie mit einem
freundlichen Lächeln, und trieb dann den Schimmel in einen
gemütlichen Trab. Nach einer Weile, in der ich betreten geschwiegen
hatte, schaute er mich neugierig an. „Wollt Ihr heute noch das ein
oder andere Wort mit mir wechseln?“
„Entschuldigung, Monsieur, ich… das…“
„Kein Grund so rot zu werden, ich beiße nicht, das schwöre ich.
Überhaupt gelte ich als sehr umgänglich.“
Jetzt konnte ich mir das Lachen nicht verkneifen. Aber ich wusste
immer noch nicht, worüber ich mit ihm reden sollte.
„Erzählt mir doch ein wenig über Euch“, fuhr er fort, als ob er
meine Gedanken erahnte. „Woher kommt Ihr? Was ist mit Eurer
Familie?“
Das waren genau die Fragen, vor denen ich mich gefürchtet hatte.
Zögernd erzählte ich ihm das Nötigste. Dass mein Vater mich nicht
liebte, mich an einen Mann zu verheiraten gedacht hatte, den ich
hasste, und ich vor dieser Ehe geflohen war.
„Ich bewundere Euren Mut“, meinte er nachdenklich, nachdem ich
mit meinen Worten am Ende angelangt war. „Dieser Mann, auf den die
Wahl Eures Vaters gefallen ist, hätte Euch nicht verdient
gehabt…“
Erstaunt sah ich ihn von der Seite her an. „Denkt Ihr?“
Der Graf nickte leicht. „So, wie Ihr ihn beschreibt, wäre er mit
einer Dienstmagd, der er befehlen kann, besser beraten
gewesen.“
Wenn ich an Raymond zurück dachte, hatte Olivier mit seiner
Vermutung recht. Doch das war meine Vergangenheit und
bedeutungslos. Bestimmt hatte der junge d’Arlais bereits eine
andere Frau gefunden, eine die Erfüllung darin fand, ihm für den
Rest ihrer Tage zu dienen.
„Und was ist mit Euch? Jetzt seid Ihr an der Reihe mir etwas zu
erzählen.“ Auffordernd musterte ich ihn.
Er zuckte leicht mit den Schultern, ohne die Augen von der Straße
abzuwenden. „Mein Werdegang ist nicht besonders interessant. Ich
bin zusammen mit einem jüngeren Bruder aufgewachsen, der mir nun
meinen Titel ein wenig neidet. Das kann ich Silvain auch gar nicht
verübeln, ich wünschte nur wir würden uns etwas besser
verstehen.“
Wir setzten das Gespräch an dieser Stelle nicht mehr fort, da
Olivier das Pferd durchparierte. Erst jetzt bemerkte ich, dass wir
uns auf einem Hügel befanden, von dem aus man das ganze Dorf
überblicken konnte. Man konnte von hier aus auch den Familiensitz
der de la Féres sehen, ein prächtiges Gebäude.
Nachdem wir uns an dem Ausblick satt gesehen hatten, ging es
weiter. Der junge Graf zeigte mir sogar das Loch in der alten
Eiche, das oft dazu verwendet wurde, Nachrichten zu hinterlassen.
Meistens von Kindern beim Spielen, aber manchmal auch von jungen
Liebespaaren. Das fand ich so romantisch.
Als es schon Nachmittag wurde, suchten wir uns eine schöne Stelle
auf einer kleinen Wiese, um dort zu rasten und etwas zu essen.
Olivier hatte köstliche Dinge mitgebracht, sogar eine Flasche
fruchtigen Cidre. Am besten war jedoch Mélisses Butterkuchen zum
Nachtisch.
„Eines habe ich Euch noch zu zeigen“, kündigte der junge Graf an,
als wir unseren Weg fortsetzen. Bald kamen wir zum Fluss, wo wir an
einer bestimmten Stelle zu Fuß weiter gingen. Die Uferböschung fiel
steil ab, einmal verlor ich den Halt, und konnte mich nur vor einem
Sturz bewahren, indem ich mich an einem dünnen Baumstamm
festklammerte. Vom Weg aus konnte man nicht bis zum Wasser sehen,
das hatte mich auch zunächst zögern lassen, doch mittlerweile hatte
ich genug Vertrauen zu Olivier gefasst. Er war so ganz anders als
alle Männer, denen ich bisher begegnet war. Abgesehen von meinem
Freund Michel vielleicht.
Als wir das Ufer erreichten, blieb ich wie angewurzelt stehen.
Vor uns bildete der Fluss ein großes Becken, das an den Seiten von
Felsen umschlossen wurde, sodass man es erst sehen konnte, wenn man
davor stand.
Olivier lächelte. „Habe ich zu viel versprochen? Jetzt ist es
natürlich zu kalt, aber im Sommer ist die Stelle herrlich zum
Schwimmen. Als Junge war das immer mein Geheimversteck, ich habe
viel Zeit hier verbracht.“
„Es ist wunderschön“, sagte ich leise. Mein Zufluchtsort der
Kindheit war ein ausgehöhlter Baum in unserem Garten gewesen,
zumindest bis ich mit neun oder zehn Jahren nicht mehr hinein
gepasst hatte.
Wir blieben noch eine Weile am Ufer sitzen, beobachteten die Fische
im Wasser. Einmal verirrte sich auch ein Buchfink in unsere Nähe.
Es war herrlich hier draußen, nur mit Olivier. Zu gerne hätte ich
den Kopf an seine Schulter gelehnt, doch das traute ich mich
nicht.
Am späten Nachmittag brachte er mich schließlich zurück, half
mir vor dem Haus vom Wagen. Ich bedauerte es insgeheim, dass der
Ausflug schon zu Ende war.
Der junge Graf sah mich an. „Das war ein schöner Tag. Sollten wir
wiederholen, finde ich. Das heißt, wenn Ihr mich noch zu sehen
wünscht.“
„Aber Monsieur...“ Ich wusste gar nicht was ich sagen sollte, seine
Frage erschien mir reichlich seltsam. „Natürlich möchte ich Euch
wieder sehen, sehr gerne sogar...“
Er lächelte breit. „Das freut mich zu hören. Nun muss ich mich
langsam auf den Weg machen. Mein Vater gibt heute Abend ein kleines
Bankett, und ich habe Anwesenheitspflicht.“
Sein Augenrollen verriet, dass er sich lieber in einem
Schweinestall aufhalten würde, als zu diesem Essen zu erscheinen.
Zum Abschied küsste er meine Hand. Solche Gesten hatte ich noch nie
besonders gemocht, doch die hauchfeine Berührung seiner Lippen
versetzte mir einen nicht unangenehmen Schauer.
Kapitel Kapitel 11
Kapitel 11
Der Winter näherte sich mit großen Schritten, es wurde sehr kalt,
doch ließ der erste Schnee, dem ich schon ungeduldig entgegen sah,
noch auf sich warten. Ein paar letzte sonnige Tage verbrachten
Olivier und ich mit dem Durchstreifen der Landschaft, auch
abgelegene Winkel ließen wir nicht aus, die schwierigsten Wege
verlockten uns. Einmal schafften wir es sogar uns in den Wäldern zu
verlaufen.
„Wo war nun der Weg, Monsieur
Ich-kenne-die-Grafschaft-wie-meine-Westentasche?“ feixte ich, als
sich die Müdigkeit vom langen Wandern bemerkbar zu machen
begann.
Olivier kratzte sich etwas verlegen am Kopf. „Wir sind ganz dicht
dran, hinter den Bäumen da vorne müsste er sein.“
Ich rollte mit den Augen. „Das hast du die letzten drei Mal auch
schon gesagt.“ Nie würde er zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wo
sie sich befanden. Männer!
„Jetzt bin ich aber ganz sicher! Hörst du das Wasserrauschen nicht?
Wir müssen nur noch dem Fluss folgen.“ Er grinste
triumphierend.
Am Ende blieb mir nichts übrig, als zuzugeben, dass er recht gehabt
hatte. Meine Beine waren rot von den Brennnesseln und den scharfen
Zweigen, aber das machte mir nichts aus, später würde ich darüber
lachen.
Als die Tage schon wieder länger wurden, erkrankte Mélisse an
Fieber. Ich pflegte sie so gut ich es vermochte. Die Kräutertees
und Wadenwickel zeigten schließlich auch Erfolg, es ging ihr nach
ein paar Wochen wieder besser. Doch mit großer Sorge sah ich, dass
sie einfach nicht ganz gesund wurde. Sie blieb blass und müde, zum
ersten Mal wirkte sie auf mich alt.
Im Frühling war es ein ganzes Jahr, seit ich von Zuhause
fortgelaufen war. Papa und auch Monsieur Dominic verfolgten mich
immer noch nachts in meinen Träumen. Manchmal, wenn ich schweißnass
zitternd aufwachte, saß Mélisse bei mir im Zimmer und hielt meine
Hand. Sie tröstete mich, gab mir das Gefühl ihr alles sagen zu
können, wenn ich es wollte. Wie gerne hätte ich das auch getan, ich
vertraute ihr, doch fürchtete ich, sie würde ebenfalls glauben, was
das Brandmal erzählte.
Eines Morgens, als ich gerade draußen vor dem Stall die brave
Fleurette striegelte, kam unangekündigt Olivier auf seinem
Winterrappen über die Wiese heran geritten. Er sah so gut aus, so
stolz.
„Bon matin, Anne“, grüßte er mich gut gelaunt, als er das Pferd zum
Stehen brachte und sich elegant abschwang. „Störe ich dich? Hast du
viel zu tun?“
Ich lächelte ihn an. „Du doch nie. Aber sag, was führt dich so früh
hierher? Bist du aus dem Bett gefallen?“
Der junge Mann schüttelte leicht den Kopf. „Nein, das nicht. Meine
Familie gibt jedes Jahr ein Frühlingsfest, in zwei Wochen ist es
wieder so weit, und da wollte ich das liebste und hübscheste
Mädchen der ganzen Gegend fragen, ob es mir die Ehre erweist, mich
zu begleiten.
Überrascht sah ich ihn an, mein Blick schien ihn zu amüsieren. Ich
spürte warme Röte meine Wangen durchziehen. Mit diesen Worten
konnte er eigentlich nicht mich gemeint haben, doch außer uns
beiden und den Pferden war ja niemand hier.
„Sehr gerne, ich würde mich freuen. Aber meinst du denn ich passe
dazu?“
Er nickte. „Ja, natürlich. Endlich kann ich dich dann meinen Eltern
vorstellen. Keine Sorge, sie sind sehr nett und werden dich
mögen.“
Das hätte er besser für sich behalten, ich war gar nicht überzeugt
von seinen Worten. Ich war sicher unter den gut situierten
Herrschaften aufzufallen wie ein schwarzes Schaf inmitten von
weißen. Meine eigene adlige Herkunft hatte ich fast schon
vergessen. Die einzige Tochter Claude de Breuils gab es nicht mehr,
sondern nur noch Anne, ein Mädchen ohne Vergangenheit.
„So so, er hat dich also auf das berühmte de la Fére Frühlingsfest
eingeladen.“ Ein bedeutungsvolles Lächeln umspielte Mélisses
Lippen.
„Ja, und ich habe nicht einmal etwas zum Anziehen für so eine feine
Gesellschaft“, warf ich ein. Das schöne zartgrüne Kleid, das mir
meine Gönnerin geschenkt hatte, wirkte immer noch zu bürgerlich für
einen solchen Anlass.
Die alte Frau nahm mich bei der Hand und führte mich in ein Zimmer
im oberen Stock des Hauses, das ich noch nie gesehen hatte. Es war
freundlich eingerichtet, das Bett bezogen, und auf dem Kissen lag
eine kleine Stoffpuppe.
„Das Zimmer meiner jüngsten Tochter“, sagte Mélisse leise. „Ich
habe sie nie erwähnt. Fabienne war erst fünfzehn Jahre alt, als sie
krank wurde und starb. Seitdem habe ich hier nichts verändert, nur
immer sauber gemacht.“ Sie öffnete den Schrank und holte ein
wunderschönes Kleid hervor. Es war hellrot, die weiten Ärmel und
der Rock beige. Der Stoff fühlte sich unglaublich weich an.
„Ich habe es für meine Tochter genäht, sie wollte es ebenfalls auf
einem Fest tragen. Doch das ist leider nie geschehen. Es würde mich
freuen, wenn du es nun anziehst.“ Sie sah mich aufmerksam an. „Du
erinnerst mich manchmal so sehr an meine Fabienne, ihr ähnelt
einander im Herzen.“
Nachdem die Schneiderin noch einige Veränderungen vorgenommen
hatte, passte mir das Kleid am Vorabend des Festes wie angegossen,
fast wie für mich gemacht. Tags darauf half sie mir dabei mein
langes Haar zu bändigen. Als ich danach mein Spiegelbild sah,
erkannte ich mich selbst kaum wieder. Am Nachmittag holte Olivier
mich mit seinem Einspänner ab, wie er es versprochen hatte. Er
musterte mich verblüfft.
„Pardon, Comtesse, könnt Ihr mir wohl sagen, wo ich Anne finde?“ Er
lächelte sanft. „Du siehst wunderschön aus.“
„Danke“, grinste ich, als ich auf den Wagen kletterte. Die ganze
Fahrt über fragte ich mich, ob das denn auch genügen würde.
Olivier geleitete mich in den großen Garten des gräflichen
Anwesens, in dem sich schon unglaublich viele Menschen bewegten.
Männer und Frauen sprachen miteinander, Kinder liefen dazwischen
umher.
„Komm“, sagte er leise und ging mit mir zu einem älteren Paar, das
die eintreffenden Gäste nacheinander begrüßte. Offenbar waren das
der Graf und die Gräfin de la Fére.
„Mama, Papa“, begann er. „Darf ich euch Anne vorstellen? Das ist
Madame Mélisses brave Gehilfin, von der ich erzählt habe.“ Er
blickte von ihnen zu mir. „Anne, das sind meine Eltern, Henri und
Clémentine de la Fére.“
Ich knickste höflich. „Es freut mich sehr Eure Bekanntschaft zu
machen.“
„Uns ebenso.“ Oliviers Vater lächelte ein wenig. „Nun sehe ich
endlich mit wem sich mein Sohn so gerne herum treibt.“
Zum Glück wurde die Aufmerksamkeit des gräflichen Paares bald
wieder anderweitig beansprucht, und Olivier stellte mir
anschließend seinen Bruder Silvain vor, in dessen Begleitung sich
eine junge blonde Frau befand. Beide musterten mich herablassend,
erinnerten mich daran, dass ich nicht hierher gehörte. Schon nach
ein paar Minuten wusste ich, dass die Brüder nicht hätten
unterschiedlicher sein können, und ich merkte bald, dass sich nicht
viel zu sagen hatten.
Ich rechnete nicht damit ihm im Laufe des Abends noch einmal zu
begegnen, doch als Olivier mit einigen anderen jungen Männern
sprach, trat Silvain an mich heran, und bedeutete mir ihm ein Stück
weit weg vom Kern des Festes zu folgen.
„Mit dir verschwendet mein Bruder also seine Zeit. Glaub mir, ich
kenne solche wie dich. Du bemühst dich um ihn, weil er reich ist,
habe ich recht?“
„Das ist nicht wahr“, widersprach ich sofort, aber wenig
nachdrücklich, weil ich so überrascht über seine dreisten Worte
war. „Ich hätte es lieber, wenn er kein Graf wäre.“
Er hob die Augenbraue. „Nun ja, schön bist du, kein Wunder, dass du
seinen Verstand so leicht benebeln konntest.“ Mittlerweile waren
wir an einem kleinen Tümpel, verborgen von tief hängenden
Trauerweiden weit abseits des fröhlichen Trubels. Wir waren hier
ganz allein. Jäh umfasste er eisern meine Handgelenke.
„Wenn du Geld willst, hilf mir den Titel zu erlangen, der mir
rechtmäßig zusteht, und ich werde dich reich belohnen.“
„Was…?!“ Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an. Ich
ahnte, dass er davon gesprochen hatte, gegen seinen eigenen Bruder
zu agieren, mit dem Ziel dessen Platz als Graf einzunehmen. „Wie
könnt Ihr nur? Ich würde Olivier niemals schaden. Nie! Adieu,
Monsieur de la Fére.“
Mit diesen scharfen Worten ließ ich ihn stehen, um zum Fest zurück
zu kehren und mich auf die Suche nach Olivier zu machen.
Er lächelte mich an, als ich ihn fand. „Da bist du ja wieder.
Würdest du mir die Ehre dieses Tanzes erweisen?“
In Aussicht auf seine Nähe nickte ich und ließ mich von ihm auf die
Tanzfläche führen. Weil ich jedoch mit den Gedanken immer noch bei
der Begegnung mit Silvain war, trat ich ihm in Folge der mangelnden
Konzentration auf den Fuß. Besonders elegant wirkte das natürlich
nicht.
Obwohl ich mich blamierte, wollte ich nicht aufhören mich mit ihm
zu drehen. Zu sehr genoss ich seine sicheren Arme, die mich
hielten.
Kapitel Kapitel 12
Kapitel 12
Das Fest dauerte bis spät in die Nacht, als es zu Ende war, brachte
Olivier mich wieder nach Hause. Ich fühlte mich sehr unbeschwert,
dass ich im Laufe des Abends Geschmack am Schaumwein gefunden
hatte, machte sich nun bemerkbar.
„Ich hoffe du hattest auch ein wenig Spaß“, meinte er leise, als
wir mit dem Wagen vor Mélisses Haus angekommen waren. „Ich habe es
sehr genossen, dich bei mir zu haben.“
„Obwohl ich dich beim Tanz so blamiert habe?“ Ich wurde rot.
Der junge Mann nickte. „Weißt du, eigentlich hasse ich Tanzen, aber
ich dachte du wolltest vielleicht gerne…“
Im nächsten Moment lachten wir beide aus vollem Hals. Da waren wir
ja einem gründlichen Missverständnis aufgesessen. Wir bekamen uns
erst wieder in den Griff, als von drinnen Mélisses Stimme erklang,
nun hatten wir es auch noch geschafft, die arme Frau
aufzuwecken.
Olivier gab mir einen scheuen Kuss auf die Wange. „Gute Nacht, ma
chére Anne. Träum süß.“
„Du auch…“, murmelte ich gerade noch verlegen, ehe er sein Pferd
antrieb und der Wagen leise davon ratterte. Gedankenverloren
berührte ich mit den Fingern die Stelle, an der sich seine weichen
Lippen vorhin noch befunden hatten.
Auf den Frühling folgte ein ungewöhnlich heißer Sommer. Die
Ernten fielen schlecht aus und die meisten Lebensmittel wurden so
teuer, dass viele Mägen leer blieben. Mélisse nahm nicht mehr viel
ein, weil die Leute ihr Geld brauchten, um Essen zu kaufen. Also
mussten auch wir unsere Gürtel enger schnüren. Obwohl wir oft nicht
satt wurden, war die alte Schneiderin stets darauf bedacht, dass
auch ihre kleine Stute Fleurette ausreichend versorgt war.
Manchmal brachte Olivier Brot, Gemüse, oder etwas Fleisch vorbei.
Seine Familie war reich, alle hatten genug zu essen, sodass es gar
nicht auffiel, wenn ein wenig aus der Speisekammer fehlte. Zu
meinem siebzehnten Geburtstag überraschte mich Mélisse trotz aller
Not mit einem herrlichen Dîner. Doch das schönste Geschenk war
Oliviers Anwesenheit. Die beiden waren meine Freunde und meine
Familie zugleich, und so lange wir füreinander da waren, würden wir
auch die härtesten Zeiten überwinden.
Ich irrte mich. Wieder einmal. Im Winter wurde Mélisse erneut
krank. Sie war nach dem Fieber des vergangenen Jahres nie wieder
bei ihren vollen Kräften gewesen und der entbehrungsreiche Sommer
tat das Übrige. In einer frostigen Januarnacht ging es zu Ende. Ich
saß bei ihr am Bett, kühlte, wie so oft ihre heiße Stirn mit einem
nassen Lappen, als sie ihre Hand auf meine legte, damit ich inne
hielt.
„Der Herr ruft mich zu sich…“, murmelte die alte Frau schwach.
„Anne, bitte kümmere dich gut um meine treue Fleurette. Sorge
dafür, dass sie einen schönen Lebensabend erhält, das hat sie
verdient.“
Vorsichtig nahm ich Mélisses magere Hand in die meine. „Was redet
Ihr denn da? Ihr werdet wieder gesund, das weiß ich…“
Doch sie schüttelte kaum merklich den Kopf. „Nein… Ich hatte ein
langes Leben, und nun ist es Zeit, zu gehen.“ Ihre Stimme wurde
immer leiser. „Höre niemals auf zu hoffen, Anne. Die Hoffnung ist
das Licht, das dich aus der Dunkelheit führt… vergiss das nie,
hörst du…“
Zitternd vor Kummer und Kälte sah ich dabei zu, wie der
schlichte Sarg in sein einsames Grab hinab gelassen wurde. Tränen
liefen meine Wangen hinab. Ich wollte nicht glauben, dass sie tot
war. Mein Leben lag erneut in Scherben. Die Schneiderei konnte ich
mit meinen Fähigkeiten nicht weiter führen, so blieb mir nichts,
als anderswo mein Glück zu versuchen. Der Gedanke Olivier zu
verlassen, schnürte mir die Kehle zu. Ich liebte ihn mehr als mein
Leben und das war auch ein Grund, warum ich gehen musste. Er
verdiente etwas Besseres als mich.
Vor dem offenen Grab standen Mélisses Töchter, die gekommen waren,
um sie auf ihrem letzten Weg zu begleiten. Oder vielleicht auch
nur, um den Nachlass zu regeln. Der Verkauf des Hauses und des
Grundstücks würde gutes Geld geben.
Eine andere Gestalt erweckte jäh meine Aufmerksamkeit. Olivier trat
an mich heran und nahm mich in die Arme. Ich lehnte mich unendlich
dankbar an ihn, weinte leise in seine Brust. Dass er mich
schließlich von dem kleinen Friedhof fort zog, merkte ich kaum.
„Meine arme Anne…“, er strich mir tröstend über das Haar. „Ich
wünschte, ich könnte dir den Schmerz irgendwie nehmen.“
Mir fehlte schlicht die Kraft ihm eine Antwort zu geben. Ein
erneutes Schluchzen schüttelte mich, nur langsam gewann ich meine
Fassung zurück. „Würdest du mir einen großen Gefallen tun?“
Er nickte leicht. „Jeden. Was möchtest du?“
„Nimm Fleurette mit in deine Ställe und kümmere dich um sie. Bei
dir weiß ich sie gut versorgt, wenn ich weiter ziehe.“ Traurig
wandte ich meinen Blick von ihm ab.
„Ich möchte nicht, dass du gehst.“ Olivier ergriff mich am Arm, als
wolle er mich dadurch bei sich halten. „Wohin willst du denn
überhaupt?“
Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Was soll ich denn noch
hier? Mélisses Arbeit kann ich nicht übernehmen, das weißt du
doch.“
„Bitte bleib...“ Seine Stimme hatte einen beinahe verzweifelten
Klang. „Ich will nicht mehr ohne dich leben. Bleib bei mir als
meine Frau!“
Hatte ich gerade richtig gehört? Ich traute meinen Ohren nicht.
Im nächsten Moment kniete er sich vor mich, nahm meine Hand und
drückte sie sanft.
„Ich liebe dich, Anne. Möchtest du meine Frau werden?“
Als Antwort fiel ich ihm stürmisch um den Hals. „Ja, Olivier, mehr
als alles Andere auf der Welt!“ murmelte ich in die Umarmung
hinein.
Mit einem Lächeln schob er mich ein Stück von sich, um mich
zärtlich zu küssen. Ich wusste nicht, wie mir geschah, es war
einfach zu viel auf einmal. Der Gedanke, dass wir nun verlobt
waren, erschien mir so unwirklich. Es würde noch Zeit brauchen, bis
ich begriff, dass dies tatsächlich geschehen war.
Am selben Abend saß ich nervös neben Olivier im großen
Speiseraum des gräflichen Anwesens. Der Tisch war viel reicher
gedeckt, als ich es noch aus meinem Elternhaus in Erinnerung hatte.
Da gab es Köstlichkeiten, deren Namen ich noch nie zuvor gehört
hatte, und auch Manches, das es bei uns an besonderen Tagen, etwa
dem Geburtstag meines Vaters gegeben hatte, so wie Escargots.
Mit uns dinierten die Eltern des jungen Grafen, sowie sein Bruder
Silvain, diesmal ohne die blonde Schönheit vom Fest. Dieser warf
mir immer wieder abschätzige Blicke zu, während Henri und
Clémentine de la Fére auf meine Anwesenheit eher verwundert
reagierten. Sie hatten keine Ahnung, dass ich bald zur Familie
gehören würde.
Nach dem Essen erhob sich Olivier und begann zu sprechen, sobald er
die ungeteilte Aufmerksamkeit der Anwesenden hatte. „Mama, Papa,
Silvain, es gibt Neuigkeiten zu verkünden“, begann er, bestimmt
kaum weniger nervös. „Ich habe Anne heute um ihre Hand gebeten. Wir
werden heiraten.“
Seine Eltern fielen aus allen Wolken. Zwar sprachen sie ihre
Glückwünsche aus, doch ihre Ablehnung war offensichtlich. Als
Mélisses fleißige Gehilfin hatten sie mich vielleicht noch gemocht,
aber als Gemahlin ihres Sohnes, und damit Gräfin de la Fére war ich
freilich nicht gut genug.
„Sie sind nicht damit einverstanden, dass du mich heiraten
willst“, sagte ich schließlich, als wir wenig später auf dem Weg
zum gemütlichen Salon einen Augenblick für uns hatten.
Olivier zuckte mit den Schultern. „Ich denke, sie müssen sich nur
an den Gedanken gewöhnen, wir haben sie damit ziemlich
überrascht.“
Ein Seufzen entkam mir. „Es ist mehr als das. Sie wollen mich nicht
als deine Frau, weil ich nicht deinem Stand entspreche. Mélisse hat
mich auf der Straße aufgelesen, du weißt das. Ohne ihr warmes Herz
wäre ich jetzt wahrscheinlich gar nicht mehr am Leben…“
„Die Vergangenheit ist mir egal. Wichtig ist, dass du jetzt bei mir
bist.“ Er nahm mein Gesicht zwischen die Hände, damit ich ihn
ansehen musste. „Ich liebe dich, und meine Eltern werden das
akzeptieren müssen, ob es ihnen gefällt oder nicht.“ Bevor ich noch
etwas sagen konnte, küsste er mich innig.
Vielleicht fragte er nicht nach meiner Herkunft, doch ich war
überzeugt davon, dass seine Familie das früher oder später tun
würde. Das Brandmal an meiner Schulter sollte niemals jemand zu
Gesicht bekommen, nicht einmal Olivier. Auch wenn ich es
ungerechtfertigt erhalten hatte, war das Zeichen einer Hure etwas
Anderes, als nur ohne Hab und Gut dazustehen. Darüber würde er bei
all seiner Liebe zu mir nicht hinweg sehen können.
Olivier wurde von seinem Vater in den Salon gewiesen, während seine
Mutter mich zurück hielt, als ich ihm folgen wollte.
„Lassen wir die beiden Herren in Ruhe miteinander reden“, meinte
sie. „Komm, wir genehmigen uns einstweilen eine heiße Tasse
Tee.“
Wohl oder übel musste ich mit ihr gehen. Im nächsten Moment, kaum
dass ich mich umgedreht hatte, ertönte durch die geschlossene Tür
die Stimme des alten Grafen, der seinen Sohn zurecht wies, ob er
den Verstand verloren hatte, ein hergelaufenes Mädel ohne jedwede
adlige Abstammung zur Frau nehmen zu wollen.
„Er meint es nicht so“, sagte Clementine de la Fére leise, als
wir die geräumige Küche erreichten. Schweigend setzte ich mich zu
ihr an den Tisch, an dem normalerweise die Dienstboten aßen. Was
hätte ich auch sagen sollen, es war mir deutlich gemacht worden,
dass ich nicht erwünscht war.
Oliviers Mutter legte unschlüssig die Hand auf meine Schulter, was
mich aus meinen Gedanken riss. „Die Nachricht hat uns sehr
überrascht, verstehst du? Wir hatten keine Ahnung, dass unser Sohn
sich in nächster Zeit zu vermählen gedenkt, nachdem er es damit
bisher nicht sehr eilig zu haben schien.“
Sie unterbrach sich, als das Dienstmädchen vor uns eine kleine
Kanne mit aromatischem Kräutertee auf den Tisch stellte. Dankbar
nippte ich an meiner Tasse, doch mir wollte einfach nicht richtig
warm werden.
„Es ist nicht leicht, die Kinder, die man Jahre lang umsorgt hat,
los zu lassen, wenn sie erwachsen werden. Und jetzt, mit dieser
Verlobung verlässt er endgültig das Nest. Da wüssten wir ihn
natürlich gern in den besten Händen. Aber Henri vergisst dabei,
dass eine gute Abstammung nicht das Wichtigste ist. Ich möchte,
dass Olivier glücklich ist, und ich glaube ich wäre mir dessen
einfach sicherer, wenn ich mehr über seine Zukünftige
wüsste…“
Zögerlich berichtete ich ihr von meiner Flucht wenige Tage, bevor
ich in eine Ehe verkauft werden sollte, in der ich wahrscheinlich
zugrunde gegangen wäre. Meine Mutter irrte sich, ich hätte niemals
gelernt, Raymond zu lieben. Damals war ich sicher gewesen, dass es
mehr gab, als an seiner Seite zu enden. Und das war Olivier. Ihn zu
lieben musste ich nicht erst lernen.
Kapitel Kapitel 13
Kapitel 13
Wir heirateten an einem der ersten warmen Tage im März, ich
konnte mich nicht erinnern jemals mehr Glück empfunden zu haben.
Die Trauungszeremonie fand im Garten des Anwesens de la Fére statt,
sogar das Wetter hatte Einsehen mit uns. In den Abendstunden begann
es allerdings zu regnen, weswegen sich die Feierlichkeiten ins Haus
verlagerten.
Ich war so froh endlich einen Moment allein mit Olivier zu haben,
unter den vielen mir unbekannten Augenpaaren, hatte ich mich nicht
sehr wohl gefühlt. Die Gäste gehörten allesamt seiner Familie an,
einige mochten sehr weit entfernte Verwandte sein. Eines war ihnen
jedoch gemeinsam. Für sie war ich nur ein hergelaufenes Mädel, das
sich in eine wohlhabende Familie zu drängen versuchte. Ich merkte
ganz genau, wie sie mich ansahen. Bestimmt zerrissen sie sich
hinter meinem Rücken ihre großen Mäuler über mich.
„Bitte wart…“, flüsterte ich, und fasste nach Oliviers Arm, als
er ebenfalls ins Haus gehen wollte. „Lass uns noch hier
bleiben.“
Er zog verwundert die Augenbraue hoch. „Aber wir werden ganz nass…
die schönen Gewänder.“
Schnell stellte ich mich vor ihn, um ihm den Weg zu versperren, und
blickte zu ihm auf. „Bitte… nur ein paar Minuten.“
Offenbar konnte er meinem Lächeln am Ende doch nicht widerstehen.
Wir zogen die Schuhe aus und liefen lachend durch das nasse Gras
bis ans hintere Ende des Gartens. Erst bei dem kleinen Zierteich
blieb er stehen. Ich schaffte es nicht mehr anzuhalten, auf dem
feuchten Untergrund schlitterte ich gegen ihn, und wir landeten
beide in der Wiese. Er auf dem Rücken, ich bäuchlings auf ihm. Das
war mir so peinlich! Doch er ließ mich nicht zurück weichen,
sondern hielt sanft meine Handgelenke fest, und gab mir einen
zärtlichen Kuss.
„Ich liebe dich, Anne de la Fére“, flüsterte er.
Anne de la Fére. Das war tatsächlich ich! Immer noch konnte ich es
kaum fassen, dass ich jetzt Oliviers Frau war. Endlich gab es einen
Platz, an den ich gehörte. Ich beugte mich zu ihm herunter, um ihn
meinerseits zu küssen. Mein nasses Haar fiel auf sein Gesicht, den
Regen hatte ich mittlerweile völlig vergessen.
Schließlich richtete er sich auf und wollte den Spieß umdrehen.
Doch als er über mir war, fühlte ich mich jäh an den Abend bei
Monsieur Dominic erinnert, ich wich erschrocken zurück.
„Anne, was ist denn los?“ wollte er irritiert wissen. „Ich wollte
nicht… es tut mir leid, entschuldige.“
Schuldbewusst sah ich ihn an, mir tat es leid so zu reagieren.
„Schon gut… ich glaube langsam friere ich doch ein wenig.“
Er nickte. „Dann gehen wir schnell hinein, ich möchte ja nicht,
dass du dich erkältest.“ Bevor ich etwas erwidern konnte, hatte er
mich auf seine Arme gehoben und trug mich zum Haus. Ich hielt mich
an ihm fest, bei ihm fühlte ich mich sicher. Ich nahm mir vor nicht
mehr an Vergangenes zu denken.
Erst in seinem, jetzt unserem Gemach ließ er mich herab. Ich war
bisher nur einmal hier gewesen, es kam mir größer vor als in meiner
Erinnerung. Wenn draußen die Sonne schien, war der Raum
lichtdurchflutet und strahlte Wärme aus.
„Ich komme gleich wieder. Und du solltest zusehen, dass du aus den
nassen Sachen raus kommst.“ Er berührte zärtlich meine Hand, dann
ließ er mich allein. Wohin er wohl ging?
Kurz darauf erfuhr ich es. Er hatte eine Flasche des guten
Schaumweins und zwei Gläser geholt. Als er mich mit erhobener
Augenbraue musterte, wurde ich mir wieder dessen bewusst, dass ich
immer noch mein durchnässtes Kleid trug. Olivier war allerdings
auch nicht wesentlich trockener, weswegen er wollene Überdecken aus
dem Schrank nahm, in eine hüllte er sich selbst, die andere reichte
er mir. Das war schon viel besser.
„So, bitte sehr.“ Er gab mir eins der beiden Gläser, die er
gerade mit Schaumwein gefüllt hatte. „Auf uns, und eine lange
glückliche Ehe.“
Das helle Klirren des Anstoßens hallte lange in meinen Ohren nach.
Ich hatte nur wenig getrunken, als wir unsere Gläser zur Seite
stellten, und er mich innig küsste. Seine Arme umfassten meine
Taille, er zog mich näher zu sich heran. Seine zärtlichen
Berührungen fühlten sich gut an, doch gleichzeitig verstärkten sie
meine Unsicherheit. Ich kam mir so dumm und unwissend vor, weil ich
im Grunde nicht wusste, was er von mir erwartete. Darum ließ ich
ihn einfach gewähren.
Bald lagen unsere warmen Decken achtlos neben dem Bett auf dem
Boden, und er machte sich reichlich ungeschickt an den Bändern
meines Kleides, mit denen auch ich selbst meine Probleme gehabt
hatte, zu schaffen. Doch ich konnte mich darüber nicht amüsieren,
mir war schlagartig etwas eingefallen. Wenn er mir auch noch die
Unterwäsche auszog, würde er die verfluchte Lilie entdecken.
Rasch griff ich nach seinen Händen, um ihn daran zu hindern den
Erkundungszug über meinen Körper fortzusetzen. Er sah mich
irritiert an.
„Warte…“, bat ich ihn nur, löste mich aus seinen Armen und trat vor
die großen Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen. Draußen lag der
Garten bereits in gespenstischem Dunkel. Nachdem ich auch noch
jedes Licht im Raum ausgelöscht hatte, war es so finster, dass ich
kaum den Weg zurück zum Bett fand.
Dann spürte ich wieder seine Gegenwart dicht bei mir. Auch ohne ihn
zu sehen, erahnte ich, dass meine Aktion ihn wohl sehr verwirrt
hatte. Das konnte ich ihm auch nicht verübeln. Eine Hand tastete
nach der meinen.
„Aber Anne, was soll das denn?“ fragte er leise. „Ich möchte dich
sehen.“
Ich strich zärtlich über seine Wange. „Bitte, lass es gut sein… für
heute.“ Als ich ihn küsste, widersprach er nicht mehr. Bald darauf
waren wir beide entkleidet. Auch wenn er mich gar nicht sehen
konnte, war es ein eigentümliches Gefühl, das erste Mal völlig
nackt vor einem Mann zu liegen.
Olivier war sehr behutsam, doch als er schließlich über mich glitt,
bekam ich es mit der Angst zu tun. Mein erster körperlicher Kontakt
mit einem Mann hatte mit Liebe nichts zu tun gehabt. Die Furcht war
noch in mir, obwohl ich wusste, dass er mir niemals weh tun
würde.
Ich lag noch lange wach in dieser Nacht, während Olivier neben
mir schon schlief. Sein tiefes Atmen hatte etwas Beruhigendes an
sich, es ließ mich nicht vergessen, dass er bei mir war. Die Lilie
hatte er nicht gefunden, aber seine Finger hatten auf den tiefen
Narben inne gehalten, die meinen Rücken zierten, da wo mein Vater
mich mit dem Lederriemen verprügelt hatte, bis ich blutete.
Am nächsten Tag fragte er mich nach diesen Narben, wie ich es
befürchtete. Meine Antwort fiel nur knapp aus, ich wollte nicht
darüber sprechen, sondern die Vergangenheit ein für alle Mal hinter
mir lassen. Nichts davon war wichtig, es zählte nur, dass ich jetzt
an Oliviers Seite leben durfte, und endlich glücklichere Tage
begonnen hatten.
Doch in meinen Albträumen erlebte ich alles immer und immer wieder,
ohne dass ich es hätte beeinflussen können. Nicht selten wachte ich
schreiend, schwitzend und um mich schlagend auf, um mich dann in
den Schlaf zu weinen. Olivier stellte Fragen, die ich ihm nicht zu
beantworten vermochte. Vielleicht ahnte er schon damals etwas,
dessen bin ich bis heute nicht sicher.
Die Nächte waren eine Sache, die Tage eine ganz andere. Ich war
nun die Gräfin de la Fére, daran musste ich mich erst gewöhnen,
ebenso wie die übrigen Bewohner des Anwesens. Den vielen
Anforderungen zu genügen, die an mich gerichtet wurden, war nicht
leicht, es gab vieles, das ich beachten musste. Ich gab mir alle
Mühe mich richtig zu verhalten, um Olivier nicht zu blamieren. Es
gelang weiß Gott nicht immer.
Die Dienstboten sprangen, wenn ich sie nur ansah, diese
Aufmerksamkeit war mir so unangenehm. Zwar entstammte ich einer
adligen Familie, aber ich hatte trotzdem gelernt die Dinge selbst
zu erledigen. Dieser neue Titel mochte mein Leben von Grund auf
verändern, doch niemals meine Persönlichkeit.
Zur Verwunderung der Stallburschen ließ ich es mir auch nicht
nehmen, mich jeden Tag um Mélisses kleine Stute zu kümmern, sie zu
füttern und zu bürsten. Schließlich hatte ich der alten Frau mein
Wort gegeben. Das würde ich nicht brechen, sollten mich Oliviers
Eltern noch so tadelnd ansehen, wenn ich morgens nach Pferd
riechend wieder einmal zu spät zum Frühstück erschien.
Kapitel Kapitel 14
Kapitel 14
Aus dem einen Mal, dass wir uns in unserer Hochzeitsnacht im
Dunkeln liebten, waren viele weitere Nächte geworden. Irgendwann
hatte er aufgehört, nach dem Grund zu fragen. Solange er die Lilie
nicht entdeckte, war alles gut. Nach und nach kam ich mit dem Leben
als Gräfin immer besser zurecht. Oliviers Mutter gewann ich lieb,
und auch sein Vater schien sich damit abzufinden, dass sein
ältester Sohn so weit unter seinem Stand geheiratet hatte. Ich gab
mein Bestes ihnen eine gute Schwiegertochter zu sein, wenn auch
nicht die, die sie sich gewünscht hatten.
Nur Silvain, dem Jüngeren der de la Fére Sprösslinge ging ich so
weit mir möglich aus dem Weg. Bei den Familienessen fehlte er zum
Glück oft, da die Belange der Grafschaft nicht ihm oblagen, konnte
er sich ein lockeres Leben leisten, ohne sich um viel kümmern zu
müssen. Der Neid auf die Position seines Bruders war sehr
offensichtlich. Wenn wir uns begegneten, ließ er nie eine
Gelegenheit aus, mir zu zeigen, was er von mir hielt. In seinen
Augen gehörte ich nicht hierher. Er hatte mir ja seine Vermutung,
ich wäre nur hinter dem Geld Oliviers her, bereits deutlich
gemacht. Offenbar wollte er gar nicht vom Gegenteil überzeugt
werden. Und Olivier tat es als Einbildung hab, wenn ich ihn darauf
hinwies, dass sein Bruder mich nicht mochte. Ich hatte den
Eindruck, ihm fiel Silvains Missgunst nicht auf, weil er den
Gedanken einfach nicht in Erwägung zog, er könnte solche Gefühle
hegen. Aber vielleicht hatte er recht, und ich bildete es mir ja
wirklich nur ein.
Eines Morgens, als ich auf dem Weg zur Küche war, um für Fleurette
einen Apfel oder eine Karotte zu stibitzen, sah ich Silvain eilig
vor mir in einen Gang biegen. Es war auch mein Weg, und gerade noch
bekam ich mit, wie er eines der Dienstmädchen umrannte, das ein
Tablett voller Buttercroissants trug. Das Gebäck fiel auf den
Boden.
„Du dummes Ding, kannst du nicht aufpassen, wo du hinrennst?“
schalt er das verschüchterte Mädchen und versetzte ihm eine
Ohrfeige. Was für eine Unverschämtheit, ich hatte genau gesehen,
dass es seine Schuld gewesen war. Doch ehe ich ihm das sagen
konnte, war er durch eine Tür verschwunden.
„Es tut mir so leid, mein Herr, bitte vergebt mir“, wimmerte das
Mädchen, während es damit beschäftigt war, die Croissants
aufzuheben, vermutlich in der Annahme, ich sei Silvain.
Ich berührte es behutsam am Arm. „Ist schon gut, Bérénice. Du hast
nichts falsch gemacht“, sagte ich sanft zu ihr, und half ihr dabei
das verstreute Gebäck einzusammeln.
Überrascht musterte sie mich. „Oh, Ihr seid es, Comtesse…“ Sie
wurde noch hektischer, sodass sie ein Croissant wieder fallen ließ.
Ich nahm es, ehe sie danach griff, um es auf das Tablett zu
legen.
„Kommt so etwas öfter vor?“
„Ja… nein, der junge Herr ist sicher nur schlecht gelaunt“,
antwortete Bérénice verschüchtert. Sie hatte vermutlich Hemmungen
schlecht über Silvain zu sprechen, was ich gut verstehen konnte.
Schnell hob ich das letzte Croissant auf.
„So, das wäre geschafft. Ich werde mit Olivier darüber reden, er
hat immer noch großen Einfluss auf seinen Bruder.“
Sie sah mich plötzlich erschrocken an. „Bitte nicht… er wird
denken, ich hätte etwas gegen ihn gesagt.“
Verständnisvoll nickte ich. Einfach vergessen wollte ich die
Angelegenheit jedoch nicht. Ich beschloss selbst mit ihm zu reden,
und ihm die Wahrheit zu sagen, dass ich den Vorfall zufällig
mitangesehen hatte.
„Ich danke Euch sehr, Comtesse“, murmelte das Mädchen scheu und
lächelte. „Es… es ist gut, dass Ihr hier bei uns seid.“
Diese Aussage freute mich. Bérénice war die Jüngste der Dienstboten
des Anwesens, sie konnte nicht älter als ich sein, bisher hatte ich
sie nie gefragt. Ich mochte sie. Zwischen uns hatte es schon die
ein oder andere amüsante Begegnung gegeben, wenn sie verwundert
war, dass ich viele Dinge selbst erledigte, und keine Scheu davor
hatte, mir die Hände schmutzig zu machen.
Als das Mädchen gegangen war, holte ich schnell zwei Karotten
aus der Küche und lief in den Stall. Wie es der Zufall wollte, kam
mir dort Silvain entgegen, der gerade seinen Hengst aus der Box
geholt hatte.
„Comtesse“, sagte er knapp und mit deutlichem Hohn in der
Stimme.
Eigentlich wollte ich sämtliche Begegnungen mit ihm möglichst kurz
halten, doch ich erinnerte mich meines Vorsatzes. „Silvain, wartet.
Ich hätte gerne mit Euch gesprochen.“
Er wandte sich um, sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. „Ja
bitte, Ihr wünscht, Madame?“
Seine herablassende Art mit mir zu sprechen, ärgerte mich jedes Mal
aufs Neue. Ich riss mich zusammen, erwähnte den Vorfall, dessen
Zeugin ich geworden war, und wartete ab, was er zu sagen hatte. Er
zuckte jedoch nur gleichgültig mit den Schultern, ich musste meine
Wut schwer hinunter schlucken.
„Ich möchte Euch dringend ersuchen, Euren Ärger in Zukunft nicht
mehr an den Dienstboten auszulassen, und hoffe, dass etwas
Derartiges nicht wieder vorkommt.“
„Sonst was?“ Er lachte verächtlich. „Willst du mich aus dem Haus
meiner Familie werfen? Das möchte ich sehen… Ich gehörte hierher,
und nicht du!“
Erneut musste ich mich sehr zusammen nehmen, ich biss mir ärgerlich
auf die Lippen, und bemühte mich, mir keine Unsicherheiten anmerken
zu lassen. Darauf wartete er nur.
„Das habe ich gewiss nicht vor, Monsieur.“ Das letzte Wort betonte
ich besonders. „Doch ebenso gedenke ich mich von Euch nicht
vertreiben zu lassen, Ihr versteht das sicher. Und ich glaube
meinem Mann würde es nicht sehr gefallen, sollte er erfahren, dass
dies Euer Wunsch ist… ich hoffe Ihr werdet über meine Bitte
nachdenken. Au revoir, Monsieur.“
Bevor er noch etwas erwidern konnte, verschwand ich in Fleurettes
Box, und holte die Stute heraus, sobald er mit seinem Pferd den
Stall verlassen hatte. Nachdenklich striegelte ich sie.
Ich war so in meinen Überlegungen versunken, dass ich nicht
merkte, wie jemand herein kam, bis ein Arm sich sanft um meine
Taille legte. Ich erschrak, aber im nächsten Moment erkannte ich
bereits Olivier „Da bist du ja, habe ich es mir doch gedacht.“ Sein
Ton war ein wenig vorwurfsvoll. „Wir haben dich beim Frühstück
vermisst.“
Ich riss die Augen auf. „Oh! Ist es schon so spät? Das tut mir
leid, ich habe überhaupt nicht auf die Zeit geachtet.“
Er lachte leise. „Ist schon gut. Ich habe meinen Eltern gesagt,
dass du dich nicht wohl fühlst, und keinen Hunger hast.“ Er
tätschelte die kleine Stute am Hals. „Bemerkenswert, mit welcher
Hingabe du dich um das Tier kümmerst. Was hältst du davon, wenn ich
dir das Reiten beibringe? Es ist gar nicht schwer, du wirst
sehen.“
„Du willst das tun? Wirklich? Aber du musst dich doch um vieles
andere kümmern…“ Ein wenig unsicher sah ich ihn an.
Olivier nickte. „Natürlich, sehr gerne sogar. Es gibt nichts, das
mir wichtiger wäre als du. Am besten fangen wir so bald wie möglich
an. Wenn du möchtest.“
Und wie ich wollte! Es war Zeit, die ich mit ihm verbringen
konnte. Mit ihm allein, und ich genoss es. Schon bald konnte ich
die alte Fleurette reiten und Olivier gab mir ein jüngeres
temperamentvolleres Pferd. An meinem achtzehnten Geburtstag ritten
wir um die Wette durch den Wald. Ich hatte mich niemals freier
gefühlt. Mit ihm konnte ich stundenlang auf dem Pferderücken die
Natur durchstreifen.
Die Zeit floss weiter, der Winter hüllte die Landschaft in das
helle Weiß, das ich so liebte, und ehe ich mich versah, waren wir
bereits ein halbes Jahr verheiratet. Kürzlich hatte Olivier mit mir
über Kinder gesprochen. Ich hatte mich bisher noch nicht mit dem
Gedanken getragen Mutter zu werden. Es war eine schöne Vorstellung,
aber auch eine, die mir ein wenig Angst machte. Es war die Pflicht
einer guten Ehefrau ihrem Mann Nachwuchs zu schenken. Was wenn ich
versagte? Was wenn ich nach dem, was Monsieur Dominic mir angetan
hatte, nicht mehr in der Lage war, ein Kind zu bekommen? Würde
Olivier mich trotzdem noch lieben?
Kapitel Kapitel 15
Kapitel 15
An einem besonders schwülen Augusttag starb Fleurette, ich fand sie
tot auf der Weide. Ihr altes Herz hatte einfach aufgehört zu
schlagen. Ein allerletztes Mal strich ich behutsam über ihre
weichen Nüstern und lehnte den Kopf an ihren Hals. Doch jetzt waren
keine gleichmäßigen Atemzüge mehr zu spüren. Tränen liefen meine
Wangen hinab. Die kleine Stute war zu Mélisse gegangen. Als einer
der Stallburschen dazu stieß, rannte ich über den Hof zu den
Stallungen, um den Wallach zu holen, den ich meistens ritt, wenn
ich zusammen mit Olivier unterwegs war.
Es war ein hübscher temperamentvoller Winterrappe namens Ténèbres.
Mit tränenverschleiertem Blick trieb ich ihn zum Galopp einen
Waldweg entlang. Stundenlang ritt ich ziellos umher, bis meine
Gedanken ein wenig klarer wurden. Durch Fleurette war ein Teil
Mélisses immer noch bei mir geblieben, ihre Anwesenheit hatte mir
Trost gespendet, aber nun war auch sie fort. Dass dieses Unglück
nur der Vorbote für viel mehr war, ahnte ich weiß Gott nicht.
Dieser Tage hatte Olivier viel zu tun und ich ritt oft allein
mit Ténèbres aus, obwohl er wiederholt sein Missfallen kundtat.
Gerne hielt ich dabei an einer sonnigen Stelle am Flussufer Rast,
ließ den Wallach grasen und genoss für eine Weile das warme Wetter,
sowie die Geräusche und Gerüche. Doch als ich an diesem Nachmittag
in der Wiese liegend vor mich hin döste, mischte sich Hufgetrappel
unter das Zwitschern der Vögel. Erstaunt öffnete ich die Augen und
sah Olivier zusammen mit Silvain auf mich zukommen. Auch das noch.
Die beiden parierten ihre Pferde durch, als sie mich erreichten und
stiegen ab.
Olivier schloss mich in seine Arme, er war ausgesprochen guter
Dinge. „Anne, Liebes, wie schön dich zu sehen. Ich wollte gern mit
dir ausreiten, aber du warst schon weg. Im Stall habe ich dann
Silvain getroffen und wir sind gemeinsam aufgebrochen.“
„Entschuldige bitte, ich habe nicht geahnt, dass du heute Zeit
hast“, antwortete ich ein wenig verlegen.
„Na ich werde noch einmal darüber hinweg sehen“, Er grinste
schelmisch. „Aber nur, wenn wir jetzt zusammen zurück reiten. Du
könntest meinen Bruder ein wenig in seine Schranken weisen. Die
alte Eiche ist das Ziel, bist du dabei?“
Silvains durchbohrte mich mit einem drohenden Blick, als ich
wortlos nickte. Meinem Gemahl eine Abfuhr erteilen konnte ich
schlecht. Für den Rest unserer Rast schwieg ich die meiste Zeit,
wartete nur bis Olivier den Rückweg antreten wollte. Nach einer
Weile verkündete sein Bruder, er habe die Pferde bereits fertig
gemacht und wir schwangen uns in die Sättel.
Beim Wettreiten im schnellen Galopp dachte ich nicht mehr an
Silvain und seine Abneigung, ich versuchte alles um ihn zu
schlagen. Fast hatte ich es auch geschafft, Ténèbres war schneller
denn je, doch dann löste sich der Sattel unter mir. Mein Wallach
strauchelte und ich sah nur noch den Boden auf mich zukommen. Hart
schlug ich gegen einen im Unterholz verborgenen Stein, die Luft
blieb mir weg.
Olivier rief meinen Namen, doch ich vermochte ihm nicht zu
antworten. Kurz darauf erschien sein besorgtes Gesicht über mir.
Ich keuchte im Versuch Atem zu holen.
„Ganz ruhig, Anne“, sagte er sanft. „Gleich ist es besser.“
Er zog seinen Dolch, den er immer dabei hatte und ich spürte wie
die Klinge die eng geschnürten Bänder meines Kleides durchschnitt.
Luft strömte in meine Lungen, ich sah wieder klarer. Doch etwas
stimmte nicht, ich wusste es sofort, als Oliviers Blick mich
berührte. Ich folgte ihm verwirrt, und ich begriff.
Vollkommen überrascht starrte er das Zeichen an, das in meine
Schulter eingebrannt war. Was ich am meisten gefürchtet hatte, war
eingetroffen. Er hatte die verfluchte Lilie in meiner Haut
entdeckt.
„Silvain hatte also doch recht… ich kann nicht glauben was ich
sehe“, sagte er bitter mit versteinerter Miene, während sein Bruder
mich gehässig musterte.
„Ich habe nichts verbrochen, bitte glaub mir“ brach es aus mir
hervor, ich wollte nach seiner Hand greifen, doch er wandte sich
abrupt ab.
„Dieses Zeichen trägt nur jemand, der eines Verbrechens schuldig
ist. Du hast mich von Anfang an belogen und benutzt. Mich hat die
Liebe geblendet, aber mein Bruder erkannte die Wahrheit…“
Jedes seiner Worte kam einem Schlag ins Gesicht gleich. Ich
wünschte fast er würde einfach zuschlagen, denn damit konnte ich
umgehen. Nicht jedoch mit seinen Vorwürfen, die mir verzweifelte
Tränen in die Augen trieben. Ich biss mir auf die Zunge, wollte mir
diese Blöße vor Silvain nicht geben.
„Steig wieder auf dein Pferd“, zischte Olivier knapp, ohne sich
noch ein einziges Mal zu mir umzudrehen. Während des gesamten Weges
zurück sprachen wir nicht ein Wort. Verzweifelt hoffte ich er würde
sich währenddessen beruhigen und mich doch noch anhören. Er tat
nichts dergleichen, er hatte bereits seine eigenen Vorstellungen
gefasst. Im gräflichen Anwesen schloss er mich in die Kammer eines
der Dienstboten ein.
Die nächsten Stunden erlebte ich wie in einem der Alpträume, die
mich jede Nacht peinigten. Irgendwann klickte das Schloss, die Tür
schwang knarrend auf und ein Mann, den ich nicht kannte, trat in
Begleitung von Silvain ein. Ich wurde abgeführt wie eine gemeine
Verbrecherin, dabei hatte ich mir nichts zuschulden kommen lassen.
In den Augen von Oliviers Bruder las ich den Triumph. Im Augenblick
war ich außerstande etwas zu fühlen, sonst hätte wahrscheinlich
Hass in mir gebrannt.
Zum zweiten Mal in meinem Leben landete ich in einer kleinen,
kalten und stinkenden Gefängniszelle. Ich fühlte mich genauso
verlassen wie vor etwa dreieinhalb Jahren. Damals hatte mich der
junge Bursche namens Paul befreit, ich erinnerte mich gut an ihn,
doch jetzt würde mir gewiss niemand helfen. Das wollte ich auch gar
nicht, denn ohne Olivier war alles sinnlos, was ich mir erträumt
hatte vorbei. Nicht einmal zwei Jahre lang hatte unsere Ehe
gedauert. Diesen Morgen war ich noch glücklich neben ihm
aufgewacht, abends einschlafen würde ich allein im kratzenden
Stroh.
Am nächsten Tag kehrte jener Mann zurück, der mich abgeführt
hatte, und brachte mich in einen kleinen Raum. Ich reimte mir
zusammen, dass es sich um den Aufseher des Gefängnisses handeln
musste.
„Du hast Besuch“, sagte er knapp. „Monsieur de la Fére hat mich um
eine Unterredung mit dir ersucht.“
Mein Herz hüpfte. Hatte Olivier es sich nun überlegt und wollte in
Ruhe mit mir über alles sprechen? Er war es jedoch nicht, der das
Zimmer betrat, sondern sein Bruder Silvain. Mit großen Augen
starrte ich ihn an
„Ich hoffe du hast gut geschlafen, Comtesse.“ Er spuckte das Wort
voller Verachtung aus. „So bequem wie das Ehebett meines Bruders,
in das du dich eingeschlichen hast, ist es hier fürchte ich
nicht.“
Gleichgültig blickte ich an ihm vorbei an die Wand. Seine eisgrauen
Augen, die sich von Oliviers sanften braunen nicht mehr
unterscheiden konnten, durchbohrten mich wie ein Degenstich.
Abrupt riss er meinen Kopf in seine Richtung. „Sieh mich gefälligst
an, wenn ich mit dir rede. Es hätte gereicht, wenn du dir beim
Sturz von dem Gaul das Genick brichst, aber so ist es umso besser.
Jetzt weiß mein Bruder wenigstens, dass du ihn die ganze Zeit
hintergangen hast.“
Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Silvain war bei den Pferden
gewesen, er musste etwas unter den Sattel meines Winterrappen
gesteckt haben, um ihn scheuen zu lassen, sobald er mein Gewicht
trug. Ich hatte mich immer bemüht mit ihm zurecht zu kommen, weil
er der Bruder meines Mannes war, aber jetzt brannte Hass auf ihn
heiß in mir.
„Ihr… Ihr seid schuld, dass er die Lilie entdeckt hat…“ stieß ich
hervor. „Ihr habt alles zerstört… Nicht, weil Ihr euch um ihn
sorgtet, sondern weil Ihr gerne in seiner Position wärt. Ich liebe
Olivier, sein Titel und sein Geld haben mich nie interessiert, das
wisst ihr ganz genau…“
„Jetzt reg dich nicht so auf. Irgendetwas hast du verbrochen, sonst
hättest du nicht das Zeichen auf deiner Schulter. Ich habe die
Erlaubnis meines Bruders dich zu befragen… nicht, dass ich sie
gebraucht hätte.“ Er lächelte böse. „Wer bist du? Dein Name, dein
Mädchenname, wie lautet er?“
Ich funkelte ihn hasserfüllt an. „Kein Wort werde ich Euch sagen,
Ihr seid umsonst gekommen, Mons…“
Ehe ich zu Ende sprechen konnte, versetzte er mir einen Schlag, der
mich durch den halben Raum schleuderte. Es war so, wie es immer
gewesen war. Ich wehrte mich nicht, noch brach ich mein Schweigen.
Nichts was er mir antun konnte, war schlimmer als das Wissen, dass
Olivier mich verlassen hatte.
Schließlich sah er ein, dass er nicht bekam was er wollte, und
nachdem er gegangen war, wurde ich in die Zelle zurück gebracht.
Ich hatte noch nie aufgegeben, doch nun begann ich mir zu wünschen
mir bei dem Sturz tatsächlich das Genick gebrochen zu haben.
Kapitel Kapitel 16
Kapitel 16
Tage vergingen. Wie lange saß ich nun schon hier drin? Ich wusste
es nicht, ich hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren. Die Zeit
spielte ohnehin keine Rolle mehr, ich musste nie wieder darauf
achten pünktlich zum Frühstück zu erscheinen. Ob Olivier manchmal
an mich dachte? Ich ertappte mich oft dabei, mich zu fragen, wo er
sich gerade aufhielt und was er tat. Die meiste Zeit schlief ich,
das war auch die einzige Möglichkeit Stunde um Stunde in der engen
Zelle zu überstehen ohne verrückt zu werden. Nach dem Aufwachen
fühlte ich mich elend. Wahrscheinlich war es das halb verdorbene
Essen oder das Wasser, das mich krank machte.
Dann stand auf einmal der Gefängnisaufseher mit einem Schlüssel vor
meiner Zelle. Mein Herz hüpfte, als er tatsächlich aufschloss, denn
trotz allem hoffte ich immer noch, Olivier würde mir eine zweite
Chance geben und mich zurück holen. Doch er war es nicht, der
draußen im Freien im Tageslicht auf mich wartete, sondern ein Mann,
den ich nicht kannte. Er trug einen rotschwarzen Umhang, ich
erinnerte mich, solche Kleidung schon einmal gesehen zu haben, doch
nicht wo.
„Hier ist das Mädchen, Monsieur“, sagte der Aufseher. „Ich übergebe
sie hiermit Eurer Verantwortung, was weiter mit ihr passiert, soll
mich nicht kümmern. Passt nur auf, sie ist lange nicht so
unschuldig, wie sie aussehen mag.“
Der andere Mann nickte leicht. „Habt Dank.“ Dann wandte er sich mir
zu. „Folgt mir, Madame. Ich habe den Auftrag Euch nach Paris zu
bringen.“
Und das war der vorerst der einzige Satz, den ich von ihm zu hören
bekam. Mit Ausnahme seines Namens, er hieß Gérôme Beauval. Ich war
unsicher was nun auf mich zukam, was mich am Ziel dieser Reise
erwartete. Paris selbst sah ich gleichmütig entgegen, vor ein paar
Jahren wäre ich aufgeregt gewesen beim Gedanken diese Stadt zu
betreten, doch ich ahnte, dass es dort für das Landkind, das ich
war, nicht besser sein würde, als in Lille damals.
Während die kleine Kutsche über die unebenen Straßen rumpelte, saß
ich im Inneren des Verschlags und bekam so nicht einmal mit, wie
wir die Grafschaft de la Fère hinter uns ließen. Gérôme war sehr
darauf bedacht, mir keine Möglichkeit zur Flucht zu geben, aber
sonst behandelte er mich nicht schlecht. Die ganze Zeit über sprach
er nur das Nötigste mit mir.
„Wollt ihr mich weiterhin beharrlich anschweigen? Bis nach Paris
werden wir noch eine Weile gemeinsam reisen, ist es nicht so?“
startete ich am Abend, als wir rasteten, den Versuch einer
Unterhaltung.
„Da habt Ihr schon recht.“ Er reichte mir ein Stück Brot. „Esst,
damit Ihr bei Kräften bleibt.“
Dankbar nahm ich das helle Gebäck entgegen. Es war hart, aber es
füllte meinen Magen. Für den jungen Mann war das Gespräch damit
beendet, er aß stillschweigend auf, legte sich dann schlafen.
Am Morgen war mir wieder fürchterlich schlecht. Wir waren noch
nicht lange unterwegs, als ich Gérôme deshalb bitten musste
anzuhalten. Das karge Frühstück wollte nicht verbleiben wo es war.
Im Lauf des Vormittags begann es mir besser zu gehen, doch diese
Übelkeit wiederholte sich auch am folgenden Tag.
„Oje, geht es Euch heute wieder nicht gut?“ fragte Gérôme, als ich
wieder hinter einigen Büschen verschwand, um mich zu übergeben.
„Seid Ihr reisekrank?“
Ich schüttelte den Kopf, als ich sehr blass wieder hervor kam. „Mir
ist noch nie bei einer Kutschfahrt übel geworden, egal wie holprig
die Straße war.“
„Das ist nicht gut… ich hoffe Ihr seid nicht ernsthaft krank. Im
nächsten Dorf suchen wir besser einen Heilkundigen auf.“ Er schien
tatsächlich ein wenig besorgt zu sein, wenn auch eher um die
Erfüllung seines Auftrags.
Selber war ich in Gedanken bereits alle Möglichkeiten
durchgegangen, die mir einfielen. Von der Reise selbst war mir
sicher nicht so übel, es hatte schon im Gefängnis begonnen und am
Essen konnte es jetzt auch nicht mehr liegen, weil Gérôme das
Gleiche zu sich nahm.
„Mir fällt da etwas ein“, sagte der junge Mann nach einer Weile.
„Meiner Frau war morgens oft schlecht, als sie unser erstes Kind
erwartete.“
Bei diesen Worten durchzuckte es mich siedend heiß. Warum hatte ich
daran noch nicht gedacht? Eine zweite Erkenntnis holte mich ein,
nämlich die, dass mein Blut nicht gekommen war. Als ich eingesperrt
war, hatte ich kaum Zeitgefühl gehabt, aber jetzt wusste ich ja
wieder, welchen Tag wir hatten. Ich wurde fast nie krank, also war
dies die einzige Erklärung, die blieb. Ich war schwanger! Unsicher
legte ich die Hand auf meinen Bauch, im Moment konnte ich es noch
nicht fassen.
„Ihr seid also Vater?“ fragte ich Gérôme beiläufig, im Augenblick
konnte ich einfach nicht still sein.
Er nickte ein wenig verträumt. „Ja, ich habe einen Sohn von zwei
Jahren. Das größte Geschenk, das meine Frau mir machen
konnte.“
Damit war das eisige Schweigen durchbrochen, wir redeten nun die
ganze Zeit über. Er erzählte mir von seinem Jungen und wie viel
Freude so ein winziges Geschöpf bedeuten konnte, wenn es erst
einmal auf der Welt war. Es kam mir fast vor, als wolle er mir
damit Mut machen. Und schließlich tat er etwas, mit dem ich nicht
gerechnet hatte. Er ließ mich neben sich auf dem Kutschbock sitzen,
an der Luft. Offenbar vertraute er aus welchem Grund auch immer
darauf, dass ich nicht weglief. Das zu tun hatte ich ohnehin nicht
vor, es gab keinen Ort, an den ich gehen konnte.
Im nächsten Dorf legten wir tatsächlich eine Rast ein, um jemanden
zu suchen, der des Heilen kundig war. Die Alte konnte man als
Kräuterhexe bezeichnen, aber immerhin schien sie zu wissen wovon
sie sprach. Sie tastete in einer unangenehmen Prozedur meinen Leib
ab und gelangte dabei zu derselben Erkenntnis wie ich zuvor. Ich
trug tatsächlich Oliviers Kind unter dem Herzen. Das hatte er sich
so gewünscht, und nun würde er es nie erfahren. Zum Schluss gab sie
mir noch ein Beutelchen mit Kräutern mit, die gegen die Übelkeit
helfen sollten, doch ich verwendete sie nicht. Auch wenn es
unangenehm war, so handelte es sich um Zeichen meines ungeborenen
Kindes. Das Wissen um die Schwangerschaft ließ mich den Verlust
Oliviers ein wenig leichter ertragen, denn ein Teil von ihm lebte
in diesem kleinen Wesen in mir, und das konnte mir keiner nehmen.
Nie!
„Morgen Nachmittag werden wir Paris erreichen“, sagte Gérôme ein
paar Tage später, als wir nach einem kargen Frühstück das Pferd
anspannten, um weiter zu reisen. Diese Nachricht holte mich in die
Wirklichkeit zurück, ich hatte aufgehört über das Ziel unserer
Fahrt nachzudenken.
Angestrengt starrte ich auf die leere Straße, die sich zwischen
einigen Bäumen verlor. „Ihr habt mir noch nicht gesagt, weshalb Ihr
mich nach Paris bringen sollt.“
Er lachte bitter. „Man gab mir nur den Auftrag Euch zu holen, mehr
wurde mir nicht mitgeteilt. Ihr seht also, ich kann Euch nicht
sagen, was Euch erwartet.“
„Und von wem habt Ihr diesen Auftrag erhalten?“ bohrte ich weiter.
Ich wollte wissen, was ich in der großen Stadt vorfand, und warum
ich dorthin gebracht wurde.
„Der Befehl kam von Seiner Eminenz, dem Kardinal Richelieu, ich
gehöre seiner Garde an.“ Er sah für einen Moment an sich herunter,
und jetzt fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Diese Uniform
hatte ich damals schon gesehen, als ich mit der verfluchten Lilie
gezeichnet worden war! Und ich erinnerte mich an die Begegnung mit
dem Kardinal. „Wessen hat man Euch verurteilt? Was kann jemand wie
Ihr denn so Schlimmes verbrochen haben, dass es für Seine Eminenz
von Interesse ist?“
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Das spielt keine Rolle… Niemand
hat mich je gefragt, was geschehen ist, als man mir damals die
bourbonische Lilie einbrannte.“
Darauf erwiderte der junge Mann nichts mehr, er schien tatsächlich
über meine Worte nachzudenken. „Euer Geheimnis ist bei mir sicher,
versprochen“, fügte er dann mit einem Lächeln hinzu, wobei sein
Blick meinen Bauch streifte. Dafür war ich ihm so dankbar.
Als wir dann wegen eines heftigen Regengusses später als erwartet
die Hauptstadt Frankreichs erreichten, musste ich wieder nach
hinten in den engen Verschlag zurück kehren. Ich blieb eine
verurteilte Verbrecherin und er hatte mich danach zu behandeln. So
sah ich nicht viel von Paris, bis die Kutsche hielt, und ich mich
im Hof einer prachtvollen Residenz wieder fand. Das Haus von
Oliviers Familie war für mich schon sehr groß gewesen, doch dieses
Gebäude übertraf es bei Weitem, es war unvorstellbar, so etwas
hatte ich noch nie zuvor gesehen.
Das imposante Äußere wurde nur noch von dem herrlichen Inneren
übertroffen. Die Eindrücke überfluteten mich, während ich Gérôme
staunend durch Gänge und über Treppen folgte. Das Ziel war ein
weitläufiges Zimmer, in dem ein wuchtiger Tisch aus dunklem Holz
den Mittelpunkt bildete. Die Vorhänge bestanden aus edlen
schimmernden Stoffen und an den Wänden gab es Gold und Marmor. Über
der mächtigen Tür hing ein großes goldenes Kreuz. Zuletzt sah ich
den Mann, der hinter dem Tisch in einem bequemen Sessel aus rotem
Samt saß. Seine stechenden Augen hatten mich dagegen längst
erfasst.
Ich erkannte dieses kühle Gesicht, umgeben von vollkommen glatt
gekämmtem Haar, die prächtige rote Kleidung mit ihren reichhaltigen
goldenen Verzierungen, das Kreuz um seinen Hals und die protzigen
Ringe an seinen langen Fingern. Zunächst stand ich nur unschlüssig
da, erst als ich Gérômes Hand auf der Schulter spürte, machte ich
einen widerwilligen Knicks.
Kapitel Kapitel 17
Kapitel 17
Der Kardinal nickte Gérôme kurz zu, woraufhin der jüngere Mann eine
Verbeugung andeutete und sich rasch entfernte. Ich widerstand der
Versuchung ihm nachzusehen, zwang mich stattdessen dazu den Blick
nicht von Seiner Eminenz abzuwenden. Seine stechenden Augen
taxierten mich vom Scheitel zu den Spitzen meiner Schuhe, hatte ich
den Eindruck.
„Willkommen in Paris, Madame de la Fère“, begann er mit einem
geheuchelten Lächeln. „Oder sollte ich de Breuil sagen?“
Bei diesen Worten durchzuckte es mich siedend heiß. Woher wusste er
wer ich war? Und weshalb verhielt er sich auf einmal so freundlich
mir gegenüber? Bei unserer ersten Begegnung hatte er mich vor allen
Leuten ins Gesicht geschlagen, ehe mir die verfluchte Lilie in die
Schulter gebrannt wurde. Die Lilie, die schuld daran war, dass ich
nun hier stand, anstatt bei Olivier zu sein.
„Ich bin nicht länger Teil der Familie de la Fère, Eure Eminenz,
aber das ist Euch bestimmt bekannt“, antwortete ich, bemüht um
Festigkeit in meiner Stimme. Ich wollte vor ihm nicht wie ein
dummes kleines Mädchen wirken. Seit damals hatten sich die Dinge
geändert, ich war jetzt eine Frau.
Er nickte amüsiert. „Das ist es allerdings. Ihr fragt Euch
sicherlich, woher ich den Namen Eurer Familie kenne. Für einen Mann
in meiner Position ist es erforderlich bestens informiert zu sein.“
Geschmeidig erhob er sich und trat vor einen nahen Schrank, aus dem
er eine Flasche mit einer goldbraunen Flüssigkeit nahm. „Darf ich
Euch auch ein Schlückchen Cognac anbieten, Madame?“ Eine Antwort
wartete er jedoch gar nicht erst ab, sondern stellte zwei Gläser
auf den Tisch, ehe er sich wieder mir zuwandte. Sein Blick ließ
mich erschaudern. „Aus Euch ist eine bemerkenswert hübsche Frau
geworden.“
Unsicher strich ich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Trotz seines veränderten Gebarens traute ich ihm nicht weiter, als
ich meinen Arm auszustrecken vermochte. „Ihr habt mich bestimmt
nicht hierher bringen lassen, um Euch mit mir darüber zu
unterhalten, Eminenz.“
Richelieu lachte trocken. „Nein, gewiss nicht, Madame. Ich möchte
Euch mein Angebot in Erinnerung rufen, das ich Euch unterbreitete,
ehe Ihr… nun es vorzogt Euer Glück anderswo zu versuchen.
Beeindruckend wie Ihr damals schon, als Ihr nur ein kleines mageres
Ding wart, diesen Jungen geblendet und um den kleinen Finger
gewickelt habt, doch wirklich.“
„Was ist mit ihm geschehen?“ entfuhr es mir. Ich erinnerte mich an
den Burschen, der mir zur Flucht verholfen hatte. War er für seine
Güte bestraft worden?
„Soweit mir bekannt, wurde er gründlich durchgeprügelt, aber was
kümmert Euch das? Ihr wisst sicherlich nicht einmal mehr seinen
Namen, er war ja nur Mittel zum Zweck für Euch, nicht wahr?“ Seine
dunklen Augen blitzten boshaft.
„Er hieß Paul“, sagte ich nur.
Daraufhin wanderte seine Augenbraue überrascht in die Höhe. „Nun
ja, um diesen einfältigen Jungen soll es hier nicht gehen. Ihr seid
zweifellos zu viel mehr fähig, Madame. Tretet in meine Dienste, Ihr
würdet es nicht bereuen. Was Ihr zu tun habt, ist einfach gesagt,
Ihr erhaltet Aufträge, von bestimmten Personen Informationen zu
beschaffen. Wie Ihr das anstellt, soll Eure Angelegenheit sein,
doch es muss überaus diskret geschehen.“
Ich schluckte, es ging tatsächlich um das Gleiche wie damals. Es
widerstrebte mir mit diesem Mann etwas zu tun zu haben, aber es war
nicht gerade so, dass ich eine Wahl hatte. „Und was bekomme ich für
meine Dienste?“
Erneut lachte er amüsiert auf. „Kluges Mädchen! Wenn Ihr Eure
Aufgaben gut erfüllt, so werde ich mich großzügig zeigen. Ihr
erhaltet eine Wohnung und an Geld, was Ihr zum Leben braucht, seid
sicher es wird Euch an nichts fehlen.“
„Und wenn ich mich weigere?“ Ich biss mir auf die Zunge. Sein
Angebot klang verlockend, denn ich war völlig mittellos. Mich
selbst vermochte ich schon irgendwie zu erhalten, aber in ein paar
Monaten würde ich auch für mein Kind sorgen müssen.
„Dann seid Ihr frei zu gehen, ich werde Euch nicht festhalten.“ Der
Kardinal wies auf die große Tür. „Die Straßen von Paris erwarten
Euch, es gibt genug Lumpenpack, bei dem Ihr Euch einrichten könnt
und solange Ihr so hübsch seid, vermögt Ihr gewiss davon leben
Euren Körper feilzubieten.“
Bilder aus der Zeit, die ich in den Straßen von Lille verbracht
hatte, erschienen in meinem Geist. Nein, ich wollte auf keinen Fall
als Bordsteinschwalbe enden, schon um meines Kindes willen nicht.
Oliviers Tochter oder Sohn hatte etwas Besseres verdient. Zögernd
nickte ich schließlich.
„Gute Entscheidung.“ Mit einem triumphierenden Lächeln reichte er
mir eines der beiden Gläser, in die er nun Cognac gegossen hatte.
„Trinkt mit mir auf unsere Zusammenarbeit. Ich rate Euch nur
enttäuscht mich nicht.“
Das Klirren der Gläser hallte immer noch in meinen Ohren, als ich
wieder vor Gérôme stand. Der junge Mann hatte die ganze Zeit auf
dem Gang gewartet und nun fuhren wir wieder durch die Pariser
Straßen. Diesmal saß ich neben ihm auf dem Kutschbock, sodass ich
alles sehen konnte, was mir zuvor entgangen war. Die Stadt war groß
und furchtbar laut. Nach dem Glanz des Palais, in dem der Kardinal
residierte und den sauberen Wohngegenden der Adligen und
Gutbürgerlichen, konnte der Kontrast zu dem herunter gekommenen
Viertel, durch das wir nun fuhren, kaum größer sein. Die Straßen
waren verdreckt, die Häuser baufällig. An einer Ecke erhaschte ich
für Momente den Blick auf ein junges Mädchen mit verfilztem Haar,
das in schmutzige zerrissene Sachen gehüllt war, und an dessen Hand
ein ganz kleiner, magerer, bloßfüßiger Junge hing. Niemand scherte
sich um das Elend der beiden, weil es den anderen Menschen hier
keinen Deut besser erging. Bald ließen wir diese ärmliche Gegend
hinter uns, doch ich vermochte diesen Anblick kaum aus meinem Kopf
zu vertreiben. Nur die Gunst des Kardinals bewahrte mich davor dort
zu enden, ohne Hoffung, dass auf die finsteren Nächte einmal
bessere Tage folgen würden.
Vor einem kleinen sauberen Wohnhaus hielt Gérôme den Wagen
schließlich an. Er unterhielt sich kurz mit dem ein wenig
untersetzten grauhaarigen Mann, dem das Gebäude offensichtlich
gehörte. Einige Münzen wechselten den Besitzer. Monsieur Thorigny,
so war sein Name, brachte mich anschließend in ein Zimmer unter der
Dachschräge, in dem gerade ein Bett, eine Frisierkommode mit
zerkratztem Spiegel und ein Schrank Platz fanden. Es hatte keine
Ähnlichkeit mit meinem Gemach im Heim der de la Fères, was jedoch
nicht an der Größe oder der Einrichtung lag, das alles bedeutete
mir nichts. Bei Olivier und seiner Familie hatte ich mich zu Hause
gefühlt, aber das hier war ein fremder Ort, ein kalter Ort. Doch
zumindest hatte ich ein Dach über dem Kopf, das allein
zählte.
In den nächsten Tagen versuchte ich mich an das Leben in Paris zu
gewöhnen, obwohl es mir alles andere als leicht fiel, denn bereits
Lille war mir zu groß und unüberschaubar gewesen, war ich doch in
ländlichem Raum aufgewachsen. Wie sehnte ich mich zurück nach den
Wäldern, den Wiesen und Feldern der Grafschaft. Selbst der Himmel
über Paris schien anders zu sein, er war grau und wolkenverhangen,
ich bezweifelte, dass die Sonne hier jemals so klar und kräftig
scheinen würde. Wenngleich ich gehen konnte, wohin ich wollte,
fühlte ich mich gefangen.
Vom Kardinal hörte ich nichts, worüber sich mein Bedauern in
Grenzen hielt, die Begegnung mit ihm hatte mir vergangene
Ereignisse, die ich zu vergessen versucht hatte, wieder
überdeutlich in Erinnerung gerufen. Ich versuchte mit aller Kraft
nicht mehr an die Ereignisse der Vergangenheit zu denken, nichts
davon spielte mehr eine Rolle. Nur die Zukunft zählte, das Kind,
das ich unter dem Herzen trug. Mein Unterbewusstsein sagte mir,
dass es ratsam war, die Schwangerschaft so lange wie nur irgendwie
möglich zu verbergen, was im Augenblick noch einfach sein mochte.
Wenn ich doch nur Oliviers kluge Mutter hätte, um ihren Rat zu
erbitten. Sie wusste bescheid, hatte sie doch selbst zwei starken
Söhnen das Leben geschenkt.
Für Monsieur und Madame Thorigny schien ich kaum existent zu sein.
Wann immer ich ihnen begegnete, wurde mein höflicher Gruß nur mit
einem dezenten Kopfnicken erwidert. Es sollte mich nicht weiter
stören, ich legte keinerlei Wert mehr auf neue Bekanntschaften.
Anderen Menschen Zuneigung und Vertrauen entgegen zu bringen, hatte
mir im Leben nie Glück gebracht. Freundschaft, Liebe, das
vernebelte den Geist nur, machte ihn schwach und verletzlich. Ich
würde niemals wieder jemanden nahe genug an mich heran lassen, um
erneut verlassen oder weggestoßen zu werden. Ich brauchte
niemanden, außer mir selbst!
Kapitel Kapitel 18
Kapitel 18
Es dauerte nicht lange, bis ich meinen ersten Auftrag durch einen
Mittelsmann des Kardinals erhielt. Ich sollte mich unter dem
Decknamen Gräfin de Lechelle auf einer Festlichkeit einschleichen,
mein Ziel war ein junger Mann aus einer reichen Kaufmannsfamilie,
der erst kürzlich aus England zurück gekehrt war. Meine Aufgabe
bestand darin, herauszufinden, ob er durch seine geschäftlichen
Kontakte mit dem Königshof irgendetwas über Buckingham, den
Regenten der Briten wusste. Das noble Palais, in dem das Fest
stattfand, war nicht meine Welt, doch zumindest war ich tatsächlich
eine Gräfin gewesen und konnte mich auch wie eine benehmen.
Männer waren so berechenbar! Schon den Blick einer hübschen Frau
nahmen sie als Aufforderung. Nur allzu bereitwillig ließ er sich
von mir bezirzen und schließlich saß ich neben ihm in seiner
Kutsche, die über die nächtlichen Straßen holperte. Er war
widerlich, konnte seine Hände kaum bei sich behalten. Sein Atem
roch beträchtlich nach Alkohol. Ich musste mitspielen und so tun
als gefielen mir all diese Annäherungen, die in mir Übelkeit
entstehen ließen. Als wir in seinem Haus angelangt waren, brachte
er eine Karaffe mit gutem Wein, wie ich annahm, um mich williger zu
machen.
„Ihr seid ausnehmend schön, Gräfin“, murmelte er berauscht, während
seine Finger wieder eine gierige Wanderschaft über meinen Körper
begannen.
Ich zuckte zusammen, als seine Hand unter mein Kleid glitten und
mir zwischen die Beine fasste. Rasch richtete ich mich auf dem Bett
auf. „Mein Ring! Er ist weg… ich habe ihn verloren. Vorhin war er
noch da!“
„Wir werden ihn nachher suchen…“, raunte mein Verehrer, ohne von
seiner Tätigkeit abzulassen.
„Aber er gehörte meiner Mutter… er ist wertvoll!“ Entschieden schob
ich ihn beiseite. „Irgendwo hier muss er sein.“
Widerwillig begann er auf dem Boden nach dem Schmuckstück zu
suchen, während ich die Gelegenheit nutzte, um eine Brise des
Pflanzenpulvers, welches ich in einem kleinen Säckchen bei mir
trug, in sein Weinglas zu schütten. Dann beugte auch ich mich
hinunter und tat schließlich, als hätte ich den vermissten Ring
soeben gefunden, der natürlich meinen Finger genauso wenig
verlassen hatte, wie er meiner Mutter gehörte. Der junge Mann
schlief den Schlaf der Gerechten, nachdem er seinen Wein
ausgetrunken hatte. Ich stahl mich davon, fand sein Arbeitszimmer
und suchte dort seine Unterlagen nach Brauchbarem durch. Das ein
oder andere würde dem Kardinal schon gefallen. Nach getaner begab
ich mich auf den Weg zurück zu meinem Zuhause bei den
Thorignys.
In etwa auf diese Weise lief es meistens ab. Die Männer waren für
gewöhnlich genauso leicht zu überlisten wie sie sich verführen
ließen. Aber leider griff der ein oder andere ganz Ungeduldige
nicht zu Wein oder Champagner, um sich geflissentlich ins Reich der
Träume schicken zu lassen. Dann musste ich ausharren bis er seine
Triebe gestillt hatte und danach von selbst einschlief. Wie mich
das anekelte! Doch der Kardinal verlangte Ergebnisse, allzu oft
konnte ich mir leere Hände nicht leisten, weil ich nur in seiner
Gunst stand, so lange ich erfolgreich war. Je öfter mir keine
Möglichkeit blieb, als diesen Männern meinen Körper zu überlassen,
desto weniger berührte es mich noch. Schließlich empfand ich gar
nichts mehr, wenn sie mich unter sich aufs Bett drückten und mich
gierig nahmen.
Eines Morgens wanderte ich durch eine der vielen armseligen
Gegenden in Paris. Es hatte geregnet, doch gleich wie viel Wasser
vom Himmel kam, es würde nicht reichen, um den Schmutz
fortzuwaschen, der hier vorherrschte. Auf einmal trat vor mir ein
bemerkenswert gut gekleideter Mann aus einer schmalen Nebengasse,
der so gar nicht in das Bild des Elends passen wollte. Im
Vorbeigehen sah er mich kurz an, ehe er seines Weges ging. Ich
hielt bei dem Durchlass inne, aus dem er gekommen war und kurz
darauf erschien in den Schatten ein ganz junges Mädchen, vielleicht
sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sein magerer Körper war in ein
zerschlissenes Kleid gehüllt, das blonde Haar verfilzt und die
braunen Augen völlig leer. Es zitterte nicht nur ob der Kälte des
Frühlingsmorgens. Dem armen Ding versagten auf einmal die Beine den
Dienst, ich tat einen großen Schritt und fing die Kleine auf, ehe
sie auf den nassen schmutzigen Boden sank. Der Mann, der natürlich
nichts anderes als ein Freier gewesen war, hatte sie geschlagen,
ein frischer Bluterguss zeigte sich unter ihrem rechten Auge.
„Er… er hat mich um mein Geld geprellt…“ wimmerte sie schwach. „Wie
soll ich denn nun meinen Jungen ernähren… mein kleiner Junge… er
hat doch Hunger…“
„Shhh…“ sagte ich leise, holte ein paar Münzen aus meiner Tasche
und legte sie in ihre schmale knochige Hand. „Hier, kauf damit Brot
für deinen Sohn.“
Sie riss erstaunt die Augen auf. „Danke… ich danke Euch!“
Mit einem aufmunternden Lächeln half ich ihr auf die Beine. Sie
bedankte sich noch mehrmals überschwänglich, ehe sie davon
stolperte. Diesen Tag würden ihr Kind und sie überleben, aber
vielleicht forderten Hunger und Elend bereits ihr Opfer, bevor am
nächsten Abend die Sonne unterging. Das arme Ding musste seinen
Körper verkaufen, konnte nie wissen, ob es an Männer geriet wie
jenen an diesem Morgen, die es statt mit Geld mit Schlägen
bezahlten.
Ich seufzte traurig. Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich im
Grunde gar nichts anderes tat. Ob es nun eine dunkle Seitengasse
war oder ein weiches Bett spielte kaum eine Rolle, ich gab meinen
Körper für mein Leben. Und für das meines noch Ungeborenen. Ich war
das geworden, was ich niemals werden wollte. Mit einem bitteren
Lächeln legte ich die Hand auf meinen Bauch, wo sich bereits eine
kleine Rundung erfühlen ließ. Oliviers Kind, dessen Bewegungen ich
bereits in meinem Leib spüren konnte, würde nichts als eine Hure
zur Mutter haben. Aber es würde auch ein Dach über dem Kopf haben
und immer genug zu essen.
Es erstaunte mich, dass mich der Kardinal für meinen nächsten
Auftrag zu sich rief. Normaerweise ließ er mich durch Boten über
mein Ziel informieren. Seit dem Tag, an dem ich nach Paris gekommen
war, hatte ich sein Palais nicht mehr betreten. von einem Gardisten
wurde ich ins Arbeitszimmer seiner Eminenz geführt, wo er hinter
seinem wuchtigen Schreibtisch thronte.
„Ah“, sagte er, als ich vor ihm knickste. „Wenn das nicht Anne ist.
Ihr werdet mit jedem Mal reizender, meine Liebe.“
„Guten Morgen, Eminenz“, grüßte ich ihn, ohne auf seine Worte auch
nur im Geringsten einzugehen. „Ihr wünscht mich zu sehen?“
Er nickte leicht. „In der Tat, in der Tat. Ihr habt Euch inzwischen
bewehrt, aber nichts anderes habe ich erwartet. Eure nächste
Aufgabe ist darum von allergrößter Wichtigkeit.“ Mit einem
Handgriff holte er aus seinem Tisch ein kleines Bild hervor und
legte es vor mich hin. „Der Graf de Saint Germain.“
Mäßig interessiert betrachtete ich den jungen Mann, der mit ernsten
blauen Augen in die Welt hinaus blickte. Was sollte an ihm so
Besonderes sein? Er war gewiss nur ein weiterer verwöhnter
Adelsspross.
„Glaubt mir, er ist nicht wie andere Männer“, fuhr der Kardinal
fort. „Er ist ein Gelehrter, ein Reisender und wahrscheinlich noch
viel mehr. Am Pariser Hof ist er genau so ein willkommener Gast wie
bei den Engländern und den Österreichern. Er war in Indien und
Afrika, kaum vorstellbar welches immense Wissen er sich dort
aneignen konnte. Eure Aufgabe ist es, ihm dieses zu entlocken und
alles, was Ihr von ihm zu erfahren vermögt, ist von Belang.“
Ich betrachtete das Bild nun näher. Dass all das auf diesen jungen
Mann zutreffen sollte, konnte ich nicht recht glauben. Ihm schienen
dafür schlicht die Lebensjahre zu fehlen. Mein Blick fiel auf die
Unterschrift in der linken Ecke, ich stutzte. „Dieses Gemälde ist
fast zwanzig Jahre alt, wie soll ich ihn denn erkennen?“
Mein Gegenüber sah mich ernst an. „Ihr werdet ihn schon erkennen,
wenn Ihr ihm am Hofball begegnet. Er hat sich nicht sehr verändert.
Und wagt es in diesem Fall nicht mich zu enttäuschen, habt Ihr
verstanden, Anne?“
„Ja, Eminenz“, antwortete ich kühl mit einem leichten Nicken. Ich
beäugte das Bild noch einmal gründlich. Letztlich war er, gleich
wie gebildet, auch nur ein Mann mit einfachen männlichen Trieben.
Er würde nicht schwieriger zu überlisten sein als die anderen vor
ihm.
Von diesem Standpunkt war ich nicht abgekommen, als ich mich in
einem edlen Kleid aus feinen Stoffen unter die Gäste des
königlichen Balls mischte. Bisher hatte ich den Louvre nur von
außen bewundert, die innere Pracht war schier überwältigend. Der
große Saal war festlich geschmückt, die reichhaltig gedeckte Tafel
ächzte unter mehr Essen als ich jemals gesehen hatte. Wie viele
Hungernde würden davon satt?
Ich wandte meinen Blick von den Speisen ab, ließ ihn auf der Suche
nach dem Grafen de Saint Germain durch die Menge der Männer und
Frauen schweifen. Auf dem Gemälde mochte er kaum älter sein als
fünfundzwanzig, so musste ich nach einem Edlen im reiferen Alter
Ausschau halten. Bereits mehrmals war ich durch den Saal gegangen,
als ich in einiger Entfernung einen Adligen bemerkte, der fein
gekleidet war, doch ohne den Pomp, mit dem man sich sonst heraus
putzte. Er stand beinahe reglos da, drehte mir den Rücken. Während
ich ihn noch ansah, wandte er sich jäh um und unsere Blicke trafen
sich. Es waren dieselben blauen Augen wie auf dem Bild des
Kardinals. Ich hatte den Grafen de Saint Germain gefunden! Und
jetzt verstand ich auch, was seine Eminenz mit den Worten, er hätte
sich nicht sehr verändert, gemeint hatte. Ewas ich sah, war kein
Mann in seinen Vierzigern. Er war immer noch jung! Der Graf schien
meinen Blick bemerkte zu haben, er kam auf mich zu und ich
versteifte mich unwillkürlich. Doch dann war er verschwunden, von
der Menge der Festgäste verschluckt.
Kapitel Kapitel 19
Kapitel 19
Weiterhin hielt ich nach dem Grafen Ausschau, doch ich vermochte
ihn in der Menge der ausgelassenen Gäste nicht mehr zu entdecken.
Dann hallten die Rufe der Wachen durch den Saal, hießen alle Leute
zurück zu treten und oben auf der breiten Treppe erschien König
Louis in Begleitung seiner Gattin. In den prächtigen Gewändern
steckte kaum mehr als ein Jüngling. Ein hübscher zwar, doch immer
noch ein Milchbart, der sicher kaum eine Ahnung davon besaß, wie
man ein solch großes Land regierte wie Frankreich es war. Der
Kardinal vermochte ihn leicht zu lenken, ihm sämtliche Worte in den
Mund zu legen, die die Geschicke aller Menschen in seinem Reich
entschieden. Mein Blick glitt weiter zu der Frau, die würdevoll an
seiner Seite schritt. Königin Anna war bildschön. Ihr volles
dunkles Haar, das zu einer kunstvollen Frisur geflochten war,
umrahmte die feinen ernsten Gesichtszüge, und klare braune Augen
sahen an einen Ort jenseits des Festsaals.
Musik drang in meine Gedanken, es wurde wieder zum Tanz gespielt
und die Paare begannen sich zu drehen. Hatte der König eine
Ansprache gehalten? Die Worte waren mir entgangen. Meine Muskeln
spannten sich unwillkürlich, als jemand vor mich trat. Es war nur
einer jener verwöhnten jungen Adligen, doch ich kannte ihn.
„Guten Abend, Gräfin de Lechelle“, sagte er in einem Tonfall, der
mich innerlich erschauern ließ. Robert Glénay de Briand war einer
jener Männer, die ich auf Befehl Richelieus ausspioniert hatte.
„Welch eine Freude, Euch zu sehen. Jammerschade, dass Ihr bei
unserer letzten Begegnung so früh gehen musstet.“
„Ich hatte den Eindruck Ihr wart sehr müde, Monsieur. Deswegen ließ
ich Euch schlafen“, antwortete ich kühl.
Mein Gegenüber lachte leise. „Vermutlich habt Ihr recht, denn sonst
hätte ich die Gegenwart einer solch schönen Frau kaum ungenutzt
gelassen. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben, so sagt man doch,
nicht wahr? Ihr langweilt Euch auf diesem Fest, das sehe ich Euch
an. Lasst uns den Abend ein wenig aufregender gestalten.“
Unwillkürlich musste ich schlucken. Ich hatte ihn mit meinen
Kräutern außer Gefecht gesetzt, ehe er über mich herfallen konnte.
Diesmal würde er sich bestimmt nicht so leicht abweisen lassen, er
war der Meinung, dass mein Körper ihm zustand. Bevor ich zu
reagieren vermochte, packte er mich am Handgelenk.
„Lasst mich sofort los“, zischte ich wütend. „Ihr tut mir
weh!“
„Wir wollen doch sicher gehen, dass Ihr Euch diesmal nicht so
schnell davon macht, meine Liebe“, raunte er unwirsch und wollte
mich in Richtung der Saaltüren dirigieren.
„Habt Ihr die Dame nicht verstanden?“
Diese samtige tiefe Stimme gehörte niemand anderem als jenem Mann,
den ich bereits gesucht hatte. Der Graf de Saint Germain war
unbemerkt an uns heran getreten und seine blauen Augen durchbohrten
Glénay de Briand förmlich. Dieser ließ jedoch nicht los, sondern
blickte nur herausfordernd zurück.
„Ich glaube nicht, dass ich mir von Euch irgendetwas befehlen
lassen müsste, und was ich mit dieser Dirne anstelle, geht Euch
nichts an!“
Der Graf vertat ihm den Weg, als er sich in Bewegung setzen wollte.
Sein Tonfall war immer noch ruhig, doch dadurch auch bedrohlich.
„Ich wiederhole mich nur noch einmal. Lasst augenblicklich die Dame
los, ganz offensichtlich wünscht sie Eure Gesellschaft
nicht.“
Für einen Moment befürchtete ich, dass der Jüngere nun auf ihn
losgehen würde, doch dieser sah wohl ein, dass hier kein
Kräftemessen möglich war. Er löste den Griff um mein Handgelenk,
wandte sich wortlos um und stapfte davon.
Ich wandte mich meinem Retter zu. „Habt vielen Dank, Graf.“
Dieser lächelte sanft. „Keine Ursache. Aber sagt, weshalb gibt sich
eine edle Frau wie Ihr mit einem solchen Burschen ab?“
„Sicher nicht freiwillig“, murmelte ich. „Er schien wohl zu denken,
er hätte ein Recht an mir, weil ich ihm gefalle.“
„Diesem Irrtum erliegen bei einer schönen Frau viele Männer,
schätze ich.“ Der Graf reichte mir die Hand. „Hört, sie spielen zum
Tanz. Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, Madame?“
Unsicher hielt ich inne, rührte mich nicht. „Ich kann nicht
besonders gut tanzen, um ehrlich zu sein.“
„Das müsst Ihr nicht, so lange es gut aussieht. Lasst Euch einfach
von mir führen. Nehmt die Musik in Euch auf, fühlt sie.“
Ich bemühte mich seinen Bewegungen zu folgen und es erwies sich als
erstaunlich leicht. Er war ein ausgezeichneter Tänzer. Als die
Musiker schließlich eine Pause machten, merkte ich, dass ich Atem
schöpfen musste. So hatte noch nie ein Mann mit mir getanzt,
währenddessen hatte ich völlig vergessen wo ich mich befand.
Er führte mich an der Hand ein wenig beiseite. Selbst schien ihn
der Tanz kein wenig außer Atem gebracht zu haben. Seine eisblauen
Augen musterten mich, es war ein Blick, der mir keine Angst machte,
es mir jedoch kalt den Rücken hinab laufen ließ. Etwas Seltsames
war an ihm, das ich mit Worten nicht zu erklären vermochte. Er
schien direkt einer jener schönen Geschichten zu entstammen, die
Mama mir erzählt hatte, als ich noch klein gewesen war. Märchen von
starken mutigen Prinzen auf dem weißen Pferd, die Königstöchter aus
großer Not retteten und sie dann zur Gemahlin nahmen, um für den
Rest ihres Lebens gemeinsam glücklich zu sein. Nichts als dumme
Geschichten!
„Ihr tanzt doch gut, ich weiß gar nicht, was Ihr daran auszusetzen
habt“, sagte der Graf auf einmal. „Seid Ihr inzwischen
hungrig?“
Mein Magen beantwortete diese Frage mit einem vernehmlichen
Knurren, das mich erröten ließ. Ein Grinsen huschte über das
Gesicht des Mannes mir gegenüber, er sagte jedoch nichts. Obwohl
die Tafel unter den edelsten Speisen ächzte, nahm ich mir nur etwas
Brot, Käse und ein Buttercroissant. Das süße Gebäck liebte ich über
alles. Der Graf hielt keinen Teller in der Hand, sondern nur zwei
Gläser mit Weißwein, von denen er mir eines reichte.
„Esst Ihr nichts?“ fragte ich ihn erstaunt.
Er schüttelte den Kopf. „Ich habe vor dem Fest schon etwas zu mir
genommen und bin nicht hungrig. Aber über Euch muss ich mich
wundern, all diese feinen Köstlichkeiten verschmäht Ihr?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Escargots, Crevettes… wie kann ich
davon essen, wenn ich daran denken muss, wie viele hungernde
Menschen satt würden, kaufte man Brot für all das
Geld.“
„Ja, das ist wahr. Als Gräfin lebt Ihr im Wohlstand, aber Ihr denkt
an jene, die es nicht so gut getroffen haben, das gefällt
mir.“
Ich vermochte nur zu nicken. Dass ich tatsächlich eine Adlige
gewesen war, eine Comtesse, lag nicht weit zurück, und doch war es
inzwischen so fern wie ein Traum. Mein einziger Reichtum war die
Gunst des Kardinals. Mein Blick glitt abwesend zu einem der großen
Fenster hinaus.
„Es ist eine schöne Nacht heute“, bemerkte er in dieselbe Richtung
sehend. „Würdet Ihr mich auf einen Spaziergang in den Park
begleiten, wenn Ihr aufgegessen habt?“
Eigentlich hätte ich genau in diesem Moment argwöhnisch werden und
ablehnen sollen, doch tat ich es nicht. Ich war aber wachsam, als
ich schließlich mit ihm hinaus ins Freie ging.
Die Nacht war klar, es standen viele Sterne am dunklen Himmel, wie
winzige Diamanten auf schwarzem Samt. Ein kühler Herbstwind wehte,
der Winter näherte sich merkbar. Der Graf de Saint Germain und ich
unterhielten uns über viele verschiedene Dinge, von denen die
meisten freilich nicht zum gewöhnlichen Gesprächsstoff für eine
Frau gehörten. Ich lauschte gespannt seinen Erzählungen über seine
Reisen nach Afrika und Indien, fand immer noch mehr Dinge, die ich
wissen wollte, und vergaß dabei fast meinen Auftrag. Auch merkte
ich nicht wie weit wir eigentlich gingen, bis er nach einer langen
Weile vor einem unscheinbaren Haus stehen blieb.
„Hier wohne ich im Moment, mein Zimmer liegt ganz oben unter dem
Dach.“ Er wies auf das kleine dunkle Fenster. „Der Monsieur wird
nichts dagegen haben, wenn wir uns seine Kutsche ausleihen, damit
ich Euch nach Hause bringen kann.“
„Oh, das müsst Ihr nicht“, widersprach ich sofort. „Ich werde zu
Fuß gehen, das macht mir nichts.“
Der Graf hob überrascht die Brauen, nickte jedoch. „Dann solltet
Ihr Euch aber zunächst mit einem heißen Tee aufwärmen. Ich habe
welchen aus Indien, der mit etwas Milch und Zucker hervorragend
schmeckt.“
Ich folgte ihm hinauf in sein kleines Reich, das gar nicht so war,
wie man sich das Heim eines reichen Comtes vorstellte, der in den
bedeutenden Könighäusern ein und aus ging. Gegenstände gab es, wie
ich sie nie zuvor gesehen hatte. Der Tee war tatsächlich köstlich,
er schmeckte süß nach Gewürzen. Eine angenehme Wärme breitete sich
in mir aus, bis in meine Fingerspitzen.
„Ihr seid der erste Mann auf der Welt, der von gleich zu gleich mit
mir spricht“, stellte ich nachdenklich fest. Selbst Olivier hatte
sich über manche Themen niemals mit mir unterhalten.
Der Graf lächelte mich an. „Wir mögen den kräftigeren Körper
besitzen, aber ihr Frauen habt zweifelsohne den helleren Kopf. Ihr
fangt keine Kriege an, ihr betet, dass sie aufhören.“
Ein wenig verlegen blickte ich in meine Tee. „Ich habe es
aufgegeben zu einem Gott zu beten, der nur der Schild der Männer
ist, die ihm zu dienen vorgeben.“
„Sagt so etwas nicht!“ Er stellte meine Tasse beiseite, um meine
Hände zu drücken. „Wenn Ihr glauben wollt, solltet Ihr Gott das
sein lassen, was Euer Herz Euch zeigt, nicht das, was Euch andere
sagen, gleich ob Priester oder Kardinal.“
Jäh erinnerte er mich damit wieder an meinen Auftrag. Ich hatte
mich daran gewöhnt die Männer auszunutzen, um das zu bekommen, was
ich wollte. Es war nicht schwer, bei diesen arroganten
selbstgefälligen Adelssprossen, an die ich bisher geraten war,
jedoch der Graf de Saint Germain war anders. Er behandelte mich
völlig gleichwertig und ich verspürte nicht den Wunsch ihn als Dank
für den schönen Abend, den er mir bereitet hatte, zu verraten. Aber
ich musste es tun, um meines ungeborenen Kindes willen. Doch
vielleicht konnte ich ihm vorher auch noch etwas geben.
Behutsam strich ich ihm über die Wange und begann ihn sanft zu
küssen. Zunächst war er wohl überrascht, aber dann erwiderte er den
Kuss, ich ließ seine Zunge in meinen Mund ein. Meine Finger glitten
über seinen Bauch, suchten den Weg unter sein Hemd. Plötzlich hielt
er inne, fing meine Hände ein.
„Madame… Anne, Ihr müsst das nicht tun. Ihr seid mir gegenüber zu
nichts verpflichtet.“ Er sah mich eindringlich an.
Ich lächelte leicht, ehe ich ihn erneut küsste. Diesmal ließ er
meine Finger ihre Wanderschaft fortsetzen, er zog mich jäh auf
seinen Schoß und seine Hände begannen nun auch über meinen Körper
zu gleiten. Geschickt löste er alle Bänder meines Kleides und
bedeckte jede freigelegte Stelle meiner Haut mit federleichten
Küssen. Es fühlte sich unglaublich gut an, ich hatte schon fast
vergessen, dass ich zu solchen Empfindungen fähig war. Meine Hände
befreiten ihn von seinem Hemd, seine Brust war ganz glatt und
muskulös. Als er sich erhob, schlang ich die Beine um seine Hüften,
ließ mich von ihm auf das Bett legen. Jetzt konnte er mir das Kleid
ganz ausziehen und seine Finger glitten über meinen entblößten
Bauch. Ich spürte wie er inne hielt. Hatte er es bemerkt? Nach
einigen Augenblicken jedoch setzte er seine zuvor unterbrochene
Tätigkeit fort und ich seufzte leise auf. Ungeduldig öffnete ich
seine Hose, zog ihm das Kleidungsstück hinab, bis er sich
schließlich ganz davon entledigte. Seine Hände wanderten an den
Innenseiten meiner Schenkel aufwärts und ich keuchte überrascht
auf. Erneut küsste er mich begehrend. Ich spürte seine Männlichkeit
zwischen meinen Beinen, streckte ihm das Becken entgegen, und dann
glitt er vorsichtig in mich. Seine gleichmäßigen Bewegungen wurden
bald schneller, ich stöhnte leise, winkelte die Beine an, um ihn
tiefer in mich zu lassen. Mein Verstand vernebelte sich, als er
mich an den Gipfel meiner Lust brachte und meinen Aufschrei in
einem Kuss erstickte.
Kapitel Kapitel 20
Kapitel 20
Herrlicher Duft drang in meine Traumwelt und ich blinzelte
verschlafen. Das jähe helle Licht der durch das Dachfenster herein
fallenden Sonne schmerzte für einen Moment in meinen an das Dunkel
der Nacht gewöhnte Augen. Verwundert betrachtete ich den Raum, in
dem ich mich aufhielt. Ich benötigte etwas Zeit, um mich zu
erinnern, wie ich hierher gelangt war. Der Mann, der mich am
vergangenen Abend so leidenschaftlich und doch zärtlich geliebt
hatte, platzierte mit einem Lächeln ein Tablett vor mir auf der
Bettdecke.
„Guten Morgen“, sagte er sanft. „Ich habe Euch Frühstück
mitgebracht, schließlich müsst Ihr gut essen.“
Röte durchzog meine Wangen. Es war ihm also nicht entgangen. Das
Baguette mit Käse und den starken schwarzen Kaffee nahm ich gerne
an, beides schmeckte köstlich und ließen das Leben in meinen Körper
zurück kehren.
„Danke für das herrliche Frühstück“, meinte ich mit einem Lächeln
zu ihm, als ich aufgegessen hatte. „Seid Ihr gar nicht
hungrig?“
Er vollführte eine ablehnende Geste. „Ich habe schon gegessen, als
Ihr noch im Traumreich verweiltet.“ Sein Blick streifte verstohlen
meinen Unterleib, er schien für einen Moment zu überlegen, ob er
aussprechen sollte, was ihm auf der Zunge lang. „Was ist denn mit
dem Vater Eures Kindes geschehen?“
Kummervoll beim Gedanken an das unrühmliche Ende meiner Ehe mit
Olivier senkte ich den Kopf. „Er ist tot.“
„Das tut mir leid“, sagte der Graf mitfühlend. „Ich wollte Euch
nicht zu nahe treten, bitte verzeiht mir.“
„Schon gut. Es ist ja nicht mehr zu ändern.“ Diese Notlüge erschien
mir die einfachste Möglichkeit das Thema schnell zu beenden und mir
weitere unangenehme Fragen zu ersparen. Und eigentlich entsprach es
auch bisschen der Wahrheit. Olivier lebte zwar noch, nahm ich an,
doch meinen Ehemann gab es nicht mehr. Für eine Weile schwiegen wir
beide und ich lauschte den dumpfen Schlägen einer nahen
Kirchenglocke, die durch die Gassen hallte. In Gedanken zählte ich
mit, bis sie bei zehn verstummte und es mich siedend heiß traf.
Dass es so spät war, hatte ich nicht gedacht. Bereits in einer
Stunde erwartete mich Kardinal Richelieu, damit ich ihm darlegen
konnte, was ich dem Grafen de Saint Germain so an Geheimnissen
entlockt hatte.
„Ich muss gehen!“ stieß ich hervor, sprang eilig auf die Beine. Nur
ungern wollte ich ihn jetzt einfach so stehen lassen, ich sah ihn
entschuldigend an. „Danke für den schönen Abend gestern, für das
Frühstück, auch für Eure Worte... es gibt so vieles in der kurzen
Zeit, wofür ich mich bei Euch bedanken muss.“
Er lächelte mich an und da war wieder dieser Ausdruck in seinem
Gesicht, der mir zeigte, dass ich einen viel reiferen
lebenserfahreneren Mann vor mir hatte, als sein jugendliches
Aussehen verriet. „Genauso habe ich Euch zu danken, ich habe Eure
Gesellschaft sehr genossen.“ Er zog die Kette hervor, die er unter
dem Gewand verborgen trug und legte sie mir in die Hand. Ich
erinnerte mich dunkel daran den weißen Anhänger in Form einer
gewundenen Schlange, der an einem Lederband hing, am Vorabend an
seinem Hals bemerkt zu haben. „Das möchte ich Euch gerne schenken.
Ich habe den Anhänger aus Afrika mitgebracht, er stellt einen
Flussgott dar und er bringt Glück. Ihr könnt ihn über die Wiege
hängen, wenn Euer Kind geboren ist.“
Behutsam, beinahe ehrfürchtig strich ich über die glatte Oberfläche
des außergewöhnlichen Stückes. „Er ist wunderschön, vielen Dank!
Werde ich Euch denn jemals wiedersehen?“
Erneut umspielte ein geheimnisvolles Lächeln seine Lippen. „Ich
werde bald nach Ägypten reisen. Wenn das Schicksal es so will,
kreuzen sich unsere Wege bestimmt eines Tages erneut. Bis dahin,
lebt wohl. Ich wünsche Euch das Beste.“
„Ich Euch ebenso...“ antwortete ich leise. Ich stellte mich auf die
Zehenspitzen und drückte ihm einen Abschiedskuss auf die Wange.
Dann eilte ich davon, ohne auch nur ein einziges Mal zurück zu
blicken, auf das Haus, in die Gasse. Wenn ich etwas im Leben
gelernt hatte, dann nur nach vorne zu blicken, niemals hinter
mich.
Der Kardinal hob die Augen von den Papieren auf seinem Tisch, als
sein Gardist mich in den prächtig ausgestatteten Raum wies, den ich
bereits kannte. Seine Augenbraue glitt kaum merklich in die
Höhe..
„Seid gegrüßt, Eminenz“, begann ich höflich, während ich abwartend
ein paar Schritte entfernt von der großen Tür stehen blieb.
„Ah, meine liebe Anne. Tretet näher.“ Er wies auf den Stuhl ihm
gegenüber auf der anderen Seite des Tisches.
Schweigend nahm ich Platz, ohne auch nur für einen Moment den Blick
von ihm abzuwenden. In einer fließenden Bewegung erhob er sich,
trat langsam vor mich. Da war wieder dieses angedeutete Grinsen in
seinen Mundwinkeln, das mir nicht behagte. Seine stechenden Augen
glitten anzüglich über meinen Körper und ich neigte mich ein wenig
vor, damit das Kleid unter keinen Umständen um meinen Bauch
spannte. Er würde es erfahren, doch wollte ich das so lange hinaus
zögern, wie es möglich war.
„Nun, was habt Ihr mit denn Schönes mitgebracht?“ fragte er
schließlich.
Ich versuchte meine Stimme fest und sicher klingen zu lassen, als
ich zu einer Antwort ansetzte. „Der Graf de Saint Germain dürfte
tatsächlich ein so kluger Mann sein, wie Ihr ihn mir beschrieben
habt. Er weiß seine Geheimnisse zu hüten. Leider waren meine
Bemühungen diesmal nicht erfolgreich.“
Zorn blitzte in seinen Augen. Jäh packte er mich am Kinn, riss
meinen Kopf so heftig in die Höhe, dass ich einen Schmerzenslaut
unterdrückte. „Wie könnt Ihr es wagen?! Dieser Auftrag war von
allergrößter Wichtigkeit, habe ich Euch das nicht deutlich genug
gemacht? Ihr habt mich enttäuscht Anne. Vielleicht habe ich mich
geirrt und Ihr seid doch nicht so gut wie ich dachte.“
Ich widerstand der Versuchung mir ans Kinn zu fassen, als er seinen
eisernen Griff löste. „Eminenz, ich habe mein Bestes versucht, doch
offensichtlich hält er es nicht unähnlich wie Ihr selbst. Er traut
niemandem.“
Der Kardinal lachte leise. „Nun ja, er ist zweifelsohne keiner von
diesen dummen verwöhnten Adelssprösslingen, wie Ihr sie bisher nur
zu leicht um den kleinen Finger gewickelt habt. Ihr sollt noch eine
Chance erhalten, heute will ich gnädig sein. Aber wagt es ja nicht
mich noch einmal zu enttäuschen, habt Ihr verstanden?“ Er zog mich
an den Schultern in die Höhe, sodass ich ihm dicht genug gegenüber
stand, um seinen heißen Atem im Gesicht zu spüren.
„Ja, Eminenz“, entgegnete ich nur kühl.
Leicht, beinahe zärtlich strich er mir über die Wange, was mich
eiskalt erschauern ließ. Seine Hand glitt langsam meinen Hals
hinab. Ich widerstand dem Drang so schnell wie möglich Abstand
zwischen ihn und mich zu bringen, um ihn nicht unnötigerweise in
Rage zu versetzten.
„Ihr seid eine bemerkenswert reizvolle Frau, Anne“, säuselte er.
Als er mich zu küssen versuchte, drehte ich rasch den Kopf zur
Seite, was ihm einen irritierten Blick entlockte.
„Euer Gelübde sieht solcherlei bestimmt nicht vor, korrigiert
mich“, sagte ich gelassener als mir innerlich zumute war.
Erneut lachte er amüsiert. „Auch Gottes Sohn war den körperlichen
Freuden nicht abgeneigt, wenn man zur Bibel noch weitere Schriften
studiert.“ Gierig umfasste er meine Brüste.
„Ich rate Euch Eure Finger lieber bei Euch zu behalten, sonst endet
unsere Zusammenarbeit hier und jetzt, sobald ich durch diese Tür
gehe“, zischte ich.
„Habt Ihr denn keinen Sinn für ein kleines Vergnügen?“ Der Kardinal
drückte mich gegen die Kante des großen Tisches. „Kirchenmännern
scheint Ihr ja sonst nicht abgeneigt zu sein.“
„Das hängt davon ab, ob mir eine Wahl gelassen wird!“ Rasch entzog
ich mich seinen Annäherungen, suchte genügend Abstand, um aus
seiner Reichweite zu gelangen. Dieser Mensch widerte mich an! Er
wusste genau, dass ich mich diesem Priester keineswegs aus freien
Stücken hingegeben hatte, es interessierte ihn nur nicht. In seinem
Weltbild konnte ein Mann mit einer Frau anstellen was er wollte,
und sie hatte ihm bedingungslos zu gehorchen. Wenn er mich jedoch
für ein solches dummes unterwürfiges Weib hielt, irrte er sich
gründlich! Für ihn hatte ich meinen Körper verkauft, doch bevor ich
mich auch noch zu seiner Hure machen ließ, wollte ich eher mein
Ende auf der Straße finden. Dieses letzte bisschen Stolz hatte ich
vor mir zu bewahren.
Von meiner Reaktion offenbar überrascht, hob Richelieu die
Augenbrauen, verzichtete jedoch darauf sich mir wieder zu nähern.
„Entweder seid Ihr sehr mutig, oder aber ausgesprochen töricht, mir
Widerspruch zu leisten. Ihr habt Euren eigenen Kopf, das gefällt
mir. Nun geht, Ihr werdet von mir hören, wenn ich einen neuen
Auftrag für Euch habe.“ Er wies mit dem Kopf auf die Tür. „Aber das
letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Ich bekomme immer was ich
will.“
So schnell ich konnte, ohne in einen Laufschritt zu verfallen,
verließ ich die Räumlichkeiten des Kardinals, bevor er es sich
vielleicht doch noch anders überlegte. Der Gardist, der mich
hergebracht hatte, geleitete mich nun auch wieder ins Freie. Kalter
Wind blies durch die Straßen und ich fröstelte, denn mein Kleid war
für diese Jahreszeit ein wenig zu leicht. In der Eile hatte ich
meinen Umhang im Zimmer des Grafen zurück gelassen. Weil ich nur
diesen einen besaß, machte ich mich auf den Weg, ihn zu holen. Es
dauerte nicht lange bis ich das Haus erreicht hatte. Auf mein
Klopfen hin, öffnete ein kleiner dünner Mann, offenbar der
Eigentümer.
„Guten Tag, Monsieur“, begann ich höflich. „Ich wollte zum Comte de
Saint Germain. Ist er da?“ Mein Blick fiel für einen Moment auf das
Dachfenster.
Mein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Bedauerlicherweise ist er
bereits fort, er wollte nach Marseille, glaube ich. Er sagte, dass
Ihr vielleicht kommen würdet.“
Überrascht blieb ich zurück, als der Mann im Inneren des Hauses
verschwand, um kurz darauf mit dem Umhang in den Händen zurück zu
kehren, den ich vergessen hatte. „Ich nehme an, Ihr seid deswegen
hier.“
„Ja, ich danke Euch sehr“, antwortete ich, während ich das
Kleidungsstück entgegen nahm und um meine Schultern legte. Endlich
begann es mir wieder schön warm zu werden. „Ich will Euch nun nicht
länger aufhalten. Auf Wiedersehen, mein Herr, einen schönen
Tag.“
„Euch auch, Madame“, Er lächelte leicht, schloss die schwere
knarrende Tür, als ich mich zum Gehen wandte.
Mein Blick glitt ein letztes Mal hinauf zu dem Dachfenster.
Insgeheim hatte ich gehofft den Grafen noch einmal wiederzusehen.
Es sollte wohl nicht sein. Es gab Menschen, die einfach nicht dafür
geschaffen waren, immer am selben Ort zu bleiben und er gehörte
wahrscheinlich dazu. Ich glaubte nicht, dass ich ihm jemals wieder
begegnen würde, auch wenn er dies angedeutet hatte. Die wenigen
Stunden mit ihm gaben mir mehr, als die meisten anderen Menschen,
mit denen ich viel mehr Zeit verbracht hatte. Hoffnung. Das Gefühl
von jemandem so gesehen zu werden wie ich war.
Kapitel Kapitel 21
Kapitel 21
Das Neujahrsfest im Louvre lag bereits wieder ein paar Wochen
zurück. Im Mantel der Gräfin de Lechelle hatte ich vom Kardinal
eine Einladung für dieses große Ereignis erhalten, damit ich
zwischen dem versammelten Hochadel ein wenig die Augen und Ohren
offen hielt. Männer bezirzen konnte ich nun nicht mehr, da ich in
meinem derzeitigen Zustand nicht besonders begehrenswert war.
Dieser Meinung schien auch Seine Eminenz höchstpersönlich zu sein,
denn er unterließ seine Annäherungsversuche. Auf die Neuigkeit
selbst hatte er überraschend gleichgültig reagiert. Trüge ich nicht
bereits Oliviers Kind in mir, wäre ich wohl früher oder später von
einem dieser verwöhnten Adelssprösslinge schwanger geworden, auf
die ich angesetzt wurde. Ich dankte es jedoch dem Himmel, dass es
so weit nicht gekommen war.
Für die Zeit, über die ich nun keine Aufträge ausführen konnte,
hatte ich eine neue Aufgabe erhalten. Ich musste die englische
Sprache erlernen. Das gefiel mir, denn es verschaffte mir neue
Möglichkeiten. Irgendwann wollte ich die Britischen Inseln sehen.
Ein alter Wachmann der Garde, der einige Jahre in England verbracht
hatte, erteilte mir auf Geheiß des Kardinals Unterricht. Monsieuer
Grimaud versuchte es zwar hinter seinem mürrischen Gebaren zu
verbergen, doch ich merkte, dass er diese Abwechslung in seinem
nunmehr ruhigen Leben durchaus zu schätzen wusste. Sein Unterricht
glich in gewisser Weise den Fechtstunden, die mir Olivier ab und zu
erteilt hatte, um mir beizubringen mich im Notfall zu verteidigen.
Er brachte mich jedes Mal mit einer neuen Herausforderung an meine
Grenzen - nicht nur an jene der Geduld. Obwohl ich mich bemühte
schnell zu lernen und es mir auch bald gelang mich einigermaßen
verständlich zu machen, genügte ihm das nicht. Eine Sprache war für
den alten Streiter wie ein Instrument. Jedes kleine Kind konnte in
eine Flöte blasen, doch ihr eine Melodie zu entlocken musste man
erst lernen.
Langsam wanderte ich durch die winterlichen Straßen heimwärts. Von
dem glitzernden Weiß frisch gefallenen Schnees war längst nur noch
unansehnlicher grauer Schlamm zurückgeblieben. Ich war ganz in
meiner Gedankenwelt versunken, hörte deshalb die von zwei Pferden
gezogene Kutsche erst, als sie in scharfer Geschwindigkeit so dicht
an mir vorbei ratterte, dass ich gerade noch einen Satz rückwärts
machen konnte. Schmutzigbraune Schneereste spritzten mein Kleid
nass.
„Merde!“ fluchte ich wütend.
Jäher Schmerz in meinem Unterleib ließ den Ärger rasch wieder
verrauchen und ich legte die Hand auf meinen rundlichen Bauch. Das
Kind bewegte sich in meinem Inneren. Es waren die Tritte seiner
winzigen Füße, die ich spürte.
Dankbar für die angenehme Wärme, die ich in meinem Zimmer im Hause
des Ehepaars Thorigny vorfand, entledigte ich mich der dicken
Winterkleidung. In meinem momentanen Zustand fühlte ich mich auch
ohne die zusätzlichen Schichten aus Stoff schwer genug. Ich konnte
es schon jetzt kaum erwarten mein Kind endlich in den Armen zu
halten, obgleich ich wusste, dass es noch für eine Weile in mir
wachsen würde, ehe es bereit war, auf die Welt zu kommen. Nur im
Unterkleid ließ ich mich aufs Bett sinken und legte eine Hand auf
meinen geschwollenen Leib. Wieder reagierte das kleine Wesen in mir
mit heftigen Bewegungen.
„Du bist aber ganz schön wild heute“, murmelte ich verträumt
lächelnd. „Langsam wird es wohl ein wenig eng bei dir. Ein bisschen
Geduld müssen wir beide noch haben. Wenn du auf die Welt kommst,
hat der Frühling längst angefangen und die Sonne wird dir gefallen.
Ich freue mich auch schon auf die wärmere Zeit. Hier in der Stadt
sind die Winter nicht schön, aber irgendwann werde ich dir zeigen
wie herrlich verschneite Felder und Wälder sind, das verspreche ich
dir.“
Während ich leise mit meinem Kleinen sprach, ließen die Tritte
immer mehr nach, bis es ganz ruhig war. Es schlief. Und auch mir
fielen die Augen zu. Dabei musste ich noch die Schriften lesen, die
mir Grimaud als Hausarbeit mitgegeben hatte. Er würde schimpfen,
wenn ich es nicht tat. Sollte er. Seit mir die Schwangerschaft
deutlich anzusehen war und der Kardinal mich zufrieden ließ, hatte
mein Leben wieder eine gewisse Regelmäßigkeit gewonnen und ich war
so ausgeglichen wie seit der Zeit mit Olivier nicht mehr. Dieses
Kind war der Mittelpunkt meines Seins.
Als während einer sehr kalten Nacht das Ziehen in meinem Rücken
begann und ich deshalb keine Ruhe fand, bis es vor dem Fenster hell
geworden war, machte ich mir noch keine Sorgen. Ich ging lange ohne
ein wirkliches Ziel draußen umher, um Erleichterung in der bloßen
Bewegung zu suchen. Es half nicht. Anstatt nachzulassen, wurde die
Pein stetig heftiger und kehrte in immer kürzeren Abständen wieder.
Für einen Augenblick lehnte ich mich gegen eine nahe Hausmauer, um
mich auszuruhen. Meine Beine waren so schwer. Ich wollte nur noch
zurück in meine vier Wände und mich unter die warme Bettdecke
kuscheln.
Auf dem Flur begegnete ich Madame Thoriginy, die offenbar soeben
den Boden von den Pfützen schneefeuchter Schuhe gereinigt hatte.
Sie bedachte mich mit einem mürrischen Blick, weil ich ihre ganze
Arbeit nun wieder zunichte machte. Als ein erneuter Krampf meinen
Körper erfasste und ich mich am Stiegengeländer festhielt, änderte
löste sich ihre versteinerte Miene.
„Was habt Ihr, Madame?“ fragte sie und trat hinter mich, um mich zu
stützen.
„Ich weiß es nicht... die Schmerzen lassen einfach nicht mehr
nach... seit der vergangenen Nacht.“
„Schafft Ihr es allein hinauf zu Eurem Zimmer?“ Sie musterte mich
eindringlich. „Legt Euch bitte hin. Ich schicke gleich meinen Mann
zu Madame Chamberet.“
Die Hebamme?? Es war doch noch vor der Zeit, das konnten keine
Wehen sein. Aber was war es dann? In meinem Gemach angelangt ließ
ich mich sogleich aufs Bett sinken. Jetzt verspürte ich wirklich
Angst. War etwas mit meinem Kleinen nicht in Ordnung? Nein, ihm
durfte einfach nichts fehlen!
„Bitte... hör auf...“, murmelte ich mit beiden Händen auf meinem
Bauch. „Es ist noch zu früh für dich...“
Nach einiger Zeit kam Madame Thorigny tatsächlich mit der Hebamme,
die sich meiner annahm. Ich überließ mich ihren kundigen Händen,
hoffend, dass sie wusste, was nicht stimmte und auch etwas dagegen
unternehmen würde. Madame Chamberet war noch recht jung und ihr
pausbäckiges Gesicht verlieh ihr ein gutmütiges Aussehen. Ihre
sanften dunklen Augen nahmen jedoch einen besorgten Ausdruck an,
als sie behutsam meinen Leib abtastete.
„Ihr habt Wehen“, sagte sie schließlich. „Wenn die Schmerzen
kommen, müsst Ihr tief durchatmen. Verstanden? Es wird jetzt nicht
mehr lange dauern.“
„Aber... aber es ist doch noch viel zu früh!“ entfuhr es mir mit
deutlicher Panik in der Stimme.
Sie bedachte mich mit einem beruhigenden Lächeln und drückte meine
Hand. „Ihr müsst Euch jetzt vollkommen darauf konzentrieren Euer
Kind auf die Welt zu bringen. Nur das ist von Bedeutung!“
Bevor mich erneute Pein erfasste, brachte ich noch ein Nicken
zustande. Bald gelang es mir ohnehin nicht mehr an etwas anderes zu
denken als die Wellen des Schmerzes und ich sehnte mich nur danach,
dass es endlich vorbei war.
„Pressen!“ wies die Hebamme mich an. „Jetzt!“
Gehorsam sammelte ich meine Stärke und drückte mit der Wehe bis sie
verebbte. Einmal. Zweimal. Dann beim dritten Mal glaubte ich zu
zerspringen, ich hielt es nicht mehr aus. Wie ich die Kraft fand
noch ein letztes Mal fest zu pressen, wusste ich nicht. Ich hörte
mich selbst schreien, doch vermochte kaum meine eigene Stimme zu
erkennen. Und dann war es vorbei. Der ungeheure Druck in meinem
Unterleib war verschwunden. Endlich.
„Ihr habt es geschafft!“ sagte Madame Chamberet.
Erschöpft richtete ich mich auf, ich wollte mein Kind sehen. Es
schrie nicht. Ging es ihm gut? Die Hebamme hielt es behutsam fest.
Es war noch voll Blut und mit einer hellen dicklichen Masse
verklebt. Und es war so unglaublich klein und zart. Auf einmal
begann es zu schreien und ich realisierte, dass die blonde Frau ihm
eben einen Klaps auf das Hinterteil gegeben hatte. Ich sah zu, wie
sie es vorsichtig säuberte und in eine warme Decke wickelte. Dann
endlich legte sie mir mein Kind in die Arme.
„Ihr habt ein kleines Mädchen auf die Welt gebracht.“ Etwas in
ihrer Stimme wollte mir nicht gefallen. Immer noch waren ihre Augen
sorgenvoll. „Madame, ich will ehrlich mit Euch sein. Euer Kind ist
vor der Zeit geboren worden. Es ist sehr klein, aber wir wollen
hoffen, dass es dennoch stark genug ist. Wichtig ist nun, dass es
Nahrung zu sich nimmt.“
Ein Mädchen! Ich war so gebannt vom Anblick meiner neugeborenen
Tochter, dass ich den Worten der Hebamme kaum folgte. Meine Kleine
sollte Mélisse heißen, nach meiner Gönnerin, ohne deren gutes Herz
ich Olivier ja gar nicht gekannt hätte. Mit klammen Fingern löste
ich die Knöpfe und Bänder meines Kleides, um meine Tochter an die
Brust zu lassen.
Kapitel Kapitel 22
Kapitel 22
Mélisse unternahm zwar Versuche zu saugen, doch blieben sie
erfolglos. Es kam keine Milch, ich konnte das Kind, das ich geboren
hatte, nicht ernähren. Die Hebamme schien damit gerechnet zu haben,
sie kehrte nach kurzer Zeit mit einem Fläschchen aus Holz zurück
und unterwies mich, wie ich es halten musste, damit die Kleine aus
dem darauf angebrachten ledernen Sauger zu trinken vermochte.
„Das ist für das Kind wesentlich leichter als Milch aus der Brust
zu bekommen“, erklärte Madame Chamberet. „Es sollte alle paar
Stunden nach Nahrung verlangen. Füllt das Fläschchen mit warmer
Kuhmilch, nachdem Ihr es vorher gut ausgewaschen habt.“
Ich nickte leicht, während Mélisse endlich an dem weichen Leder
saugte. Als sie offenbar satt waren und ihre kleinen Lippen
losließen, blickte ich die Hebamme zögernd an. „Sie wird es doch
schaffen, oder?“
Die blonde Frau seufzte leise. „Ich wünschte wirklich, ich könnte
Euch diese Sicherheit geben. Dass sie getrunken hat, ist jedenfalls
ein gutes Zeichen. Aber ich will ganz ehrlich mit Euch sein. Eurer
kleinen Tochter steht eine schere Zeit bevor, sie ist schwach. Wenn
sie durchhält, wird jede verstreichende Stunde sie dem Leben näher
bringen. Betet für Sie, mehr könnt Ihr jetzt nicht tun.“
Darauf vermochte ich nichts zu erwidern, eine eisige Kälte
bemächtigte sich meiner. Madame Chamberet schenkte mir ein Lächeln,
das mich trösten sollte, und legte mir die Hand auf den Arm, ehe
sie sich erhob.
„Ich werde nach Hause gehen. Ruht Euch jetzt aus, Ihr benötigt
Schlaf“, sagte sie. „Zögert bitte nicht, nach mir zu schicken,
sollte etwas sein.“
Dankbar nickte ich ihr zu und wünschte ihr noch einen angenehmen
Tag. Als sie mein Zimmer verlassen hatte, betrachtete ich
nachdenklich meine kleine Tochter. Sie schlief ganz friedlich in
meinen Armen, ich konnte ihre Atemzüge hören. Vielleicht bildete
ich es mir nur ein, weil es still war im Raum, doch die sachten
Geräusche schienen manchmal ungleichmäßig zu klingen. Obwohl die
Müdigkeit schwer auf mir lastete, fand ich keine Ruhe. Meine
Gedanken glitten das eine ums andere Mal langsam davon wie durch
die Finger rinnender Sand.
Wie die Hebamme geraten hatte, gab ich Mélisse aus der Flasche zu
trinken, als sie wach wurde. Sie nahm jedoch nur wenig von der
warmen Kuhmilch auf, sodass ich das hölzerne Gefäß beinahe noch
halbvoll auf das kleine wacklige Nachttischchen neben meinem Bett
stellte. Behutsam drückte ich meiner Tochter einen Kuss auf die
Stirn.
„Schlaf, meine Kleine. Du musst zu Kräften kommen, damit du bald
die Welt da draußen sehen kannst“, sagte ich leise zu ihr. „An
klaren Sommertagen ist der Himmel so blau und die Sonne fühlt sich
herrlich warm an auf der Haut. In den Büschen singen die Vögel.
Wenn du groß genug bist, werde ich dir das Reiten beibringen, so
wie dein Vater es mich gelehrt hat. Ich wünschte er könnte dich
jetzt sehen und dich halten. Strahlen würde er vor Stolz. Bestimmt
wirst du ihm später ähnlich sehen. Seine blauen Augen hast du ja
schon. Er hätte dich so geliebt.“
Ich war überzeugt davon, dass Olivier ein wunderbarer Vater
geworden wäre. Mélisse sollte erfahren welch ein Mensch er war, ich
nahm mir vor ihr viel von ihm zu erzählen. Sie sollte mit Stolz an
ihn denken und niemals mit Zorn. Dann tat ich etwas, das ich
eigentlich schon längst aufgegeben hatte. Ich betete zu Gott.
Die Stunden verrannen quälend langsam. Das Ende des Tages brachte
Wolken mit sich, die von den letzten Sonnenstrahlen in blutroten
Schimmer getaucht wurden. Die Erschöpfung, gegen die ich so lange
angekämpft hatte, trug schließlich den Sieg davon. Als ich aus dem
Schlaf schreckte, war es bereits dunkel vor den Fenstern. Ich
benötigte einige Augenblicke, um mich zurecht zu finden. Mélisse
lag völlig ruhig in meinen Armen, sie schien zu schlafen.
Inzwischen hätte sie längst wieder nach Nahrung verlangen sollen.
Behutsam legte ich meine Tochter auf die Bettdecke, um die Öllampe
auf dem Tisch vor dem Fenster zu entzünden. Flackernde Helligkeit
begann den Raum zu erfüllen.
Als ich Mélisse im Schein der Lampe betrachtete, wollte ich
aufschreien, doch aus meinem Mund drang nur ein ersticktes Keuchen.
Ihr Gesichtchen, das zuvor noch von einem zarten rosa Ton gewesen
war, hatte sich dunkel verfärbt. Ich begriff jäh, dass sie nicht
einfach still war, sondern vollkommen reglos. Ihre angestrengten
Atemzüge hatten sich nicht beruhigt, sie waren verstummt.
Vorsichtig drückte ich den leblosen kleinen Körper meiner Tochter
an mich. Das konnte doch nur ein schlimmer Traum sein, aus dem ich
jeden Moment erwachen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es
war die bittere Wahrheit.
„Warum? Warum tust du mir das an?“ wisperte ich heiser. Das sollten
die letzten Worte sein, die ich in meinem Leben an Gott
richtete.
Für eine lange Zeit saß ich einfach da, mein Kind in den Armen
haltend. Ich wollte nicht glauben, dass sie tatsächlich gegangen
war. Nur wie aus weiter Ferne nahm ich die ans Fenster prasselnden
Tropfen und die dumpfen Donnerschläge wahr.
Auf einmal war es mir, als stünde jemand dicht vor mir. Als ich
langsam den Kopf hob, erblickte ich ein vertrautes liebevolles
Gesicht, von dem ich angenommen hatte, es nicht wiederzusehen.
Blaue Augen betrachteten mich, die einer hübschen zierlichen Frau
mit nussbraunen Locken gehörten.
„Mama...“, flüsterte ich.
Sie ließ sich neben mich sinken, schloss mich in Arme und ich
konnte ihren lebendigen warmen Körper spüren. Behutsam strich sie
mir übers Haar, wie sie es oft getan hatte, als ich noch ein
kleines Mädchen gewesen war.
„Shhh“, sagte sie leise zu mir. Ihre sanfte melodische Stimme war
es, an die ich mich am deutlichsten erinnerte. „Ich bin ja da, mein
Liebes.“
Halt suchend schmiegte ich mich an sie, vermochte mich nicht
abzuwenden von ihr, weil ich fürchtete sie würde fort sein, sobald
ich sie nicht mehr sah. Dieses schöne Gesicht, das so voller Liebe
war. Der Ausdruck ihrer Augen war ernst, doch hatte er auch etwas
Tröstliches.
„Manchmal nimmt Gott ein gerade geborenes Kind wieder zu sich, weil
es noch nicht bereit für diese Welt ist. Deine kleine Tochter ist
jetzt an einem besseren Ort. Trauere um sie, aber vergiss dabei
nicht, dass dein eigenes Leben weiter geht. Du bist ja noch jung,
Anne, und auch wenn dir die Nacht jetzt endlos erscheint, wird ein
neuer Morgen folgen.“ Sie hielt inne, lächelte leicht. „Bessere
Tage wird es geben, wenn du immer Hoffnung in dir trägst.“
Ich spürte wie mir erneut die Tränen kamen. „Sie war doch alles was
ich hatte... Mama, was soll ich jetzt nur machen?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Du allein bestimmst wohin dein Weg
dich führt, das war die Wahl, die du getroffen hast.“ Sie
streichelte mir zärtlich über die Wange. Danach sprachen wir nicht
mehr. Die Ruhe, die sie ausstrahlte, gab mir ein Gefühl der
Geborgenheit, wie ich es schon lange nicht mehr verspürt hatte.
Vollkommen erschöpft sank ich in den Schlaf.
Helligkeit drang durch meine geschlossenen Lider. Der neue Tag
hatte begonnen und einzelne Sonnenstrahlen blinzelten am
wolkenverhangenen Himmel. Freilich war Mama nicht hier, ich
begriff, dass ich alles nur geträumt hatte. Doch war jemand im Raum
gewesen, denn das Fenster stand einen Spalt breit offen, sodass
frische Luft herein strömte, und auf dem Tisch entdeckte ich einen
Teller mit etwas Brot und Obst.
Aber Mélisse war fort. Erschrocken sprang ich aus dem Bett, drehte
mich mehrmals suchend herum. Wo war sie?? Den Namen meiner Tochter
rufend lief ich auf den Flur hinaus, wo ich bald auf Madame
Thorigny traf. Diese ließ verschreckt den großen Wäschekorb fallen,
als ich sie an den Schultern packte.
„Wo ist mein Kind? Wo ist es?“ rief ich.
Nachdem sich die ältere Frau wieder gefasst hatte, ergriff sie
meine Handgelenke und drückte mich bestimmt von sich, damit ich
aufhören musste sie zu traktieren. Bedauern stand in ihren dunklen
Augen.
„Es tut mir so leid, Madame, Eurem Kind konnte nicht mehr geholfen
werden. Als ich in Euer Gemach kam, um Euch eine Kleinigkeit zu
essen zu bringen, war es nicht mehr am Leben. Ich bat meinen Mann
dafür zu sorgen, dass es beerdigt wird, um Euch das zumindest zu
ersparen.
Ungläubig starrte ich sie an. „Nein... NEIN! Mélisse...ich will zu
ihr... sofort! MÉLISSE!“ Ich begann mich heftig gegen sie zu
wehren, schlug um mich, bis sie mich nicht mehr halten konnte. Wie
von Sinnen schrie ich die arme Frau an, bis ich jäh von starken
Armen gefasst und von ihr weggerissen wurde. Obwohl ich mich
gebärdete wie ein wildes in Raserei verfallenes Tier vermochte ich
mich dem harten Griff Monsieur Thorignys nicht zu entwinden. Er
lies mich nicht los, bis meine Kraft zuletzt aufgebraucht war und
meine Knie einfach nachgaben. Weinend brach ich zusammen.
Kapitel Kapitel 23
Kapitel 23
Auf die Trauer über den Tod meiner Tochter folgte bald eine tiefe
Leere in meinem Inneren. Obwohl es nur wenige Momente gewesen
waren, die ich sie im Arm halten durfte, schien ein Teil von mir
nun zu fehlen. Die meiste Zeit über lag ich im Bett, gab mich
Überlegungen hin, die am Ende völlig sinnlos waren. Schritte am
Gang, ein leises Klopfen an meiner Tür. Ich hatte nicht die Kraft,
darauf zu reagieren. Wann ich zuletzt etwas gegessen hatte, wusste
ich nicht mehr, und Wasser trank ich nur wenig. Was spielte es
schon für eine Rolle, ob ich irgendwann an Durst und Hunger
zugrunde ging? Niemandem würde es auffallen.
Irgendwann in diesen endlosen Stunden schob jemand einen Brief
unter meiner Tür hindurch. Auf dem Umschlag befand sich ein Siegel.
Obwohl ich mir nicht die Mühe machte mein Bett zu verlassen, um mir
das Schreiben anzusehen, wusste ich doch, dass es nur vom Kardinal
stammen konnte. Er ließ mir für gewöhnlich seine Anordnungen in
solchen versiegelten Briefen überbringen. Was auch immer er diesmal
von mir wollte, es interessierte mich nicht mehr. Nie wieder würde
ich seine Aufträge erfüllen. Es war mir gleich, ob ich ohne ihn im
Rinnstein verrecken würde. Jemand wie ich kam nicht in den Himmel,
von dem man mich in Kindertagen gelehrt hatte, doch selbst die
Hölle würde gegenüber diesem Leben eine Erlösung sein.
Ein nachdrückliches Klopfen holte mich aus meiner Apathie. Langsam
hob ich den Kopf, blickte auf die dunkle Tür, vor der immer noch
der ungeöffnete Umschlag lag. Ich reagierte nicht, hoffte nur, wer
auch immer dort draußen stand, würde unverrichteter Dinge wieder
seiner Wege gehen.
„Madame, ich weiß, dass Ihr da seid“, erklang dumpf eine vertraute
männliche Stimme. „Seine Eminenz ist keineswegs erbaut darüber,
dass Ihr seiner schriftlichen Anordnung in seinem Palais zu
erscheinen, nicht gefolgt seid. Er hat mich daher beauftragt Euch
daran zu erinnern. Ihr mögt mich jetzt begleiten.“
Das also stand in dem Brief. Nun wusste ich auch, dass es Gérôme
Beauval war, den der Kardinal geschickt hatte. Jener Gardist, der
mich bereits nach Paris gebracht hatte. Obgleich das erst wenige
Monate zurück lag, erschien es mir unendlich lange her zu sein.
Immer noch gab ich keine Antwort.
„Ich muss darauf bestehen, dass Ihr mit mir kommt, da mir
ausdrücklich befohlen wurde nicht ohne Euch zu erscheinen“, fuhr er
fort und klopfte erneut. Er würde sich nicht durch bloßes Schweigen
abweisen lassen.
„Wollt Ihr diese Tür einschlagen, wenn ich sie nicht aus freiem
Willen öffne?“
„Genau das beabsichtige ich zu tun, wenn es nötig sein sollte.
Jedoch wäre es mir lieber Ihr würdet mich freiwillig begleiten.
Glaubt mir, es ist besser für unser beider Seelenheil, der
Anordnung Seiner Eminenz zu folgen.“
Eine Unterredung mit dem Kardinal war gewiss das letzte, was ich
jetzt wollte, doch es schien als bliebe mir keine Wahl. Gérômes
Worte waren unmissverständlich, er würde mich zwingen mit ihm zu
gehen. Seufzend schlug ich die Bettecke zurück und erhob mich.
Dunkle Schlieren begannen sogleich vor meinen Augen zu tanzen,
sodass ich mich wieder setzen musste, ehe meine Knie nachzugeben
drohten. Ich fühlte mich so schwach und ausgelaugt.
„Gebt mir zehn Minuten“, murrte ich an die Tür gewandt. „Ich muss
mich erst ankleiden. Ihr könnt so lange unten auf mich
warten.“
Tatsächlich hörte ich seine sich entfernenden Schritte. Ich
widerstand der Versuchung mich wieder ins Bett zu flüchten. Ein
Blick in den angelaufenen Spiegel, der über der kleinen Kommode
hing, sagte mir, dass ich grauenvoll aussah. Bis ich mich
gewaschen, angezogen und frisiert hatte, vergingen gewiss mehr als
zehn Minuten, doch Gérôme kam nicht, um nachzusehen wo ich blieb.
Madame Thorigny hatte ihn inzwischen mit einer Melange und einem
Stück Kuchen versorgt.
Wortlos folgte ich dem Gardisten zu seiner Kutsche. Er half mir auf
den Bock, wobei ihm nicht entging, wie schwach ich auf den Beinen
war. Es mussten einige Tage gewesen sein, die ich nichts mehr
gegessen hatte, mein Gefühl für Zeit war verloren gegangen. Wir
hatten eben die Seine überquert, als Gérôme das Pferd vor einer
Bäckerei durchparierte. Er hieß mich zu warten, während er vom
Wagen sprang und das Geschäft betrat. Doch das Rauschen des nahen
Flusses zog mich an wie eine leise Stimme, die mich mit süßen
lockenden Worten rief. Sie sang von Frieden und Stille. Langsam
lenkte ich meine Schritte auf die vereiste Brücke, bis ich die
Mitte erreichte. Es hatte ein wenig zu schneien begonnen und ich
sah zu wie die Flocken auf dem dunklen Wasser schmolzen. In der
Kälte des Flusses würde ich die Erlösung finden, nach der ich mich
sehnte, wenn mich die Strömung fort trug. Das steinerne Geländer
der Brücke war nicht sehr hoch, ich brauchte nur darüber hinweg zu
klettern. Dann würde mein Körper hinab in die finstere Tiefe sinken
und der Strom all meine Gefühle davon tragen.
Es schien so leicht zu sein. Und doch zögerte ich. Diesem Leben
jetzt ein Ende zu setzen, hieß auch der bevorstehenden Begegnung
mit dem Kardinal zu entgehen. Vor ihm zu flüchten. Das letzte
bisschen Stolz, das ich mir bewahrt hatte, begehrte dagegen auf.
Nein, vor ihm würde ich nicht davon laufen! Die Zusammenarbeit mit
diesem Menschen zu beenden, das würde mich mit einer gewissen
Genugtuung erfüllen. Er sollte sehen, dass ich ihn nicht fürchtete!
Danach konnte ich immer noch meinen Seelenfrieden in der ewigen
Umarmung des dunklen Flusses suchen.
Just als ich mich umwandte, um zur Kutsche zurückzukehren, hörte
ich Gérômes Stimme meinen Namen rufen. Er blickte mich fragend an,
doch ich schuldete ihm keine Erklärung. Wortlos schwang ich mich
wieder auf den Bock, wartete, dass er es mir gleich tat und wir
unsere Fahrt fortsetzten. Bevor er jedoch die Zügel ergriff,
reichte er mir ein Baguette, das er vom Bäcker geholt hatte.
„Hier, Ihr müsst etwas essen, sonst fallt Ihr am Ende noch vor
Seiner Eminenz um“, sagte er nachdrücklich. „Madame Thorigny meinte
Ihr hättet seit Tagen nichts zu Euch genommen.“
Dankbar nahm ich das Brot an. Vor dem Kardinal Schwäche zu zeigen,
war das letzte was ich wollte. Den übrigen Weg zu Richelieus Palais
brachten wir schweigend zu. Ich legte mir schon im Stillen die
Worte zurecht, die ich an ihn zu richten gedachte. Gérôme brachte
mich zum Arbeitszimmer des Kardinals und entfernte sich erst auf
dessen Wink hin.
Mir bot sich ein vertrauter Anblick. In seiner roten Robe, behangen
mit dem schweren goldenen Kreuz stand Richelieu hoch aufgerichtet
hinter dem wuchtigen Schreibtisch. Die schweren Brokatvorhänge
waren zur Gänze aufgezogen, sodass Sonnenlicht durch das hohe
Fenster hinter ihm in den Raum flutete. Seine Gestalt wirkte
imposanter denn je und ich konnte durchaus verstehen, weshalb die
einfachen Leute fast so etwas wie ein göttliches Wesen in ihm
sahen.
„Nun habt Ihr ja doch den Weg zu mir gefunden, Madame“, begann er
mit leiser drohender Stimme. „Ihr wisst doch, ich warte nicht gern
und noch weniger liebe ich es mich wiederholen zu müssen.“
„Bedauernswerterweise hat mich Euer Schreiben nicht erreicht, Ihr
mögt mir also mein Versäumnis nachsehen“, erwiderte ich kühl. Er
wartete darauf, dass ich vor ihm kriechend um Vergebung flehte,
doch diesen Gefallen würde ich ihm niemals tun.
Er lachte leise und ging um den Tisch herum bis er vor mir stand.
Sein durchbohrender Blick blieb für einen Moment an meinem Bauch
ruhen. „Mir ist bekannt welch tragischen Verlust Ihr erlitten habt.
Bedenkt jedoch, dass Gottes Taten niemals ohne Grund sind. Er ließ
Euch das Leben, seid dankbar dafür.“
Die bittere Antwort, die mir auf der Zunge lag, verkniff ich mir.
Ich wollte mit ihm nicht über meine arme Kleine sprechen und schon
gar nicht über Gott. „Man muss das Beste aus dem machen, was einem
gegeben ist. Ihr versteht sicher, dass für mich nun nicht länger
die Notwendigkeit besteht, mich in Eure Dienste zu stellen.“
„Ihr weist die Hilfe zurück, die ich Euch in meiner Güte gewährte?
Bedenkt wo Ihr wärt, Madame, hätte ich nicht zu Eurem Gunsten
eingegriffen. Ich will es Euch sagen. In dieser Zelle verrotten
würdet Ihr, aus der mein Gardist Euch geholt hat!“
„Und Ihr erinnert Euch der Worte, die Ihr bei unserem ersten
Zusammentreffen in diesem Raum an mich gerichtet habt. Ihr sagtet
ich wäre frei zu gehen, wenn ich wollte, und Ihr würdet mich nicht
festhalten. Genau das beabsichtige ich jetzt zu tun, denn ich ziehe
es vor mein Leben in der Gosse zu fristen, als mich noch länger von
Euch wie eine Hure zu verkaufen zu lassen! Lebt wohl, Eminenz.“ Ich
knickste und wandte mich auf dem Absatz um, doch bevor ich auch nur
einen Schritt zur Tür machen konnte, vertrat er mir den Weg.
„Nicht so voreilig, meine Liebe. Zunächst sollten wir uns über
Euren nächsten Auftrag unterhalten und über die Bezahlung“,
bemerkte er in neutralem Tonfall, wobei seine Hand wie zufällig
meine rechte Schulter berührte, wo das verfluchte Zeichen in die
Haut gebrannt war. „Ich bin ein sehr mächtiger Mann, wie Ihr wisst.
Wenn Euch daran gelegen ist, diesen bedauerlichen Irrtum aus der
Welt zu schaffen, so vermag ich das für Euch zu erledigen.“
„Ihr könnt...?“ entfuhr es mir verblüfft. „Aber wie? Das Brandmal
lässt sich nicht tilgen, es wird mich bis in mein Grab
begleiten.“
Ein unergründliches Lächeln umspielte seine Lippen als er nickte.
„Ja, ich kann. Ich werde Euch ein Dokument mit meinem Siegel und
meiner Unterschrift ausstellen, welches besagt, dass Eure
Verurteilung zu Unrecht geschah und als widerrufen zu betrachten
ist. Dies ist für jedermann anzuerkennen und Ihr werdet wieder eine
ehrbare Frau sein. Ihr seht also, ich bin bereit einen guten Preis
zu zahlen.“
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ich mir nichts mehr gewünscht,
als von meiner Schande befreit zu sein. Aber was würde das nun noch
ändern? Selbst wenn es mir gelingen sollte Olivier zu finden, so
vermochte dieses Dokument die Ereignisse nicht ungeschehen zu
machen. Es lag jenseits seiner Möglichkeiten mich wieder als seine
Frau anzuerkennen, selbst wenn ich ihm beweisen konnte, dass ich
ihn nie belogen hatte. Doch vielleicht, wenn er die Wahrheit erfuhr
und einsehen musste, dass er mir Unrecht getan hatte, würde er
anfangen zu bereuen.
Kapitel Kapitel 24
Kapitel 24
Die Stille war drückend. Es kostete mich immense Kraft den
stechenden Augen des Kardinals standzuhalten. Ich war überzeugt,
dass mir nicht gefiel, was ich gleich zu hören bekommen würde.
Richelieu schien jeden Moment auszukosten, den er mich im
Ungewissen ließ. Er spielte mit mir, wie so oft.
„Lord Byron de Winter“, begann er endlich, „Er und sein Bruder Lord
Francis de Winter sind englische Adlige und sehr angesehen am
Königshof. Wie mir nun zu Ohren kam, ist der Lord auf der Suche
nach einem Weib für sich. Ihr werdet nach England reisen und ihn
für Euch gewinnen. Dies sollte Euch keine größeren Schwierigkeiten
bereiten, nicht wahr, Anne?“
„Nach England??“ entfuhr es mir überrascht. Ich dachte an den
Sprachunterricht bei Monsieur Grimaud. Offensichtlich schien der
Kardinal seine Pläne schon weit im Vorhinein geschmiedet zu
haben.
Er schritt langsam wieder um den wuchtigen Tisch herum, um auf
seinem Sessel Platz zu nehmen. Ohne seine Aufforderung abzuwarten,
setzte ich mich ihm gegenüber und blickte ihn an. Sollte er mir
sein Vorhaben erläutern, danach würde ich entscheiden, ob es den
angebotenen Preis wert war. Noch vor kurzer Zeit hätte ich fast
alles getan, um das von ihm in Aussicht gestellte Dokument in den
Händen zu halten.
„Ihr werdet nach Hause zurückkehren, Eure Habe packen und dann
warten, bis Ihr abgeholt werdet. Einer oder zwei meiner Gardisten
geleiten Euch sobald das Wetter ein wenig reisefreundlicher
geworden ist nach Calais, von wo aus Ihr Euch an Bord eines
Schiffes begebt, welches nach England segelt. Ein Mittelsmann wird
Euch dort erwarten. Eure Aufgabe ist, wie bereits von mir
angedeutet, Lord Byron de Winter. Ich bezweifle nicht, dass es Euch
rasch gelingen wird, ihm näher zu kommen. Habt Ihr das erreicht,
werdet Ihr alles dafür tun, um an seiner Seite zu bleiben. Wenn er
Euch einen Antrag macht, heiratet ihn. Er ist Euer Schlüssel zum
englischen Königshaus. Französischen Boden zu betreten, ist Euch
ohne meine Erlaubnis nicht gestattet, so Euch an dem von mir
versprochenen Schreiben gelegen ist. Habt Ihr das
verstanden?“
Die Worte hallten in meinem Kopf wider wie dumpfe Glockenschläge.
Er verlangte viel und für einen Augenblick war ich tatsächlich
versucht ihm zu entsagen. Doch dann nickte ich langsam. „Ja,
Eminenz. Ich will mich bemühen Eure Anordnungen auszuführen, so gut
mir das möglich ist.“
Solange es ein kleines bisschen Hoffnung gab, zurück zu erhalten,
was mir gestohlen worden war und wieder eine ehrbare Dame zu sein,
war das einiger Mühe wert. Mir war nur wenig darüber bekannt, aber
genug, um zu wissen, dass ich nach Schottland, Wales oder Irland
gehen konnte, um neu zu beginnen, sollte die Aufgabe scheitern. Der
Kardinal würde mich nicht finden.
„Nun geht, Anne“, sagte er leise. „Und wagt es nicht mich zu
enttäuschen.“
Ich knickste höflich und entfernte mich. Auf dem Gang wartete
Gérôme, um mich wieder nach Hause zu bringen, doch ich entschloss
mich zu Fuß zu gehen. Die klare kalte Luft verursachte ein Kribbeln
auf meinen Wangen und der Nasenspitze, das ich nicht unangenehm
fand. Es zeigte mir, dass ich lebendig war. Auf der vereisten
Brücke über der Seine hielt ich an, starrte minutenlang hinab in
das dunkle Wasser, doch das Flüstern des Flusses war verstummt.
Vielleicht gab es tatsächlich einen Grund, aus dem ich am Leben
geblieben war, obgleich ich nicht glaubte, dass es sich um den
Willen Gottes handelte. Sobald ich den kostbaren Schrieb des
Kardinals in meinen Händen hielt, würde ich in die Champagne
zurückkehrten. Olivier de la Fère sollte die Wahrheit erfahren und
wenn es das letzte war, was ich tat. Und er sollte wissen, dass er
eine Tochter gehabt hätte. Der Verlust meiner armen kleinen Mélisse
schmerzte wie eine frisch gerissene Wunde, doch wusste ich, dass
die Zeit allein Heilung zu bringen vermochte. Die Erinnerung würde
ich mit mir nehmen, wohin ich auch ging.
Meine wenigen Habseligkeiten waren rasch gepackt. Weil Richelieu
nicht näher bezeichnet hatte, wann er jemanden zu mir schicken
würde, blieb ich die meiste Zeit in meinem Gemach, als es wärmer zu
werden begann. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass ich das Haus
der Thorignys bald für immer verlassen würde. Ich hatte mich hier
nie wirklich daheim gefühlt und doch war es das einzige Zuhause,
das es für mich gab.
Nach vielleicht einer Woche erschien dann tatsächlich ein Gardist.
Es war nicht Gérôme, den ich gut leiden mochte, sondern ein
kleinerer drahtiger Mann mit hellem Kraushaar. Er stellte sich mir
als Oscar Dontreix vor. Seine Aufgabe war es die Kutsche zu
begleiten, in der ich reisen sollte. Und so kehrte ich Paris den
Rücken. Diese große, laute und im Elend verkommene Stadt würde mir
nicht sehr fehlen. Zunächst fand ich es sehr interessant, die vor
dem Fenster vorbei ziehende Landschaft zu beobachten, doch nach
einiger Zeit wurden die Bäume und Wiesen langweilig. Von Dontreix
bekam ich nicht viel zu Gesicht, weil er neben der Kutsche her
ritt. Ebenso wenig war es möglich eine Unterhaltung mit dem
untersetzten Mann zu führen, der vorne auf dem Bock saß. Wir
übernachteten in kleinen Herbergen und legten am Tag so viel Weg
zurück, wie die Pferde verkrafteten. Je länger die Fahrt dauerte,
desto unruhiger wurde ich innerlich. Ich hatte ja nicht die
geringste Ahnung, was mich in England wohl erwarten mochte. Welch
ein Mann war Lord Byron de Winter?
Das Meer empfing mich launisch. Heftige Wogen brachen sich am
Gemäuer des Hafens und das Kreischen der Möwen verlor sich im Tosen
des Sturmes. Aufgrund dieses Wetters konnte freilich kein Schiff
übersetzen, sodass sich mein Aufenthalt in Calais ein wenig
verlängerte. Am Morgen des vierten Tages zeigte sich die Sonne und
die Luft war klar. In der Ferne erhoben sich die dunklen Umrisse
der englischen Küste.
Dontreix begleitete mich bis zum Dock. Wahrscheinlich war er vom
Kardinal beauftragt worden sicher zu stellen, dass ich auch
wirklich an Bord des Segelschiffes ging, welches mich nach England
bringen sollte. Wehmütig blickte ich zurück auf den sich immer
weiter entfernenden Hafen. Ich atmete tief ein, spürte wie die
salzige Seeluft meine Lungen hinab strömte. Während der gesamten
Überfahrt rührte ich mich nicht vom Fleck. Als das Schiff den Hafen
von Dover erreichte, klammerten sich meine Finger unwillkürlich an
die hölzerne Reling, dass die Knöchel weiß hervortraten. Was mich
auch erwarten mochte, wenn ich von Bord ging, ich fühlte die
Gewissheit in mir, dass ein neuer Abschnitt in meinem Leben
begann.
Auf dem Landungssteg sah ich mich gespannt um. Ich wusste nicht,
wer kommen würde, um mich abzuholen. Es schien jedoch als musste
ich mich nicht allzu lange gedulden. Ein dünner drahtiger Mann mit
angegrautem dunklem Haar näherte sich mir.
„Ihr seid Miss de Lechelle?“ Er sprach mich in leisem Englisch
an.
Ich nickte, noch unschlüssig, was ich von meinem Gegenüber halten
sollte. „Ja, die bin ich.“
„Sehr gut“, fuhr er fort, „Sutherland ist mein Name. Ich soll Euch
nach London begleiten, folgt mir bitte.“
Jetzt musste ich mir Mühe mit der Sprache geben. Monsieur Grimaud
hatte mir gerade einmal die Grundzüge beibringen können. Die meiste
Zeit war es Sutherland, der das Wort führte. Obwohl er langsam
sprach, hatte ich meine liebe Not den Zusammenhängen richtig zu
folgen. Heiße Wut auf Richelieu stieg in mir auf, weil er mich so
unvorbereitet in diese Misere gestoßen hatte. Wie sollte ich bloß
an diesem neuen Ort bestehen, wenn ich mich kaum zu verständigen
vermochte?
Auf dem Weg nach London nahm ich begierig alle neuen Eindrücke
auf. Die verschlafenen Dörfer unterschieden sich kaum von jenen
daheim in Frankreich, aber es war merkbar kälter, die winterliche
Sonne brach kaum durch den Nebel. London jedoch war ganz anders als
das laute unübersichtliche Paris. Eine geordnete Betriebsamkeit
herrschte in den Straßen der Stadt. Unser Ziel war eine
heruntergekommene Gegend am Stadtrand. Die Fassaden der Häuser
verblassten zusehends, die Fensterscheiben waren verdreckt. Auf
einmal wies Sutherland auf den Eingang zu einem Lokal, über dem in
verschnörkelten Lettern „The Owl“ zu lesen war.
„Lord de Winter pflegt seine Abende seit dem Tod seiner Gattin in
diesem Pub zu verbringen“, erklärte er. „Es ist hier nicht mehr so
ausgestorben, wenn es dunkel ist, glaubt mir.“
„Seine Frau ist verstorben?“ fragte ich verwundert nach. Diese
kleine Nebensächlichkeit hatte mir der Kardinal verschwiegen.
Der Engländer nickte mit einem schwer deutbaren Ausdruck. „Ja, sie
starb im letzten Winter an der Diphtherie. Mittlerweile scheint er
den Verlust überwunden zu haben, man trifft ihn wieder auf Festen
an.“
„Hat er denn Kinder?“
„Nein, Miss, dieses Geschenk hat ihm seine Gattin nicht gemacht.
Auch sein Bruder ist kinderlos, aber wenigstens nehme ich an, dass
seine Schwester inzwischen Mutter geworden ist. Sie hat vor einigen
Jahren geheiratet.“
Mir fielen gleich noch weitere Fragen ein und Sutherland schien
viele Dinge zu wissen, doch jetzt kamen wir vor einem unscheinbar
grauen Haus an, dessen schäbige Fassade drei Etagen empor reichte.
Ganz oben dem Dachfenster fehlte die Scheibe. Mein Begleiter
betätigte den angelaufenen Türklopfer, woraufhin nach einigen
Augenblicken von ein kleiner alter Mann mit einem dünnen Kranz
grauen Haares und griesgrämiger Miene öffnete. Es wurden einige
schnelle Worte gewechselt und schon marschierte Sutherland mit
meinem Koffer die Treppe nach oben. Irritiert folgte ich ihm. Innen
war das Haus in nicht viel besserem Zustand als außen. Das Zimmer
im obersten Stock, in dem er schließlich das Gepäck abstellte, war
sehr klein und es roch modrig. Zerschlissene Vorhänge verdeckten
das Fenster. Hier sollte ich also bleiben?
Der Engländer erriet meinen Blick offenbar. „Mit etwas Glück werdet
Ihr nicht lange hier sein. Der Pub, den ich Euch zuvor gezeigt
habe, befindet sich zwei Straßen weiter. Solltet Ihr mich brauchen,
könnt Ihr mir über Mister Biggs eine Nachricht zukommen lassen. Er
wird auch Eure Botschaften nach Frankreich übernehmen und an mich
weiterleiten. Keine Sorge, er ist nicht so böse wie er aussehen
mag, er ist nur kein Freund vieler Worte. Das hier habe ich Euch
noch zu geben.“
„Ist gut“, antwortete ich, einen in braunes Papier gehüllte flachen
Gegenstand entgegen nehmend. „Danke.“
„Auf wiedersehen, Miss.“
Er lüftete zum Gruß seinen Hut und ließ mich allein zurück. Sofort
zog ich die Vorhänge beiseite, um das schmutzige Fenster zu öffnen.
Die frische kalte Luft, die herein strömte, war herrlich. Erst
jetzt blickte ich mich genauer in dem winzigen Raum um. Es gab ein
Bett und einen kleinen Schrank. Das also sollte nun mein Zuhause
sein. Zumindest für den Augenblick.
Kapitel Kapitel 25
Kapitel 25
Als Sutherland gegangen war, betrachtete ich nachdenklich das in
grobes Papier gewickelte Päckchen, welches von einer Leinenschnur
zusammengehalten wurde. Mit mäßiger Neugier wickelte ich den darin
verborgenen Gegenstand aus. Ein schlichter Rahmen aus Holz, in dem
eine Kohlezeichnung steckte, sowie ein kleiner Lederbeutel kamen
zum Vorschein. Es handelte sich um das Abbild eines Mannes in
seinen Dreißigern, dessen Haltung einen Herrn von Stand verriet,
wenn er auch nicht so edle Gesichtszüge wie Olivier besaß. Sofern
es die Linien aus Kohle offenbarten, war sein Haar blond oder
hellbraun und die Augen dunkel. Er trug keinen Bart, sein
gerundetes Kinn war stattdessen nur vom leichten Wuchs weniger Tage
bedeckt. Auf der Rückseite des Bildes hieß es in Worten aus Tinte
‚Lord
Byron de Winter’ und darunter ‚
The Owl, Cubert Alley’. Dies
war also der Mann, auf den mich Richelieu angesetzt hatte. Sein
Gesicht war hübsch, doch das Leben selbst hatte mich gelehrt, wie
wenig das bedeutete. Den genannten Pub hatte mir Sutherland bereits
gezeigt und am nächsten Tag würde ich ihn schon wieder finden. Für
den Moment wollte ich nur schlafen. Bevor ich mich aufs Bett legte,
inspizierte ich noch den Beutel, der ebenfalls in dem Päckchen
gewesen war. Er enthielt ein paar englische Geldmünzen, hungern
musste ich also vorerst nicht. Mit dem Gedanken daran, was nun wohl
auf mich zukam, schlief ich schließlich ein.
Der folgende Morgen war kühl und feucht. Nebel hing tief im
Irrgarten der verwinkelten Gassen. Erst jetzt begann ich wirklich
zu begreifen, dass Frankreich und alles, was mir je im Leben
vertraut gewesen war, weit hinter mir lag. Vielleicht war es
besser, Olivier für immer zu vergessen. Wenn ich nach Schottland
oder Irland weiter zog, brauchte ich Richelieus verfluchtes
Schreiben nicht. Diese Möglichkeit war verlockend, aber nein, noch
konnte ich diesen Weg nicht gehen.
Nachdem ich ziellos ein paar Straßen entlang gewandert war, stieß
ich auf eine Bäckerei, wo ich ein wenig Brot kaufte. Dabei fand ich
den Wert der Geldmünzen heraus. Für einige Tage mochte ich davon
überleben, vielleicht ein bisschen länger, wenn ich sehr sparsam
damit umging. Der Kardinal hielt mich an der kurzen Leine, um
sicher zu stellen, dass ich möglichst rasch Resultate lieferte.
Anschließend machte ich mich auf die Suche nach der Cubert Alley
und versuchte mir die Wege gut einzuprägen.
Bei Einbruch der Dämmerung kehrte ich zum Pub zurück, vor dem jetzt
eine Laterne brannte und die kleine metallene Eule über dem Eingang
beleuchtete. Auf der gegenüber liegenden Seite gab es einen
schmalen Durchlass, der in einen dunklen Hinterhof zwischen den
Häusern führte. Dort verbarg ich mich, um abzuwarten und zu
beobachten. An diesem Abend erschien Lord de Winter jedoch nicht
und ich kehrte schließlich halb erfroren kurz vor Mitternacht in
mein Quartier zurück. Dann am nächsten Tag wurde das geduldige
Warten belohnt, ich bekam ihn erstmals zu Gesicht. Ein
hochgewachsener schlanker Mann, der zunächst einen fast
jungenhaften Eindruck erweckte, ritt auf einem hochbeinigen Pferd
die Straße entlang. Nach dem Absitzen führte er es in einen
Durchgang neben dem Pub, ähnlich dem, in welchem ich mich wieder
zurückgezogen hatte. Wahrscheinlich lag dahinter ebenfalls ein
kleiner Hof. Während ich wartete, zählte ich die dumpfen Schläge
der Kirchenglocke. Nach mehr als zwei Stunden verließ Lord de
Winter das Lokal und verschwand mit seinem Schimmel in der
Nacht.
Ich wusste nicht, wie ich seine Aufmerksamkeit erringen sollte,
während sich die Vorgänge die Abende darauf wiederholten. Zumindest
blieb genügend Zeit, um mir einen halbwegs glaubwürdigen
Hintergrund für meine Person zu überlegen, mit dem ich ihm
gegenüber treten konnte. Vorausgesetzt, mir fiel bald eine
geeignete Möglichkeit ein, ihn zu ködern. Am vierten Tag begann es
zu regnen und ich war durchnässt bis auf die Knochen, bevor er
wieder ins Freie trat. Ich beschloss die Gelegenheit beim Schopf zu
packen, denn eine bessere würde sich nicht ergeben. Als er auf sein
Pferd gestiegen war, verließ ich meine Deckung. Im Schutz der
Dunkelheit hastete ich ihm entgegen. Das Tier scheute und auf dem
aufgeweichten Boden glitt ich nur allzu leicht aus. Er sprang ab,
um mir auf die Beine zu helfen.
„Seid Ihr wohlauf, Miss?“
Ich nickte langsam, als säße mir der Schreck in den Gliedern. „Ja,
es geht mir gut. Bitte entschuldigt meine Unachtsamkeit!“
„Es ist ja nichts geschehen. Aber sagt, was macht Ihr um diese Zeit
und bei dem Wetter hier draußen?“
„Auch wenn ich es nur ungern zugebe, ich habe mich leider
verlaufen. Könnt Ihr mir sagen, wie ich zum Buckthorn Way komme,
mein Herr?“
Auf seinem nass glänzenden Gesicht erschien ein leichtes Lächeln.
„Das ist nicht weit von hier, ich bringe Euch hin. Mein Pferd kann
uns beide tragen.“
„Oh nein, das ist nicht nötig! Wenn Ihr mir nur sagt, in welche
Richtung ich gehen muss, finde ich schon selbst dorthin.“
„Seid nicht albern, Miss. Kommt, ich helfe Euch in den
Sattel.“
Nach dem ersten Protest nahm ich sein Angebot natürlich nur allzu
gerne an. Schließlich saß ich hinter ihm auf dem Rücken des Tieres
und hielt mich an ihm fest. Nach ein paar Minuten waren wir vor
Mister Biggs’ Haus angelangt und er stieg ab, um mir hinunter zu
helfen.
„Vielen Dank, guter Herr“, sagte ich mit meinem kokettesten
Lächeln. „Das war wirklich nicht nötig. Ich kann Euch dafür nicht
einmal ein heißes Getränk anbieten. Aber ich lade Euch dennoch ein,
drinnen zu warten, bis der Regen nachlässt, das ist ja das
mindeste.“
Er wollte schon widersprechen, als ein Blitz die Nacht zerriss und
Donner bedrohlich grollte. Das Pferd legte verängstigt die Ohren
an. „Wenn es für meinen Ivory einen trockenen Ort gibt, nehme ich
Euer Angebot dankend an.“
Wir brachten den Schimmel im Hof in dem Schuppen unter, in dem eine
Ziege lebte, die den Bewohnern eines der angrenzenden Häuser
gehörte, und rieben es gründlich mit Stroh trocken, damit es sich
nicht erkältete. Dann geleitete ich Lord de Winter hinein ins
Trockene und nach oben zu meinem Zimmer. Unten hatte der alte Biggs
zwar den Kamin beheizt, doch es drang nur wenig von der Wärme durch
die Leitungen bis ganz hinauf.
Der Lord musterte mich irritiert, als ich ihm den einzigen im Raum
befindlichen Stuhl anbot, welcher zu dem krummbeinigen Tisch vor
dem Fenster gehörte, während ich mich selbst auf dem Bett
niederließ. Es tat gut, den triefenden Mantel und die durchweichten
Stiefel abzustreifen. Das Haar klebte mir im Gesicht. Einen
besonders reizvollen Anblick bot ich so gewiss nicht.
„Hier wohnt Ihr?“ fragte er mit ungläubig hochgezogener
Braue.
Ich nickte leicht. „Ein Dach über dem Kopf und ein Bett zum
schlafen, was sollte ich mehr benötigen?“
„Ihr seid sehr bescheiden, aber Euer Auftreten verrät eine Dame von
Stand. Ihr stammt nicht von der Insel, oder? Euer Akzent klingt
französisch, wenn ich mich nicht irre.“
„Da habt Ihr recht, ich kam vor einigen Tagen aus Frankreich nach
England. Aber eine Dame von Stand, in dieser Hinsicht muss ich Euch
enttäuschen, mein Herr. Ich kenne Euren Namen noch gar
nicht.“
„Oh, das ist sehr unhöflich von mir!“ Er vollführte eine
entschuldigende Geste. „Ich bin Lord Byron de Winter. Und mit wem
habe ich das Vergnügen?“
„Man nennt mich Anne“, entgegnete ich schlicht.
„Anne“, wiederholte er in englischer Aussprache. „Das ist ein
hübscher Name. Einfach, aber ausdrucksvoll, möchte ich sagen. Und
wie geht es weiter?“
Ich bemühte mich um ein scheues mädchenhaftes Lächeln, von dem ich
glaubte, es schon vor langer Zeit verlernt zu haben. „Nur Anne. Ich
bin bei den Karmeliterinnen aufgewachsen, bei denen meine Mutter
mich schon als Säugling lassen musste, und so kann ich weder ihren,
noch den Namen meines Vaters tragen.“
„Und was führt eine Karmeliterin so weit in die Fremde, wenn Ihr
mir die Frage gestattet?“
„Nur der Wunsch ein wenig von der Welt zu sehen. Mein Vater war
Engländer, aber leider kannte ich ihn nicht. So möchte ich
zumindest Bekanntschaft mit diesem Land schließen, in dem ein Teil
meiner Wurzeln liegen. Das Klosterleben empfand ich mit dem
Heranwachsen mehr und mehr beengend. Es war nicht geeignet für
mich. Außerhalb dieser Mauern gibt es so viele aufregende Dinge zu
entdecken.“
Ich sah ihm an, dass ihm noch viele Fragen auf den Lippen brannten
und schlug geheimnisvoll die Augen nieder. Er folgte jeder meiner
Bewegungen, während ich den altersschwach knarrenden Schrank
öffnete, um ihm die dort befindliche, für kalte Nächte bestimmte
Wolldecke zu reichen. Inzwischen hatte er seinen durchnässten
Reitmantel abgelegt und nahm sie mit einem dankbaren Lächeln an.
Sein Blick ruhte immer noch auf mir, als ich mich erneut auf der
Schlafstatt niederließ. Langsam begann ich die Bänder meines
Kleides zu lösen, um mich aus dem schweren Stoff zu schälen, bis
ich nur noch die lange Unterwäsche am Leib trug. Ich hatte es nicht
eilig damit, mich in die Bettdecke zu hüllen, denn Lord de Winter
schien zu gefallen, was er sah. Die dünne Wäsche klebte mir feucht
und durchscheinend am Körper, sodass sich meine Brüste darunter
abzeichneten. Ja, ich wusste genau, wie ich auf die Männer wirkte.
Er war gewiss keine Ausnahme.