Madame de Chevreuse von Louise
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 4 BewertungenKapitel Madame de Chevreuse
Für Silvia,
ohne die ich nie geschrieben hätte und ohne die mein Leben nicht
das wäre, was es jetzt ist!
Alles Liebe zum Geburtstag!
Bettina
Monsieur le Comte,
seid meiner tiefsten Dankbarkeit versichert, dafür, daß Ihr
einer Mutter nicht verweigert ihren Sohn zu sehen.
Ich weiß, daß das, was zwischen Ihnen und einer Frau namens Marie
Michon gewesen ist, Vergangenheit hätte bleiben müssen...
Eine Erklärung erhaltet Ihr am 25. Mai,
Herzogin de Chevreuse
Paris, den 21. Mai 1642
Als er das Blatt in seiner Hand auf den Tisch zurücklegen
wollte, bemerkte er, daß seine Hand leicht zitterte. Unzählige Male
hatte er diese wenigen Zeilen gelesen und jedesmal rührten sich
Gefühle in seinem Herzen, die ihn zu überwältigen drohten. Alles an
diesem Brief war so weiblich. Der Duft, die Handschrift, der
Ausdruck und... der Name. Mme de Chevreuse. Der Graf hatte viel von
ihr gehört, vor allem in den Jahren als er noch am französischen
Hofe als Musketier gedient hatte. Jetzt wußte er nur, daß sie aus
der Verbannung zurückgerufen worden war und in Paris lebte. Dies
war nun das zweite Mal, daß sie ihm schrieb. Er hatte ihren ersten
Briefe, den er vor acht Jahren erhalten hatte, sorgfältig
aufbewahrt und holte ihn nun wieder aus einem fein verzierten
Ebenholzkästchen hervor. Es war eine Antwort auf einen Brief von
ihm gewesen, in dem er ihr mitgeteilt hatte, daß er Raoul, ihren
gemeinsamen Sohn, zu sich genommen hatte. Er hatte ihr damals
freigestellt, ihn zu besuchen und das Kind, wenn sie gewollt hätte,
mitzunehmen. Der Graf sah sich außerstande, eine Frau von ihrem
Kind gewaltsam zu trennen. Sie jedoch hatte ihm geantwortet, daß
sie ihm sehr dankbar sei, daß er sich Raoul angenommen hatte und
bat ihn, weiter für ihren gemeinsamen Sohn zu sorgen. Was den Graf,
der sich damals noch Athos nannte, erstaunte, war ihre Bitte, ihr
nie wieder zu schreiben und ihr "Abenteuer" nie preiszugeben. Er
wußte, daß sie politisch aktiv war und sicher kaum Zeit für eine
Kind haben würde, dennoch erschien ihm diese Antwort so unglaublich
kalt für eine Frau mit ihrer Leidenschaft. Er hatte ihr durch eine
Bekannte seine Zustimmung mitteilen lassen und seit diesem
Zeitpunkt nichts mehr von ihr gehört.
Doch vor genau 10 Tagen hatte er Besuch von einer jungen Dame
bekommen, die er als Ketty wiedererkannt hatte und wußte, daß sie
Mme de Chevreuses Kammerfrau war. Sie überbrachte ihm mündlich die
Bitte der Herzogin de Chevreuse dem Graf de la Fère aus ihm
bekannten Gründen einen Besuch abstatten zu dürfen. Er hatte sofort
zugestimmt und nach wenigen Tagen den Brief erhalten, den er nun
immer und immer wieder zur Hand nahm. Er war so anders als der
erste, den er von ihr erhalten hatte. So leidenschaftlich, wie er
sie immer eingeschätzt hatte. Sie, die zu Zeiten Richelieus als
anmutigste und hübscheste Frau Frankreichs galt, aber auch als
gefährliche Widersacherin des Kardinals und beste Freundin Anna von
Österreichs.
Im Leben des Grafen de la Fère hatte es nur zwei Frauen gegeben.
Die eine hatte sein ganzes Leben vergiftet, die andere war aus
diesem, kaum war sie hineingelangt, sofort wieder verschwunden. In
seinen Gedanken verglich er beide miteinander und stellte fest, daß
er an "Marie Michon" kaum mehr Erinnerungen hatte, wohingegen die
an Mylady so frisch waren, daß es ihm tief in der Brust schmerzte.
Wenn er jedoch versuchte das Bild "Marie Michon" vor seinem
geistigen Auge hervorzurufen, dann erschien automatisch das junge
Gesicht Raouls. Und da dieser nur sehr wenig vom Aussehen seines
Vaters hatte, so mußte er der Mutter doch sehr ähnlich sehen.
Heute war also der 25. Mai, und er hatte Raoul angekündigt, daß er
eine befreundete Dame erwartete und Raoul sich bereit halten solle,
wenn er ihn rufen würde. Das Kind hatte diese Nachricht freudig
gehört, denn es war selten, daß der Graf Besuch von außerhalb
erhielt. Der Junge wuchs aber auch nicht allein auf, denn die
Grafschaft de la Fère war umgeben von mehreren kleineren
Grafschaften, wo Raoul genug adlige Spielgefährten fand. Er wuchs
als Adoptivsohn des Grafen de la Fère auf und war somit auch
vollkommen anerkannt.
Als der Graf die Kutsche in den Hof fahren hörte, sprang er auf.
Auch wenn er sich vorgenommen hatte, ruhig und würdevoll zu
erscheinen, so konnte er seine Gefühle doch nicht völlig verbergen.
Er wußte nicht, was ihn erwarten würde, war voller Neugierde, und
auch gingen ihm seine Erinnerungen an die besagte Nacht des 11.
Oktobers 1633 nicht mehr aus dem Sinn. Mit großen Schritten
erschien er auf der Freitreppe, als der Verschlag der Kutsche
geöffnet wurde.
Heraus sprang eine Frau, der man nicht ansah, daß sie schon an der
Grenze zum 40. Lebensjahr stand. Ihre Bewegungen, als sie der
Kutsche entstieg, waren voller Eleganz und Anmut und hatten doch
nichts von ihrem jugendlichen Schwung verloren. Die Herzogin trug
ein blaues Kleid aus feinstem holländischen Batist, das mit feiner
Spitze verziert war. Da es ein sehr warmer Frühlingstag war, hatte
sie auf einen Umhang verzichtet. Ihr Haar trug sie offen, was zu
dieser Zeit am Hofe verpönt war. Mit leichten Schritten erreichte
sie die Freitreppe, auf der ihr der Graf entgegen kam. Ihre Blicke
trafen sich. Sie nahm die ihr angebotene Hand und ließ sich vom
Grafen de la Fère in das Schloß geleiten. Er führte sie in einen
Salon und bat sie sich zu setzen, während er seinen Platz ihr
gegenüber einnahm.
Es folgte eine gegenseitige Musterung, die zwischen jedem und zu
jeder Zeit als unverschämt verstanden worden wäre, doch dies war
ein besonderer Fall. Beide hatten sich auf den ersten Blick als
Angehörige des hohen Adels erkannt und beide waren voller Neugierde
auf ihr Gegenüber. Während er immerfort in ihr Gesicht blickte,
betrachtete sie mit ihren Augen seine Gestalt von oben bis unten.
Er trug eine schwarze Samthose mit weißen Strümpfen. Unter seinem
dunkelblauen samtenen Rock trug er ein weißes Hemd mit feiner
Spitze. Sein blondes Haar reichte bis zu den Schultern und war -
wie seine ganze Gestalt - edel und gepflegt. Er hatte sich in
seinem Sessel etwas zurückgelehnt und betrachtete immer noch ihr
schönes Gesicht, auf dem er nicht ein kleines Zeichen des Alters
entdecken konnte. Ihr Blicke trafen sich, und beide lächelten. Das
Schweigen, das zwischen ihnen bestand, war nicht unhöflich, sondern
ganz natürlich. Es schien, als würden beide versuchen, ihre
Erinnerungen aufzufrischen. Ihr Blick schweifte nun durch den Raum.
Die Einrichtung des Salons war von schlichter Schönheit. Durch die
großen Fenster schien die Sonne herein und erhellte den Raum. Neben
zahlreichen kleinen Tischen auf denen Vasen mit Blumen standen,
entdeckte sie ein Gemälde an der Wand, das einen kleinen Jungen auf
einem Pony darstellte. Dieses Porträt hielt ihren Blick gefangen,
und erst, als sie des Grafen Stimme vernahm, konnte sie sich davon
losreißen.
"Das Gemälde wurde vor ungefähr einem Jahr angefertigt. Ihr werdet
erstaunt sein, wie Raoul gewachsen ist!" In seiner sanften tiefen
Stimme schwang eindeutig der Stolz eines Vaters mit. "Soll ich ihn
nun rufen lassen?"
"Einen Augenblick noch, Graf," erwiderte die Herzogin und beugte
sich zu ihm vor, "ich bin Euch, so denke ich, noch eine Erklärung
schuldig!"
"Ihr schuldet mir nichts, Madame, gar nichts. Ich bin Euch von
ganzem Herzen dankbar, daß Ihr gekommen seid."
Bei diesen Worten konnte sie ein Lachen nicht zurückhalten, und ein
heller Ton der Fröhlichkeit erklang aus ihrem Munde. "Monsieur, so
kommen wir nicht weiter." In ihren Augen blitzte es auf. "Wen Ihr
keine Erklärung von mir wollt, so will ich eine von Euch! Vor
ungefähr sieben Jahren bekam ich einen Brief von dem Grafen de la
Fère, in dem er mich davon unterrichtet hat, daß er das Kind zu
sich genommen hat. Wie hat er herausgefunden, daß die
geheimnisvolle Frau in edelmännischer Verkleidung die Herzogin de
Chevreuse war?"
Nun war es an dem Grafen zu lächeln. Und ebenso, wie sie es getan
hatte, beugte er sich zu ihr und antwortete: "Eure Frage kann
schnell beantwortet werden, Madame. Wie Ihr vielleicht in Erfahrung
gebracht habt, war der Graf als Musketier mit dem Namen Athos
unterwegs und zwar im Auftrag des Königs. Bedauernswerterweise
hatte er keine Zeit zu verlieren und mußte die geheimnisvolle Dame
verlassen. Jedoch traf er im Vorzimmer ihre Kammerfrau an, die
schlafend in einem Sessel lag. An diese junge Frau erinnerte er
sich, denn ein guter Freund mit dem Namen Aramis, hatte ihr in der
Anwesenheit des Grafen eine Stelle als Kammerfrau der Herzogin de
Chevreuse verschafft. Dies ist die ganze Geschichte." Als der Name
"Aramis" fiel, lehnte sich die Herzogin in ihrem Sessel zurück, und
der Graf vermeinte einen Hauch Röte über ihr Gesicht streifen zu
sehen.
"Nun, da Ihr diesen Namen erwähnt habt, wird mir einiges klar. Der
Graf, der als Musketier auf dem Weg nach Spanien der Herzogin
begegnete, kannte sie bereits unter dem Namen Marie Michon. Was für
einen seltsamen Lauf das Schicksal doch manchmal nimmt."
Kopfschüttelnd sah sie den Grafen an. "Was müßt Ihr von dieser Frau
gedacht haben, die ihr Kind verläßt...."
"Madame", unterbrach er sie "ich bitte Euch. Ihr wart auf der
Flucht. Das hätte niemand von Euch verlangen können. Am wenigsten
ich, der ich Euch ebenso verlassen habe. Dennoch...." Er hielt inne
und ihre Blicke trafen sich. "Dennoch", so führte sie seinen Satz
weiter. "Wundert Ihr Euch, warum ich erst heute komme, wenn mir
doch so viel an unserem Sohn lag. Ich verstehe Euch. Doch leider
hing mein Leben nicht nur von mir ab, sondern von dem großen Mann,
der erst vor wenigen Wochen verstorben ist. Ihr wißt, von wem ich
rede, denn er war unser beider Feind. Richelieu ist tot, und ich
bin frei. Erst jetzt kann ich es riskieren, meinen Sohn zu sehen,
ohne in der Gefahr zu schweben, daß auch er mir genommen werden
könnte." Über ihr Gesicht legte sich ein Schatten, und zum ersten
Mal schien der Graf darauf so etwas wie ein Zeichen des Alters zu
erkennen. In ihre Gedanken versunken, starrte sie auf den Boden,
und er begriff, daß die Frau, die vor ihm saß, einen langen Weg des
Leidens gegangen war. Mehr als einmal hatte sie ihr Leben für ihre
Freundin, die Königin eingesetzt, hatte Gefahren und Fallen, die
Richelieu ihr gestellt hatte, getrotzt und war nun verraten von
ihrer einstigen Schwester. Die Königin nahm sie nicht wieder auf,
obwohl sie der Herzogin soviel schuldete. Aramis hatte ihm dies
erzählt, erst vor wenigen Tagen. Wie vergänglich ist doch die Gunst
der Großen, dachte der Graf.
Plötzlich hob Mme de Chevreuse ihren Kopf, und auf ihrem Gesicht
zeigte sich wieder das jugendliche Lächeln: "Monsieur Aramis war
ein guter Freund von Euch?" fragte sie in heiterem Ton, der schon
ein wenig an Koketterie erinnerte.
Der Graf nickte und lächelte ebenfalls in einer sehr
bedeutungsvollen Weise. "Er ist es noch immer!" Dabei sah er direkt
in ihr schönes Gesicht und konnte das leichte Funkeln ihrer Augen
sehen. Ebenso hatte er den Eindruck, daß sie etwas antworten
wollte, hielt jedoch inne.
Zwischen ihnen entstand wieder ein angenehmes Schweigen, das die
Herzogin nach einigen Minuten unterbrach. "Nun denn, Graf, laßt
mich Raoul sehen, bevor ich mich bei Euch bedanke. Nur eine Frage
erlaubt mir noch. Ist er schön?"
Athos lächelte. "Er gleicht seiner Mutter!" Daraufhin stand er auf
und schritt zur Tür. Wenige Augenblicke später betrat ein Junge von
ungefähr neun Jahren den Salon. Blonde Locken umgaben sein junges
Gesicht, das vom Spiel noch leicht erhitzt war. Mit kindlicher
Einfalt schritt er auf die Herzogin zu und streckte ihr seine Hand
entgegen. Ihre Augen suchten die des Grafen, dann nahm sie Raoul
Hand, zog ihn zu sich heran und küßte sanft seine Stirn. "Wollt Ihr
mein Pferd sehen, Madame?" fragte das Kind mit leuchtenden Augen.
Es war auch neu für ihn von einer Frau so zärtlich behandelt zu
werden, und es freute ihn sehr.
Lächelnd antwortete sie: "Aber sehr gerne, Vicomte." Sie erhob sich
und folgte dem Jungen zur Tür. Als sie den Grafen erreichte, der an
den Rahmen gelehnt stand, streifte ihre Hand die seine und drückte
sie leicht, während ihre Augen die seinen suchten und ihnen voll
Stolz zulächelten. Dann lief sie dem Kind nach.
Überglücklich lehnte sich Athos aus dem Fenster und beobachtete
voller Zufriedenheit und Freude das Bild, das sich ihm im Innenhof
bot. Der Herzogin jagte mit ihrem gemeinsamen Sohn über die Wiese
und spielte mit den Hunden. Er hörte ihr Lachen und das von Raoul
und spürte zum ersten Mal das Gefühl der völligen Erfüllung. Hätte
ich nur damals schon gewußt, was für eine Frau die Herzogin ist,
dachte er. Natürlich machte Raoul ihn glücklich, aber vielleicht
hätte Mme de Chevreuse es endgültig geschafft, Mylady aus seinen
Gedanken zu verbannen. Er schloß die Augen und lauschte nur den
fröhlichen Stimmen im Hof.
Plötzlich klopfte es, und nachdem der Graf "Herein" gerufen hatte,
trat Grimaud ein. Der Graf hatte sich zur Tür umgewandt. Grimaud
brauchte nicht ein Wort sagen. Seit mehr als 20 Jahren hatte er
gelernt, durch Zeichen seinem Herrn Mitteilungen zu machen. In den
letzten Jahren hatte der Graf nicht mehr darauf bestanden, und doch
beherrschte Grimaud diese Sprache noch wie zuvor. "Aramis? Hier?"
Die Stimme des Grafen klang beunruhigt. Grimaud nickte. Der Graf
konnte nicht verhindern, daß ein Lächeln über sein Gesicht zog. Was
für seltsame Pläne hat das Schicksal mit uns? fragte er sich in
Gedanken. Aramis, der frühere Liebhaber der Herzogin, betrat gerade
heute sein Schloß, als Mme de Chevreuse ihn besuchte. Aramis
besuchte ihn öfters. Jedoch nicht unangekündigt. Entweder war etwas
wichtiges passiert oder das Schicksal forderte ihn ein weiteres Mal
heraus.
"Ich lasse bitten", gab er Grimaud wortlos zu verstehen und schloß
das Fenster. Als René d'Herblay eintrat, schritt der Graf ihm
entgegen, und sie reichten sich die Hände.
"Vergebt mir, Graf, daß ich hier so hereinplatze, zumal ich gesehen
habe, daß Ihr Besuch habt, aber die Angelegenheit, in der ich
komme, ist von äußerster Wichtigkeit!"
Athos legte dem Abbé seine Hand auf die Schulter und führte ihn zu
dem Sessel, auf dem vor wenigen Augenblicken noch Mme de Chevreuse
gesessen hatte. Ein Blick genügte, und der Graf hatte festgestellt,
daß Aramis das Parfum der Herzogin gerochen hatte. Nun sah er den
Grafen mehr entsetzt als erstaunt an. Eine der Tugenden, die dem
Abbé zu eigen waren und die ihn schon in ihrer gemeinsamen Zeit als
Musketiere berühmt gemacht hatten, war seine Diskretion. Und auch
jetzt sprach er diesen Duft nicht an. Sein Gesichtsausdruck jedoch
sprach Bände. "Wie Ihr wißt, Athos, hat die Königin den Kardinal
Mazarin zu Frankreichs erstem Minister gemacht. In diesem
Zusammenhang...."
Trotz seines Erstaunens, daß der Graf Besuch einer weiblichen
Person gehabt hatte, oder, um genauer zu sein, denn die Kutsche
stand ja noch im Hof, auch noch hatte, brachte Aramis es fertig,
dem Grafen alles über die neuesten politischen Ereignisse zu
berichten. Und auch wenn Athos sich bemühte, er schaffte es nicht,
sich auf Aramis' Ausführungen zu konzentrieren, denn eine Vorahnung
ließ ihn nicht mehr los.
Plötzlich ertönten vom Gang her Schritte. Aramis hielt inne und
wandte sich der Tür zu. Jetzt würde sich für ihn ja ein Geheimnis
lösen. Seit der Geschichte mit Mylady traute er Athos keine Frau
mehr zu, allerdings hatte Athos ihn schon einmal völlig überrascht,
vielleicht sogar aus der Fassung gebracht. Das war, als er von
Raouls Identität erfahren hatte. Er glaubte das Märchen des
Adoptivsohnes nicht, dafür sah Raoul Athos zu ähnlich. Aber Raoul
erinnerte ihn auch noch an jemand anderen. Er war nur bis jetzt
noch nicht darauf gekommen.
Als sich die Tür öffnete und die Herzogin de Chevreuse mit roten
erhitzten Wangen und offenem Haar eintrat, hörte die Erde für
Aramis einen Moment auf, sich zu drehen. Wie erstarrt saß er in dem
Sessel. In einer Sekunde hatte er alle Teile in seinem Kopf zu
einem Ganzen zusammengefügt. Als Raoul eintrat, war es die
Bestätigung für seine Gedanken. Er wußte es: Raoul war der Sohn von
Mme de Chevreuse und dem Grafen de la Fère. Er war sich nicht
sicher, ob er es nicht immer schon gewußt hatte und es bisher immer
nur verdrängt hatte.
Dasselbe blonde Haar, die gleichen blauen Augen, die
Gesichtszüge... alles von seiner Mutter. Innerlich verfluchte er
sich. Er hatte immer gedacht, Mme de Chevreuse besser zu kennen als
sich selbst. Wie oft hatte er in seinen Versen ihre Schönheit
gepriesen. In wieviel Nächten hatte er diese Schönheit erkundet?
Und dann war er so blind und erkannte nicht einmal ihren
Sohn.
Auch die Herzogin blieb an der Tür stehen, als sie Aramis gewahr
wurde. Als sie in sein Gesicht sah, verstand sie, daß er verstanden
hatte. Neben dieser Erkenntnis kam ihr eine weitere. Er war immer
noch so schön wie vor zwanzig Jahren. Natürlich war er reifer
geworden, doch anscheinend pflegte er seinen Körper noch genauso
gründlich wie vorher. Die Schönheit, die er von der Natur
mitbekommen hatte, war nicht verwelkt, sie war reifer geworden. In
ihrem Kopf tauchten Bilder ihrer gemeinsamen Zeit auf und sie
erfüllten sie mit Wärme und Leidenschaft. Ja, dachte sie, ihre
Liebe war die pure Leidenschaft gewesen und wie sie jetzt in ihrem
Herz spürte, loderte diese alte Leidenschaft ein weiteres Mal
auf.
Die Stille wurde von Athos' ruhiger Stimme unterbrochen. "Raoul,
Ihr dürft Euch zurückziehen." Der Ton in dem er sprach, duldete
keine Widerrede. Außerdem hatte Raoul trotz seiner wenigen Jahre
gespürt, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen war. Er verließ,
eine Verbeugung andeutend, den Salon.
Die Herzogin war die erste, die sich wieder faßte. Sie streckte
Aramis ihren Arm entgegen und fragte: "Monsieur d'Herblay, wollt
Ihr mich nicht begrüßen?"
Der Graf war erstaunt über soviel Kühnheit. Die Herzogin
überspielte ihre Gefühle völlig und tat fast so, als hätte man sich
zu einer allabendlichen Gesprächsrunde getroffen. Sein Blick wandte
sich Aramis zu. Besorgt erinnerte er sich an dessen Temperament und
leichte Erregbarkeit. Als er sah, wie sich der Abbé langsam aus
seinem Sessel erhob und steif auf die Herzogin de Chevreuse
zuschritt, wurde seine Besorgnis bestätigt. Kühl nahm er ihre Hand
und führte sie an seine Lippen. Ohne ein Wort zu sagen, trat er an
den Grafen heran: "Ich erwarte Euch draußen!" Seine Stimme zitterte
und verriet seine Erregung. Danach drehte er sich um und verließ
mit schnellen Schritten den Raum.
Der Graf brauchte nur wenige Augenblicke, um sich zu sammeln. Dann
folgte er Aramis. Er war schon an der Tür angelangt, als die
Herzogin ihn zurückhielt. "Monsieur, ich bitte Euch... seid
vernünftig, denkt an Raoul!" Der Graf nickte. "Sorgt Euch nicht,
Madame, ich kenne ihn! Er ist voller Leidenschaft und auch Trotz,
dennoch weiß auch er, wie weit er gehen kann!" Damit verließ er die
Herzogin, die ihrerseits zum Fenster trat und mit klopfendem Herzen
die beiden Männer beobachtete.
Aramis hatte bereits seinen Degen gezogen, als Athos die Treppe
hinunterschritt. Schweigend standen sich die beiden Männer
gegenüber. Athos versuchte, in Aramis Gesicht zu ergründen, wie
ernst es ihm war. Als dieser bemerkte, daß sein Gegner keinen Degen
mit sich führte, ließ er seinen Arm sinken. "Graf, wo ist Euer
Degen? Seid Ihr zu feige, um mit mir zu kämpfen? Wäre es so, dann
müßte ich meine 20jährige Freundschaft mit Euch bedauern!" Diese
Worte waren mit lauter herausfordernder Stimme gesprochen, doch
Athos ging auf diese Provokation nicht ein. Statt dessen trat er
einen Schritt auf Aramis zu und legte ihm eine Hand auf die
Schulter. "Da Ihr unsere Freundschaft erwähnt, Abbé, so möchte ich
Euch ein Versprechen in Erinnerung rufen, daß ich Euch vor vielen
Jahren gab." Etwas leiser fügte er hinzu "Und wenn ich mich recht
entsinne, Ihr mir ebenso." Forschend sah er Aramis an, als er den
Schwur wiederholte, den er und Aramis sich an dem Tage gegeben
hatten, als sich ihrer beider Leben zusammenschlossen. "Seitdem ist
viel geschehen, was uns noch mehr zusammengeschweißt hat. Und nun
wollt Ihr diesen Schwur brechen, nur wegen Eurer Eifersucht?"
"Monsieur," widersprach Aramis heftig, "Ihr habt meine Ehre
verletzt! Und ward Ihr nicht derjenige, der mich gelehrt hat, daß
man es nicht bei einer solchen Verletzung bleiben lassen
darf?"
"Mein guter Freund, Ihr wollt mir nicht sagen, daß Eure Ehre
verletzt ist, nur weil Mme de Chevreuse und ich für eine Nacht eine
kleine Liaison miteinander hatten?"
"Athos!" fuhr Aramis dazwischen "Du wußtest von meiner Liebe zu
ihr! Du hast mich betrogen!"
Dem Grafen fiel es schwer, Aramis nicht darauf aufmerksam zu
machen, daß er sich gerade aufführte wie eine eifersüchtige
Ehefrau. Er war jedoch sehr erfreut, daß Aramis ihn wieder bei
seinem Namen nannte, denn als sie damals ihre wahren Identitäten
aufgedeckt hatten, um ein neues Leben zu beginnen, hatten sie sich
geschworen, zum Andenken an ihre Freundschaft ihre Pseudonyme
untereinander weiter zu tragen. "Aramis, ich versichere Euch, daß
ich zu dem besagten Zeitpunkt, als ich Euch betrogen haben soll,
die Herzogin nicht erkannt habe. Erst später habe ich
herausgefunden, daß sie es war. Am heutigen Tage sehe ich Mme de
Chevreuse zum zweiten Male in meinem Leben! Ihr kennt Gott besser
als ich, Abbé! Habe ich mich in seinen Augen schuldig gemacht?"
Dies alles war mit der ruhigen und sanften Stimme gesprochen, die
Athos zu eigen war.
Schließlich resignierte Aramis mit einem Seufzen und steckte seinen
Degen zurück in die Scheide. "Wie immer habt Ihr recht, Athos!
Vergebt mir!"
Der Graf nahm als Antwort Aramis' Hand. "Ich kenne Euch, Aramis!
Und nun solltet Ihr zu Mme de Chevreuse hinaufgehen. Wenn mich
nicht alles täuscht, so hat sie auch Euch genausowenig vergessen
wie Ihr sie!"
Und während Aramis die Treppe hinaufging, um sich seiner Jugendtage
zu erinnern, ging Athos zu Raoul und blickte glücklich in die
Zukunft.