La Rochelle von Rochefort

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Kapitel Bei Nacht und Nebel

Die Hafenstadt La Rochelle in Frankreich, Juni 1628

Man hätte meinen können, es wäre Herbst, obwohl man heute den 8.Juni schrieb. Es war kalt, unaufhörlich fiel feiner Nieselregen vom Himmel und die Sicht in dieser mondlosen Nacht betrug nur wenige Meter. Wer nicht unbedingt musste, würde in einer solchen Nacht das Haus nicht verlassen und schon gar nicht würde sich jemand freiwillig in der nördlich der Stadt gelegenen Sumpflandschaft herumtreiben. Rochefort jedoch hatte genau auf solche Bedingungen gewartet, um wieder einmal das Wagnis auf sich zu nehmen, persönlich in die belagerte Stadt zu gehen. Es war nicht das erste Mal und es war notwendig, um Richelieu verlässliche Informationen über die Lage innerhalb der Stadt zu liefern, Informationen, die detaillierter und präziser waren, als die der anderen bezahlten Informanten, Kundschafter und Spitzel. Denn der Graf hatte Kontakt zu einem Mann, der Einblick in alle Vorgänge in La Rochelle hatte und der nur ihm vertraute…

Meter um Meter tastete Armand sich vorsichtig durch den Morast, wobei er sich die meiste Zeit auf Händen und Knien vorwärts bewegte, hohes Gras, Schilf und jede Bodenunebenheit als Deckung nutzend. Er war bis an die Zähne bewaffnet, mit Rapier, Parierdolch und Pistole und auch in jedem Stiefel hatte er ein Messer versteckt. Sollte man ihn entdecken, so würde es um Leben und Tod gehen... Außerdem führte er einen prall gefüllten ledernen Sack mit sich, den er so gut wie möglich vor der Feuchtigkeit zu schützen versuchte, was sein Vorankommen zusätzlich erschwerte.

Endlich! Vor ihm ragten die Festungsmauern der Stadt in die Dunkelheit. Er spähte hinauf zu den Wehrgängen, doch sie lagen fast zur Gänze im feuchten Dunst verborgen. Nur noch wenige Meter waren es bis zu dem geheimen Durchschlupf unter der Stadtmauer.

„He, Paul, hat sich da unten nicht was bewegt!" zischte da eine Stimme über ihm.

„Wo?"

„Na da, direkt unter uns!"

Rochefort presste sich in dem Dickicht aus hohem Schilf reglos auf den Boden.

„Also ich seh‘ nichts. Es ist völlig ruhig da unten. Du wirst Dich getäuscht haben."

Der Agent des Kardinals konnte förmlich fühlen, wie die beiden Männer da oben hinunterstarrten und versuchten, mit ihren Blicken die Dunkelheit zu durchdringen. Die Zeit schien sich endlos zu dehnen, bis einer von ihnen sagte: „Da ist niemand. Komm‘ weiter, wir müssen unseren Rundgang beenden."

Trotzdem ließ Armand sicherheitshalber noch die Dauer von zehn Vaterunser verstreichen, bis er es wagte, sich wieder zu bewegen. Nahezu lautlos legte er die verbliebene Distanz bis zur Mauer zurück und bahnte sich vorsichtig einen Weg durch die wuchernde Schilf- und Gräserwand, die den Zugang zu dem schmalen Tunnel verdeckte. So gut es ging vermied er es, Pflanzen zu knicken und schob hinter sich die Halme und Ranken wieder in ihre ursprüngliche Position. Auch am Beginn des geheimen Ganges stand noch mehr als knöchelhoch das schlammige Sumpfwasser, dann endlich hatte Rochefort wieder festen Boden unter den Füßen, da der Weg leicht anstieg. Der nächtliche „Besucher" schlich in völliger Dunkelheit voran; ein Licht anzuzünden kam nicht in Frage. Zum Glück war die zurückzulegende Strecke nicht weit. Schon bald erreichte der Graf eine aus groben Steinen gefügte steile Treppe, gerade breit genug für einen schlanken Mann, die er sogleich empor stieg und die – in einem alten, großen Weinfass mündete! Der Boden des Fasses war nur lose eingefügt und deckte den Einstieg zur Treppe ab. Sich vorsichtig aufrichtend tastete Rochefort dann nach dem Deckel des Fasses, hob ihn herunter und kletterte hinaus. Nun stand er in einem Kellergewölbe, in dem noch eine ganze Anzahl weiterer Weinfässer vor sich hin moderte.

Der Keller hatte zum Anwesen eines Weinhändlers gehört. Der Mann hatte sein Geschäft jedoch völlig herabgewirtschaftet und dann den Versuch gemacht, durch Schmuggel seiner finanziellen Misere zu entkommen. Und für diese Zwecke war auch jener Tunnel angelegt worden. Doch vor 2 Jahren war man ihm auf die Schliche gekommen; er war festgenommen und vor Gericht gestellt worden. Seither verfielen die Gebäude. Der damals mit der Untersuchung des Falles beauftragte Richter Monsieur Edouard Audebert, der zugleich einer der Ratsherren der Stadt war, hatte den Geheimgang durch Zufall entdeckt, jedoch beschlossen, sein Wissen vorerst für sich zu behalten. Wer weiß, so hatte er gedacht, wofür dieser Schlupfweg einmal gut sein konnte. Erst als die schicksalhafte Belagerung der Stadt ihren Verlauf genommen hatte, hatte er beschlossen, dieses Wissen mit jemandem zu teilen – und dieser Jemand war der Leiter von Richelieus Geheimdienst!

Während Rochefort wiederum einige Zeit lauschend verharrte, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Audebert und er kannten einander seit Kindertagen. Edouard war der älteste Sohn des Inhabers der besten Taverne der Stadt Rochefort gewesen. Beide hatte sie als Buben das Treiben im Hafen, das Ein- und Auslaufen, das Be- und Entladen der Schiffe fasziniert, was dazu führte, dass sie einander dort öfters trafen, Sympathie füreinander entwickelten und sich schließlich dem Standesunterschied zum Trotz anfreundeten. Gemeinsam mit anderen Gleichaltrigen heckten sie so manchen Streich aus. Was Armand an seinem Gefährten besonders schätzte, waren dessen ausgeprägter Gerechigkeitssinn und auffallend scharfer Verstand, Eigenschaften, die in Folge auch Edouards weiteren Lebensweg bestimmen sollten. Denn wenn er sich zu einem nicht berufen fühlte, dann dazu, das elterliche Wirtshaus weiter zu führen. Je älter er wurde, desto mehr drängte es ihn dazu, ein Studium an einer Universität zu beginnen. Sein Vater zeigte sich anfangs wenig begeistert davon und tat all das als jugendliche Flausen ab, doch letztendlich war er doch weise genug zu erkennen, dass es keinen Sinn machte, dem Jungen einen Werdegang aufzuzwingen, der nicht der seine war. Und so fand er sich mit dem Gedanken ab, dass eben sein zweitgeborener Sohn dereinst die Taverne „Zum Goldenen Schiff" übernehmen würde.

Einen Studienplatz in Paris aufzutreiben war nicht ganz einfach, zumal, wenn man kein betuchter Adelssprössling sondern bürgerlicher Herkunft war. Doch nachdem Edouards Vater sich einmal entschlossen hatte, dem Wunsch seine Sohnes statt zu geben, unterstützte er ihn nach besten Kräften. Seine Taverne ging gut und warf einiges ab und er war sogar bereit, einen Teil seiner Ersparnisse für die ehrgeizigen Ziele seines Ältesten zu opfern. Und Armand überredete seinen Vater, den Grafen de Rochefort, für seinen Freund ein Empfehlungs-schreiben an den Rektor der Pariser Universität aufzusetzen. Und so kam es, dass der Wirtssohn Edouard tatsächlich in Paris ein Studium der Rechte begann und auch erfolgreich zum Abschluss brachte. Armand verließ die heimatliche Grafschaft nur ein Jahr nach Edouard ebenfalls in Richtung der französischen Hauptstadt und auch er hatte hochfliegende Pläne und träumte von einer Karriere als Offizier in einem der angesehenen königlichen Regimenter. Doch dann kreuzte ein gewisser Bischof von Lucon Rocheforts Weg und diese Begegnung gab seinem Leben eine völlig neue Wendung...

Aufgrund zahlreicher Verpflichtungen sahen er und sein Jugendfreund einander in Folge nur noch selten, doch sie blieben in losem Briefkontakt. Dank einiger Beziehungen, die er in Paris geknüpft hatte, ergatterte Edouard einen Posten in der Kanzlei eines angesehenen Juristen in La Rochelle. Und das Glück blieb dem strebsamen Jüngling weiterhin hold: ein rascher beruflicher Aufstieg, die Heirat mit der Tochter eines wohlhabenden Bürgers – hierbei kam ihm zugute, dass er aus einer hugenottischen Familie stammte – schließlich seine Berufung in das Amt eines Stadtrichters, womit er zugleich auch einen Sitz im Rat der Stadt erhielt. Vor zwei Jahren war Armand einer Einladung Edouards nach La Rochelle gefolgt und sein Freund hatte ihm seine Gemahlin Jacqueline vorgestellt. Es war ihr letztes Wiedersehen gewesen, bevor sich der bewaffnete Konflikt mit König Louis XIII. wie ein dunkler Schatten über die „Hauptstadt des Protestantismus in Frankreich" gelegt hatte...

Der Stallmeister des Kardinals unterbrach sich in seinen Erinnerungen. Draußen schien alles ruhig; es sah aus, als konnte er es wagen, den Keller, dessen morsche Tür schief in den Angeln hing, zu verlassen...

Kapitel Schlaflos

Der Stadtrichter und Ratsherr Edouard Audebert saß mitten in der Nacht in der Küche seines Hauses und starrte in das leise flackernde Licht einer Kerze, die er aus seinem Schlafzimmer mitgebracht hatte. Der Hunger und die Sorge raubten ihm den Schlaf. Eigentlich hatte er sich ein kleines Stück von dem Rest harten Brotes nehmen wollen, das auf den fast schon geähnend leeren Regalen in der Vorratskammer lag, doch dann hatte er es doch nicht getan. Wenn man das Brot in Wasser aufweichte, konnte man daraus noch Brei für die kleine Colette machen...

Zum weiß Gott wievielten Male fragte er sich, ob er richtig handelte. War es nicht trotz allem Verrat an seinen Glaubensbrüdern, was er hier tat? Müsste er nicht doch Bürgermeister Guiton unterstützen in den Durchhalteparolen und dem unverrückbaren Entschluss, keinen Fußbreit nachzugeben gegenüber den Forderungen des Königs und des Kardinals und deren Truppen draußen vor den Mauern? Doch wie weit sollten Stolz und Standhaftigkeit gehen? Bis die Hälfte und mehr aller Bewohner von La Rochelle verhungert waren? War es tatsächlich Gottes Wille, dass sie alle zu Märtyrern für den hugenottischen Glauben wurden? Und ging es denn in erster Linie überhaupt um den Glauben oder nicht vielmehr um einen politischen Machtkampf? War La Rochelle nicht in erster Linie eine französische Stadt und Louis XIII. ihr Herr und König, dem alle Bürger des Landes, Katholiken wie Protestanten, Gehorsam schuldig waren? Er erinnerte sich daran, wie er diese Fragen leidenschaftlich mit seiner Frau Jacqueline diskutiert hatte, als in ihm der Entschluss herangereift war, sich gegen den Kurs von Jean Guiton zu stellen und auf eigene Faust etwas zu unternehmen um diesen schrecklichen Konflikt zu beenden. Zuerst hatte Jacqueline entsetzt abgewehrt. Das Risiko sei viel zu hoch, ein solches Hasardspiel könne ihn und die ganze Familie das Leben kosten. „Doch was ist die Alternative?“ hatte er dagegen gehalten. „Dass wir alle elendiglich verhungern, dass wir abgeschlachtet werden, wenn die Königlichen die Stadt im Sturm nehmen, oder dass Louis ein Exempel statuieren und alle Bürger, die sich ihm so hochmütig widersetzt haben, hinrichten lässt? Ich sehe keinen anderen Weg, der mir noch Hoffnung gibt.“ Dass von den Engländern doch noch kriegsentscheidende Hilfe kommen würde, glaubte er nicht mehr, auch wenn sich viele in der Stadt an diesen Strohhalm klammerten.

Audebert war nicht der Einzige, der dem fanatischen Widerstand des Bürgermeisters gegegen den König nichts mehr abgewinnen konnte. In den letzten Wochen war es sogar schon zu Anschlägen sowohl gegen Guiton loyale Ratsherren als auch gegen die eigenen Wachmannschaften auf den Mauern gekommen und die Zahl der Überläufer mehrte sich ständig. Doch feige Flucht oder gar heimtückische Angriffe auf das Leben von Bürgern seiner eigenen Stadt kamen für Edouard nicht in Frage. Andererseits – konnte er seinen Amtskollegen im Rat wirklich guten Gewissens vorschlagen, die Kapitulation der Stadt anzubieten? Die Mehrzahl der Menschen hier lebte in geradzu abergläubischer Furcht davor, was der König und seine Truppen und mehr noch, was der „rachsüchtige und gottlose Kardinal“, der die Armee persönlich befehligte, mit ihnen anstellen würden, wenn La Rochelle aufgab und seine Tore öffnete. Besonders über die gnadenlose Härte Richelieus wurden täglich neue Schauergeschichten erzählt und Edouard wurde den Verdacht nicht los, dass ein Gutteil dieser Greuelpropaganda von Guiton selbst in Umlauf gebracht wurde. Aber waren es wirklich nur Schauermärchen? Audebert wusste, es gab da draußen einen Mann, der ihm darauf – vielleicht – eine Antwort geben konnte ...

Als seine Frau Jacqueline schließlich doch nachgegeben hatte und ihn gehen ließ, hatte er sich eines Abends nach Einbruch der Dunkelheit durch den geheimen Tunnel davongeschlichen, war mit einigem Glück ungesehen durch die Sümpfe vor der Stadt bis in die Nähe des königlichen Feldlagers gelangt und hatte sich dort im Schutz einer Hecke verborgen. Wenn er, wie alle wehrfähigen Bürger von La Rochelle, Wachdienst auf den Mauern versah, hatte er schon mehrfach beobachten können, dass abends ein einzelner schwarz gekleideter Reiter einen Kontrollritt um das Lager und bis zu dem im Winter errichteten Damm, welcher die Stadt vom offenen Meer abschnitt, unternahm. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann war dieser Mann Rochefort. Er wartete in seinem Versteck und hoffte. Einmal kam eine Patrouille von königlichen Musketieren bis in seine unmittelbare Nähe und er wagte kaum noch zu atmen. Dann wurde es wieder ruhig bis auf die leisen Stimmen und Geräusche, die gedämpft aus der feindlichen Zeltstadt herüber drangen. Als er schon kurz davor war resigniert aufzugeben, vernahm er plötzlich den näherkommenden Hufschlag eines im Schritt gehenden Pferdes. Vorsichtig spähte er zwischen den Zweigen hervor; aufgrund der Dunkelheit war das Gesicht des Reiters nicht wirklich zu erkennen – er konnte nur beten, dass er sich nicht irrte und den Richtigen ansprach.

In dem Moment blieb das Pferd aprupt stehen, starrte in seine Richtung und schnaubte alarmiert. Augenblicklich hob sein Reiter die Pistole, die er in der Hand gehalten hatte. „Armand?“ rief Audebert leise und hastig. „Wer ist da?“ kam die vorsichtige Frage zurück. „Edouard Audebert.“

„Edouard!“ Nun hatte der Graf seinen Freund an der Stimme erkannt. „Seid Ihr verrückt? Ich hätte Euch erschießen können!“

„Ich muss mit Euch reden.“

Rochefort blickte sich wachsam um, dann glitt er aus dem Sattel. Der Stadtrichter und der Stallmeister des Kardinals umarmten sich kurz, während letzterer, nun mit deutlicher Besorgnis in der Stimme, flüsterte: „Das war verdammt riskant, hierher zu kommen. Was ist passiert?“

„Armand, die Menschen in der Stadt verhungern! Vor allem die Ärmeren sterben wie die Fliegen. Ich möchte irgendetwas dazu beitragen diesen Wahnsinn zu beenden. Aber der Bürgermeister denkt nicht ans Einlenken und die Mehrheit steht immer noch hinter ihm, weil die meisten glauben, dass Euer Kardinal alle umbringen lassen wird, wenn er die Stadt einnimmt. Ich weiß nicht, ob Guiton Recht hat. Ich weiß nicht, was ich tun oder wozu ich raten soll“, sprudelte es verzweifelt aus Edouard heraus.

„Pssst, leise! Hier können wir nicht reden. Wenn man Euch entdeckt, bin ich nicht sicher, ob ich verhindern kann, dass man Euch verhaftet und peinlich befragt, um an Informationen zu kommen.“ Während Rochefort überlegte, wohin sie sich zurückziehen könnten, schien sein Freund mit einer Entscheidung zu ringen, starrte mit gequälter Miene in die Dunkelheit. Dann sagte er plötzlich: „Wenn Ihr mir Euer Wort gebt alles in Eurer Macht Stehende zu tun, dass diese Belagerung nicht in einem Blutbad endet, dann zeige ich Euch einen Weg in die Stadt.“ Überrascht sah der Graf dem Stadtrichter in die Augen. Dieser wusste nicht recht, wie er den durchdringenden Blick deuten sollte. „Es ist keine Falle, ich schwör’s.“

Armand wusste, dass Edouard ihn unter normalen Umständen niemals verraten würde. Aber die Umstände hier waren nicht normal und sein Freund hatte mittlerweile eine kleine Tochter. Würde ein verzweifelter Familienvater nicht alles tun, um die Seinen zu retten? Rochefort schob die Logik beiseite und folgte seinem Instinkt. „Ich verspreche Euch, alles zu tun, was in meiner Macht steht.“ Ein Gemetzel an wehrlosen Zivilisten gehörte zu den allerletzten Dingen, denen er etwas abgewinnen konnte.

„Ich muss das Pferd wegbringen und Bescheid geben, dass ich länger ausbleibe. Versteckt Euch wieder.“ Mit diesen Worten schwang sich Rochefort in den Sattel und entschwand in flottem Trab in Richtung des Lagers. Edouard duckte sich zwischen die Zweige der Hecke. „Vertraue ihm nicht blind. Du hast ihn in den letzten Jahren nur selten gesehen – ein Mensch kann sich verändern“, hatte seine Frau Jacqueline ihn gewarnt, bevor er gegangen war. Was, wenn Armand mit Soldaten zurückkommen würde um ihn festzunehmen? „Unsinn!“ verbot er sich im nächsten Moment derartige Gedanken. „Das hätte er gar nicht nötig. Er hätte Dich auch alleine überwältigen können.“ Das Warten schien sich ewig in die Länge zu ziehen. Da – leise Schritte! Eine Gestalt näherte sich. Edouard atmete auf. Armand war alleine. Und das Glück war ihm weiterhin gewogen geblieben. Ohne Zwischenfälle hatten sie das Sumpfgebiet durchquert und waren ungesehen durch den Geheimgang in die Stadt und bis zu seinem Haus gelangt. Und dort hatten sie geredet und geredet und geredet ... bis Rochefort hatte wieder aufbrechen müssen, um noch vor dem Morgengrauen aus La Rochelle heraus zu kommen.

Rund zwei Wochen waren seitdem vergangen. Das Gespräch damals hatte ihm für kurze Zeit wieder etwas Zuversicht gegeben, doch mittlerweile musste er sich eingestehen, dass dieser Funke der Hoffnung in ihm von Tag zu Tag schwächer wurde. Konnte es denn wirklich sein, dass Menschen so blind und verbohrt waren in ihrem Fanatismus, dass sie sehenden Auges ...

Geräusche vom Flur rissen den Stadtrichter aus seinen Gedanken. Da war jemand! Aber Frau und Kind schliefen im oberen Stockwerk... Rasch erhob er sich und sah sich nach etwas um, was man als Waffe benutzen konnte. Es kam immer wieder zu Plünderungsversuchen; halbverhungerte Stadtbewohner brachen aus Verzweiflung in Häuser ihrer Nachbarn ein in der Hoffnung, etwas Essbares stehlen zu können. Einen Atemzug später klopfte es kurz an die angelehnte Küchentür, dann wurde diese aufgestoßen. Ein Mann in schmutziger, durchnässter Kleidung stand auf der Schwelle, einen langen dunklen Mantel über dem einen Arm und in der anderen Hand einen großen ledernen Sack, den er gerade hatte von der Schulter gleiten lassen. Edourds Augen weiteten sich in freudiger Überraschung: „Armand!“

Kapitel Hoffnung

„Ihr habt es tatsächlich geschafft!"

„Ich sagte doch, ich komme wieder." Ein Lächeln glitt über Rocheforts Gesicht. „Und ich habe einiges für Euch mitgebracht." Er stellte den großen Beutel auf den Küchentisch, schnürte ihn auf und begann ihn auszuräumen. Bald stapelten sich vor ihm Brot, Zwieback, geräucherte Würste, Hartkäse, Speck, leinerne Säckchen mit Mehl und Grieß, aber auch etwas frisches Obst und Gemüse und sogar ein Trinkschlauch mit Milch und ein wenig Naschwerk.

„Das ist ... Armand ... ich weiß nicht, wie ich Euch dafür danken soll...", suchte der Stadtrichter nach Worten, fassungslos vor Freude. In diesem Augenblick trat noch jemand durch die Küchentür: Jacqueline, einen langen Wollumhang über dem Nachtgewand, das schlafende Töchterchen auf dem Arm. Ihr Blick wanderte zuerst zu dem nächstlichen Besucher und ihrem Gatten, dann weiter zu den Nahrungsmitteln auf dem Tisch. Madame Audebert war dem Stallmeister des Kardinals gegenüber bisher etwas reserviert gewesen, hatte nicht recht gewusst, wie sie den Mann einschätzen sollte, über den mehr als genug beunruhigende Gerüchte in Umlauf waren, doch in diesem Moment überwältigte sie die Emotion. In ihrem Gesicht zuckte es verdächtig, als sie mit einem raschen Schritt auf den Grafen zutrat und dessen Rechte mit ihrer freien Hand ergriff. „Monsieur le Comte, Gott möge Euch Eure Güte vergelten. Das", sie wies mit dem Kinn ihn Richtung der Speisen, „rettet unserer Colette das Leben. Die Kleine ist schon so geschwächt...". Ihre Stimme drohte zu brechen.

„Schon gut", wehrte Rochefort ab, fast ein wenig verlegen. „Das ist eine Selbstverständlichkeit. Ich wünschte, ich könnte mehr tun."

Währende Madame Audebert begann, eine Mahlzeit für ihre Tochter zuzubereiten, zog der Stadtrichter einen Stuhl heran und bat seinen Jugendfreund Platz zu nehmen. Ihn drängte es zu erfahren, was Rochefort zu berichten hatte. Dieser schnürte nun sein Lederwams auf und holte darunter mehrere Packen Flugblätter hervor. „Hier. Seine Eminenz war mit dem Plan einverstanden. Vielleicht erreichen wir damit ja etwas." In dem gedruckten Text wurden die Bürger von La Rochelle aufgefordert, ihren Widerstand aufzugeben und sich der Gnade des Königs zu überantworten. Im Falle, dass die Stadt sich ergab, würde der Souverän Milde walten lassen. Auch dass ihre persönliche Glaubensfreiheit unangetastet bliebe, wurde den Bewohnern von La Rochelle zugesichert.

Nachdem Edouard das Geschriebene überflogen hatte, richtete er seinen ernsten Blick wieder auf den Grafen: „Und werden diese Garantien auch wirklich eingehalten werden? Habt Ihr den Kardinal darauf angesprochen?"

Armand nickte. „Richelieu will kein Blutbad und er wird seinen ganzen Einfluss geltend machen, damit es nicht dazu kommt. Immerhin hat ihm der König den Oberbefehl über die Truppen vor La Rochelle übertragen. Was auch immer an Schauergeschichten über den Kardinal in Umlauf gebracht wird – der allergrößte Teil davon ist erstunken und erlogen!" Die letzten Worte hatte der Stallmeister Seiner Eminenz ungewohnt heftig hervorgestoßen und auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte des Unmutes gebildet. „Er ist weder der Teufel in Menschengestalt, noch empfindet er Freude an Grausamkeiten. Es ist nur so, dass er sich Gutmütigkeit oft nicht erlauben kann, dass sein Rang als Erster Minister und sein Ziel, die Autorität des Königs zu stärken, in so mancher Situation Unnachgiebigkeit und Härte fordern. Seine Gegner bei Hofe lauern nur darauf, beim geringsten Anzeichen von Schwäche über ihn herzufallen wie ein Rudel Bluthunde."

„Ihr mögt ihn sehr", stellte der Stadtrichter fast ein wenig erstaunt fest. Richelieu hatte er sich immer als jemanden vorgestellt, der in den Menschen wohl großen Respekt aber nicht unbedingt Zuneigung zu erwecken vermochte.

„Ja", bestätigte Rochefort schlicht.

Edouard schwieg einige Atemzüge lang nachdenklich, um dann eine weitere Frage zu stellen: „Und wenn Guiton und die Mehrheit des Rates weiterhin stur bleiben? Wenn es zum Äußerten kommen und die Stadt im Sturm eingenommen werden sollte? Wird La Rochelle dann zur Plünderung freigegeben werden? Wird man alle töten, deren man habhaft werden kann – das heißt", fügte er mit bitterem Sarkasmus hinzu, „alle, die bis dahin nicht sowieso verhungert sind?"

Der Agent des Kardinals schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist nichts dergleichen geplant. La Rochelle soll weder zerstört noch seine Bevölkerung ausgelöscht werden. Man wird veranlassen, dass die Befestigungswerke geschleift werden und ich kann natürlich nicht versprechen, dass nicht einige der Anführer des Aufstandes ihre Köpfe verlieren werden." Er hielt kurz inne. „Das Problem in diesem Falle wäre eher, dass niemand voraussehen kann, wie sehr die Situation eskaliert. Ihr kennt sicher Berichte aus dem Großen Krieg in Deutschland, wie es ist, wenn Soldaten einmal „von der Leine gelassen" sind. Wenn sich der Blutrausch Bahn bricht, werden Menschen zu Bestien und selbst der verantwortungsvollste Befehlshaber kann dann ein Gemetzel oft nicht mehr verhindern. Deshalb", schloss er mit Bestimmtheit, „darf es erst gar nicht soweit kommen."

Audebert gab sich einen Ruck und versuchte die nagenden Zweifel zu verdrängen. Es half schließlich niemandem, wenn er sich unentwegt Schreckensszenarien ausmalte. „Ihr habt Recht. Ich werde dazu beitragen, was ich kann. Ich werde am besten noch heute Nacht mit der Verteilung der Flugblätter beginnen."

„Ich komme mit", erwiderte der Graf. „Wir sollten gemeinsam gehen."

„Edouard!" Jacquelines Stimme klang besorgt. „Dir ist bewusst, dass Du als Verräter am Galgen landest, wenn sie Dich erwischen? Und mit einem Spion des Kardinals werden sie erst recht nicht viel Federlesens machen."

„Ich mache sowas nicht zum ersten Mal", hielt Rochefort dagegen. „Aber", meinte er dann, indem er sich seinem Freund zuwandte, „Eure Frau hat recht. Ihr solltet Euch nicht dieser Gefahr aussetzen. Es wird besser sein, wenn ich das Verteilen alleine übernehme."

Der Stadtrichter prostestierte: „Das kommt gar nicht in Frage! Ihr habt schon genug für uns riskiert. Und außerdem muss ich Euch doch zeigen, wo es überhaupt Sinn macht, die Flugblätter zu deponieren, sprich, wo Leute wohnen, die für die Botschaft eventuell empfänglich sind." Gegen dieses Argument war freilich schwer etwas einzuwenden. Armand gab sich geschlagen. „Also gut. Dann sollten wir aber sogleich aufbrechen. Die Nacht ist schon recht weit fortgeschritten." An Audeberts Gemahlin gewandt fügte er hinzu: „Ich verspreche Euch, dass wir vorsichtig sein werden." In Jacquelines Blick stand zu lesen, dass sie diese Zusicherung nur wenig beruhigte, aber sie sagte nichts mehr.

In ihre Mäntel gehüllt, unter denen sie die Flugblätter verbargen, verließen sie beiden Männer wenig später das Haus. Eine gespenstische Stille lag über der nächtlichen Stadt, nicht einmal Ratten kreuzten ihren Weg. Offenbar waren selbst diese nahezu unausrottbaren Nager bereits zur Gänze von den hungernden Menschen gefangen und verspeist worden. Der Stadtrichter dirigierte seinen Freund zu den Häusern, wo er die Botschaften deponieren wollte; sie schoben die Zettel unter Türspalten hindurch, klemmten sie zwischen Fensterläden oder hinter Türklinken und hefteten sie auch an die Kirchentüren, das Portal des Rathauses und die Eingänge anderer öffentlicher Gebäude. Sie bewegten sich dabei mit äußerster Vorsicht, so leise wie möglich und ständig angespannt lauschend, um nicht einer Soldatenpatrouille in die Arme zu laufen. Rochefort verließ sich auf seinen Instinkt, änderte manchmal auch spontan die eingeschlagene Richtung, wenn ihm sein Gefühl sagte, dass sie einen bestimmten Straßenzug besser meiden sollten.

Schließlich hatten sie alle Flugblätter verteilt und befanden sich bereits auf dem Rückweg zum Haus des Stadtrichters, als sie jäher Lärm am anderen Ende der Gasse zusammenfahren ließ. „Halt! Bleibt sofort stehen!" brüllte eine barsche Stimme, Waffen wurden aus der Scheide gezogen, dann hastig rennende Schritte. Der Graf warf einen Blick in die Richtung, packte Audebert am Arm und zerrte ihn blitzschnell in das tiefe Dunkel einer Toreinfahrt neben ihnen.

„Wenn sie uns hier entdecken, sitzen wir in der Falle", wisperte der Stadtrichter mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

„Pssst", zischte sein Freund, „die sind nicht hinter uns her."

Wenige Augenblicke später stürmten vier zerlumpte Gestalten an ihnen vorbei die Gasse entlang, dicht gefolgt von drei Bewaffneten. Offenbar Plünderer, die die Aufmerksamkeit einer Patrouille auf sich gezogen hatten.

Armand wartete, bis sich die Geräusche in einer benachbarten Straße verloren. „Jetzt rasch nach Hause. Wir dürfen nicht warten, bis die Soldaten Verstärkung holen und womöglich dieses Stadtviertel genauer durchsucht wird."

Im Laufschritt legten sie das letzte Stück zu Edouards Haus zurück. Nachdem der Hausherr die Türe hinter sich wieder geschlossen und fest verriegelt hatte, stieß er erleichtert die Luft aus. „Guter Gott, das war knapp!" Das Herz schlug ihm immer noch bis zum Hals. Er blickte auf Rochefort, der völlig ungerührt schien und kaum rascher atmete. „Ich fürchte, ich würde nicht zum Agenten taugen. Noch bevor mich ein Feind erledigen könnte, hätte mich vermutlich schon vor Aufregung der Schlag getroffen", stellte er mit einem Anflug von Galgenhumor fest. Der Stallmeister Seiner Eminenz grinste flüchtig und zuckte die Schultern. „Alles Gewohnheit", gab er betont lässig zurück, um dann ernster hinzuzufügen: „Nein, Ihr habt schon recht – das ist sicher nicht Jedermanns Sache."

Nachdem sich sein Jugendfreund wenig später auf den gefahrvollen Rückweg aus der belagerten Stadt hatte machen müssen, bevor der Morgen anbrach, versuchten der Stadtrichter und seine Frau noch ein wenig Schlaf zu finden. Doch der wollte sich nach den aufwühlenden Ereignissen dieser Nacht nicht einstellen. So unterhielten sich die Eheleute, flüsternd, um das schlummernde Töchterchen nicht zu stören, beredeten das Geschehene, mutmaßten über das Kommende. Später dann schwiegen sie beide und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Der Allmächtige allein wusste, wie das alles hier enden würde, aber zumindest hatten sie die Gewissheit, dass sie und ihr Kind in der nächsten Zeit nicht verhungern würden. Und allein diese Tatsache gab ihnen zurück, was sie fast schon verloren hatten: die Hoffnung.

Kapitel Der Anschlag - Teil 1

Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Edouard Audebert in den Stuhl in seinem Arbeitszimmer sinken. Er fühlte sich so ausgelaugt und erschöpft wie schon lange nicht mehr. Die Ratssitzung hatte bis in die späten Abendstunden gedauert und war in höchstem Maße unerquicklich, ja nervenaufreibend gewesen. Wieder war es um das eine, alles beherrschende Thema gegangen: Kapitulation, ja oder nein? Und wieder hatten es Guiton und der einflussreiche prostestantische Edelmann Benjamin der Rohan, der die Verteidigung der Stadt zusammen mit dem Bürgermeister leitete, geschafft, die Stimmen der Vernunft zum Schweigen zu bringen. Das Auftauchen der Flugblätter hatte insofern Wirkung gezeigt, als es die Diskussion um eine Übergabe der Stadt kräftig angeheizt hatte, doch der gewünschte Erfolg hatte sich leider nicht eingestellt – und das, obwohl die Hungersnot von Tag zu Tag katastrophaler wurde. Die brütende Sommerhitze, die sich mittlerweile eingestellt hatte, verschlimmerte die Situation noch zusätzlich.

Zwar hatte sich die Zahl derer, die dafür plädierten mit den Belagerern zu verhandeln gemehrt, doch sie konnten sich gegen Guiton und Rohan nicht durchsetzen. Beide stellten die in den Flugblättern versprochenen Garantien als Lügen hin, als heimtückische Falle, die die Bürger von La Rochelle zur Aufgabe verlocken sollten um sie danach umso leichter abschlachten zu können. Die von den beiden redebegabten Männern plastisch geschilderten Schreckensszenarien zeigten Wirkung. Niemand wollte die Schuld auf sich laden, seine Heimatstadt womöglich einem gnadenlosen Feind ausgeliefert zu haben.

An diesem Abend war dem Stadtrichter dann der Kragen geplatzt. „Was heißt, dieses Risiko können wir nicht eingehen?!" hatte er geschrien. „Und was ist mit dem Risiko, oder nein, mit der Gewissheit, dass wir hier alle elendiglich krepieren werden?!" Er hatte sich immer mehr in Rage geredet und sich direkt an Guiton gewandt: „Was wollt Ihr eigentlich? Habt Ihr vor, in Zukunft über ein Leichenhaus zu regieren? Ist das Euer Verständnis davon, Verantwortung für die Bürger dieser Stadt zu übernehmen?"

Sein Ausbruch hatte ihm nichts genützt, im Gegenteil. Auf welcher Seite er denn eigentlich stehe, hatte der Bürgermeister ihn mit scharfer Stimme angeherrscht und er solle vorsichtig sein mit seinen Worten. Für Kleinmütige und Feiglinge sei kein Platz im Rat. Edouard hatte sich daraufhin fast gewaltsam wieder zur Ruhe gezwungen und geschwiegen. Er durfte sich nicht zu sehr exponieren, schon um seiner Familie willen. Das Klima unter den Bürgern war bereits vergiftet von gegenseitigem Misstrauen und wer in den Geruch kam, ein Verräter und Überläufer zu sein, musste mit dem Schlimmsten rechnen.

Mit einer müden Geste fuhr sich der Stadtrichter mit der Hand über die Augen, als ihn ein leises Pochen an der Tür aufhorchen ließ. Freudige Erwartung durchzuckte ihn – das konnte eigentlich nur Armand sein, denn Frau und Kind schliefen! Als er seinen Freund damals das erste Mal durch den Geheimgang in die Stadt geführt hatte, hatte er ihm auch einen Schlüssel von seinem Haustor überlassen, damit er im Falle des Falles unauffällig kommen und gehen konnte und nicht durch nächtliches Klopfen oder Rufen womöglich die Aufmerksamkeit der Nachbarn auf sich zog. „Ja, herein!" rief er und im nächsten Moment trat tatsächlich der Agent Seiner Eminenz über die Schwelle, in der Hand wieder den sehnlich erhofften Sack mit Lebensmitteln.

Nach dem sich die beiden begrüßt und Platz genommen hatten, blickte der Graf seinem Gegenüber forschend ins Gesicht: „Ihr seht bedrückt aus", stellte er fest. Mit knappen Worten schilderte Edouard den derzeitigen Stand der Dinge und die Ereignisse im Rat. „Die kritischen Stimmen haben sich zwar gemehrt, aber Guiton und Rohan haben die Stadt immer noch fest in der Hand. Und solange das so bleibt, wird es keine Übergabeverhandlungen geben", schloss er seinen Bericht. Der Blick des Grafen verfinsterte sich. Ein solches Übermaß an Fanatismus und angsterfüllter Verbohrtheit, mit dem er hier konfrontiert wurde, war ihm unbegreiflich. „Aber ich werde mich nicht mundtot machen lassen", bekundete der Stadtrichter entschlossen. „Ich muss vorsichtig sein, aber niemand kann mir verbieten, weiterhin der Vernunft das Wort zu reden."

Rochefort nickte, fügte aber gleichzeitig warnend hinzu: „Das ehrt Euch, aber erwägt immer genau, wie weit Ihr gehen könnt. Ihr dürft keinesfalls in Kauf nehmen, dass man Euch der Konspiration mit dem Feind beschuldigt. Wenn Ihr im Kerker landet, ist niemandem geholfen." Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Aber aufgeben dürfen wir natürlich nicht. Ich habe wieder einiges mitgebracht..."

Neben neuen Flugblättern, in denen den Stadtbewohnern die sofortige Versorgung mit Nahrungsmitteln versprochen wurde, wenn sie kapitulierten, hatte der Graf diesmal auch einige von Richelieu persönlich geschriebene Briefe dabei. Sie richteten sich an einflussreiche Bürger der Stadt, die Audebert seinem Freund als mögliche Ansprechpartner genannt hatte. Über den genauen Inhalt der Schreiben wusste auch Rochefort nicht Bescheid, aber sie hatten wohl zum Ziel, diese Leute zu einem Umschwenken auf die königliche Seite zu veranlassen.

Diesmal kam es beim nächtlichen Verteilen der Botschaften zu keinen unliebsamen Zwischenfällen und als man in Audeberts Haus zurückgekehrt war, blieb noch Zeit sich ein wenig zusammenzusetzen und Gedanken auszutauschen. Trotz aller Vertrautheit kamen solche Gespräche zum Teil einer vorsichtigen Gratwanderung gleich, denn die Tatsache, dass sie sich in unterschiedlichen Lagern befanden, konnte keiner der beiden Freunde gänzlich ignorieren. Der Stadtrichter war sich beispielsweise völlig sicher, dass Rochefort auch zu anderen Zwecken als ihn aufzusuchen in die Stadt kam, dass er vermutlich versuchte, die Befestigungsanlagen auszukundschaften und anderes mehr. Doch er vermied es bewusst, Armand darauf anzusprechen, um ihn nicht in Verlegenheit zu bringen. Als der Graf jetzt die Frage stellte: „Habt Ihr noch eine Idee, was man tun könnte, wenn die Stadtoberen weiterhin stur bleiben?", antwortete er betont zurückhaltend: „Schwierig ... Ihr wisst, dass Gewalttaten für mich nicht in Frage kommen ... auch nicht, um Wachtposten auszuschalten und den Königlichen irgendwo Einlass zu gewähren."

Armand vermutete, dass Edouard ihm den geheimen Weg in die Stadt nicht gezeigt hätte, wenn dieser dazu geeignet gewesen wäre, eine größere Anzahl Bewaffneter hereinzuführen. Im März hatte der Kardinal einmal versucht, einen nächtlichen Angriff durch die Sumpflandschaft nördlich der Stadt zu führen, nachdem ein Überläufer von einem unbewachten Zugang auf dieser Seite berichtet hatte, doch die Unwegsamkeit des Geländes hatte das Unternehmen scheitern lassen. Seitdem wurden diese Mauerabschnitte noch besser bewacht und selbst für einen einzelnen Mann wie Rochefort war es äußerst schwierig sich unbemerkt zu nähern.

„Ich glaube mittlerweile auch nicht mehr, dass ein Handstreich oder Überraschungsangriff Erfolg haben könnte", gab Rochefort daher zurück, „und dass Ihr Euch an dergleichen nicht beteiligen würdet, ist mir klar. Aber vielleicht gäbe es noch andere Möglichkeiten. Wenn es beispielsweise gelänge, Guiton irgendwie so in Misskredit zu bringen, dass er seinen Rückhalt und seine Autorität in der Stadt verliert, dann –"

Ein Laut vom Fenster her ließ die beiden Männer innehalten. Das Geräusch wiederholte sich, einmal, noch einmal. Es klang, als würde jemand kleine Steinchen von außen gegen die Scheibe werfen. Armand und Edouard tauschten einen Blick, dann stand der Stadtrichter auf, entriegelte das Fenster und spähte vorsichtig nach draußen. Unten auf der Gasse stand eine schlanke Gestalt mit geschulterter Muskete. „Onkel, ich bin’s, Matthieu!" rief der junge Mann mit gedämpfter Stimme. „Ich muss mit Euch reden, es ist dringend."

„Ich komme sofort", beruhigte ihn Audebert, schloss das Fenster wieder und wandte sich rasch zu seinem Freund um. „Es ist mein Neffe. Irgendetwas muss passiert sein. Bleibt hier und wartet auf mich." Er eilte aus dem Zimmer, die Treppe hinunter in den Flur und sperrte das Haustor auf. Ein ungutes Gefühl hatte sich seiner bemächtigt.

„Ich war so froh, als ich das Licht sah und wusste, dass Ihr noch nicht zu Bett gegangen seid", begann der Bursch atemlos, sobald sein Onkel ihn eingelassen hatte. „Ich hatte Wachdienst auf der Mauer..." Jeder männliche Erwachsene hatte seinen Beitrag zur Verteidigung der Stadt zu leisten und wurde je nach Befähigung von den Kommandeuren zu verschiedenen Aufgaben eingeteilt, so auch Matthieu. „Und?" Mit angespannter Geste forderte Edouard ihn auf weiterzusprechen. „Sie – sie planen einen Anschlag auf Kardinal Richelieu! Ich hab’s zufällig belauscht." Audebert wurde weiß wie die Wand. „Sind sie von allen guten Geistern verlassen?! Bist Du Dir sicher? Wer ist es und was genau hast Du gehört?"

„Wer dahintersteckt und wer derjenige ist, der es ausführen soll, weiß ich nicht, ich konnte keine Gesichter erkennen, es ist zu dunkel. Ich war am Wehrgang oberhalb des Nordtores. Da habe ich mitbekommen, wie sich ein paar Männer bei der kleinen Ausfallspforte versammeln und tuscheln. Ich glaubte den Namen Richelieu gehört zu haben – da bin ich neugierig geworden und habe mich genähert um verstehen zu können was sie reden. Ich stand direkt über ihnen, aber sie waren so in ihre Sache vertieft, dass sie mich nicht bemerkt haben. Sie haben sich irgendwie eine Uniform der Kardinalsgarde organisiert. Derjenige, der das Attentat ausführen soll, wird versuchen, als Gardist getarnt so nahe an Richelieu heranzukommen, dass er ihn töten kann. Er weiß, dass er das vermutlich nicht überleben wird, aber das ist ihm egal, er will es trotzdem –"

„Hat der Mann die Stadt schon verlassen?" unterbrach der Stadtrichter seinen Neffen in äußerster Bestürzung.

„Ja. Gleich nachdem sie sich besprochen hatten, wurde die Pforte geöffnet und jemand ist hinaus in die Nacht gehuscht. Ich habe dann meinen Kameraden gegenüber so getan, als hätte ich einen Schwächeanfall wegen des Hungers, damit sie mich heimschicken. Ich wollte Dich warnen..."

Audebert schwindelte unter dem Schlag dieser unerhörten Nachricht. Ja, gewarnt war er nun, doch was nützte es, der Attentäter war bereits unterwegs. Es gab nichts mehr, was er tun – doch nein! ... Was war er nur für ein Narr! ... Im ersten Stock wartete ja sein Freund auf ihn. Wenn jemand diesen Wahnsinn noch verhindern konnte, dann er!

Sich zur Besonnenheit zwingend wandte er sich an Matthieu, legte ihm beide Hände auf die Schultern: „Du hast richtig und umsichtig gehandelt, ich danke Dir. Geh‘ jetzt nach Hause, damit niemand Verdacht schöpft, dass Deine Übelkeit nur gespielt war. Informiere auch Deine Eltern. Ich überlege inzwischen, was zu tun ist. Und ansonsten können wir nur beten, dass dieser Anschlag nicht gelingt."

Der Stadtrichter öffnete das Haustor wieder, nickte seinem Neffen beruhigend zu und schob ihn hinaus. Matthieu und dessen Familie teilten Edouards Ansichten was den Konflikt zwischen La Rochelle und dem König betraf, auch sie waren der Meinung, dass die Stadt sich ihrem Souverän unterwerfen sollte um dem Sterben innerhalb der Mauern ein Ende zu machen. Doch so sehr er ihnen auch vertraute, das brisante Geheimnis um seinen Kontakt zum Stallmeister von Kardinal Richelieu wollte er mit niemandem außer mit seiner Frau Jacqueline teilen.

Sobald der junge Mann in der Dunkelheit verschwunden war, fuhr Audebert herum und rannte wie von Furien gehetzt die Treppe hinauf zu seinem Arbeitszimmer.

Armand hatte sich von seinem Stuhl erhoben, als er das hastige Gepolter vernahm. Das klang verdammt danach, als gäbe es gröbere Probleme. Auf das, was er in den nächsten Augenblicken zu hören bekam, war der Graf allerdings nicht vorbereitet. Seine Augen bekamen einen so harten, kalten Glanz, dass es Edouard fast erschreckte.

„Wie lange ist es her, dass der Mann die Stadt verlassen hat?" „In welche Richtung?"

Audebert beantwortete die Fragen, so gut er konnte.

Im Schein des auf dem Tisch stehenden Leuchters überprüfte Rochefort mit routinierten, hundertfach geübten Handgriffen seine Waffen, vergewisserte sich, dass die Pistole schussbereit war. Dann stürmte er aus dem Zimmer und die Treppe hinab zum Haustor, dicht gefolgt von seinem hugenottischen Freund.

An der Tür hielt er kurz inne und wandte sich noch einmal zu dem Stadtrichter um. Der fasste ihn an der Schulter. „Armand – bitte – gebt auf Euch Acht!" In seinem Tonfall lag eine verzweifelte Eindringlichkeit. Der Graf nickte knapp, dann zog er ihn plötzlich kurz und heftig in seine Arme, ein wortloser Dank dafür, dass der Freund ihn informiert, ihm die Möglichkeit gegeben hatte, das Verhängnis vielleicht noch abzuwenden, das seinen Herrn bedrohte. Einen Atemzug später huschte er in die Nacht hinaus.

„Gott sei mit Euch", flüsterte Audebert.

Kapitel Der Anschlag - Teil 2

Glauben sie wirklich, dass die Belagerung endet, wenn sie den Kardinal töten? ... Was für ein Wahnwitz! ... Das Gegenteil würde eintreten. Nie und nimmer könnte der König einfach hinnehmen, dass man seinen Ersten Minister ermordet. Ja ... dann und nur dann war es durchaus denkbar, dass Louis XIII. tatsächlich den Befehl geben würde, La Rochelle dem Erdboden gleich zu machen um diese unerhörte Tat zu sühnen.

Diese Gedanken schossen Rochefort durch den Kopf als er in fliegender Hast durch die finsteren Gassen der Stadt rannte, auf schnellstem Wege in Richtung seines Schlupflochs in der Mauer. Doch diesmal war ihm das Glück nicht hold. Das Geräusch seiner eigenen eiligen Schritte hatte ihn daran gehindert, sie rechtzeitig zu bemerken. Als die vier Mann starke Patrouille um die Ecke bog, war es bereits zu spät, kein Versteck bot sich in unmittelbarer Nähe. Der Agent verlangsamte sein Tempo, versuchte einfach ruhig weiter zu gehen, doch ihm war klar, dass das nicht funktionieren würde.

„He, wer seid Ihr? Was tut Ihr hier draußen um diese Zeit?“ tönte es da auch schon hinter ihm. Sekundenlang überlegte er, ob er versuchen sollte, sich als Bürger der Stadt auszugeben und ihnen irgendeine Ausrede aufzutischen. Nein, zu riskant. Er war bis an die Zähne bewaffnet, allein das würde ihn zusätzlich verdächtig machen und sie waren zu viert – keine Chance, sie einfach so zu überwältigen. Also nichts wie weg!

Sofort entspann sich eine wilde Verfolgungsjagd, die ihn in die gänzlich falsche Richtung, weg von dem Geheimgang, führte. Zusätzlich fatal war, dass seine Gegner auch noch größtmöglichen Lärm schlugen, „Alarm!“ und „Haltet den Spion!“ brüllten, um Unterstützung zu bekommen. Fenster öffneten sich, Rufe einer anderen Patrouille antworteten. Armand versuchte sie in dem Gewirr schmaler Altstadtgässchen abzuhängen und, einen Bogen schlagend, wieder in die Nähe des Fluchttunnels zu gelangen. Da tauchte vor ihm eine zweite Soldatengruppe auf. Jetzt wurde es eng, denn es war ihm nicht gelungen, die anderen vier gänzlich los zu werden – sie konnten ihm jeden Moment den Weg versperren. Gerade war er an einer Stelle vorbeigerannt, wo die Häuserzeile durch eine Art Gartenmauer unterbrochen war. Dahinter lag offenbar ein unverbautes Grundstück. Dorthin wandte er sich, nahm Anlauf, bekam im Sprung die Mauerkrone zu fassen und zog sich, behindert durch Waffen und Mantel, mehr schlecht als recht hinauf. Die Soldaten stürmten mit wütendem Geschrei heran.

Rochefort ließ sich auf der anderen Seite herabfallen und landete tatsächlich in einem Garten, der links und rechts von Häusern und auf der Gegenüberseite wiederum durch eine Mauer eingefriedet war. Unterhalb derselben war wohl ein Gemüsebeet gewesen, das nun aber nur noch aus nackter Erde bestand, daneben, in einer Ecke des Hofes, eine Hundehütte. Unbewohnt allerdings, der arme Vierbeiner war längst dem Hunger seiner Besitzer zum Opfer gefallen, genauso wie sämtliche Pflanzen, denn außer einem mageren, fast kahlen Kirschenbäumchen wuchs hier nichts mehr. All dies erfasste der Graf mit einem Blick, hetzte dann zu der Mauer vis-a-vis, in der Erde des Beetes deutliche Stiefelabdrücke hinterlassend. Dann sprang er mit einem großen Satz zur Seite in Richtung der Hundehütte; in fliegender Hast verbarg er sein Rapier dahinter und schlüpfte in den Holzverschlag. Wie so oft in solchen Situationen hatte er rein instinktiv agiert.

Im nächsten Atemzug meldete sich sein Verstand um ihm zu sagen, dass er wohl das mit Abstand untauglichste und dümmste Versteck gewählt hatte, das ihm je untergekommen war. Wenn auch nur einer auf die Idee kam, hier nachzusehen, saß er wie die sprichwörtliche Maus in der Falle. Es war jedoch sowieso zu spät, sich noch anders zu besinnen, denn draußen war deutlich zu vernehmen, wie mehrere Personen über die Mauer kletterten und in den Garten sprangen.

Die Verfolger blickten sich suchend um. Einer rannte zu der Tür, die in eines der Häuser führte und rüttelte daran, doch sie war fest verschlossen. Ein zweiter durchquerte eine Fackel hochhaltend den Garten. Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit: „Da sind Fussabdrücke! Er muss hier wieder über die Mauer geklettert sein!“ Heftig gestikulierend deutete der Mann auf die frischen Spuren. Seine Kameraden eilten herbei. Im Nu schwangen sich alle wieder über die Mauer, wobei zwei sogar auf das Dach der Hundehütte stiegen um leichter hochzukommen, und begannen die angrenzenden Gassen zu durchstöbern.

Der Geheimdienstchef des Kardinals fühlte, wie ihm einige Schweißperlen langsam an Stirn und Nacken hinabliefen. Er hatte unwillkürlich die Luft angehalten, nun atmete er erleichtert aus. Das war noch einmal gutgegangen. Vorerst, denn noch war er nicht aus der Stadt. Er lauschte, versuchte abzuschätzen, wann der richtige Zeitpunkt war, sich aus seinem Versteck zu wagen. Vorsichtig lugte er aus dem Eingang der Hütte um zu sehen, ob der Lärm irgendwelche Hausbewohner aufgescheucht hatte, doch alles blieb still und dunkel. Möglicherweise lebte hier gar keiner mehr... Er kroch aus dem engen Verschlag, nahm seinen Degen wieder an sich und verharrte in angespannter Aufmerksamkeit. Immer wieder drangen aus den umliegenden Straßen Rufe und eilige Schritte herüber. Besorgt richtete Rochefort seinen Blick zum Nachthimmel – dort zeigte sich bereits ein erster Anflug morgendlichen Dämmerlichts. Er konnte nicht mehr viel länger warten! Endlich wurde es ruhiger, die Suche nach ihm schien sich in ein anderes Stadtviertel zu verlagern. Jetzt oder nie! Er kletterte zurück in die Gasse, aus der er gekommen war, huschte so rasch und lautlos er konnte davon in Richtung des Kellers an der Stadtmauer, jede Deckung nutzend. Einmal noch musste er einen kleinen Umweg in Kauf nehmen, weil er Leute bemerkte, die aus einem Fenster spähten, doch schließlich erreichte er sein Ziel.

Die Gefahr war damit freilich noch lange nicht vorüber, im Gegenteil. Als er den Geheimgang passiert hatte und sich daran machte, den Weg durch die Sümpfe in Angriff zu nehmen, hatte die Helligkeit des anbrechenden Tages bereits deutlich zugenommen. Sie würden ihn bemerken. Doch je später dies geschah, desto besser seine Chancen. Jeder Schritt zählte. Geduckt bewegte er sich durch das hohe Schilfgras, von Zeit zu Zeit einen Blick über die Schulter zu den Wehrgängen hinauf werfend. Schemenhaft konnte er zahlreiche Gestalten erkennen. Es schien dort oben hektische Betriebsamkeit zu herrschen, die vermutlich auf den nächtlichen Aufruhr zurückzuführen war, den er verursacht hatte – vielleicht aber auch darauf, dass man erwartete, dass drüben im königlichen Lager etwas geschehen würde...

„Da unten schleicht jemand durchs Schilf!“ Deutlich drang der aufgeregte Ruf bis zu Armand. „Wo?“ – Dort, seht doch!“ – „Das ist sicher der Spion!“ – „Rasch, gebt Feuer!“ Rochefort rannte los, seinen Umhang abstreifend, der ihn beim Laufen nur behindern würde. Schüsse fielen, mehrere Kugeln pfiffen in etwas größerer Entfernung an ihm vorbei, eine verfehlte ihn jedoch nur knapp und schlug unmittelbar neben ihm klatschend in den Morast. Schon hoffte er, außer Schussweite zu sein, als ein sengender Schmerz am rechten Oberarm ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Ein kurzes Straucheln, ein Fehltritt und schon versank er mit einem Bein bis übers Knie im Sumpf. Fluchend warf er sich zur Seite; nur unter Aufbietung aller Kräfte gelang es ihm, den Fuß wieder aus dem zähen Schlamm zu befreien. Als er sich wieder aufrichtete und erneut loslief, zischte ein weiteres Geschoss zentimeterbreit an seinem Kopf vorüber. Dann endlich schien er weit genug von der Stadtmauer entfernt zu sein. Er verminderte etwas sein Tempo, achtete sorgfältiger auf den Weg bis der Sumpf hinter ihm lag um nicht erneut zu versinken. Im Morgendunst zeichneten sich bereits die Stellungen der königlichen Truppen ab, doch bis zum Quartier Seiner Eminenz war es noch ein beträchtliches Wegstück. Um dem Lärm und Gestank des großen Feldlagers zu entfliehen, hatte Richelieu ein etwas abseits gelegenes Gehöft requiriert und zu seinem Domizil erkoren.

Rochefort wählte eine Abkürzung querfeldein, sich zu allergrößter Eile antreibend. Den Schmerz in seinem Arm irgnorierte er. Vermutlich nur ein Streifschuss. Unwichtig im Moment. Die Furcht, dass er zu spät kommen könnte, hatte sich wie eine eisige Hand um sein Herz gelegt. Er wusste, sein Dienstherr pflegte sehr zeitig aufzustehen. Manchmal unternahm er bereits vor dem Frühstück einen Kontrollritt zum Damm und zu exponierten Stellen des Lagers. Wenn der Attentäter tatsächlich eine Uniform der Kardinalsgarde hatte, war es nicht auszuschließen, dass er unentdeckt bis in die Nähe seines Opfers gelangen konnte...

Vor ihm befand sich nun ein Außenposten, bewacht von königlichen Musketieren, die weithin an ihren leuchtendblauen Kasacken mit dem silbernen Kreuz zu erkennen waren. Die Männer kniffen misstrauisch die Augen zusammen und langten nach ihren Waffen, als sie eine Gestalt auf sich zurennen sahen. „Der kommt aus Richtung der Stadt. Könnte ein Überläufer sein“, mutmaßten sie um dann laut zu rufen: „Halt! Wer seid Ihr?“ Der Graf nannte seinen Namen, aber er war derart außer Atem, dass er kaum zu verstehen war. Inzwischen hatte jedoch einer der Soldaten, ein Mann mit auffallend aristokratischen Gesichtszügen, den Ankömmling erkannt: „Das ist Rochefort“, ließ er seine Kameraden mit verhaltener Stimme wissen, worauf diese ihre Waffen wieder senkten. Der misstrauische Ausdruck auf ihren Gesichtern blieb jedoch, betrachteten die Musketiere den gefürchteten Agenten Seiner Eminenz ja als so etwas wie ihren natürlichen Gegenspieler.

Armand hatte die Musketiere nun erreicht und sprach denjenigen an, der ihn erkannt hatte: „Athos – “ Er musste nach jedem Wort Luft holen, um überhaupt deutlich reden zu können. „Ist – hier – irgendjemand – Verdächtiger – vorbeigekommen?“

„Außer Euch niemand“, schoss dem Musketier eine wenngleich treffende, so doch reichlich vorlaute Antwort durch den Kopf, aber natürlich behielt er die für sich. Stattdessen erwiderte er: „Nein. Nicht solange wir hier Wache haben. Und das ist schon seit ein paar Stunden.“

„Auch kein einzelner Kardinalsgardist?“ fragte der Graf weiter.

„Nein. Ist etwas -- ?“

Bevor Athos zu Ende sprechen konnte, war Rochefort schon wieder davon gestürmt.

Die Männer schüttelten die Köpfe. „Was ist denn mit dem los? Verdächtiger? Kardinalsgardist? Kardinalsgardisten sind immer verdächtig!“ feixte einer respektlos. Athos hingegen zog die Brauen zusammen. „Das riecht nach Ärger“, brummte er.

Kapitel Der Anschlag - Teil 3

In und um den Hof, den der Erste Minister von Frankreich und Oberbefehlshaber der königlichen Armee vor La Rochelle bewohnte, herrschte schon seit den frühen Morgenstunden rege Betriebsamkeit. Ordonnanzen kamen und gingen, Boten wurden abgefertigt, Berichte entgegen genommen. Bei Tag und Nacht patrouillierten Gardisten in scharlachroten Kasacken rund um das Gebäude, aber auch im angrenzenen Gelände. Heute lag jedoch zusätzlich eine gewisse Anspannung in der Luft. Seine Eminenz schien ausgesprochen schlechter Laune zu sein; Richelieus ernste Züge wirkten noch strenger als sonst, ja man hätte den Ausdruck seines Gesichts schon als geradzu finster bezeichnen können. Jeder, der in die Nähe des Kardinals kam, war daher besonders bemüht, nur bloß nicht seinen Unmut zu erregen und alle Anweisungen promptest auszuführen. Die Ursache für diese Missstimmung kannten allerdings nur einige wenige Leute aus seiner nächsten Umgebung.

Wie üblich hatte Richelieu bis spät in die Nacht gearbeitet, um dann einige wenige Stunden zu schlafen und schon beim ersten Morgengrauen wieder sein Tagwerk zu beginnen. Natürlich hatte er gewusst, dass sein Stallmeister wieder in die belagerte Stadt gegangen war und er machte sich keine Illusionen über das Risiko dieser Unternehmungen. „Ist Rochefort schon zurück?" war daher seine erste Frage an den Gardisten gewesen, der vor der Tür seines Schlafzimmers Wache hielt.

„Nein, Eure Eminenz, er war noch nicht hier:"

Der Kardinal fühlte, wie sich unwillkürlich sein Magen in einem Anflug heftiger Unruhe zusammenzog. Der Graf war bisher immer vor Anbruch der Morgendämmerung zurückgekehrt, weil es bei Helligkeit praktisch unmöglich war, La Rochelle unbemerkt zu verlassen. Und jetzt würde schon bald die Sonne aufgehen! Vor dem Gardisten wollte er jedoch seine Beklommenheit nicht zeigen, er nickte dem Mann daher nur mit unbewegter Miene knapp zu und schickte nach dem Kämmerer, der ihm beim Ankleiden behilflich sein sollte. Als er wenig später in den angrenzenden Raum trat, der als sein Arbeitszimmer eingerichtete worden war, berührte plötzlich eine feuchte Schnauze seine Hand. Robyn, Rocheforts Irischer Wolfshund, stand neben ihm und stieß ein leises Winseln aus. Richelieu fand es immer wieder erstaunlich, wie lautlos sich dieses riesige Tier bewegen konnte. Er streichelte den hellgrauen, strubbeligen Kopf und hätte schwören mögen, dass sie sanften braunen Augen des Hundes voll Sorge zu ihm aufblickten. „Du bist auch schon unruhig, nicht wahr? – Er wird schon kommen", beruhigte er dann Robyn und sich selbst. Das Tier trollte sich daraufhin wieder auf den kühlen Flur hinaus, wo es sich mit einem tiefen Seufzen niederließ.

Der Kardinal sichtete ein paar Schriftstücke, brachte einige Anweisungen zu Papier und schickte Hauptmann Jussac los; er solle die königlichen Generäle ersuchen, mit ihm einen Mittagsimbiss einzunehmen – er wolle eine Lagebesprechung abhalten. Und Jussac möge sich umhören, ob sich der Comte de Rochefort irgendwo im Lager aufhielt. Natürlich konnte es sein, dass der Graf bei seiner Rückkehr durch irgendeinen Umstand im Feldlager aufgehalten worden war, es etwas Dringliches gab, das geklärt werden musste, bevor er zu ihm kam. Er hoffte, dass es sich so verhielt, dass dies die harmlose Erklärung für die unübliche Verspätung war.

Er überlegte, noch einen Brief an den Superintendanten für Finanzen in Paris zu verfassen wegen der Kosten für die Versorgung der Armee, doch er merkte, dass er unkonzentriert war. Ärgerlich warf er die Feder wieder hin und stand auf. Er litt es nicht mehr im Haus...

++++++++++

Rochefort erreichte eine kleine Geländeerhebung. Vor ihm lag nun endlich das Quartier Seiner Eminenz und er hielt kurz inne. Die Auskunft der Musketiere hatte ihn nicht beruhigt. Sicher, es bestand die Möglichkeit, dass der Hugenotte inzwischen von anderen Wachtposten aufgegriffen worden war und somit keine Gefahr mehr darstellte. Aber darauf konnte und wollte er sich nicht verlassen.

Das Bild, das sich ihm bot, hatte jedoch zumindest im Augenblick nichts Beunruhigendes. Die Wachen waren auf ihren Posten, rund um den Hof herrschte das übliche Kommen und Gehen. Nichts deutete auf ein schlimmes Vorkommnis hin. Armand hatte sich gerade wieder in Bewegung gesetzt, als der Kardinal aus dem Gehöft ins Freie trat. Er trug nicht sein geistliches Ornat, sondern soldatische Kleidung mit hohen, bis über die Knie reichenden Reiterstiefeln, Brustharnisch, einem leuchtend roten Mantel und dem Rapier an der Seite. Er ging einige Schritte bis zur Mitte des freien Platzes vor dem Haus und schien tief die noch kühle Morgenluft einzuatmen. Gefolgsleute und Dienerschaft hielten respektvollen Abstand. Da bog im Laufschritt ein weiterer Gardist um eine der Hecken, welche das Anwesen umgaben. Er schwenkte aufgeregt ein Schriftstück und schien etwas zu rufen, das der Graf auf die Entfernung aber nicht verstehen konnte.

„Monseigneur! Eine dringende Botschaft aus Paris!"

Richelieu wandte sich dem Ankömmling zu, der ihm eilig entgegenkam.

In diesem Moment wusste Rochefort mit hundertprozentiger, unumstößlicher Gewissheit, dass dieser Mann kein Soldat der Garde war, sondern der hugenottische Attentäter. Er hätte nicht sagen können, warum er es wusste – aber er wusste es! Doch er war zu weit weg. Egal wie schnell er auch lief, er war zu weit weg um einzugreifen, zu weit weg auch, um einen gezielten Schuss abzufeuern, ohne den Kardinal zu gefährden.

Er tat das Einzige, was zu tun noch möglich war: „Eminenz!! Vorsicht!!!" schrie er so laut er nur irgendwie konnte.

Der Blick des Ersten Ministers flog kurz in die Richtung, aus der der Warnruf kam -- und der Attentäter verlor die Nerven. Hätte er in kaltblütiger Ruhe die letzten Meter bis zu seinem Opfer zurückgelegt, vielleicht hätte Richelieu trotz allem die Gefahr zu spät erkannt. Doch als der Hugenotte sich entlarvt sah, riss er den Degen aus der Scheide und stürzte auf den Kardinal zu, mit der Waffe auf dessen Kehle zielend. Der Angegriffene reagierte im Reflex und blitzschnell. Rascher als die tödliche Klinge ihn erreichen konnte, hatte er sein eigenes Rapier gezogen, war zur Seite ausgewichen und parierte die gegnerische Waffe. Aus der Balance gebracht, geriet der Attentäter ins Stolpern. Sein Kontrahend versetzte ihm ohne zu zögern einen Fausthieb gegen die Schläfe, worauf der solcherart völlig Überrumpelte rücklings am Boden landete. Eine Degenspitze blitzte gefährlich nahe vor seinem Gesicht, sodass er sich nicht mehr zu bewegen wagte.

Für Sekunden schien die Szenerie wie versteinert; jeder starrte, Mund und Augen weit aufgerissen, auf den Kardinal und den Angreifer. Dann stürzten alle auf einmal los, die Diener und Gefolgsleute, um sich zu überzeugen, dass ihr Herr unversehrt war, die Gardisten, um sich auf den Hugenotten zu werfen und ihn zu entwaffnen. Mit einem gereizten Schnauben stieß Richelieu sein Rapier zurück in die Scheide. Er unterdrückte ein jähes Aufwallen von Zorn, das ihn deshalb ein wenig befremdete, weil es nicht in erster Linie dem Attentäter galt, sondern der Tatsache, dass offenbar jeder hier ihn für unfähig hielt sich zu verteidigen. Ja, es war schon richtig, mit seiner Gesundheit stand es nicht immer zum Besten, aber deshalb war er noch lange kein wehrloser Schwächling!

Augenblicke später bahnte sich von zwei Seiten jemand mit größter Vehemenz den Weg durch die Menge. Der eine, aus dem Gehöft kommend, war Robyn, der ungeniert jeden rammte, der ihm im Weg stand. Er hatte die Stimme seines Herrn gehört und dann Lärm – er musste nachsehen, was hier los war! Armand, von der anderen Seite auftauchend, ging nicht eben viel rücksichtsvoller zu Werke als sein vierbeiniger Freund, bis er endlich völlig abgehetzt vor dem Kardinal stand. „Monseigneur...!"

„Rochefort!"

Ihre Blicke trafen sich und in beider Augen stand nichts als grenzenlose Erleichterung.

„Wo wart Ihr so lange? Was - -" Richelieu brach mitten im Satz ab, als er bemerkte, dass der rechte Hemdärmel seines Stallmeisters blutdurchtränkt war. „Ihr seid ja verwundet!"

„Nichts Schlimmes", beruhigte dieser. „Ich glaube, es ist nur ein Streifschuss."

„Trotzdem, das muss versorgt werden. – Holt meinen Leibarzt, sofort!" befahl der Erste Minister mit erhobener Stimme.

Ein Gardist trat heran um zu fragen, was mit dem Hugenotten geschehen solle. „Bringt ihn weg und legt ihn in Ketten. Zwei Mann bewachen ihn rund um die Uhr. Ich kümmere mich später um ihn", lautete die Anweisung des Kardinals. Dann begab er sich, gefolgt von Rochefort und Robyn, zurück ins Haus.

„Ihr wart richtig gut vorhin", bemerkte der Graf als sie das Gebäude betraten und die anderen draußen zurück blieben. In seinem Tonfall lag ehrliche Bewunderung. „Was meint Ihr?" fragte Richelieu, dem nicht gleich klar, worauf sein Geheimdienstchef anspielte.

„Wie Ihr den Kerl außer Gefecht gesetzt habt."

Ein kleines Lächeln stahl sich auf das Gesicht des Ersten Ministers. Er kam nicht ganz umhin sich geschmeichelt zu fühlen. „Ihr wisst ja, dass ich in meiner Jugend eine militärische Karriere angestrebt habe. Am College Navarre war ich sogar der beste Schütze meines Jahrganges – aber das Fechten hat mir auch Freude bereitet. Ich komme nur kaum noch dazu." Wie fast alle Fürsten seiner Epoche beschäftigte auch Richelieu einen Fechtmeister in seinem Haushalt, doch stand dieser in der Hauptsache den Gardisten und Gefolgsleuten zu Verfügung; seinen vielbeschäftigen Dienstgeber sah man nur höchst selten in eigener Person im Fechtsaal.

Rochefort schien kurz zu überlegen, bevor er einen Vorschlag machte: „Ich denke, Ihr solltet in Zukunft wieder regelmäßig Waffenübungen in Euren Tagesablauf einplanen. Wie wir gerade gesehen haben, gibt es nirgends hundertprozentige Sicherheit, selbst wenn Ihr von Eurer Garde umgeben seid."

„Wo soll ich denn die Zeit dafür hernehmen? Die Geschäfte des Staates nehmen mich doch fast Tag und Nacht in Anspruch."

Doch der Graf ließ keine Einwände gelten. „Als Leiche könnt Ihr Frankreich schlecht dienen", stellte er ebenso energisch wie pragmatisch fest. „Es wäre mir eine Freude, mit Euch zu trainieren. Und", ergänzte er mit eindeutig vorwurfsvollem Unterton, „Ihr sitzt sowieso viel zu viel hinter Eurem Schreibtisch. Die körperliche Ertüchtigung wäre auch Eurer Gesundheit sicherlich zuträglich."

Der Kardinal seufzte. Er kannte seinen Stallmeister und dessen Hartnäckigkeit. Er würde ihm keine Ruhe lassen, bis er auf den Vorschlag einging. Und Rochefort hatte ja keineswegs Unrecht mit dem, was er da sagte.

„Also gut, ich werde versuchen, die Fechtlektionen einzuplanen." Dann, mit einem Schmunzeln, fügte Richelieu hinzu, während er sich die immer noch schmerzenden Fingerknöchel seiner rechten Hand rieb: „Aber Schlägereien sollte ich auch in Zukunft wohl besser unterlassen."

++++++++++++++

Als seine Verletztung verbunden war, er seine über und über mit Schlamm und Schmutz bedeckte Kleidung abgelegt hatte und in einem nach Kräuteressenzen duftenden Bad saß, das die aufmerksame Dienerschaft für ihn bereitet hatte, fühlte der Graf, wie sich die unerträgliche Anspannung langsam löste. Es war noch einmal gutgegangen.

Wenig später hatte er Richelieu gegenüber in dessen Arbeitszimmer Platz genommen, berichtete, beantwortete Fragen, erzählte von seiner halsbrecherischen Flucht. „Rochefort." Die Stimme des Ersten Ministers war ernst. „Das war das letzte Mal, dass Ihr in die belagerte Stadt gegangen seid." Sofort erschien ein dem Kardinal wohl vertrauter bockiger Ausdruck auf dem Gesicht seines Geheimdienstleiters. Es gab kaum jemand in Richelieus Gefolge, der eine direkte Anweisung nicht sogleich und widerspruchslos befolgt hätte. Nicht so der Graf, wenn er gegenteiliger Überzeugung war. Da halfen nur Argumente. „Es gibt keinen auch nur halbwegs sicheren Weg mehr in die Stadt für Euch. Nach dem Vorfall heute Nacht werden sie den nördlichen Mauerabschnitt bei den Sümpfen ganz genau unter die Lupe nehmen und den Gang finden. Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit, dass er entdeckt wird, extrem hoch. Und Ihr könnt nicht einfach hingehen und ausprobieren, ob sie dort auf Euch warten, oder?"

Armand senkte den Blick. Der Kardinal hatte ja Recht. Aber einfach aufgeben? Er gab niemals auf! Und was sollte aus Audebert und seiner Familie werden? Würden die Nahrungsmittel für ihr Überleben reichen? Sein Gegenüber schien seine Gedanken zu lesen. „Rochefort. Ich werde weiterhin alles tun, um eine Kapitulation von La Rochelle zu erreichen. Und dem Stadtrichter und seiner Familie ist nicht gedient, wenn Ihr erwischt werdet. Soll Audebert zusehen müssen, wie man Euch als Spion hinrichtet? Es gibt einen Unterschied zwischen riskanten und selbstmörderischen Unternehmungen. Ich kann das nicht zu lassen. Ich will Euch nicht verlieren." Wärme lag in Richelieus Stimme und eine große Eindringlichkeit.

Der Graf wusste, dass sein Freund gewonnen hatte. Denn im Moment sprach er als Freund zu ihm und nicht als sein Vorgesetzter. Und das wirkte immer!

Kapitel Umsonst?

 

Der 30.Oktober anno 1628. Rochefort wusste, dass sich dieses Datum vermutlich für immer in sein Gedächtnis eingraben würde. La Rochelle hatte kapituliert und heute zog Kardinal Richelieu an der Spitze seiner Truppen in die besiegte Stadt ein. Am 27.Oktober hatte Jean Guiton Verhandlungen mit den Belagerern eröffnet. „Ein sicheres Indiz dafür, dass schlussendlich auch in des Bürgermeisters Speisekammer die Vorräte zur Neige gegangen sein dürften. Ich denke, die Aussicht auf das eigene unausweichliche Ende hat den guten Mann rascher zum Einlenken gebracht, als es ein paar tausend verhungerte Mitbürger je vermocht hätten", hatte der Geheimdienstchef Seiner Eminenz die Nachricht mit schwärzestem Sarkasmus kommentiert. Doch zumindest stellte sich Guiton nun den Konsequenzen seines Tuns, während der zweite Oberbefehlshaber, Benjamin de Rohan, gerüchteweise bereits die Flucht nach England angetreten hatte.

Es war, als würde man sich durch eine Geisterstadt bewegen. Grabesstille herrschte in den Straßen und Gassen, nur der Hufschlag der Pferde und die Stiefelschritte der Soldaten hallten von den Hauswänden wieder. Wenn auch dort, wo der königliche Tross sich bewegte, keine Leichen zu sehen waren, so hing doch ein drückender Geruch von Tod und Verwesung über der ganzen Stadt. Rochefort, wie üblich ganz in Schwarz, ritt dicht hinter Richelieu, die Hand immer an einer der beiden schussbereiten Reiterpistolen. Unablässig ließ er seinen Blick über die Häuserzeilen schweifen, behielt Dächer, Fenster und Toreinfahrten im Auge. Im Angesicht des unermesslichen Leides, das über La Rochelle hereingebrochen war, konnte man nicht ausschließen, dass ein Verzweifelter nochmals einen Angriff auf das Leben des Kardinals versuchen würde. Doch nichts regte sich, kaum jemand wagte es, auf die Straße hinaus zu blicken. Die meisten Fensterläden blieben verriegelt.

Schließlich langte man vor dem Rathaus an, dessen eindrucksvolle Größe und prachtvoll verzierte Fassade den Reichtum der Handelsstadt zur Schau stellten. Dort erwartete sie der Bürgermeister mit einer Abordnung des Rates, um, als symbolisches Zeichen der Unterwerfung, dem Sieger die Schlüssel der Stadt auszuhändigen. Rochefort hatte sich vor diesem Augenblick gefürchtet. Bei seiner dramatischen Flucht aus der Stadt hatte sich der August gerade seinem Ende zugeneigt – gute zwei Monate also waren noch bis zur Kapitulation verstrichen. Hatten Edouard und seine Familie diese Zeit überlebt? Wann immer Überläufer im königlichen Lager eingetroffen waren, hatte Armand vorsichtig Erkundigungen eingezogen. Zumindest hatte niemand etwas vom Tod des Stadtrichters und seiner Familie zu berichten gewusst. Es bestand also noch Hoffnung...

Er fasste die Ratsherren genau ins Auge – und dann, etwas weiter hinten stehend, entdeckte er den Freund. Sein Gesicht war entsetzlich eingefallen, seine Gestalt hager und ausgezehrt, aber er lebte! Ihre Blicke trafen sich. Rochefort achtete darauf, dass keine Regung seines Gesichts verriet, dass er Audebert kannte und auch der Stadtrichter ließ sich nichts anmerken. Doch seine Augen sagten dem Grafen, dass das Schlimmste nicht eingetreten war, dass nicht nur er, sondern auch Frau und Kind die Belagerung überstanden hatten. Zumindest ein Funken Glück in diesem Meer von Elend.

Nachdem der formelle Teil der Übergabe beendet war – Richelieu hatte Guiton während des gesamten Zeremoniells mit so eisiger Miene gemustert, dass einem schier angst und bange hätte werden können – begannen die Soldaten der königlichen Armee in der Stadt auszuschwärmen. Die Befestigungsanlagen waren bereits besetzt worden. Lange Wagenkolonnen rollten nun durch die Stadttore. Die Fuhrwerke waren randvoll beladen mit Lebensmitteln. Der Erste Minister hatte angeordnet, dass die Menschen in der Stadt unverzüglich mit Nahrung zu versorgen waren und überwachte nun in Person den Beginn der Verteilung. Ganz langsam wagten sich nun auch die ersten Einwohner aus ihren Häusern. Angst spiegelte sich auf ihren Zügen, dann Unglauben, als sie die Speisen erblickten. Offenbar konnte noch keiner von ihnen so recht fassen, dass es keine Massaker, keine Plünderungen geben würde, wie man sie monatelang glauben gemacht hatte.

Der Kardinal wandte sich an seinen Stallmeister: „War Euer Freund unter den Ratsherren?"

Der Graf nickte: „Ja."

Bevor sie weitersprechen konnten, kamen zwei Offiziere auf sie zu. „Eminenz ... es ist furchtbar. So etwas ... haben wir noch nicht erlebt..." Die Männer waren sicher nicht zart besaitet, doch nun spiegelten ihre bleichen Mienen blankes Entsetzen. „Die meisten Häuser sind voller Leichen. Alle verhungert. Da ist seit Wochen scheinbar niemand mehr beerdigt worden."

Richelieus beherrschte Züge verdüsterten sich. Kurz schloss er die Augen. Armand, der ihn gut kannte, wusste, dass das eben Gehörte ihn erschütterte, auch wenn er versuchte, sich keine Gefühlsregung, keine Schwäche anmerken zu lassen. „Es ist raschest Sorge zu tragen, dass diese Menschen in geweihter Erde bestattet werden", befahl der Erste Minister nach einem Augenblick des Schweigens. „Ich wünsche, dass dies zusammen mit der Ausgabe der Lebensmittel umgehend organisiert wird. Und kümmert Euch darum, dass sich morgen Früh eine Abordnung des Rates in meinem Quartier einfindet."

Während ihrer Rückkehr ins Feldlager sprachen weder der Kardinal noch sein Stallmeister ein Wort. Auf seinem Gehöft angelangt, legte Richelieu Waffen und Rüstung ab und zog sich zurück. Nach einiger Zeit hielt Rochefort Nachschau, wollte sich vergewissern, ob er im Moment gebraucht würde. Er fand seinen Herrn in dessen Schlafkammer, vor seinem Reisealtar knieend und ins Gebet versunken. Leise verließ er wieder den Raum. Was in Richelieu vorging, konnte er nur erahnen, doch er wusste, dass die Last der Verantwortung den Kardinal manchmal schier zu erdrücken schien. Bei Gott, niemals hätte er mit ihm tauschen mögen, niemals wollte er vor Entscheidungen gestellt sein, wie sie ein Erster Minister im Namen der Staatsräson zu treffen hatte. Wer einen Mann um diese Position beneidete, der war entweder ein Narr oder hatte kein Gewissen – oder beides!

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Edouard Audebert war angespannt, als sich die Delegation aus La Rochelle auf den Weg ins königliche Lager machte. Trotzdem hatte er sich darum bemüht, ja darauf bestanden, Teil dieser Abordnung zu sein. Bereitwillig waren seine Amtskollegen im Rat darauf eingegangen, hatte er doch schon während der Belagerung hartnäckig für einen Ausgleich mit der Gegenseite plädiert. Zu verhandeln gab es nichts mehr, die Stadt hatte sich bedingungslos ergeben müssen. Nun ging es um die Details der Umsetzung dessen, was der König forderte, etwa die Schleifung der Befestigungsanlagen. Doch auch das „Wie" dieser Umsetzung war für Audebert nicht ohne Bedeutung. Es ging um die Zukunft, das Leben musste weitergehen, irgendwie, und jede noch so kleine Erleichterung, die man für die geschundene Stadt vielleicht doch noch herausschlagen konnte, war von Bedeutung.

Der zweite, ebenso triftige Grund hierher zu kommen war Rochefort. Vielleicht hatte er Glück und es ergab sich die Gelegenheit mit seinem Jugendfreund zu sprechen. Tausend Ängste hatte er in jener schicksalhaften Nacht und den darauffolgenden Tagen ausgestanden. Wohl hatte man ihm berichtet, dass ein Spion verfolgt worden war und aus La Rochelle entkommen konnte – doch ob Armand diese Jagd unbeschadet überstanden hatte, war dennoch ungewiss gewesen. Zumindest der geplante Anschlag schien nicht geglückt zu sein, denn von einem solchen Ereignis hätte man auch innerhalb der Mauern in Windeseile Kunde erhalten... Immer, wenn Edouard seinen Wehrdienst auf den Befestigungsanlagen versehen musste, hatte er daher angestrengt zum königlichen Lager hinüber gespäht, bis er endlich gesehen, worauf er bangen Herzens gehofft hatte: Richelieu war mit seiner Entourage wieder einmal zum Damm geritten und an seiner Seite hatte sich ein Kavalier in Schwarz befunden. Armand! Der Freund war also halbwegs heil davon gekommen!

Als die Abordnung aus La Rochelle von Richelieu emfangen wurde, war auch dessen Stallmeister zugegen. Für den Stadtrichter ein wenig überraschend, schien er die Rolle eines Sekretärs zu übernehmen, der festhielt, was während der Besprechung vereinbart wurde. Als sich die Ratsherren dem Ersten Minister vorstellten, gewann Edouard den Eindruck, dass der Blick des Kardinals auf ihm selbst eine Winzigkeit länger und freundlicher ruhte als auf den anderen. Als man sie schließlich entließ, atmete Audebert vorsichtig auf. Richelieu hatte sich nicht so hart gezeigt, wie befürchtet, ja er schien tatsächlich ein ehrliches Intereresse daran zu haben, dass die Stadt sich von den furchtbaren Wunden erholte, die ihr dieser Krieg geschlagen hatte. Und aus seinem eigenen Mund hatten sie nochmals erfahren, dass die persönliche Glaubensfreiheit der Bürger nicht angetastet werden würde.

Seine Amtskollegen schickten sich an, den Heimweg in Angriff zu nehmen – zu Fuß, denn natürlich gab es in der ganzen Stadt schon lange kein einziges lebendes Pferd mehr. „Ich ... komme etwas später nach. Ich möchte noch versuchen, ein paar Fragen zu klären, die mein Amt als Stadtrichter betreffen", wandte Audebert sich an die Männer. Sie nickten und verließen das Gehöft. Unschlüssig stand Edouard in der Eingangstür. Rochefort hatte sich mit dem Kardinal zurückgezogen. Er wusste nicht recht, ob er einfach warten oder es wagen sollte, nach seinem Freund zu fragen. Gerade als er sich entschlossen hatte, ein wenig vor dem Haus zu verweilen, solange man ihm dies nicht verwehrte, trat Armand auf den Flur hinaus. „Edouard! Ihr seid noch hier!"

„Ja. Ich habe einen Vorwand benutzt um zu bleiben. Vor den anderen hätten wir nicht reden können... Ich hoffe, Seine Eminenz hat nichts dagegen einzuwenden."

„Nein, bestimmt nicht. Kommt." Der Graf führte seinen Gast in einen kleinen persönlichen Raum, der neben den Zimmern Richelieus lag und befahl einem Diener, einen Imbiss zu richten. Dann umarmte er den Freund und fühlte dabei mit Bestürzung, dass dieser tatsächlich nur noch aus Haut und Knochen bestand. „Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie froh ich war, als ich Euch gestern vor dem Rathaus gesehen habe. Jacqueline und Colette – sind sie...?"

„Ja, gottlob, sie leben auch und es geht ihnen den Umständen entsprechend gut. Aber ohne das Essen, das Ihr uns gebracht habt, hätten wir es nicht geschafft."

„Ich wollte wiederkommen", versicherte der Graf, während sie an einem kleinen Tisch Platz nahmen. „Aber der Kardinal hat mir klargemacht, dass es Wahnwitz wäre. Trotzdem..."

„Armand", fiel ihm Edouard sogleich ins Wort. „Quält Euch nicht mit Vorwürfen. Seine Eminenz hatte Recht. Sie haben den geheimen Tunnel gefunden und ihn seit Eurer Flucht bis zum Ende der Belagerung ständig bewacht. Ein weiterer Versuch in die Stadt zu kommen, wäre vermutlich Euer Tod gewesen."

Der Diener kehrte zurück und brachte Speisen und Wein. Der Stadtrichter wusste nicht, wie er es über sich bringen sollte, überhaupt etwas zu sich zu nehmen, als Bilder der vergangenen Wochen plötzlich mit Macht in ihm hochstiegen, doch sein ausgehungerter Körper forderte sein Recht. Er zwang sich langsam zu kauen und zu schlucken, der Magen war ja größere Mengen an Nahrung nicht mehr gewohnt. Sie aßen schweigend, dann, mit leiser, brüchiger Stimme, begann Edouard zu erzählen.

Ein kalter Schauer lief Rochefort über den Rücken, als sein Freund geendet hatte. Was er selbst während seiner „Besuche" in La Rochelle mitbekommen hatte, war schon schlimm genug gewesen, doch in diesen letzten 2 Monaten musste die Stadt ein Abbild der Hölle auf Erden gewesen sein; was Edouard hier wiedergab, deckte sich mit den Berichten der Überläufer, ja übertraf diese noch an Intensität des Grauens. Rund drei Viertel der Bevölkerung, so schätzte Audebert, waren tot. In stummer Verzweiflung bedeckte er das Gesicht mit den Händen. „Vielleicht habe ich nicht genug getan, nicht genug riskiert", brach es dann aus ihm hervor. „Ich hatte mich entschieden, keine Gewalt anzuwenden gegen Bürger meiner eigenen Stadt. Aber vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hätte ich es doch tun sollen."

„Ihr meint, Guiton und Rohan über die Klinge springen lassen?" hakte der Graf nach.

Sein Freund nickte. „Hättet Ihr es getan?"

„Ja. Mit ziemlicher Sicherheit. Aber Ihr seid nicht ich. Ihr habt Eurer Überzeugung gemäß gehandelt und daraus dürft Ihr Euch keinen Vorwurf machen. Möglicherweise wäre es fehlgeschlagen, wenn Ihr ein Attentat auf die beiden organisiert hättet. Vielleicht wärt Ihr hingerichtet worden und alles wäre noch schlimmer gekommen. Niemand vermag das zu sagen. Aber ich verstehe Euch, ich empfinde nicht anders. ... Dieses Gefühl der Hilflosigkeit, wenn alles was man tut, einen dem Ziel nicht näher bringt..."

Schweigen.

Dann, mit einer unendlich müden Bewegung, erhob sich der Stadtrichter. Seine Glieder waren bleischwer. „Ich möchte Eure Zeit jetzt nicht länger in Anspruch nehmen, Armand. Ich weiß, wie viel beschäftigt Ihr immer seid. Ich hoffe, wir sehen einander bald wieder." Er seufzte bedrückt. „Wir müssen uns wohl damit abfinden, dass all unser Bemühen umsonst war."

„Ihr irrt. Was Ihr beide getan habt, war nicht umsonst", entgegnete da eine Stimme hinter ihnen. Die Freunde wandten sich überrascht um und sahen zur Tür, durch die unbemerkt der Kardinal getreten war. „Wenn man aufrichtigen Herzens seinem Gewissen folgt, wenn man etwas aus tiefster Überzeugung tut und nicht bloß um des persönlichen Vorteils, der persönlichen Eitelkeit willen, dann ist das niemals umsonst. Nicht immer erreichen wir dabei das angestrebte Ziel. Manchmal müssen wir uns mit Niederlagen abfinden – aber umsonst war unser Tun deshalb trotzdem nicht. Und außerdem", fuhr er fort, „woher wollt Ihr wissen, ob sich Guiton ohne Euren Einsatz vielleicht erst einen Tag oder zwei Tage oder eine Woche später zur Kapitulation durchgerungen hätte? Und an jedem dieser Tage wären weitere Menschen gestorben... Daher noch einmal: Was Ihr getan habt, war nicht umsonst."

Eindringlich ruhten seine durchdringenden, klugen dunklen Augen auf den beiden Männern.

Audebert schluckte. Dann straffte er sich und verneigte sich vor Richelieu. „Eure Eminenz ... ich – danke Euch." Etwas von seiner Bitterkeit war von ihm abgefallen. Dieser Mann hatte La Rochelle belagert ... doch es wollte Edouard nicht gelingen, ihn zu hassen...