Novemberherausforderung 2004 von Silvia
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 15 BewertungenKapitel Novemberherausforderung 2004
Passend zur derzeitigen Jahreszeit und zu Halloween hätte ich diesen Monat gern ein paar Gespenstergeschichten. Die Bedingungen sind diesmal nicht sehr eng gefaßt, so daß für Euch alle Raum zum Experimentieren bleibt.
Folgendes soll in den Geschichten vorkommen, gleich in welcher Reihenfolge:
- Wie gesagt soll es eine Gespenster-/Gruselgeschichte sein.
- Die Geschichte soll am 31. Oktober zur Geisterstunde spielen.
- Jemand soll in den Spiegel schauen und ein Gesicht (nicht sein eigenes!) darin sehen und beim Umdrehen ist niemand da.
- Es soll außerdem eine Tasse heiße Schokolade vorkommen.
- Die ganze Handlung soll dadurch ausgelöst werden, daß jemand eine Gruselgeschichte erzählt.
- Schön wäre außerdem, wenn es lustige oder fröhliche Geschichten werden.
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Kapitel Aramis' Alptraum von sarah
Nach monatelanger Abwesenheit mal wieder hier im Forum? Ja, ich lese schon seit einer Weile wieder mit, habe schließlich viel nachzuholen;-). Leider wusste ich nicht recht, wie ich mich wieder "einklinken" sollte, da kam mir die Montasherausvorderung ganz gelegen, zumal mich das Thema gereizt hat.
kursiver Text
Aramis‘ Alptraum
Es war einer jener düster-ungemütlichen Herbstabende um den 31. Oktober, wenn am Himmel Wolkengiganten laut dröhnend ihre Heere versammelten. Von Zeit zu Zeit konnte man unten auf der Erde beobachten, wie die Speere der Himmelsriesen in metallenem Licht aufzuckten und die Luft war so voller Wut, als könne sie es garnicht erwarten, die ersten himmlischen Blutstropfen zu schmecken.
Um es weniger metaphorisch auszudrücken, ohne jedoch der Tristesse des Augenblicks einen Abbruch zu tun: Es war der ideale Abend, um die endgültige und unumstößliche Entscheidung zu treffen Priester zu werden!
Herzschmerz ist bekanntlich ein weit verbreitetes und unberechenbares Übel, welches sich bei unterschiedlichen Temperamenten in völlig verschiedenen Symptomen zu äußern pflegt: Der Choleriker wird von einer gefährlichen Trinkwut gepackt, der Melancholiker verfällt in dumpfe Apathie. Bei einem gewissen Pariser Edelmann und Musketier seiner Majestät König Louis XIII. jedoch war das untrüglichste Zeichen für eine Erkrankung der Seele manische Religiosität.
Diesmal war Aramis fest entschlossen: Er WÜRDE ins Kloster eintreten. Und weder der Brief einer gewissen Dame, welche die Intrigen des Kardinals nach Tours verschlagen hatten, noch die Umstimmungsversuche seiner Musketierfreunde würden ihn von dieser Entscheidung abbringen. Bereits am Morgen hatte er es bekannt gemacht: In drei Tagen würde es keinen Aramis mehr geben. Der Abbé d’Herblay aber würde in einem Lothringer Jesuitenkloster betend und arbeitend auf die Vergebung seiner Jugendsünden und die Läuterung seiner Seele hoffen.
Amen.
Von dergestalt frommen Zukunftshoffnungen erfüllt, rief Aramis nach seinem Diener Bazin, um nach einem äußerst weltlichen Tasse heißer Schokolade zu verlangen, hatte er doch, aus Gründen der Selbstgeißelung und nicht etwa aus Holzmangel, versteht sich, an diesem Abend auf ein prasselndes Kaminfeuer verzichtet.
Er hatte kaum den ersten Schluck getan, als Bazin noch einmal ins Esszimmer trat und ein wenig verwirrt einen gewissen Abbé de Diabledieu anmeldete.
„Ein Jesuit?“ rief Aramis vom Stuhl aufspringend, „Das nenne ich eine Schicksalsfügung... Na, was stehst du da und starrst, Bazin, lass ihn ein!“
Das war nicht mehr nötig. In eine dunkle Mönchskutte gehüllt, die das Gesicht des Eintretenden gänzlich verschluckte, war besagter Jesuit bereits ins Zimmer getreten. Ein unheilkündender Hauch von drohendem Gewitter begleitete die Ankunft des Priesters und erstickte das Licht drei der Kerzen auf dem Tisch. Aramis konnte ein leichtes Schaudern nicht unterdrücken.
„Wenn man vom Teufel spricht...“ entfuhr es ihm.
„So, Ihr pflegt also Umgang mit dem Herrn der Fliegen?“ erwiderte Diabledieu gestreng, und die barsche Art und Weise, wie er sie vortrug, übertünchte den eigenartig vertrauten Klang seiner Worte.
Ehe Aramis sich noch entscheiden konnte, ob er vor Schreck erbleichen oder vor Scham erröten sollte, fuhr der Gesichtslose auch schon fort, „Kein Wort, Monsieur, ich weiß sehr wohl, dass Ihr im Begriff seid Euer Leben in Schmach und Schande zu beenden und Euch in Gottes Hand zu begeben! Der Herr ist allwissend und so sind seine Diener. Fragt Euren guten Bazin und er wird Euch bestätigen, dass kein Spitzel so erfolgreich ist wie ein Diener, wenn es darum geht die Machenschaften des Herrn auszuspionieren.“
„Äh... gewiss.“ murmelte Aramis.
Der Abbé ignorierte die Verwirrung des jungen Mannes, der offensichtlich ein wenig Mühe hatte, diesem überaus eigenwilligen theologischen Syllogismus zu folgen, und trat mit vor der Brust verschränkten Armen ins Esszimmer. Unsichtbare Blicke tasteten misstrauisch jede Ecke des Raumes ab, als vermuteten sie in jeder Ecke einen Dämon oder doch zumindest einen Hugenott.
„Heiße Schokolade!“ Beim Anblick der gottlosen Tasse, die offensichtlich einen ausreichenden Ersatz für den fehlenden Ketzer darstellte, bekreuzigte sich Diabledieu entsetzt.
„Vergebung, oh, seid versichert, Monsieur, ich werde meine Gewohnheiten...“ begann Aramis, der hastig herbeieilte, um das Objekt des Schreckens aus den Augen des Priesters zu entfernen, wurde jedoch erneut von dem Jesuiten unterbrochen, dessen Aufmerksamkeit sich inzwischen einigen Zeilen zugewandt hatte, die Aramis, in der Düsternis seiner Seele versunken, zu Papier gebracht hatte.
„Was ist das? Der Mond, vergeht, erstickt an deinem Licht.... Die schändlichsten und unreinsten Gedanken in Versen! Welch ein ... ein Sakrileg, ja wohl!“
„Monsieur...“
„Und diese Briefe?“
„Von einem Theologieprofessor aus Tours!“
„Ein bemerkenswerter Theologieprofessor, der seine Briefe mit Ewig die Eure
zu unterzeichnen pflegt.“
Aramis, der bereits auf die seelische Größe einer Küchenschabe zusammengeschrumpft war, ließ sich, vor Scham abwechselnd errötend und erbleichend, auf einen Stuhl sinken. Mit einem schweren Seufzer setzte Diabledieu sich ihm gegenüber, um in väterlicher Manier die Hand des abtrünnigen Glaubensbruder zu ergreifen. Das spärliche Kerzenlicht griff neugierig nach seinem Gesicht, erhaschte jedoch kaum mehr als seine Nasenspitze.
„Versteht, mein Sohn, es ist Euer Seelenheil, um das mir bangt.“ sagte er andächtig, „Nichts Böses will ich Euch, denn ‚ambulare debimus‘, wie Thomas Aquin sagt.“
„Amare.“ verbesserte Aramis geistesabwesend.
„Das sagte ich ja: Amare debimus.“
„Verzeiht, ich wollte mir nicht anmaßen Eure Lateinkenntnisse...“
Der Priester gebot Aramis Schweigen und dieser verstummte.
„René d’Herblay, Musketier, Dichter, Geliebter, Abbé...“ setzte Diabledieu an.
„Reißt den Musketier, den Dichter und den Geliebten aus meiner Seele und Ihr seht einen Mann unerschütterlichen Glaubens vor Euch!“
„Sofort, sofort.“ versprach der Abbé, „Doch zuerst...“ Er verhaspelte sich, räusperte sich und begann noch einmal von neuem, „René d’Herblay, Ihr erinnert Euch jenes unglückseligen Tages, da ihr den Pfad aus den Augen verlort, der Euch bereits in der Wiege am Horizont geleuchtet hatte?“
Aramis senkte den Kopf.
„Jenes Tages, da Ihr das Priesterseminar verließt, um nichts anderem, als Eurem privaten Rachedurst zu frönen?“
Der junge Mann rang die Hände, wie um den Abbé zu bitten, ihn nicht länger zu quälen.
„Ihr erinnert Euch jenes armen Offiziers, “ Diabledieu bekreuzigte sich, „den Ihr, im Glauben beleidigt worden zu sein, zum Duell herausgefordert? Erinnert Euch seines Gesichtes, da er Euch im Augenblick seines Todes in die Augen sah?“
In diesem Moment brachen die Wolken auf und mit dem Hagelschauer entlud sich das Gewitter, das der Himmel seit dem Nachmittag angedroht hatte, gleich einem göttlichen Zornesausbruch über der Stadt Paris.
Aramis sprang auf und ein schriller Schrei entrang sich seiner Kehle.
Für die Dauer eines Blitzschlags hatte ihm eine grausame Vision vor Augen geschwebt.
Eine blutgetränkte Hand am Fenster... ein totenbleiches Gesicht, die Augen in dunklen Höhlen in Wahnsinn verdreht... Schaum vor dem Mund und ein flehentliches „Erbarmt Euch!“ auf den Lippen...
„Ah, ich sehe, Ihr erinnert Euch.“ nickte der Jesuit zufrieden.
„M-monsieur... D-d-da...“
Mit ausgestrecktem Finger, wies Aramis in Richtung des Fensters.
„Diabledieu ist mein Name. Wollt Ihr mir ein Geständnis machen?“ Der Priester wandte sich in die angegebene Richtung, schien jedoch nichts Ungewöhnliches zu entdecken. „Nein? Nun, dann will ich fortfahren. Erinnert Ihr Euch der zahlreichen Männer, die Ihr während Eures Dienstes in der Leibgarde des...“
„Die Hälfte von ihnen waren Hugenotten!“ schrie Aramis, doch es half nichts: Beim nächsten Blitz waren es bereits zwei Geister, die ihn vorwurfsvoll durch die Fensterscheiben anstarrten.
„Ja, seht Ihr denn nichts?“ rief Aramis beinahe flehentlich.
„Nun, ich sehe, dass Gott Euch für das bestraft, was Ihr Euch habt zu Schulden kommen lassen.
War das möglich? Aramis musste sich eingestehen, dass er niemals ein so frommer Abbé gewesen war, um jener Weisheit, „Gott sieht alles“, mit dem man Kindern drohte, auch nur halb so viel Glauben zu schenken, wie es vielleicht um seiner Seele willen erforderlich gewesen wäre.
Aramis brach der kalte Schweiß aus und er sank Diabeldieu halb ohnmächtig vor die Füße. Kopfschüttelnd hob der Priester den jungen Mann auf.
„Na, na, es besteht ja noch Hoffnung für Eure Seele.“ beschwichtigte er ihn, „ Thomas Aquin nennt fünf Heilmittel gegen einen Schmerz wie den Euren: Weine. Überlasse dich dem Mitleid deiner Freunde. Schlafe. Und schließlich: Bade.“ Er überlegte eine Weile, schüttelte jedoch schließlich den Kopf. „Nun, ich fürchte jedoch, dass die Sache in Eurem Fall etwas komplizierter aussieht.“
„Dann wisst Ihr also, wie ich mich von jenem Dämon befreien kann, der mich immer wieder vom rechten Weg abbringt?“ fragte Aramis schwach.
„Ihr seid zu schön.“
„Was...?“
„Nun, ist es nicht die Chimäre der geschlechtliche Liebe, die Euch wieder und wieder, da Ihr schon Eure Thesen formuliert und Eure Seele geprüft, hinterrücks überfiel und aus Gottes Umarmung riss, dessen Liebe Euch bereits gewiss war? Und wollt Ihr etwa leugnen, dass es Eure schwarzen Augen und die zarten weißen Finger waren, die jene Chimäre noch anzulocken suchten, wo sie sie hätten von sich stoßen müssen?“
„Wie wahr, wie wahr.“ seufzte Aramis und mit leidenschaftlicher Überzeugung rief er auf, „Oh, verteufelte Jugend! Ach, dass doch mein Leib frühzeitig verfaule und mir die Gestalt eines Greises schenke als Schutzschild gegen die Verlockungen des Fleisches!“
„Ist das Euer Ernst?“
„Bei meiner Seele, ja!“
„Dann seid Ihr gerettet!“ rief der Priester und bevor Aramis noch wusste, wie ihm geschah, legte er seine Hände auf die Stirn des jungen Mannes, und murmelte beschwörend ein paar Worte, in einer Sprache, die Aramis nicht verstand. Als er schließlich von ihm abließ und ihm prüfend in die Augen sah, nickte er zufrieden. Verwirrt betastete Aramis sein Gesicht.
„Ein alter Ritus der Kelten.“ erklärte Diabledieu, „Ein Fluch, der dem Gegner das Gesicht sosehr zu verunstalten vermag, dass er vor sich selbst flieht. Ein wundervolles Beispiel dafür, wie man heidnische Bräuche von dem Bösen säubern und im Sinne des Wahren Glaubens für das Gute nutzen kann!“
Aramis Augen waren, während der Priester sprach, größer und größer geworden, während sein Unterkiefer den halt zu verlieren schien. Nun sprang er mit einem Schrei vom Boden auf und stürzte in bangem Erwarten zu jenem Messingspiegel an der Wand in seinem Schlafzimmer.
Das Monster, das ihm mit aufgedunsenen Wangen und unmenschlich verzerrtem Gesicht aus dem bronzenen Rahmen entgegen glotzte, war nicht mehr er selbst und als Aramis mit sichtlicher Mühe seinen Unterkiefer dazu bewegt hatte, wieder in seine ursprünglich Lage zurück zu kehren, tat er das einzige, was diesen Anblick auch nur annähernd beschreiben konnte: Er schrie aus Leibeskräften, sodass Bazin erschrocken ins Zimmer gestürzt kam.
„Herr Aramis, was...“
Diabledieu schob den Diener beiseite, als er ins Zimmer trat, und legte dem Verunstalteten beschwichtigend seine Hand auf die Schulter.
„Aber, aber, mein Sohn, Ihr müsst lernen Eure Freude ein wenig zu zügeln! Thomas Aquin sagt...“
„Zum Teufel mit Thomas Aquin!“ schrie Aramis und wirbelte mit solch zornglühenden Augen zu Diabledieu herum, dass dieser instinktiv einige Schritte zurückwisch: „Zum Teufel mit Euren heidnischen Zaubersprüchen und Eurem Gerede von Chimären und Vergebung! Gebt mir mein altes Gesicht zurück! Mordioux, wie d’Artagnan sagen würde, ja, ich bin Soldat! Ja, ich bin schwach und für die Liebe empfänglich! Und, wahrlich, ich sage Euch, es ist noch viel schlimmer, denn ich bin es gerne!“ Aufheulend wie ein Schlosshund warf sich Aramis auf sein Bett und verbarg das entstellte Gesicht unter seinem Kopfkissen.
„Aber, Monsieur, Ihr sagtet doch...!“
Ein gut gezieltes Kissengeschütz ließ den Abbé verstummen. Eine Weile wurde die Stille nur von Aramis‘ Schluchzen unterbrochen, das gedämpft unter der Bettdecke hervortönte, bis der Abbé die vorsichtige Frage wagte, „Monsieur d’Herblay... seid Ihr ein Freund von Geistergeschichten?“
Die nächste Salve bestand aus einigen Gedichtbändchen von Aramis‘ Nachttisch.
„Ich kenne da nämlich eine ganz hübsche Geschichte, die von Dämonen und Geistern handelt, und wie man sie bekämpft.“
Während der junge Musketier seine gesamte Wohnungseinrichtung gegen den gesichtverunstaltenden Nekromanten ins Feld führte, suchte dieser hinter einer hölzernen Truhe Zuflucht, um in aller Seelenruhe seine Geschichte zum Besten zu geben. Das ganze garniert mit einigen effektvollen Blitzen, die anfeuernd das Schlachtfeld erhellten, gab Bazin, der offenen Mundes auf der Türschwelle harrte, einige Rätsel auf.
„Es war einer jener düster-ungemütlichen Herbstabende um den 31. Oktober, wenn am Himmel Wolkengiganten laut dröhnend ihre Heere versammelten. Von Zeit zu Zeit konnte man unten auf der Erde beobachten, wie die Speere der Himmelsriesen in metallenem Licht aufzuckten und die Luft war so voller Wut, als könne sie es garnicht erwarten, die ersten himmlischen Blutstropfen zu schmecken.
Drei unerschrockene Edelleute jedoch trotzten an jenem Abend der Himmelsgewalt, um einen jungen Freund aus den Klauen eines Dämons zu befreien, welcher seine Seele in Besitz genommen hatte, um sie mit hämischen Parasiten zu füllen, die sich in die Gestalt falscher Frömmigkeit hüllten. Einer der Edelmänner begab sich in mönchischer Verkleidung in die Wohnung jenes Freundes und der Dämon, der ihn für einen Mitverschwörer hielt, ließ ihn ein. Gemeinsam setzten sie der Seele des jungen Mannes zu , der eine, um ihn ins Verderben zu stürzen, der andere, um ihr zu der Stärke zu verhelfen, die Parasiten zu vernichten. Die anderen beiden Edelleute jedoch beobachteten das Geschehen vom Fenster her und auch sie glaubte der Dämon in seine dunklen Pläne einbinden zu können, denn er verlieh ihnen die Gestalt von Gespenstern, vom Tode erstanden, um das, was in dem jungen Mann noch am Leben festhielt, zu bezwingen.
Doch nun war es an der Zeit für den ersten Edelmann sich zu offenbaren: Und so holte er einen Spiegel hervor, einen magischen Spiegel, wohlbemerkt, und ließ seinen jungen Freund hineinsehen: Und endlich erkannte dieser im Spiegel das Gesicht jenes Monsters, jenes Dämons, der von ihm Besitz ergriffen hatte und mit einem einzigen markerschütternden Schrei vernichtete er die Parasiten, die sich in seiner Seele eingenistet hatten...“
Während der Erzählung hatte sich das wütende Heer der Bücher, Kissen, Bilderrahmen und Rosenkreuze beruhigt und letztendlich die Offensive völlig aufgegeben.
Das Gesicht des jungen Musketiers lugte unter der Bettdecke hervor.
„D’Artagnan?“
Der verkleidete Musketierleutnant verließ seine Deckung und schlug lachend die Kapuze zurück: Mit einem Stöhnen kroch Aramis zurück unter die Decke, um die Verwandlung seines Gesichts von einer Alabastabüste zum Granatapfel zu kaschieren.
„Dann waren die beiden Gesichter am Fenster...“
„Athos und Porthos!“
„Und mein eigenes Gesicht...“
„So ansehnlich wie eh und je!“
„Und der Spiegel...“
„Ein Zerrspiegel.“
Nun erinnerte sich Aramis, dass ihm der Zimmermann, der ihm am Vormittag den neuen Spiegel gebracht hatte, durch einen starken gascognischen Akzent aufgefallen war. Ja, in der Tat war ihm auch die Redeweise des Mönches alarmierend bekannt vorgekommen, wenn er auch viel zu erregt gewesen war, um Verdacht zu schöpfen.
„Was bin ich doch für ein Tropf!“ stöhnte er.
„Ja, der seid Ihr wohl.“ kam es aus der Richtung der Tür, wo Athos und Porthos, die bleichgeschminkten Gesichter zu einem Grinsen verzogen, erschienen waren.
„Mordioux, nun kommt endlich aus Eurem Bett hervor!“ Lachend reichte d’Artagnan seinem Freund die Hand und zog ihn in seine Arme.
„Ich sollte Euch steinigen, statt Euch die Hand zu reichen.“ befand Aramis.
„Tut, was Ihr wollt, solange Ihr mir nicht in einem neuen Anfall von Frömmigkeit Absolution für meine fehlenden Lateinkenntnisse erteilt!“ erwiderte d’Artagnan. „Aber ich würde Euch gerne den Vorschlag machen, die Steinigung zugunsten eines guten Burgunders zu verschieben. Schon Thomas Aquin sagt, der Wein ist das größte Geschenk Gottes an den Menschen.“
Obgleich Aramis bezweifelte, dass der große Theologe sich in seinen frommen Exkursen jemals in die Tiefen des Weinglas hinab begeben hatte, gab er dem Freund recht und nur wenig später saßen die vier Musketiere lachend und lallend beisammen und einzig Bazin, der die Hoffnung Laienbruder zu werden, ein weiteres Mal auf unbestimmte Zeit begraben musste, beobachtete die Szene mit einem gramentstellten Gesicht, das dem, welches Aramis im Spiegel gesehen hatte, nicht unähnlich war.
Kapitel Ein stilles Haus von
Ein knappes Wort zuvor: meine Geister sind etwas sangesfreudig und ich entschuldige mich für die nicht besonders gelungene Lyrik.
Ein stilles HausAbends wenn die Heimchen singen
Und die Lampe düster schwelt,
hör ich gern von Spukedingen,
die die Tante mir erzählt.
Wie es klopfte in Wänden!
Wie der alte Schrank geknackt!
Wie mich einst mit kalten Händen,
Mutter Urschel angepackt!
Hat man gar ein leises Jammern,
gar um Mitternacht gehört,
oben in den Bodenkammern,
scheint mir höchst bemerkenswert.
Und erzählt sie gar das Märchen,
von dem Geiste ohne Kopf!
Ja da sträubt sich jedes Härchen
Angsterfüllt in meinem Schopf!
Und ich kann es nicht verneinen,
dass es böse Geister gibt.
Denn ich habe selber einen,
der schon manchen Streich verübt!
(Wilhelm Busch: Von allerlei Geistern)
1. Die Legende von BeaucourtHört ihr Herrn und lasst Euch sagen:
unsre Glocke hat zehn geschlagen,
zehn Gebote setzt Gott ein,
gib das wir gehorsam sein!
Menschenwachen kann nichts nützen,
Gott muss wachen, Gott muss schützen,
Herr durch deine Güt’ und Macht
Gib uns eine gute Nacht!
Lobet Gott den Herrn!
Sieg im Krieg werden stets äußerst ausgiebig gefeiert und mit Gottesdiensten und viel Lärm zelebriert. Friedenschlüsse haben selten die gleiche Ehre, man begeht sie leiser, tragen sie doch dass Eingeständnis dass man nicht vollständig siegen konnte mir sich. Doch in diesem Falle wurde der Friedensschluss so laut und fröhlich gefeiert, er erfüllte die Gassen hinter dem Luxembourg mit Lärm, die Nacht mit fröhlich spöttischen Gesängen und drei Wirte hintereinander mit Grausen bis die ganze Gesellschaft ihrer fünf sich schließlich im „Le Grande Cerf“ niederließ, dessen Wirt wenigstens einen von ihnen kannte und nicht allzu geschockt war. Und während draußen jenseits der Fenster der letzte Abend des Oktober kalt und dunkel sich dem Ende zuneigte, klirrten an dem Tisch fröhlich die Becher.
Rochefort stieß freundschaftlich mit d’Artagnan an. Er spürte noch die Stichwunde von ihrem letzten Duell vor nicht weniger als zwei Tagen, aber er beachtete man sie kaum. Er konnte anerkennen, dass sein Kontrahent die bessere Klinge geschlagen hatte. Zumal Rocheforts erste Waffe selten der Degen war. Der Gascogner hielt seinen Stolz trotz des Umstandes, dass er Rochefort zum dritten Mal besiegt hatte, ebenfalls zurück. „Wir hören wirklich besser damit auf, bevor Euer Herr uns beide dafür in Conciergerie wirft.“ Meinte er lachend.
Porthos – der soeben mit Athos angestoßen hatte, nickte düster. „Allerdings. Wenn der Kardinal so weitermacht, wird es bald keine Duelle mehr geben!“
„Porthos!“ fuhr Aramis ihn an. „Es gehört sich nicht, schlecht über Rocheforts Herrn zu sprechen, jetzt wo er unser Freund ist.“ Damit gönnte er sich einen weiteren Schluck Wein.
Rochefort lächelte hinter seinem Weinbecher. „Aber Aramis, ihr müsst Euch nicht für mich einsetzen.“ Sagte er freundlich. „Einem unglücklichen Manne nehme ich gar nichts übel.“
„Unglücklich wahrhaftig!“ stimmte Athos zu. „sich an ein Weib zu binden! Ihr seid unvernünftig Porthos!“
Nun war an eben jenem wackeren Musketier erbost dreinzuschauen. „Unglücklich? Ich! Rochefort ich verbitte mir dass und noch mehr verbitte ich mir Spott über meine Herzogin.“
Bei diesen Worten grinste d’Artagnan, der ja über besagte Person ganz gut in Kenntnis war, doch Rocheforts Worte überraschten ihn. „Sie ist doch die Erbin der Beaucourthinterlassenschaften, trotz ihrer bürgerlichen ersten Ehe?“ fragte er ernst. „Porthos , selbst wenn Ihr mit Mylady de Winter - Gott hab sie selig! – verlobt wärt, unglücklicher könntet ihr nicht sein!“
„Und warum?“ erkundigte sich Porthos, der insgeheim bereits annahm, dass Rochefort in seinem Kummer über das verlorene Duell etwas zu viel getrunken hatte. „ich habe mir diesen Beaucourtbesitz bereits angesehen, ein wundervolles Stadthaus und dazu Ländereien in der Provinz.“
„Und ein Fluch.“ Sagte Rochefort düster. „Ein Fluch der bisher jeden männlichen Besitzer dieses Hausstandes unfehlbar getötet hat.“
„Ein Fluch?“ fragten die vier Musketiere zugleich, dann war es Aramis der weitersprach. „Sagt Rochefort, ich habe einiges über den Tod des letzten Comte de Beaucourt gehört, ist da wirklich etwas unheimliches an am Werke gewesen?“
Rochefort sah auf. „ich kenne dieses Haus.“ Sagte er leise. „Von meinem Vater her, war ich mit der Familie befreundet und weiß wie es heimgesucht es ist.“ Hastig trank er seinen Becher aus und füllte ihn nach.
Die Blicke der vier Freunde hingen an ihm. „Heimgesucht? Doch nicht von Gläubigern?“ erkundigte sich Porthos sofort besorgt. Ein strenger Blick von Athos brachte ihn zum schweigen.
Rochefort schüttelte den Kopf. „Nein. Es ist heimgesucht auf die schlimmste und schrecklichste Weise wie Ihr sie Euch vorstellen könnt. Der Bischof von Nancy der vor zehn Jahren in dem Hause umkam – man hatte ihn geholt um den unheiligen Treiben jenes grässlichen Ahns ein Ende zu machen – er fiel diesem Schrecken zum Opfer und lies Leben und Seele in diesem Hause.“
Unruhige Blicke wechselten zwischen den Freunden. Der Tod jenes Bischofs hatte tatsächlich Anlass zu einer Menge Gerede gegeben und war noch heute in Erinnerung von vielen Pariser Bürgern. „Ein Ahn?“ fragte Athos schließlich. „Es ist ein Vorfahr, der dieses Haus heimsucht?“
Ein düsteres Nicken war die Antwort, dann trank Rochefort einen weiteren Schluck. „Ich habe ihn selbst nie gesehen, Gott sei Dank dafür! Aber seine Werke habe ich gesehen.“ Es schien als wollte er nicht weitersprechen, sondern stumm trinken.
D’Artagnan, entschlossen seinen neu gewonnen Freund seine düsteren Erinnerungen nicht einfach ertränken zu lassen, setzte das Gespräch tapfer fort. „Was sollte diesen Vorfahren veranlasst haben, auf diese Weise die Nachwelt zu behelligen, anstelle still in der Erde zu ruhen, und vergessen zu werden?“
Rochefort lachte leise und bitter. „Seine Untaten! D’Artagnan, seine Untaten! In grundloser Eifersucht ermordete er seine Frau und seine Kinder, bis auf die jüngste Tochter die entkam. Und seitdem ist er verflucht in diesem Haus umzugehen.“ Der Graf stellte den Becher weg. „Seit damals muss jede Nacht, wenn der Tag der Untat sich jährt jemand in diesem Haus zu sterben, der männliche Besitzer zuerst, und hat es keinen, so trifft es andere. Ich selbst habe gesehen wie sie vor zwei Jahren diesen armen Hund von Segullier unter der Seitentreppe fanden – tot, ohne ein Mal an ihm. Und im Jahr davor war ich in jener Nacht dort zu Gast und habe den Schrei gehört als der junge Giutarde starb und ich habe das körperlose Licht dass sich rasch entfernte gesehen als ich hinzu eilte. Dieses Haus ist heimgesucht.“
„Wann wurde das Verbrechen begangen?“ erkundigte sich Aramis. „Wenn ich mich recht entsinne starb der Bischof von Nancy...“
„Am Vorabend von Allerheiligen.“ Erwiderte der Graf flüsternd.
Erschrocken sahen die Freunde Porthos an. Wenn er die Witwe und Erbin heiratete, würde er in einem Jahr der Besitzer des Hauses sein. Entschlossen stand d’Artagnan auf. „Dann müssen wir diesem Spuk ein Ende machen.“ Sprach er aus, was die Freunde alle dachten.
„Sucht Ihr den Tod?“ fragte Rochefort bitter. „Wenn Ihr dorthin geht, seid ihr vielleicht der nächste den sie begraben werden.“
D’Artagnan sah den Grafen streng an. „Vielleicht. Aber vielleicht finde ich ja auch einen Weg, diesen Spuk zu beenden. Ich glaube nicht an mordende Vorfahren und rächende Ahnen. Darum werdet Ihr uns zu diesem Haus führen und wir werden schon sehen ob wir einen düsteren Ahn dort finden.“
Eine Weile zögerte der Graf, doch dann nickte er. „Es ist Euer Begräbnis.“ Sagte er schließlich. „Aber ich werde mit Euch kommen.“
2. Ein merkwürdiges HausHört ihr Herrn und lasst euch sagen:
unsre Glocke hat elf geschlagen,
elf der Jünger blieben treu,
einer trieb Verräterei!
Menschenwachen kann nichts nützen,
Gott muss wachen, Gott muss schützen,
Herr durch deine Güt’ und Macht
Gib uns eine gute Nacht!
Lobet Gott den Herrn!
Vom Turm von Saint Jacques de Boucherie schlug es die elfte Stunde, als die vier Gefährten zum Hôtel de Beaucourt ritten. „Das liegt ja gar nicht so weit von der Porte de St. Antoine.“ Murmelte d’Artagnan als sie es schließlich erreichten.
Rochefort lächelte schwach. „Immer gut zu wissen wohin man noch gehen kann, oder?“ er saß ab. „Im Moment befinden sich wohl nur Bedienstete und eine entfernte Verwandte hier, die wohl das ganze zu verwalten hat, bis das Haus seiner Erbin übergeben werden kann.“
Porthos nickte bestätigend. „Das ist richtig. Madame sind eine entfernte Verwandte meiner Herzogin und waren so freundlich, diese Aufgabe zu übernehmen.“ Er schack zusammen als aus dem dunkel des Hofes ein buckliger Knecht heran tat um ihnen die Pferde abzunehmen. Er schien Rochefort zu kennen, denn er nickte diesem nur zu. Dann führte er die vier Pferde davon.
Die Freunde sahen sich um. Der Hof unterschied sich nicht viel von dem anderer Stadthäuser auch, er wirkte lediglich etwas düsterer, weil er völlig verlassen war. Bis auf sehr wenige Fenster schien das ganze Haus dunkel zu sein. Am Eingang des Hauses wurden sie von einer ältlichen, mürrischen Haushälterin in Empfang genommen. Die Porthos Erklärung, er sei gekommen um zu sehen was denn nun das Erbe seiner Verlobt so heimsuche, mit den knappen Worten: „Hier gibt’s nichts zu sehen.“ Beschied. Erst als Rochefort sie bat ihn bei Madame zu melden, lies sie sich mit Mühe breitschlagen, die vier Musketiere an der unteren Treppe warten zu lassen, während sie Rochefort hinauf führte und Madame meldete.
Für eine Weile hatten die Freunde schweigend ihre Umgebung gemustert. Auch wenn Treppenhäuser nicht viel dazu sagen mochte, wirkte das Haus wohlhabend, aber irgendwie unbewohnt, als würde hier schon länger niemand mehr wirklich leben. Zudem war es drückend still. Rochefort kam und kam nicht wieder. Die Kerze auf dem einzelnen Leuchter den die Haushälterin bei ihnen gelassen hatte, flackerte unruhig. „Wahrscheinlich sind Madame schon schlafen gegangen.“ Stellte Aramis leise fest. „Es ist unhöflich um eine solche Nachtszeit...“
Ein spitzer Schrei unterbrach ihn. Es war eindeutig eine Frau die da schrie und ein Klirren folgte. Die vier Freunde zögerten keinen Moment den Platz wo sie warten sollten zu verlassen und sie eilten durch das Treppenhaus in die Richtung aus der sie den Schrei gehört hatten. Es ging die Stufen hinauf in die nächste Etage und noch eine halbe Treppe höher. Überall war es dunkel, doch auf halber Treppe flackerte noch eine umgefallene Kerze, die nicht verloschen war und beleuchtete die unheimliche Szenerie. Auf dem Absatz der Treppe sahen sie eine Frau liegen, die sie selbst im schlechten Schein der Kerze und des Leuchters den Porthos trug als eine Dienerin erkannten und um sie herum war eine dunkle Lache, die langsam immer größer wurde. „Heilige Maria Mutter Gottes!“ entfuhr es Aramis. Er rannte los, drei Treppen auf einmal überspringend und erreichte die Frau als erster. Als er neben ihr niederknien wollte, schnitt ihn etwas hartes ins Knie und ein wohlvertrauter Geruch stieg ihm in die Nase. Mit einem sehr unheiligen Fluch sprang der Musketier auf.
„Aramis – seid ihr verletzt?“ fragte d’Artagnan, der ihn als erster erreichte, besorgt. In diesem mörderischen Hause schien alles zu erwarten zu sein.
„Verletzt? Nein.“ Erwiderte Aramis und ein eigenwilliges Lächeln erschien auf seinen Zügen. „Aber dass ich mich in die Scherben der Tasse knien musste!“
Porthos hob dem Leuchter und die Freunde begriffen fast im selben Moment. Die Dienerin war ohnmächtig und neben ihr lag eine große zerschlagene Porzellantasse deren Inhalt – anscheinend heiße Schokolade – sich über den Boden verteilte. D’Artagnan musste Lachen. „Schaut uns an! Wir alle eilen herbei das schlimmste vermutend, und dabei ist nur eine Dienerin in Ohnmacht gefallen und hat den Abendtrunk für den Gast Ihrer Herrin verschüttet! Heiße Schokolade – hm, Rochefort hat merkwürdige Gewohnheiten.“
Athos hatte sich neben die Ohnmächtige gehockt. „Aber was brachte sie dazu in Ohmacht zu fallen?“ fragte er nachdenklich.
Weiter oben im Dunkeln hörten sie ein huschen leiser Füße, und ein Rascheln. Athos sprang auf, als eine Helle Stimme in der Dunkelheit zu singen begann:
„Eins zwei drei
Ein Schatten zieht vorbei
Unten am Tor
Da hörst du einen Schrei.
Vier, fünf und Sechs,
ein Fremder kommt des Wegs,
er bringt dich um
wenn du dich nur regst.
Sieben und Acht,
geh nicht in die Nacht,
ein böser Geist,
der hält im Dunkeln wacht.
Neun und zehn
Wirst nimmer fort mehr geh’n
Unten am Tor,
da bleibt der Schatten stehn.“
Eine zweite helle Stimme gesellte sich dazu und sang gemeinsam mit der ersten weiter.
„Eins und zwei,
wer es auch sei,
mach nicht auf das Tor,
lass ihn ziehn vorbei.
Drei und vier
Bleib heut Nacht fein hier,
sonst holt dich der Ahn
und der teilt dich vier.
Fünf und Sechs,
dass du dich nicht regst,
sonst hängt er dich auf,
schnell und gradewegs.
Sieben und Acht,
so wird das gemacht,
mit Schnüfflern die kommen
ungewollt heut nacht.
Neun und Zehn,
bleib am Tor nicht stehn,
sonst holt dich der Ahn
du wirst es schon sehn!“
Die Freunde gingen raschen Schrittes die Treppen hinauf. In oberen Stockwerk angekommen, stand sie immer noch im Dunkeln. Weit reichte der Lichtschein der Kerze nicht. Weit und breit war niemand zu sehen. Sich vorsichtig nach allen Seiten umschauend gingen die Freunde einige Schritte in das stille Stockwerk hinein. Auf einem Beistelltischchen entdeckte Athos zwei abgestellte Kerzenhalter mit nur halb heruntergebrannten Kerzen. Er entzündete sie an Porthos Kerze, einen gab er an Aramis und den anderen an d’Artagnan weiter. „Wir trennen und uns schauen uns hier oben um.“ Sagte er entschlossen. „Haben wir in zehn Minuten nichts gefunden, treffen wir uns wieder hier an der Treppe.“
3. Die ErscheinungHört ihr Herrn und lass Euch sagen:
zwölf hat unsere Glocke geschlagen
Zwölf das ist das Ziel der Zeit,
Mensch bedenk die Ewigkeit!
Menschenwachen kann nichts nützen,
Gott muss wachen, Gott muss schützen,
Herr durch deine Güt’ und Macht
Gib uns eine gute Nacht!
Lobet Gott den Herrn!
Aramis ging allein durch die Räume die seit Ewigkeiten verlassen schienen. Staub lag auf dem Boden und den Möbeln. Einige male musste er niesen, wenn sein Schritt den Staub allzu sehr aufwirbelte. Er war sich sicher dass die Sänger dieses merkwürdigen Liedchens nicht hier gewesen sein konnten, denn sie hätten Spuren im Staub hinterlassen. Eine unruhige Bewegung lies ihn herumfahren. Für einen Moment meinte er dass jemand durch den Raum gehuscht wäre, doch dann wurde ihm klar, dass sich seitlich von ihm ein Spiegel befand und er aus dem Augenwinkel seine eigene Bewegung im Spiegelglas reflektiert gewesen hatte. Er trat näher und hob die Kerze. Ja der Spiegel war recht alt, Flecken und Schatten hatten sich auf der silbrigen Fläche gebildet und trübten das einstmals klare Spiegelbild ein wenig. Dennoch bedurfte es für Aramis keiner Mühe einen alten Venezianischen Spiegel zu erkennen, wenn er einen sah.
Sein eigenes Spiegelbild wirkte getrübt darin, fast als wäre ein Schleier zwischen ihm und der Welt. Aramis schrack zusammen als er sah, dass er nicht mehr allein in dem Spiegelbild war. Hinter ihm stand jemand, ein Mann in etwa seinem eigenen Alter, hochgewachsen, von sehr schlanker Statur und mit dunklem Haar. Seine Züge wirkten still und etwas schwermütig. Er hob die Hand als wolle er Aramis etwas bedeuten, der Musketier wandte sich hastig um, doch hinter ihm war nur das leere Zimmer, voll von Staub und Spinnweben und im Staub auf dem Boden waren keine Spuren zu sehen. Hastig eilte Aramis zur Treppe zurück.
***
Porthos war eine ganze Weile erfolglos von Raum zu Raum gegangen und hatte ebenfalls nicht viel mehr als Staub und Spinnenweben gefunden. Als er wiedereinmal niesen musste und sich anschließend ausgiebig schnäuzte, hielt er inne und lehnte sich gegen einen alten hölzernen Sekretär. „Eigentlich ist es dumm was wir hier tun.“ Sagte er nachdenklich zu sich selbst. „Wir haben Kinder singen hören, hier oben. Und was werden die gemacht haben, als sie uns kommen hörten? Sie haben sich versteckt. So haben wir vier zu Hause das ja auch gemacht und Vater konnte sich tot suchen nach uns.“
Wesentlich vorsichtiger ging der große Mann den Weg den er gekommen war zurück und betrachte die Räume noch einmal mit anderen Augen. Es fiel ihm nicht schwer sich gedanklich in seine eigene Kindheit zurückzuversetzen und mit diesen Augen den Raum zu mustern. Schließlich fiel ihm ein schwerer alter Kleiderschrank auf, dessen Tür eine Winzigkeit angelehnt war. Der hünenhafte Musketier lächelte. Ja das sah ganz nach dem aus, was er gesucht hatte. Er trat herbei und öffnete die Tür, ohne sie jedoch aufzureißen. Im Schein der Kerze sah er einen vielleicht siebenjährigen Jungen, der in einer Ecke des Schrankes kauerte und nun erschrocken ins Licht blinzelte. „Geh weg.“ Sagte er leise.
Porthos war sich sofort darüber im klaren, dass er den Jungen so erschreckte, also hockte er sich und stellte die Kerze auf den Boden. „Was machst du hier?“ fragte er freundlich. Egal ob Rochefort das hier inszeniert hatte oder ob dies ein Junge von Hauspersonal war, es gab keinen Grund gleich harsch mit ihm zu werden.
„Spielen.“ Erwiderte der Junge. „Und was willst du hier?“
„Ich schaue mir das Haus an, weil ich bald hier wohnen werde.“ Erwiderte Porthos immer noch freundlich.
Er sah wie der Junge hart schluckte. „Dann werden Emanuel und Anne wohl bald fortgehen.“ Sagte er leise. „vielleicht gehe ich mit.“
„Wer sind Emanuel und Anne?“ fragte Porthos, der den Kummer des Jungen an dessen Stimme hörte. „Und was machen sie in einem so leeren Haus?“
„Sie kommen, jedenfalls manchmal.“ Erwiderte der Junge leise. „Immer des Nachts, wenn der Mond scheint. Anne und ich spielen dann und Emanuel passt auf uns auf, oder er erzählt uns Geschichten. Aber wenn du hier wohnst, werden sie fortgehen, sie können nicht bleiben wo viele Menschen sind.“
Porthos streckte dem Jungen die Hand entgegen. „nun komm erst mal raus aus dem Schrank.“ Lud er ihn ein. „Und dann gehen wir nach Emanuel und Anne schauen. Wie heißt du eigentlich und warum lebst du hier?“
Tatsächlich fasste der Kleine die Pranke des Musketiers und kam aus dem Schrank geklettert. „Ich bin Armand und Tante hat hier gewohnt bis sie...“ er schluckte erneut.
Porthos strubbelte dem Jungen durch die Haare. Vage hatte er gehört dass die Erblasserin einen unehelichen Jungen gehabt haben sollte. Aber ihn mutterseelenallein in diesem Haus zu lassen! Mit wer weis welchen merkwürdigen Existenzen als Gesellschaft! Er würde sich darüber wohl einmal mit seiner Herzogin unterhalten müssen. „Ich bin Porthos.“ Stellte er sich vor. „Komm Armand, wir gehen und suchen deine Freunde.“
Der Junge hatte eben genickt und den Leuchter aufgenommen, als D’Artagnans Lautes Fluchen die Stille des Hauses durchbrach. Porthos sah zu Armand. „Das ist ein Freund von mir, ich muss nachsehen gehen, kommst du mit?“ Als er sah dass der Junge nickte, eilte er los.
Sie erreichten das obere Ende der Treppe rasch wieder und sahen d’Artagnan der sich gerade mühsam wieder aus dem Staub aufrappelte. Offensichtlich war er gestürzt. Als er den Jungen hinter Porthos sah, grollte er. „Rochefort und seine Scherze! Ich hätte wissen sollen, dass er sich irgendeine merkwürdige Revanche erlauben würde.“
Aramis wollte eben etwas einwenden und von der Erscheinung im Spiegel erzählen, als sie eine Stimme hörten, die unten aus der Eingangshalle heraufdrang. Es war die Stimme eines Mannes, der ein schwermütiges Lied sang.
„Und das er einst eine Spanierin geliebt,
doch dann kam ja dieser Krieg.
Und auch wenn er nicht mehr als seine Pflicht getan,
hat er sie nicht gefunden nach dem Sieg.
Und wenn er jemals wieder lieben wollte,
dann keine die von dieser Welt,
denn hier hätte er nur eine lieben sollen,
doch der Weg dazu blieb verstellt.
Und so bleibt nur noch die Hoffnung,
auf den Moment wo sie sich wieder sehn,
denn dort – auf der anderen Seite,
da wird sie ihn sicher dann verstehn,
doch noch liegt zwischen ihnen,
diese Welt und eine lange Nacht,
Und als ihn dann nichts mehr hier hielt,
hat er sich schließlich auf den Weg gemacht.
Bei einem Kämpfer – so wie er es war,
da brauchte es der Gegner drei....“
„Es reicht!“ D’Artagnan riss der geduldsfaden. „ich werde jetzt gehen und Rochefort sagen, dass er diesen Unsinn beenden kann!“ Verärgert griff er nach seinem Waffengurt und lockerte den Degen. Entschlossen wandte er sich der Treppe zu.
Es war totenstill als die Freunde gemeinsam das Treppenhaus betraten. Nichts rührte sich, selbst die Diener waren anscheinend schlafen gegangen und um die Anwesenheit einiger wartender Gäste schien sich niemand gekümmert zu haben. Nur der Wind draußen und der Regen gegen die Fenster durchbrachen die Stille mit ihrem gleichförmigen Geräusch. Die Freunde bemühten sich leise zu gehen und dennoch schien jeder ihrer Schritte in der großen Stille dieses Hauses wiederzuhallen. Ein Quietschen lies sie auffahren. Weiter unten, am Treppenabsatz war eines der hohen Fenster aufgegangen und die schweren Vorhänge bauschten sich im Wind. Zwischen ihnen konnten die Freunde jedoch die unruhigen Bewegungen einer Schattenhaften Gestalt erahnen. D’Artagnans Augen blitzten auf. Er würde Rochefort schon lehren Gespenst zu spielen!
Mit zwei raschen Schritten überwand er die Treppen, packte den Vorhang und wickelte die Gestalt, die sich heftig wehrte und zappelte, darin ein und zwang sie zu Boden. Die Gegenwehr war kräftig und er spürte dass er der Person etwas von dem Vorhang in den Mund gestopft haben musste. Da er den Vertrauten Richelieus nicht ersticken wollte, lockerte er seinen Griff um den Mund, was ein gewaltiger Fehler war, denn der Hilfeschrei der Haushälterin war markerschütternd. „Hilfe! Räuber! Lüstlinge! Ahh...“ Das Treppenhaus hallte von dem Geschrei wider.
Unten hörte man wie eine Klinge gezogen wurde und jemand kam die Treppe hinaufgeeilt. „Rochefort...“ wollte Aramis ihn ansprechen. Doch es war nicht Rochefort. Es war ein junger Mann von vielleicht neunzehn Jahren, dunkelhaarig und mit einem Rapier in der Hand. Entsetzt erkannte Aramis das Gesicht aus dem Spiegel wider. Doch ihm blieb keine Zeit zu fragen, die Haushälterin hatte sich befreit und gebärdete sich als hätten die Musketiere ihr Leben oder wenigstens ihre Jungfräulichkeit ernsthaft gefährdet.
Der junge Mann streckte den Rapier weg und trat auf sie zu. „Es ist gut Jeanette, die Herren werden euch nichts tun.“ Sagte er sanft. Seine klangvolle Stimme verriet ihn sofort als den Sänger des Liedes, dass sie vorher gehört hatten.
„Was hat sie überhaupt hier gemacht?“ brummte d’Artagnan, dem der Zwischenfall doch unangenehm war.
„Ich habe das Fenster schließen wollen, der Wind hat es aufgedrückt, ihr Rohling!“ empörte sich die Haushälterin. Damit wandte sie sich um, schloss das Fenster und entfernte sich höchstlich verärgert.
Immer noch fassungslos sah Aramis den Fremden an, und nun war er sich sicher, dass es derjenige der oben am Spiegel ihn angesehen hatte. Doch wieder wurde eine Frage von seiner Seite verhindert, denn Armand eilte auf den unbekannten zu. „Emanuel!“ rief er.
Porthos wurde klar, dass er es mit dem geheimnisvollen Gast dieses Hauses zu tun haben musste. „ich habe den Jungen oben gefunden.“ Sagte er zu Emanuel. „Er erzählte mir von Euch. Wer seid Ihr?“
Emanuel lächelte. Es war ein schwermütiges Lächeln. „das ist nicht wichtig. Ich bin nur ein wenig länger geblieben um auf den Kleinen aufzupassen. Aber viel länger wird dies nicht mehr möglich sein.“
Porthos sah den ängstlichen Blick des Jungen und gleichzeitig erahnte er was Emanuels Worte bedeuteten. „Wenn er der Sohn de letzten Hausherrin ist, dann ist er ein Verwandter meiner Verlobten. Er gehört zur Familie, ich werde mich um ihn kümmern, Ihr habt mein Wort.“
„Ich will nicht dass ihr geht, du und Anne.“ Sagte Armand leise. Emanuel hockte sich. „Aber es ist Zeit dafür. Du gehörst hierher, wir nicht. Und du brauchst uns nicht mehr.“ Sein Lächeln war eigenwillig. „Vielleicht kommt es dir jetzt noch schrecklich vor, aber bald schon wirst du uns vergessen haben, und das ist auch richtig so.“
Er erhob sich als ein kleines Mädchen die Treppe hinauf gehuscht kam. „Emanuel, der Mond geht bald unter.“ Sagte sie leise. Emanuel richtete kein Wort an einen der Anwesenden. Leichtfüßig eilte er die Stufen hinunter und nahm die Kleine auf den Arm. „Du hast recht Anne, es ist schon spät.“ Er nahm die Kleine auf den Arm und wandte sich zu Porthos. „Es hat in diesem Haus immer nur ein Böses gegeben Porthos und das kam aus dem Herzen derer die hier wohnten, lasst Euch von niemandem etwas anderes erzählen.“ Ein leises Lächeln ging an Armand. "Leb wohl, werde alles was als versprechen schon in dir angelegt ist."
Damit gingen die zwei die Treppen hinunter. Vielleicht war es nur eine Täuschung des Mondlichtes dass zwischen den Vorhängen hereinfiel, dass man sie bereits nach wenigen Schritten nicht mehr richtig sehen konnte und sie rasch entschwanden. Was länger blieb, war Emanuels Stimme, der wieder leise zu singen begonnen hatte.
Die Pilger sagen die Welt ist rund,
mein Pfad führt gradeaus,
geh fort, geh fort, und bleib gesund,
dein Weg führt dich nach Haus..
Hört ihr Herrn und lasst Euch sagen:
Unsre Glocke hat eins geschlagen,
s’ist nur ein Gott in der Welt,
der sie liebt und auch erhält.
Alle Sternlein müssen schwinden
Und der Tag wird sich anfinden,
Danket Gott der uns die Nacht,
hat so Väterlich gewacht!
Lobet Gott den Herrn!
Hastige Schritte näherten sich unseren Freunden, die immer noch wie angewurzelt standen auf der Treppe. Rochefort kam mit langen Schritten hinauf. „Was machen die Herren hier oben?“ fragte er. „Beinahe hätte ich die Haushälterin wecken lassen, Euch suchen.“
„Die Dame ist wahrscheinlich schon wach.“ Stellte Athos trocken fest. „Wo wart ihr so lange, Rochefort?“
„Die meiste Zeit damit befasst Euch zu suchen, nachdem Ihr verschwunden wart. Ich war in Sorge.“ Erwiderte der Graf und es klang ehrlich genug.
„Nun dazu bestand wohl kein Grund.“ Erwiderte d’Artagnan bissig als sie gemeinsam die Treppe hinunter gingen. Auf dem letzten Absatz blieb Porthos stehen und hob die Kerze vor einem Gemälde das dort hing. „Rochefort, man sagt Ihr kennt dieses Haus. Könnt Ihr mir sagen wer die dieses Mädchen auf diesem bild ist?“ fragte er.
Der Graf blieb stehen. „Das sind die unglückliche Seele, die bei jener scheußlichen Bluttat von ihrem eigenen Vater gemeuchelt wurde.“ Sagte er leise.
Stumm sahen sich die Freunde an. Das Bild zeigte ein Mädchen, Anne recht ähnlich sah. Sehr schweigsam verließen sie alle das Haus und ritten davon. Porthos nahm Armand mit zu sich.
***
Am Morgen von Allerheiligen übergab Rochefort seinem Herrn dem Kardinal de Richelieu eine Reihe von wichtigen Dokumenten. Dieser sah höchst erfreut auf. „Und es wird niemand Euch mit dem Diebstahl in Verbindung bringen?“ fragte er.
Der Graf schüttelte den Kopf. „ich habe vier Musketiere zu Zeugen, dass ich - außer der Suche nach einem lang verschiedenen mörderischen Ahn, - an keinerlei Dingen beteiligt gewesen sein kann.“ Erwiderte er.
Der Kardinal lehnte sich zurück. „Sehr gut Rochefort. Erhaltet Euch diese Zeugen, man wird geneigt sein ihnen zu glauben.“
Kapitel Aramis, auf ewig adieu! von xalibur
Liebe Silvia, es tut mir leid, daß ich Deinen letzten Wunsch leider nicht erfüllen konnte. Teilweise ist meine Geschichte sehr ernst und traurig. Aber dafür kommt Aramis am Ende doch noch in den Himmel ;-)
Aramis, auf ewig Adieu!
"Er wird nicht kommen!" Es war eine stürmische Nacht, Wolkenfetzen zogen immer wieder über den Mond hinweg und verschluckten sein Licht. Unter einigen großen Bäumen im Jardin du Luxembourg waren vier Pferde angebunden, ihre Besitzer standen dicht dabei, drei Männer im blauen Rock der königlichen Musketiere. Der Jüngste der drei redete auf den Älteren ein, während der dritte im Bunde, ein Hüne, mit unerschütterlicher Ruhe daneben stand und wartete. "Wir sind umsonst hergekommen, wie jedesmal zuvor. Es hat doch keinen Sinn, Athos, wie lange willst Du denn noch auf ihn warten?" Der Ältere sah seinen jungen Freund ernst an und erwiderte ruhig und entschlossen: "Wenn es sein muß, eine Ewigkeit."
Eliza saß mit ihren Freunden in der Metro und war erregt und voller Vorfreude. Seit Wochen hatte sie diesem Abend entgegengefiebert, wochenlang hatte sie an dem Kleid genäht, ein Reifrock, ein Mieder aus schwarzem Samt, die Ärmel aus Spitze, ein kleiner schwarzer Schleier throhnte wie ein Diadem auf ihrem blondgelockten Haar, die Fledermausbrosche hob und senkte sich mit jedem Atemzug auf ihrem Busen. Der schwarze Kajal ließ ihre Augen groß und dunkel aussehen und gab ihnen Bedrohlichkeit und Trauer. Heute war die Nacht, heute war Samhain und Elise hatte sich in Elizagoth verwandelt. Während sie unterwegs zu einem angesagten Club im Herzen von Paris waren, erzählte Serge eine schräge Geschichte: "... Antoine fürchtet sich vor nichts, der würde auch den Teufel anquatschen."
"Ja, wenn der blond und weiblich ist!"
"Der Typ ist doch völlig abgedreht!"
"Aber er hat es nicht nötig, sowas zu erfinden. Macht sich doch höchstens unmöglich mit sowas."
"Und er sagt wirklich, sie war ein Geist?"
"Er hat sie beim Luxembourgh getroffen, in einem Kleid ... er hat sich gar nicht wieder eingekriegt über das Kleid ... so wie Elizas, nur aus gelbem Damast mit Stickereien. Da ist er zu ihr hin. Na ja, erst hat er gedacht, sie wäre eine von uns, also hat er sie angequatscht, wie man an so ein geiles Kleid kommt. Sie hat einfach nur scharf ausgesehen, sagt er."
"Kerle!"
"Na und, was ist denn dabei?"
"Erzähl weiter!"
"Und dann hat er gesehen, daß sie weint. Sie hatte einen Rosenkranz um die Hände geschlungen, saß auf einer Bank und weinte. Und Antoine ist kein Arsch, der kümmert sich um Dich, wenns Dir dreckig geht. Er hat sich zu ihr gesetzt und hat ihr zugehört. Und als sie erst nicht damit rauswollte, hat er ihr versichert, er hat schon eine Menge irre Sachen erlebt, ihn haut nichts um. Und da hat sie es ihm erzählt: Sie muß sowas wie ein weiblicher James Bond gewesen sein, und wie der gute James im Film hat sie die Herzen reihenweise gebrochen. Tja, und also der eine von ihren Geliebten, der wollte eigentlich Priester werden, und das ist er dann später auch, und sie war eine verheiratete Frau, aber nebenbei hatte sie eben auch was mit ihm laufen und hat ihn in ihre Spionagesachen mit reingezogen. Er hat sie wahnsinnig geliebt, er hätte alles für sie gemacht. Sie hat ihn verdorben, sagt sie. Wenn er ihr nie begegnet wäre, wäre er glücklich geworden. Aber die unglückliche Liebe zu ihr hat ihn verbittern lassen, und das, was er bei ihr gelernt hat, hat ihn auf den Geschmack gebracht. Und so ist er immer ehrgeiziger, rücksichtsloser und selbstsüchtiger geworden, und am Ende waren seine Freunde tot und er konnte es weder sich selbst noch ihr vergeben, und deswegen konnte er nicht weggehen, als er gestorben ist und geht jetzt als Geist um."
"Ach, dann war nicht sie der Geist, und Antoine hat gar keinen Geist mit eigenen Augen gesehen."
"Die hat doch nur rumgesponnen, vielleicht war sie ja aus ner geschlossenen Anstalt abgehauen, oder sie wollte ihn hochnehmen."
"Warts doch ab, der Hammer kommt ja noch: Dann sagte sie, das alles ist vor über 300 Jahren passiert! Und in dem Augenblick schlägt die Turmuhr 4."
"4? Endet die Geisterstunde nicht um eins?"
"Keine Ahnung, auf jeden Fall war dies um 4, und in dem Augenblick, wo der Glockenschlag ertönt, sitzt Antoine allein auf der Bank. Sie ist weg, einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt!"
Sie hatten ihre Station erreicht und stiegen aus. Elizas Blick streifte den Spiegel der Bahn, und für einen Augenblick sah sie darin das Abbild Antoinnes schöner Verdammten, eine zierliche Person wie aus einem der Gemälde im Louvre, in einer gelben Festrobe, über deren Schultern anmutig ihre blonden Locken fallen. Das Bild wirkte so plastisch, daß sie sich tatsächlich umdrehte, aber natürlich war dort niemand, der auch nur entfernt dem Bild ähnelte.
Als sie vor dem Club angekommen waren, klingelte Elizas Handy. "SMS. Geht ruhig schon rein!" Und dann las sie die kurze Nachricht. Sie fühlte sich, als hätte man ihr ein Messer in den Bauch gestoßen. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie wandte sich um und rannte davon. Einfach nur weg! Bis ihre Lunge von der kalten Luft schmerzte. Da hielt sie an und sah sich um. Sie war am Ufer der Seine und das schwarze Wasser drehte sich im Mondlicht geheimnisvoll und verlockend. Das Handy klingelte. Eliza warf es im hohen Bogen ins Wasser, wo es mit einem Glucksen verschwand. Sie wollte mit niemandem reden. Sie wollte nie wieder mit jemandem reden. Sie wollte, daß der Schmerz in ihrem Innern aufhörte. Wie in Trance ging sie langsam auf das Wasser zu. Es war schwarz, kalt und versprach ewigen Frieden. Ein Arm packte sie um die Taille und riß sie zurück. Sie wehrte sich, aber obwohl der Mann schmächtig war, hatte er einen eiserne Kraft und hielt sie unerbittlich fest, bis ihre Wut sich in Tränen auflöste. Erst dann nahm sie ihn überhaupt wahr. Sie hatte ihn verflucht und gehaßt, weil er sich einmischte, aber jetzt war sie etwas versöhnlicher. Ein Priester konnte wohl nicht untätig danebenstehen bei sowas. Berufskrankheit. Priester eben. Nur was er sagte, paßte nicht dazu. "Ich weiß, wie verlockend das Wasser sein kann. Ich hätte es selbst gern getan." "Als Priester? Ist das nicht ...?" "Verboten?" Er lachte. Er war ausgesprochen gutaussehend. "Das hätte mich wohl nicht abgehalten. Aber es wäre undankbar gewesen gegenüber einem Freund." Er war reichlich seltsam. Vielleicht war das der Grund, warum Eliza sich auf eine Unterhaltung einließ. Sie ließ zu, daß er sie wegbrachte vom Seineufer. Und dann saßen sie in einer gemütlichen Creperie über einer heißen Schokolade. "Medizin" hatte er es genannt, "ein unfehlbares Mittel zur Linderung von Liebeskummer. Ich habe da ausreichend Erfahrung." Als Priester? Na ja, vielleicht war er ja deswegen Priester geworden. Irgendwie fühlte sie eine Seelenverwandtschaft und deswegen erzählte sie ihm die ganze Geschichte von ihrer großen Liebe, dem Mann, der sie immer wieder verletzte, benutzte und enttäuschte und von dem sie doch nicht losgekommen war und der jetzt Schluß gemacht hatte, feige in einer SMS. Und wegen dem sie beinahe ins Wasser gegangen wäre.
"Ganz schön bescheuert, ich weiß. Und er würde nicht mal untröstlich sein, nicht mal das. Früher hatten die Schurken wenigstens noch ein Gewissen und grämten sich als Geist in Ewigkeit über den Geliebten, den sie zugrundengerichtet hatten." Er fragte, ob sie denn an Geister glaube, und ob ihr der Gedanke daran keine Angst mache. Sie konnte schon fast wieder lachen. "Eigentlich nicht, aber wer weiß. Ein Freund behauptet steif und fest, ihm wäre einer begegnet, und auch noch ein hübscher mit einer sehr romantischen Geschichte." Und weil es sie ablenkte und er nicht uninteressiert schien, fing sie an zu erzählen. Er hörte ihr mit einem melancholischen Lächeln zu, bis sie anfing, den Geist zu beschreiben. Mit einem Mal war es um seine Ruhe geschehen. "Wo?" fragte er mit heiserer Stimme. "Wo hat Dein Freund sie gesehen?" Und kaum hatte sie geantwortet, war er aufgesprungen und schon fast zur Tür hinaus - aber dann kehrte er um. "Verzeih. Erst mische ich mich in Dein Leben und dann laß ich Dich einfach stehen. Das wäre nicht recht." Und er setzte sich wieder, als wäre nichts geschehen.
Die Creperie hatte irgendwann geschlossen. Sie schlenderten durch die nächtlichen Straßen. Sie war froh, daß er sie nicht alleingelassen hatte. Sie wollte jetzt nicht allein sein. Aber sein seltsames Benehmen ging ihr nicht aus dem Kopf. "Was hat Dich eigentlich vorhin an meiner Geschichte so aufgeregt?" Er lächelte nur traurig und meinte, das wäre nicht wichtig. Sie musterte ihn wieder: das schulterlange Haar, die Spitzenmanschetten an seinem Hemd, die Schnallenschuhe - wenn er nicht selbst bestätigt hätte, daß er Priester war, hätte sie ihn mittlerweile doch für einen aus ihrer Szene gehalten. Sie sprach aus, was Ihr gerade in den Sinn gekommen war: "Du bist der Geliebte der schönen Verdammten." Sie hatte es als Scherz gemeint, aber er lachte nicht. Er sah sie nur an und seine Züge waren voll Schmerz und Leid.
"Wie spät ist es? Wir müssen uns beeilen. Antoinne hat gesagt, um 4 Uhr wäre sie verschwunden!" Sie hatte ihn bei der Hand gefaßt und zog ihn hinter sich her. Es war verrückt. Vielleicht war sie selbst verrückt geworden, aber dies war Samhain, die Nacht, wo die Pforten des Totenreiches offenstehen, wo alles möglich ist. Wer weiß. Sie rannten, so schnell sie konnten.
"Er ist nicht gekommen!" d'Artagnan sagte es mit Resignation und Verärgerung. "Ich wußte, er würde nicht kommen." Athos schwieg, aber sein Gesicht konnte die Trauer nicht verbergen. Sie banden die Pferde los und saßen auf. Die Turmuhr schlug 4. "Diesmal kommt er!" meldete sich plötzlich Porthos. "Aber Porthos, das ist doch Unsinn. Die Uhr hat 4 geschlagen." "Und?" "Und jetzt ist es zu spät, das wißt Ihr so gut wie ich." "Und warum sind wir dann noch hier?" erwiderte Porthos triumphierend. d'Artagnan schaute ihn ungläubig an. Es stimmte, die Stunde der Rückkehr hatte geschlagen und sie waren immer noch hier, in der Welt der Lebenden. Er erschrak. Hatte Aramis Fluch sie am Ende mit in die Verdammnis gezogen?
Eliza und ihr Begleiter erreichten völlig außer Atem den Jardin du Luxembourgh, als die Turmuhr 4 schlug. Zu spät! Erschöpft und enttäuscht rang er vornübergebeugt nach Atem. Als er sich wieder aufrichtete, sah sie die Tränen auf seinen Wangen. Wortlos nahm sie seine Hand. Dann wandten sie sich zum Gehen. "René? Mon dieu, René!" Er fuhr herum, als er die Stimme hörte. Ungläubig starrte er auf die zierliche Person im gelben Damastkleid, die dort auf dem Weg stand, unfähig sich zu rühren. Elise seufzte und gab ihm einen kräftigen Schubs. Mit einem wehmütigen Lächeln sah sie zu, wie sich die beiden in die Arme fielen. Mit einem Mal hatte sie ein warmes Gefühl dort, wo noch vor Stunden der Schmerz sie hatte ins Wasser treiben wollen. Sie hatte etwas gelernt: Das Leben ist zu kurz, um es mit Schmerz, Verbitterung und Selbstmitleid zu verschwenden. Sonst sitzt man am Ende 300 Jahre hier fest. Und das muß nun wirklich nicht sein.
Aramis ging mit Marie Arm in Arm durch den Jardin du Luxembourgh und hatte nur Augen für sie, als ihn plötzlich eine Stimme im Leutnantston anherrschte: "Sacrebleux! Pünktlichkeit war nie Eure Stärke, Aramis, aber was Ihr Euch diesmal geleistet habt, setzt allem die Krone auf!" Aramis schrak zusammen und gewahrte vor sich seine drei Freunde, die ihn lachend begrüßten. "d'Artagnan, Porthos, Athos! Was tut Ihr hier?" "Auf Euch warten! Erinnert Ihr Euch nicht mehr an die Verabredung? Wer zuerst stirbt, holt die anderen bei ihrem Tod ab. Wir waren da, aber Ihr seid nicht erschienen." Aramis seufzte. "Ich mußte da wohl noch etwas Strafdienst leisten. Und Verantwortung lernen und Vergebung." "Und bei mir war es wohl die Treue." Marie streifte Athos mit einem freundlichen, halb entschuldigenden Blick. Dann lächelte sie Aramis an: "Aber 300 Jahre waren genug Zeit zum lernen." "Madame et Messiers, wir sollten die Ewigkeit nicht länger warten lassen." mahnte Athos zum Aufbruch. Aramis half Marie galant auf das überzählige Pferd und saß hinter ihr auf. Und dann ritten unsere Freude in die aufsteigenden Nebel und verschwanden. Und d'Artagnan sagte bei sich: "Doch nicht auf ewig adieu, Freund Aramis."
Kapitel Die Maria von
Vorwort: Also, ich glaube, ganz lustig ist die Geschichte nicht... Aber sie erklärt, warum Aramis Priester wurde. Wovon Rochefort spricht, was er da mit seinem Bruder versucht hat… es sei niemandem empfohlen, dass auch auszuprobieren. Silke und ich haben das mal bei Stromausfall gemacht und fast den Schock unseres Lebens gehabt und das ist wirklich wahr. (Fragen bitte per Mail! ;-))
Viel Spaß!
Die Maria
Es war an einem stürmischen Herbstabend gegen halb elf Uhr in Paris. Es regnete in Strömen, es blitzte und donnerte- kurz, es war die Gelegenheit, um an einem Kamin beisammen zu sitzen und zu plaudern. Genau dies taten die Herren Aramis, d’Artagnan, Athos und Porthos. Doch wie um nicht immer nur auf die eigene Gesellschaft angewiesen zu sein, hatten sie sich einen weiteren Herrn eingeladen. Dieser Herr war seit neuestem d’Artagnans Freund, jedenfalls auf Befehl des Kardinals. Es erübrigt sich fast zu sagen, dass die Herren d’Artagnan und de Rochefort nicht sofort dem Befehl des Ersten Ministers von Frankreich gefolgt waren. Drei Duelle hatten folgen müssen, ehe sie sich ein zweites Mal einen Bruderkuß gaben, der in diesem Falle aber dann wirklich von Herzen kam.
An diesem Abend nun hatten sich also die Herren in der bescheidenen Wohnung d’Artagnans in der Rue de Fossoyeurs zusammengefunden, und saßen am prasselnden Kamin. Sie plauderten- über Nichtigkeiten, wie es Menschen tun, wenn sie sich nicht allzu bekannt sind, aber trotz alledem Vorurteile haben.
Porthos, der gerade damit beschäftigt war, seinen Glühwein in einem Schluck zu trinken, wobei er sich permanent die Zunge verbrühte, stellte plötzlich mit einem lauten „Klonk“, begleitet von einem dröhnenden Donnerschlag von draußen, seinen Becher auf den Tisch, um den die Herren saßen. Aramis, in süßeste Träume versunken, schreckte auf.
„Messieurs“, rief Porthos, „Diese Unterhaltung ist zu und zu langweilig. Können wir uns auch über interessantere Dinge als über die Schärpe des Herzogs von Anjou vor siebzig Jahren unterhalten?“
Mit tadelndem Blick sprach Aramis: „Das Ereignis, mein lieber Porthos, von dem wir eben sprachen, ist nicht siebzig Jahre her!“
„Dann eben achtzig“, meinte Porthos schulterzuckend.
„Trotzdem langweilt mich dieses Geplauder über Nichtigkeiten.“
Befremdet sahen d’Artagnan und Athos ihren Freund an. Gewöhnlich liebte er es doch am meisten, über Mode und Kleidung zu reden.
Rochefort lächelte und goß sich einen Schluck Glühwein in seinen noch halbvollen Becher.
„Lasst uns doch über die Zukunft plaudern“, meinte er liebenswürdig, während sein Blick über die Innenausstattung von d’Artagnans Zimmer wanderte. „Haben die Herren große Pläne?“
„Selbstverständlich“, meinte Athos spöttisch und entgegen seiner üblichen ruhigen Art. „D’Artagnan wird Marschall von Frankreich, Porthos heiratet eine Prinzessin, Aramis steigt zum General des Jesuitenordens auf und ich werde mich neu verheiraten und fünf Kinder haben. Was habt Ihr für Pläne, Graf de Rochefort?“
Aramis, Porthos und d’Artagnan hoben alle die Augenbrauen. Athos hatte anscheinend wieder zuviel getrunken, doch gewöhnlich pflegte er nicht so sarkastisch zu werden. Athos’ Freunde hatten geglaubt, nach dem Abenteuer an der Lys wäre ihr Freund mit seiner Vergangenheit fertig und mäßigte sich in seinem Verhalten etwas. Vielleicht war es die unruhige Nacht, die bei Athos Erinnerungen an längst vergangene Zeiten weckte.
Rochefort konnte nicht sofort antworten, denn ein Donnerschlag übertönte alle Geräusche. Erst nach einer Weile sagte er: „Oh, mein lieber Athos, ich wünsche Euch von ganzem Herzen, dass die Wünsche der Herren in Erfüllung gehen, genau wie Monsieur le cardinale dies wünscht. Seine Eminenz weiß, was er an den tapferen Musketieren, die auch die Unzertrennlichen genannt werden, hat.“ Mit diesen Worten hob er seinen Becher und man konnte nicht umhin, anzustoßen.
„Was Eure Frage betrifft“, sagte er dann, nachdem er einen kleinen Schluck getrunken hatte, „Ich habe noch vor, weiterhin in den Diensten des großen Kardinals zu bleiben, obwohl ich kurz vor einer Verlobung stehe…“
Porthos prustete überrascht und vertuschte dies, indem er eine Serviette vor den Mund hielt und einen Hustenanfall mimte. Aramis, der wieder in Gedanken versunken war, klopfte dem Freund hilfsbereit und heftig auf den Rücken, was nun zu einem wirklichen Hustenanfall des wackeren Musketiers führte.
Eine Kerze verlosch mit einem traurigen Flackern. Niemand erhob sich, um sie anzuzünden.
D’Artagnan überlegte mit einem halben Lächeln, ob die Kerze wegen Porthos’ Husten erloschen war.
„Wie steht es eigentlich mit Euch?“, wandte sich dann der junge Leutnant an den hübschen Aramis. „Habt Ihr vor, in ein Kloster zu gehen? Oder habt Ihr Euch nun endgültig für die militärische Laufbahn entschieden?“
„Erstmal bleibe ich Musketier“, gab Aramis bekannt. „Es macht uns allen viel Freude, von Euch Befehle anzunehmen.“
D’Artagnan errötete. Gestern hatte er einen Befehl des Hauptmannes missverstanden und die ganze Kompanie hatte sich darüber amüsiert. Und ehrgeizig, wie der junge Gascogner war, hatte ihn das hart getroffen. Seine Freunde, bei denen er Rat und seelischen Beistand suchte, hatten ihm nur gesagt, er könne froh sein, dass es sich nur um Lappalien gehandelt hatte und dass er ein bisschen Spott vertragen können musste.
Rochefort sah interessiert auf. Streit bei den Musketieren, Meinungsverschiedenheiten? Das waren wichtige Neuigkeiten. Doch es schien sich nur um Unwichtiges zu handeln, sonst hätten die anderen beiden Herren gewiss auch aufmerksamer zugehört.
Am Fenster krachte es, als begehre jemand Einlass. Porthos sah sich um, stand dann auf, um das Fenster fester zu schließen. Doch gerade, als er den Riegel lockerte, anstatt ihn zu schließen, fegte eine besonders heftige Bö gegen das Haus und das Fenster schlug auf. Porthos konnte gerade noch rechtzeitig zurückweichen, sonst hätte er sich womöglich verletzt.
Es hatte den Anschein, als stürzten ganze Wassermaßen ins Haus, doch nachdem Porthos es geschafft hatte, das Fenster wieder zu schließen, stellte er fest, dass nicht allzu viel Wasser den Boden bedeckte.
„Seid Ihr verletzt, Porthos?“, kam Aramis besorgte Stimme aus dem Dunkel. Die Kerzen waren durch den heftigen Windzug verlöscht und das Feuer ohnehin recht heruntergebrannt.
„Ja, alles in Ordnung bei mir“, sagte Porthos. Er tastete sich zurück und stieß irgendwo an.
„Verzeihung, Monsieur le comte.“
„Schon gut“, knurrte Rochefort recht bedrohlich.
Dann wurde es etwas heller. Athos hatte zwei Kerzen am ersterbenden Feuer entzündet und beleuchtete die Szene. Aramis und d’Artagnan saßen stocksteif in ihren Sesseln beziehungsweise Stühlen, d’Artagnan starrte auf die Pfütze am Fenster, die wohl nun bald die Wohnung des Monsieur Bonacieux überschwemmen würde, Aramis starrte Porthos an. Dessen Vorderansicht war vollkommen durchnäßt.
Rochefort indessen hatte sein Bein angezogen und rieb sich beständig über das Schienbein, gegen das Porthos versehentlich getreten hatte.
„Schreckliches Wetter“, sprach Athos nicht allzu intelligent.
„Genau richtig, um Geistergeschichten zu erzählen“, befand d’Artagnan, der sich von dem Schrecken, das Fenster würde sich auf Porthos stürzen, schnell erholte.
Athos warf seinem jungen Freund einen drohenden Blick zu. Geistergeschichten liebte er nicht. Doch d’Artagnan beachtete ihn gar nicht, sondern richtete seine Aufmerksamkeit auf Rochefort, der sich aufrichtete und bedeutungsvoll räuperte.
„Ich kenne nur wenige solcher amüsanten Geschichten“, sagte er langsam. „Aber einige sind bestens dafür geeignet, einen Mann entscheiden zu lassen, wie er sein Leben weiterführen wird…“ Im Zimmer wurde es still. Aramis sah zum Fenster hin, wo ein verästelter Blitz Paris erleuchtete und das Zimmer kurz in grellblaues Licht tauchte.
„Aber“, sagte Rochefort „es sind keine wirklichen Geschichten, sondern vielmehr Vorschläge, über sich selbst klar zu werden.“
„Nun redet schon“, forderte d’Artagnan seinen neuen Freund auf, ohne auf das Heulen des Windes zu achten. „Wir sind gespannt, erzählt, mir ist schon kalt.“
„Wenn die Zimmertemperatur sinkt, ist dies ein sicheres Zeichen dafür, dass ein Gespenst im Zimmer ist“, verkündete Athos düster und sie zuckten zusammen. Athos saß im Halbdunkeln, so dass sein Gesicht nicht erkennbar war und er hatte mit Grabesstimme gesprochen.
„Oder eine Schlange“, meinte Porthos, der sich von solchen Ammenmärchen nicht schrecken ließ.
Anklagend sah d’Artagnan zu seinem Freund. „Ihr verderbt die Stimmung, Porthos. Ich wüsste zu gerne, was für Rezepte Ihr habt, Rochefort, dass man seine Zukunft daran ablesen kann.“
Rochefort lachte heiser. „Es sind keine Rezepte, mein Freund, es sind Warnungen. Man sollte sie nicht zu oft anwenden, einmal reicht es. Denkt an meine Worte.“
Dabei ließ er seinen Blick langsam erneut durch das Zimmer wandern und sah dann zum Fenster. Unwillkürlich sahen auch die anderen dorthin und zuckten zusammen, als ein Blatt mit einem nassen Klatschen gegen das Fenster geschleudert wurde.
„Auch ist heute ein vorzüglicher Tag dazu, Messieurs“, sagte er mit gedämpfter Stimme und sie rückten etwas enger beisammen, auch Athos, dessen bleiches Gesicht jedoch noch immer im Dunkeln lag.
„Ihr seid Euch bewusst, es ist heute der einunddreißigste Oktober. Nur heute kann man sich entscheiden, seine Zukunft näher zu ergründen. Oder im nächsten Jahr. Tut man es an einem anderen Tag, ist man dazu verdammt, ein ganzes Jahr tiefes Leid zu erfahren.“ Die gespannt Lauschenden sahen sich an.
Rochefort hob leicht die Hand. „Es ist kein gewöhnliches Leid“, sagte er dann, ohne dass sich ein Lächeln auf seinem Gesicht zeigte.
„Man wird Dinge hören, die man nie hören wollte. Stimmen, Schreie… und Worte, die man nicht mehr vergessen kann…“
Wieder war es eine Weile still zwischen den Herren. Ein Holzscheit fiel im Kamin auseinander und Funken sprühten hoch. Wieder ließen sich die Gesichter besser erkennen, d’Artagnan hing an den Lippen des Grafen, Aramis kaute an seiner Unterlippe und Porthos an seinem Schnurrbart. Athos hatte den Kopf in die schönen Hände gestützt und sah nachdenklich zu Rochefort hin, der seinerseits zu einem Punkt über den Köpfen der anderen starrte.
„Seid Ihr bereit, darüber mehr zu erfahren?“, fragte er dann. „Es ist ungenau, was ich Euch erzähle, genau wie die Wahrsagerei ein ungenauer Zweig aller Wissenschaften ist-“ Mit jeden Wort, dass er sagte, wurde seine Stimme rauchiger. Aramis schauderte.
„Vor allem ist es wichtig, allein zu sein“, sprach Rochefort langsam. Draußen über Paris grollte es, als fochten die Himmelsscharen gegen die Sendboten der Hölle.
„Niemand darf in der Wohnung anwesend sein, denn sonst riskiert man die Ewige Verdammnis. Es ist lasterhaft, was ich Euch erzählen, werde, Messieurs. Seid Ihr dennoch willens, mehr darüber zu erfahren?“
Die Musketiere nickten. Von irgendwoher zog es seit fünf Minuten beständig und eine der Kerzen flackerte. Aramis knetete noch warmes Wachs zwischen seinen feingliedrigen Händen.
„Wenn man sich vergewissert hat, dass man allein ist“, fuhr Rochefort fort, „nehme man zwei Kerzen. Es müssen unbedingt zwei sein und schwarz müssen sie sein. So schwarz wie die Nacht jetzt.“ Damit deutete er zum Fenster, wo nichts zu sehen war. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit und Athos hatte den Eindruck, ein bleiches Gesicht schaue zum Fenster herein. Doch die Vision verschwand.
„Es muss in tiefster Nacht sein“, hörte Athos dann Rocheforts rauchige Stimme. „Die Geisterstunde ist dafür ausersehen, Dienerin des Kultes zu sein. Wenn man es zu früh oder zu spät tut, sieht man anderes, seine eigene Vergangenheit möglicherweise. Doch das Leben ist damit verwirkt. Glaubt mir, ich kenne jemanden, der daran zugrunde gegangen ist…“ Aramis bekreuzigte sich.
„Wenn man also die Kerzen entzündet hat, an einer Kerze, die weiß sein muss, löscht man die weiße und geht zu einem Spiegel. Es muss ein großer Spiegel sein, man muss mindestens den Oberkörper vollständig erkennen können.“
Rochefort hielt kurz inne. Alle vier Herren hingen an seinen Lippen, wagten aber nicht, sich anzusehen.
„Dann gibt es drei Sprüche. Man muss den richtigen wählen, die Folgen werde ich Euch sagen.
Der erste Spruch lautet: ‚Die Blutige Maria kommt’…“
D’Artagnan zog scharf die Luft ein und Aramis sah mit schreckgeweiteten Augen zu Rochefort.
„Man sollte diesen Spruch niemals sagen, wenn man mit zwei Kerzen vor einem Spiegel steht. Man ist sofort tot und Unglück kommt über jene, die einem lieb und teuer sind…
Der nächste Spruch lautet: ‚Der Teufel ist da.’“
Porthos sah Aramis an, der dies aber nicht bemerkte, sondern mit einem leichten Kopfschütteln noch immer das Wachs knetete.
„Nach diesem Spruch wird man ohnmächtig“, erläuterte Rochefort. „Es besteht die Gefahr des Abbrennens der Wohnung der Kerzen wegen.
Der letzte Spruch ist der wichtigste. Man kann daraus seine Zukunft sehen oder besser gesagt-“
Hier senkte er wieder die Stimme…
„Man sieht sein sehr wahrscheinliches Ende, wenn man den Weg wählt, den man nicht wählen sollte.
Ich sage es Euch noch einmal, Messieurs, man ist allein in seiner Wohnung, höchstens eine schwarze Katze darf anwesend sein… und man steht vor einem Spiegel, mit zwei schwarzen Kerzen in der Hand. Und dann spricht man die Worte: ‚Die Blutige Maria kommt dich zu holen.’“
Ein krachender Donnerschlag, lauter als alle anderen zuvor, ließ Paris erbeben und schien wie eine Bestätigung der Worte Rocheforts.
Die Musketiere starrten Rochefort an. Dieser trank den letzten Schluck Glühwein und stellte den Becher behutam auf den Tisch.
„Das ist alles, was ich darüber weiß, Messieurs. Es gehört einiges dazu, dies durchzuführen…“
Athos, Porthos, Aramis und d’Artagnan atmeten auf und setzen sich etwas bequemer hin.
„Habt Ihr das schon einmal ausprobiert?“, fragte Porthos dann zögernd.
Rochefort schüttelte leicht den Kopf. „Einmal, da war aber noch mein Bruder dabei, hatten wir das Licht gelöscht und traten nur mit zwei Kerzen vor einen Spiegel. Er stand leich hinter mir und hob die Hand zum Kopf. Es schien, als sei der Gehörnte da. Wir haben beide wieder mehr Licht gemacht.“
„Es waren doch nur Schatten“, meinte Aramis leichthin, obwohl er blass geworden war.
„Ihr könnt es ausprobieren“, meinte Rochefort und erhob sich.
„Ich behindere Euch nicht daran.
Messieurs, es war ein Vergnügen, mit Euch zu plaudern. Doch ich habe leider noch Verpflichtungen. Ihr entschuldigt.“ Mit diesen Worten verschwand der Graf, ohne dass sie ihn zurückhalten konnten.
Eine halbe Stunde später war Aramis wieder bei sich zu Hause. Nach der Geschichte, oder besser, nach dem, was Rochefort bei d’Artagnan zum Besten gegeben hatte, war ihnen die Lust vergangen, sich weiter zu unterhalten. Aramis, obwohl gewöhnlich ein tapferer Soldat, zuckte bei jedem Knacken in d’Artagnans Wohnung zusammen, und den anderen ging es ähnlich. Schließlich waren sie gegangen, obwohl d’Artagnan ihnen anbot, doch zu bleiben. Doch es war ihnen gelegen, schnell nach Hause in vertraute Umgebung zu kommen, viele Kerzen anzuzünden und sich dann möglichst fest in eine Decke zu wickeln und zu versuchen, das ohrenbetäubende Gewitter, welches noch immer über Paris tobte, zu überhören.
Aramis kam vollkomen durchnäßt zu Hause an. Er ging langsam in das Haus, ohne Licht zu machen und schloss leise seine Wohnung auf. Dann ging er vorsichtig hinein und zuckte zusammen, als er eine Bewegung wahrnahm. Doch es war nur der Spiegel im Flur, der fast bis auf den Fußboden herunterführte. Aramis’ Herz schlug plötzlich bis zum Halse. Sollte er es wagen, einen Blick in die Zukunft zu werfen?
Ein grunzendes Geräsuch ließ ihn heftig zusammenfahren. Dann erkannte er, als sich das Geräusch wiederholte, dass es Bazin war, sein Diener, der im angrenzenden Zimmer lag und schlief.
Aramis entzündete einige Kerzen und bemerkte, als er eine neue aus einer Kommode nahm, dass auch zwei schwarze Kerzen dabei waren. Leise schritt er zu Bazin hinüber und weckte ihn.
Der treue, dicke Diener fuhr hoch. „Mein Gott, Herr Aramis, Ihr seid es!? Mir träumte…“
„Sei still“, befahl Aramis. „Du siehst, ich bin von oben bis unten durchnäßt, mir ist entsetzlich kalt. Höre, du wirst jetzt zur Vermieterin gehen. Sie soll eine heiße Schokolade herbringen.“
„Aber Monsieur Aramis“, stammelte der bedauernswerte Bazin verwirrt, „Es ist sehr spät…“
„Genau, eine Viertelstunde nach Mitternacht. Geh jetzt, ich möchte sie noch vor zwei Uhr haben. Einfach nur eine Tasse heiße Schokolade.“
„Glaubt Ihr denn“, fragte Bazin verzweifelt, „dass sie hier Schokolade hat?“
Aramis nahm aus einer bestickten Börse, die auf dem Tisch lag, etwas Geld und drückte es Bazin in die dicken Hände. „Damit findet sie bestimmt welche. Nun geh!“
Er folgte seinem Diener, der sich rasch etwas Anständiges überzog, in den Flur. Als der Diener die Tür öffnete, blitzte es hell auf, dass sogar der Hausflur erleuchtet wurde und gleichzeitig schien der Himmel zu explodieren. Bazin zögerte kurz, doch dann ging er los und zog die Tür hinter sich zu.
Aramis atmete erleichtert auf und ging dann, ein kleines Gebet murmelnd, in sein Zimmer. Dort löschte er alle Kerzen außer einer weißen. An der Kommode blieb er einen Moment stehen. Es war stockfinster im Zimmer und draußen rauschte noch immer der Regen herab.Draußen grollte es noch immer unvermindert stark.
War es unsinnig, was er hier tat?, fragte sich der Musketier. Wer konnte wissen, ob Rochefort sie nicht zum Narren gehalten hatte? Doch wie sollte er das überprüfen, wenn er es nicht probierte? Kurz entschlossen tastete er nach den zwei schwarzen Kerzen und trug sie dann sorgsam zu dem Tisch, wo noch immer die weiße Kerze flackerte. Aramis fragte sich, woher er überhaupt schwarze Kerzen hatte.
Er zuckte mit den Schultern und hielt die eine an die zitternde Flamme der weißen Kerze. Mit einem Zischen brannte eine Flamme auf. Das Gleiche tat er mit der anderen Kerze, dann löschte er die weiße.
Aufatmend sah er dann die beiden Kerzen an, deren Flammen größer wurden und schließlich sicher brannten, nachdem sie das Wachs erreicht hatten.
Der Wind rüttelte am Fenster und Aramis zuckte zusammen. Er stellte die beiden Kerzen auf den Tisch und legte erstmal Mantel und Hut ab, die er beide an die Wand hängte. Dann nahm er die beiden Kerzen und stellte sich in den Flur, die Tür zum Zimmer offenlassend.
Er wagte es noch nicht, vor den Spiegel zu treten, sondern atmete tief durch und rief sich den Spruch Rocheforts in das Gedächtnis zurück. ‚Die Blutige Maria kommt dich zu holen.’ Er würde sich nicht räuspern, ehe er das sagte, beschloss er.
Aramis war unsicher und nervös, aber er wollte nicht jetzt aufgeben. Bazin konnte jeden Augenblick zurückkommen.
Das Gewitter ließ für einen Moment nach, es war kein Donnern mehr zu hören, und der Wind flaute etwas ab.
Kurz entschlossen trat Aramis vor den Spiegel, die Kerzen etwa in Gesichtshöhe haltend.
„Die Blutige Maria kommt dich zu holen.“
In diesem Moment schlug ein Blitz irgendwo ein, es klang wie ein Schrei.
Im fahlen Licht erblickte Aramis im Spiegel ein Gesicht, ein Mann von vierzig Jahren, ein Soldat, blutüberstömt, blass und mit Augen, die den Tod sahen.
Der junge Musketier schrie auf und wirbelte herum. Es war sein Mantel, der an der Wand hing und den er für einen Mann, und die weiße Feder, die er für ein Gesicht gehalten hatte.
Aramis wurde ohnmächtig.
Aramis hat kurz nach dem einundreißigsten Oktober seinen Abschied genommen. Die Vision, die er durch Rochefort gehabt hatte, war zu deutlich gewesen, als dass er diesen Wink des Schicksals misschachtet hätte. Er ging in ein Kloster, wurde Priester und weihte sein Leben Gott.
Er hatte das Glück, nicht schon früh sterben zu müssen.
Kapitel Von Engeln und Teufeln von
Hallo,
ich war selten so unsicher war eine Geschichte angeht, wie bei dieser. Ich bin nicht sicher, dass man sie eine Spukgeschichte im klassischen Sinne nennen kann, zwar geht der Teufel darin um und ist hinter den Seelen unserer vier Lieblingshelden her, aber gruslig ist es nicht geworden. Darum eine Bitte an alle Leser: wenn ihr denkt, ich hab das Thema echt verfehlt, dann sagt es mir und ich nehme die Sache wieder offline.
Dorothea
Von Engeln und TeufelnAlso, alle meine Schwierigkeiten begannen mit einer Gruselgeschichte. Es ist wirklich lächerlich, völlig lächerlich, aber genauso ist es passiert. Ich hatte in einer wirklich entspannten Runde gesessen und, während ich eine Geschichte über Heimsuchungen von mir gab, für Momente den Schatten meiner echten Gestalt sichtbar werden lassen. Das ist meine ganz große Nummer aus dem neunzehnten Jahrhundert, dort habe ich wirklich einige großartige Erfolge damit gehabt. Aber leider war ich im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert und es war Essig mit dem Erfolg. Am nächsten Tag wollte mich einer dieser Vögel doch untersuchen lassen, um die Natur meiner Besessenheit wissenschaftlich zu erforschen! Mort tous les diables! Wie die Franzosen es ausdrücken. Untersuchungen sind der Tod des Teufels.
Ich bekam höllischen Ärger im Dienst. Beelzebub, mein direkter Vorgesetzter, war alles andere erfreut und hätte mich am liebsten in die Zentralheizung versetzt, damit ich dort knacke. Von der Wut seiner höllische Eminenz mal gar nicht zu reden. Wohlgemerkt, ich rede hier von seiner höllischen Eminenz, nicht von den Kirchendienern, die sich auch so nennen, auch wenn wir von denen mehr als genug sehen, wenn sie ihr irdisches Dasein beschließen. Jedenfalls Monsieur le chef war absolut verärgert und verhängte meine sofortige Strafversetzung ins frühe 17te Jahrhundert. Das frühe 17te! Nun ja, eigentlich ist es keine so üble Zeit, die Religionskriege haben Spaß gemacht. Aber es war kurz vor dem 31. Oktober und mir schwante nichts gutes. Dieses Datum ist nämlich verflucht wichtig. Es ist die Nacht, die einzige im Jahr, in der wir – will meinen beide Seiten, Himmel und Hölle – Seelen ganz und gar für ihre Sache rekrutieren können und auch die höhere Erlösung ist in dieser Nacht wesentlich leichter bewerkstelligt als sonst. Und da dieser verengelte Termin grade vor Weihnachten liegt, heißt das Hochbetrieb und Überstunden ohne Ende. Nun, mir wurde meine Aufgabe rasch genug verkündet, es gab da vier Seelen im frühren 17ten Jahrhundert, von denen ich eine als zukünftigen Kollegen rekrutieren sollte. Und grade dafür ist das 17te Jahrhundert eine elende Zeit. Die Leute sind noch gottesfürchtig genug, um im Zweifelsfalle, wenn’s drauf ankommt, doch lieber ins Paradies zu wollen, aber leider, leider sind die großen Zeiten von Mystikern und Magie, wo sich für Wissen und Macht so mancher gewinnen lies, bereits vorbei. Nun ja, das mit der Hexenkunst wird in der moderne ja so langsam wieder, aber im 17ten war es Essig damit.
Jedenfalls nahm ich meine Arbeitsliste und machte mich auf die Socken. Mich wunderte es nicht besonders, dass ich kaum da angekommen über meinen Gegenspieler stolperte. Der Himmel hat in der Nacht des 31ten Oktober meist auch seine Leute unterwegs, um entweder irgendwelche gequälten Seelen zu erlösen oder auf arme Teufel, die nur ihre Pflicht tun, ein Auge zu haben. Ich gestehe, ich hatte noch Glück im Unglück, den man hatte Gabriel zu mir geschickt. Von allen Erzengeln ist er noch der netteste. Nicht so ein arroganter Schweiger wie Michael, der nie die Klappe aufkriegt und kein Raphael, der einem doch immer eine Moralpredigt hält und kein Ende finden kann. Damals, an dem ersten Weihnachtsabend, hielt der noch immer so eine große Rede an die Hirten, als ich Herodes schon halb auf dem Weg zu seiner Großtat hatte... na ja unwichtig. Ich war überrascht Gabriel hier zu treffen, den das hier war so total nicht seine Gegend. Sein Gebiet war ehe das Mittelalter mitsamt Kreuzzügen und den christlichen Schwertorden. Dort haben wir uns ja auch kennengelernt, als wir uns an einem anderen 31. Oktober über die Seele von Richard Löwenherz in die Wolle bekamen. Unwichtig zu sagen dass Gabriel damals gewonnen hat und ich mir später die Seele von Richards Bruder gekrallt habe. Jedenfalls war das 17te Jahrhundert überhaupt nicht seine Gegend. Er mochte es nicht. Wahrscheinlich tat es ihm weh, die Religionskriege zu sehen und alles was damit verbunden war. Ich fragte mich, ob man auch ihn strafversetzt haben mochte. Aber wie ich den Alten da oben so kenne, hat er Gabriel hierher geschickt, um ihn über irgendwas zu belehren. Ich bevorzuge die Strafen von Monsieur le chef.
Wir machten uns auf den Weg, oder besser: Ich machte mich auf den Weg und Gabriel begleitete mich. Sterblichen wären wir wie zwei der Ihren erschienen, so sie uns denn jemals wahrnahmen. Ich hatte mich, wie immer in diesem netten Zeitalter, in den Mann mit dem roten Mantel verwandelt während Gabriel etwas mehr Schwierigkeiten hatte, eine passende Gestalt anzunehmen. Unter Richards Kreuzfahrern hatte er passender gewirkt, aber da uns die meisten Sterblichen ohnehin nicht beachteten, waren die Probleme marginal. „Monsieur le chef hat mich nach einigen Leuten ausgeschickt.“ begann ich einen Schwatz. „Ich schätze, Du wirst sie mögen, es sind Soldaten.“ Und das meinte ich auch so. Gabriel hat für die kämpferischen Seelen etwas übrig.
Er nickte. „Ich weiß.“ Erwiderte er. „Ich bin um einer anderen Seele willen hier, aber ich begleite dich dennoch, das eine hat mit dem anderen eng zu tun. Wie immer.“
Es war gegen Mitternacht, als wir das Wirtshaus erreichten wo unsere vier verlorenen Seelen zusammensaßen. Ich seufzte auf, vier Soldaten, zwischen zwanzig und dreißig Jahren, das sind harte Nüsse, jedenfalls meistens. Niemand sah uns kommen, wie wir eintraten und nahe des Tisches stehen blieben. Hm. Der erste Eindruck war doch schon mal nicht schlecht. Karten und Würfel verteilten sich auf dem Tisch und getrunken wurde ganz mächtig. Oberflächlich gut. Ich betrachtete die vier genauer. „Gar keine so unpassenden Kandidaten, das musst du zugeben, Gabriel. Der da ganz links insbesondere: Er hat seine eigene Ehefrau in falschem Stolz ermordet.“
Gabriel studierte denjenigen genauer. „Nicht ganz.“ Erwiderte er dann. „Er hat es nur versucht und nicht geschafft. Und hinterher hat er es sehr bereut.“
Ich runzelte die Stirn. Das klang schon weniger gut. Wenn er schon einen simplen Gattinnenmord nicht hinbekommen hatte. „Aber er hat Schuld an ihrem Tod.“ Wandte ich ein.
„Ja, seine drei Freunde haben ihm später bei dem zweiten Mord geholfen.“ Erwiderte Gabriel traurig.
Oh nein! Zwei Anläufe und dann auch nur mit Hilfe! Ich musste mir überlegen, ob nicht einer von den anderen besser wäre. „Der daneben dann, ein falscher Priester. Ich weiß, das ist was sehr gewöhnliches, aber durchaus ein passender Kandidat.“
„Er war noch kein Priester.“ Hielt Gabriel mir entgegen. „Er wollte Priester werden, aber er hat noch nichts geschworen gehabt, was er hätte brechen können.“
Ich seufzte tief. Wenn Gabriel das sagt, dann muss es stimmen. Die da oben haben einen ganz guten Überblick über ihr Bodenpersonal, kein Vergleich mit der höllischen Schlamperei. Uns ist doch tatsächlich mal ein Teufel, ein wirklich alter Kollege, untergekommen, der irgendwann im zweiten Jahrhundert vergessen worden ist! Also gut, der beinahe Priester war es auch nicht. Ich drehte mich weiter und studierte den nächsten. Ein wahrhafter Hüne. „Hm... Ehebruch in mindestens einem Dutzend Fällen.“ Sagte ich leise zu Gabriel. „Ein Musterbeispiel an Untreue.“
Ein feines Lächeln bei meinem alten Feind sagte mir, dass ich mich da wohl irrte. „Er ist eine treue Seele durch und durch, er liebt lediglich das Leben. Und das ist keine Sünde, wie du weißt. Er ist eine gute Seele, von allen die hier versammelt sind, die klarste.“
Wenn Gabriel einen schon so lobt, eile ich besser schnell weiter, ehe ich Monsieur le chef einen wahrhaften Tugendbold anschleppe. Ich studiere den vierten. Also verbrochen hat er bisher nicht viel, ein angefangener – Angefangener! Nicht vollendeter! – Ehebruch, der Frauenmord und hm, ein bisschen Heimtücke. In den müsste man erst ein wenig Arbeit investieren. „Er ist ein Idealist.“ Sagt Gabriel leise und verstummt dann, denn der Gattinnenmörder ist aufgefahren und starrt entsetzt zum Fenster um sich dann erschrocken umzuwenden. Natürlich sieht er nichts, dafür sehen Gabriel und ich es umso besser. Wann sie gekommen ist, weiß ich nicht, aber wer weiß das schon bei verdammten Seelen?
Das also ist seine Gattin. Hübsch ist sie und nett teuflisch. Sie wäre wirklich etwas für unseren Verein. Aber der leise Schritt mit dem Gabriel auf sie zugeht, sagt mir, dass er wohl ihretwegen hier ist. Und nunja – Monsieur le Chef wollte einen Soldaten und keine Dame. Auch wenn er mein Gegner ist und ein verflixter Engel, macht es Vergnügen, Gabriel bei der Arbeit zu beobachten. Hier ist es natürlich etwas einfacher, denn sie ist eine ruhelose Seele. Aber schon unter den Menschen war das faszinierend. Ich habe mit gespitzten Ohren den ganzen Abend damals vor Akko dagesessen, als er – in seiner sterblichen Erscheinung William of Dalynridge – mit Richard Löwenherz diskutiert hat. Es war wirklich ein gutes Gespräch und auch wenn ich meinen Auftrag verpatzt und Richard nicht für die Hölle rekrutiert habe, war es das wert. Den ehrlicherweise hätte ich Richard nicht zum Kollegen haben wollen. Und auch hier ist es beeindruckend. Man merkt wirklich, dass Gabriel die Menschen sehr gern hat und sehr geduldig ist mit ihren Fehlern. Diejenige steht direkt hinter ihrem Mörder, der ihre Erscheinung im Spiegel erahnt hat und ich glaube, er schreibt es nur dem Wein zu, dass er inzwischen zwei Leute, die nicht da sind, in der Scheibe des Fensters sehen kann.
Gespannt beobachte ich das Gespräch von Gabriel und der Dame. Sie müsste ihrem Mörder ehrlich verzeihen, um diese Welt verlassen zu können. Ich wäre wirklich der falsche für dieses Gespräch, den nun kommen die Tränen, als sie alles was geschehen ist wiederholt. Gabriel hat das Verständnis und die Stärke ihr zu helfen und wie immer macht er das großartig. Hier könnte das halbe neunzehnte Jahrhundert antreten und lernen wie man das so macht. Es dauert zwar seine Zeit, aber schließlich, als sie sich wieder ihrem mörderischen Gatten zuwendet, weiß ich schon, dass sie ihm wohl verzeihen wird. Ihr Schwinden aus dem Raum bestätigt mir meine Vermutung. Sie hat ihm vergeben und damit ist das gelöst, was sie an diese Erde band. Ich sehe Gabriel lächeln. Er hat seine Aufgabe erledigt. Ich sehe wie er dem halb eingeschlafenen Gatten die Hand auf die Schulter legt. Spüren kann der es nicht, wie auch? Aber diese Art von Berührung ist ein besonderer Segen und wird ihm einen gewissen Frieden bringen.
Draußen schlägt die Glocke eins, die Nacht ist vorbei. Die vier Soldaten sind am Tisch eingeschlafen. Niemand sonst ist mehr hier. Gabriel muss wissen, dass ich keinen der vier rekrutiert habe, er würde es sehen, wenn es anders wäre. Auch der Wirt schläft. „Unterhalten wir uns noch, ehe wir aufbrechen?“
Natürlich werden wir das, machen wir ja immer. Das beste an diesem Jahrhundert ist die heiße Schokolade aus Spanien. Und wenn Gabriel sie zubereitet, ist sie geradezu himmlisch. Nunja, Monsieur le chef werden es nicht zu schätzen wissen. Aber ich bringe das ja nur über mich, weil ich selbstverständlich den Feind ausspionieren muss. Wir sitzen in dem schlafenden Raum, und ich muss sagen, diese Schokolade könnte ich mir einmal die Woche gefallen lassen, Gabriels Gesellschaft hin oder her. „Du hast keinen von ihnen gewählt.“ Sagte er nach einer Weile.
„Nun ja. Also wenn ich ganz ehrlich bin, Gabriel. Der eine hat zwar seine Frau ermordet, aber zwei Anläufe und viel Hilfe gebraucht. Der andere mag ja ein falscher Priester sein – aber nicht ganz – und ehrlichweise haben wir die im Dutzend bereits bei uns. Der dritte ist eine gute Seele, und was den vierten, den Leutnant angeht, ich hätte ihn ja ganz gern zum Kollegen, aber er ist ein Idealist. Und wenn ich es recht bedenke, kann ich keinen der vier Monsieur le Chef antun.“ Erwiderte ich. Mein Chef kann die echt nicht gebrauchen, das gäbe ja doch nur eine Katastrophe und davon haben wir auch so schon genug.
Gabriel nickt und stimmt mir zu, wir leeren die letzten Tropfe der heißen Schokolade, dann wird es auch schon Zeit zu gehen. Wir haben beide einen Chef, der wartet. Aber bevor wir uns verabschieden, machen wir aus, dass wir uns – so es die himmlischen und höllischen Dienstpläne zulassen – am heiligen Abend wiedertreffen, in Marienburg irgendwann im 13ten Jahrhundert. Ich habe das vorgeschlagen. Kenne doch Gabriel, der wird doch sicher an Weihnachten bei seinen Schützlingen nachschauen. Bevor ich gehe, mustere ich noch mal die vier, die da selig einem Kater entgegenschnarchen. Also wirklich? Diese Jammergestalten wollte Monsieur le Chef rekrutieren? Er weiß ja nicht, wie er sich geirrt hat.
Kapitel A brothers revenge von
Dear all,
as I am accursed of beeing Teclador, by some in this archive, it is time for me to say farewell to you. I don’t think that you’ll miss me too much, as my contribution has never been very great. It is sad that I leave with the feeling that some people here do not like strangers very much on their site. But I won’t write down all I thought about this affair since august down here.
Ravenna
The musketeer was dead drunk when he began to tell the story, and his companion listening wasn’t better either. Even when he was less drunk, he was more than drunk to be good for him to listen to such a story. “One of my friends – one of my friends you understand – not myself.” Said Athos interrupting himself with a sombre smile – “one of the counts of my province, that is to say of Berri, as noble as a Dandolo or a Montmorency, becam enamoured, at twenty five years of age, of a young girl of sixteen who was as beautiful as love…” So absorbed were teller and listener of the horrific story that they did not realise another person was listening too, while Athos spoke of horrors past.
The man listening to the gruesome revelation was about twentyseven years old, blonde and very handsome. Clad like a travelling nobleman, his countenance and air could hardly deny that he was soldier. While he listened on to the ramblings, that carried towards the very core of horror, he ordered a hot chocolate for he had no wish to get drunk himself. So he heard the full confession of Athos, before both man collapsed.
Silently the man rose from his place an walked to the innkeeper. “Who are those two?” he inquired.
The pained man did not hesitate to tell all the story about the musketeers, Athos in the cellar and the damage he suffered. The blonde stranger listened patiently, placing a big coin in the innkeepers hand at the end. “See that they get on late and forget that you ever saw me.” He said. The Innkeeper bowed thrice and, seeing the value of the coin, called him “my Lord” as he ordered the stableboys to bring the strangers horse. And he never uttered a word of this man, while he convinced the englishman to dare a game of dice with Athos at the following morning.
***
The last day of octrobre had been wretched. Rain had not stopped alltogether over the city of Paris. Athos was sitting in his flat, drinking his favorite wine from Malaga and was waiting for d’Artagnan who wanted to come and tell him how his misfortunate adventure with this blonde Lady from England was going on. Athos tried to get drunk beforehand for he did nit really like listening to the young mans adventures with women.
Time was rushing by and midnight was fast aproaching when a movemnt caught Athos eye. When he looked to the window he froze in shock for one moment for he saw a vaguely known blonde Person standing right behind him. He jumped to his feet and turned around, but there was no one here. He was alone in the flat. He sat down again, gulping another glas of wine. Just illusions, but he kept an eye on the window. How did he jump when again the blonde shade appeared. Rashly he came to his feet and drew his blade. “Who are you? A shadow? A ghost? The devil himself?” he called loudly.
But silence was the only answer he got. Only moments later a loud knock was sounding on the door. His weapon at hand Athos rushed to the door and opened. There stood d’Artagnan, shaking and not very sober either. He was drunk. “Oh god… Athos… the sheer horror of….” His eyes went wide when he saw a blonde man approaching from behind the windows curtains, a naked blade in his hand, striking mercilessly into Athos back. The musketeer never had chance to defend himself fell at once, the same moment a small person stroke d’Artagnan from behind with a club over his head.
The blonde man nodded. “Thanks Olivier, give me the gascogns blade.” The boy obeyed at once and handed the blade to the blonde man who retrieved his own from the mortal wound it had cut and stuck d’Artagnans blade there. Than he dragged the unconcious Gascogn into another position, as if he had been the one who had landed the deadly strike on Athos.
From a pocked he produced the letters d’Artagnan hat written in his own name and the name of de Wardes to Mylady. Adding some letters a certain Count de la Fère once had written to the same lady, he left them falling on the floor, near the both man. “An argument of love can drive man to terrible things.” He said smiling. “Always remember Olivier: There is nothing more deadly than a love affair of this kind.” Without turning man and boy left the house and vanished into the night.
Kapitel Die Geister, die ich rief von
Anm.:
Für Maike.
Bin doch noch rechtzeitig fertig geworden!
"Gib es mir zurück! Armand, es gehört mir!"
"Ihr irrt, mon frère. Diese Holzfigur befand sich schon immer in meinem Besitz. Ich habe sie Euch lediglich geliehen und wünsche sie nun zurück."
"Du bist ein Lügner! Ein Lügner und ein Schuft! Du hast sie mir geschenkt."
"Wage es nicht noch einmal, mich so zu nennen - du kleine Laus!"
Etwas polterte kurz, von oben waren die Geräusche einer Rangelei zu hören und schließlich schien Armand über seinen kleinen Bruder zu triumphieren, denn ein leises Wimmern, wie es nur Henri-Josèphe in dieser Tonlage zustande bringen konnte, war zu hören.
Monsieur de Tréville père seufzte leise und gab es auf, sich vor dem Spiegel den Kragen ordentlich zurechtrücken zu wollen. Als der Vater der kleinen Streithähne im Zimmer über dem seinen, war es nun wohl seine Pflicht ein Machtwort zu sprechen, zu trösten und zu mahnen. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor; zu häufig für den Geschmack des Hauptmanns der Musketiere, der auch so schon jeden Tag mit genügend zu groß geratenen Kindern zu tun hatte.
Anscheinend hatte Armand mal wieder die Überlegenheit seiner ganzen zehn Jahre dem nur achtjährigen Bruder gegenüber ausspielen wollen, sich dabei ganz bewusst hochmütig im Ton vergriffen und war schließlich wieder zum Kind geworden, als Henri-Josèphe verständlicherweise nicht gehorchen wollte. Welche kleinen und großen Wunden, über einen blauen Fleck bis hin zu verletztem Stolz, dürfte Tréville jetzt wohl wieder kurieren?
Ein Notfall wie ein krankes Kind wäre zwar eine durchaus willkommene Ausrede gewesen, um heute Abend nicht am Fest der Ratsherren der Stadt Paris, teilnehmen zu müssen. Doch schien es bei diesem Streit unter Brüdern lediglich auf das übliche Gerangel, wer am Ende Recht behalten sollte, hinauszulaufen. Das war zwar nicht minder bedeutsam für seine Söhne, allerdings sehr lästig für Tréville, der an diesem 31. Oktober immerhin pünktlich im Rathaus erwartet wurde.
Wäre das Kindermädchen hier gewesen, hätte sie sich um die beiden Brüder gekümmert, sie innerhalb weniger Augenblicke nicht nur wieder zur Ruhe, sondern auch ins Bett bekommen. Doch Clodine war zu Besuch bei ihrer recht plötzlich erkrankten Mutter und würde erst in einigen Tagen zurückkehren. Ersatz fand sich solange in dem treuen Kammerdiener Richard, der schon seit vielen Jahren in Diensten des Hauptmanns stand und der mit Kindern zumindest so gut umgehen konnte, dass er mit ihren zahlreichen Streichen ein wenig gelassener umging, als die übrige Dienerschaft - Doch Richard war im Augenblick unterwegs auf einem letztem Botengang für diesen Tag, zu den ihn Tréville unüberlegter Weise noch verpflichtet hatte.
Für einige Minuten also ohne wachsame Aufsicht, hörte man plötzlich ein Poltern und dann eine Flut von blumigen Ausdrücken, die, mit heller Kinderstimme vorgetragen, sicher nicht die gleiche Wirkung auf den so Angeschrienen hatten, wie sie es vermutlich sollten. Im Gegenteil forderten diese Flüche eine nicht minder aufgebrachte Antwort heraus, sodass nun durch zwei Etagen des Hôtel de Tréville ein Lärm zu hören war, wie man ihn eher tagsüber erwarten konnte, nicht jetzt, wenn der Haushalt ansonsten zur Ruhe gekommen war.
Ein leises, fast zurückhaltendes Klopfen veranlasste den Herrn des Hauses, die Augen wieder zu öffnen und sich vom Spiegel abzuwenden. Sein Kragen war noch immer nicht gerichtet, doch dem schenkte Tréville nun keine Beachtung als auf sein fragendes "Ja?" die Tür geöffnet wurde und eine kleine, zierliche Gestalt eintrat, vielmehr ins Zimmer schlüpfte. Ein wenig unschlüssig blieb sie gleich hinter der Schwelle wieder stehen und machte dann einen zwar damenhaften, aber etwas verspäteten Knicks. Tréville lächelte leicht zu dieser kleinen Vorstellungen angelernter Etikette seiner Ältesten, die wohl viel Zeit damit verbracht hatte, die Damen um sie herum zu studieren, um selbst eine zu werden. Ginge es nach ihrem Vater, konnte sich Francoise damit gerne noch länger Zeit lassen, schließlich war auch sie erst dreizehn, noch ein halbes Kind und sicher nicht dem Alter, alles nachzuahmen. Nicht wahr? Vielleicht wurde sein kleines Mädchen langsam ein großes Mädchen...
"Wie kann ich Euch helfen, Mademoiselle?" fragte Tréville schließlich ganz ernst und mit der höflichen Verbeugung eines Kavaliers zu seiner Tochter hin, auf deren Gesicht sich dabei ein kurzes Lächeln stahl. Nein, noch nicht sehr groß. Eine Weile sollte Francoise wohl noch sein kleines Mädchen bleiben, welches sich gerade darum bemühte, den kühlen Blick einer Hofdame aufzusetzen und auf diese Weise den frechen Kavalier vor ihr abschätzend musterte. Schließlich schien Francoise zu entscheiden, dass ihr der Herr ganz sympathisch und eine Antwort wert war.
"Armand und Henri-Josèphe benehmen sich unmöglich. Ihr dummer Streit hindert mich daran, zu schlafen", meinte die junge Dame mit einem wohlberechneten, herzerweichenden Unschuldslächeln und einem naiven Augenaufschlag, für den dereinst noch so mancher junger Mann seine poetische Seite entdecken würde. Ihr Vater fiel darauf allerdings nicht herein. "So, schlafen wolltest du? Ich nehme nicht an, in deinem besten Kleid, mit tadelloser Frisur und Haltung, nicht wahr?"
Eine leichte Verlegenheitsröte legte sich über Francoises Wangen und ertappt sah sie zu Boden. Der Vorwand, ihren Vater davon zu überzeugen, gemeinsam mit den Eltern auf dieses Fest zu gehen, war leicht zu durchschauen gewesen - auch das war volle Absicht. Keine Geste, auch nicht ihre jetzt gut gespielte Zerknirschtheit war nicht irgendwie geplant. Tréville schüttelte andeutungsweise den Kopf und musste sich gleichzeitig ein stolzes Lächeln wegen seiner allzu schlauen Tochter verkneifen. Er verwandelte es gerade so in den milden und verstehenden Blick eines Vaters, der, selbst einmal in diesem Alter, ebenso gerne auf ein Fest mitgekommen wäre und es doch nicht durfte, weil die strenge, elterliche Hand es ausdrücklich verbot.
Der Lärm von oben hatte abrupt aufgehört, wie Tréville am Rande seiner Aufmerksamkeit bemerkte und dies veranlasste den Hauptmann zu einem erleichterten Schulterzucken, was seine Tochter wiederum auf sich selbst bezog. Als Francoise erkannte, dass weder ein besonders braver und erwachsen wirkender Eindruck, noch langes diskutieren zum Erfolg führen würden, zog sie eine Schnute und schien sich innerlich trotzdem auf ein Widerwort vorzubereiten, sobald ihr Vater das "Nein" laut ausspräche.
Nicht länger vom Lärm der beiden Raufbolde über diesem Zimmer abgelenkt und sich fragend, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, trat Tréville zu seiner Tochter und gab ihr einen raschen Kuss auf die Stirn - Verbot und Entschuldigung in Einem. Francoise schien darüber eher enttäuscht, als verwirrt. Anscheinend hatte sie tatsächlich noch auf Zustimmung oder wenigstens einen gütlichen Kompromiss gehofft. Aber jetzt hatte sie nur einen Korb bekommen und war - mit Sicherheit - einmal mehr davon überzeugt, dass ihr Vater nicht die geringste Ahnung hatte, was es bedeutete, kein Kind mehr zu sein und trotzdem nicht wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Nein, Monsieur de Tréville amüsierte sich, Madame de Tréville amüsierte sich, Francoise Brüder scherten sich nicht - nur ihr selbst wurde wieder nichts erlaubt!
Zu Recht, wie ihr Vater nun einmal mehr befand, während er an der fast schon beleidigt dreinsehenden Francoise vorbei das Zimmer verließ, um nach den Messieurs de Tréville fils zu sehen, die in der Tat verdächtig ruhig geworden waren. Als er gerade den Fuß auf die unterste Treppenstufe hinauf in den zweiten Stock gesetzt hatte, kam ihm von oben, recht unerwartet, die Dame des Hauses entgegen. Zwei Stufen vor ihm blieb sie stehen und musterte ihren Gatten streng. Wortlos streckte sie die Hände aus und rückte ihm den Kragen zurecht, um sein Erscheinungsbild soweit zu korrigieren, dass sich Monsieur de Tréville auf dem Fest neben seiner Ehefrau zeigen konnte, ohne dass sich noch jemand wundern würde, warum die bezaubernde Anne des Essarts damals diesen vorlauten Gascogner einem Baron de Jallabert vorgezogen hatte.
Nach einigem Zupfen schien Madame zufrieden mit dem Kragen und der Kleiderwahl ihres Gatten im allgemeinen zu sein, der dankbar lächelte. "Francoise war eben bei mir", meinte Tréville mit einem kurzen Blick in Richtung der nur angelehnten Zimmertür, hinter welcher wahrscheinlich noch immer Francoise auf ein kleines Wunder wartete oder sich schmollend auf das Bett ihres Vaters gesetzt hatte, um von dort missmutig die Wand anzustarren. ‚Eine Gefangene im goldenen Käfig', so hätte sie sich nun sicher theatralisch bezeichnet, Madame de Tréville sah das ihrerseits sehr viel nüchterner. "Sie ist zu jung", hob sie abwehrend eine Hand und trat an ihrem Mann vorbei die Treppe hinunter, bevor sie sich noch einmal umwandte. "Clodine sollte bald zurückkommen."
"Ich werde nach den beiden jungen Herren sehen", seufzte Tréville leicht und fügte in sehr ironischem Tonfall hinzu: "Sie scheinen sich gestritten zu haben." Weder der übrigen Familie, noch der Dienerschaft konnte der Lärm aus dem Obergeschoss entgangen sein. Madame nickte verstehend und lächelte aufmunternd. "Sie werden sich zu benehmen wissen, seid also nicht zu streng."
Tréville erwiderte das Lächeln halb und hob kurz die Schultern. "Richard ist als Kindermädchen nicht sonderlich geeignet, ich weiß. Aber ich würde die Kinder niemandem sonst aus der Dienerschaft anvertrauen wollen. Ja, sie werden sich zu benehmen wissen", und während sich Madame de Tréville nun dem Zimmer zuwandte, in dem ihre - zwar nicht liebliche, aber ebenso liebgewonnene Tochter - ein wenig Trost brauchte, stieg der Hauptmann selbst die Treppe in den zweite Stock hinauf.
Er hatte gerade den obersten Treppenabsatz erreicht und wollte sich auf dem Flur nach rechts, dem Zimmer seiner Söhne zuwenden, als die Tür eben jenes Zimmers aufgerissen wurde und eine kleine Holzfigur, das Abbild eines berittenen Soldaten herausflog und an die gegenüberliegende Wand prallte. Das Spielzeug hatte schon viele turbulente Situationen überstanden, aber diese ruppige Behandlung war nun doch zuviel! Dem Pferd brach ein Bein, der Reiter verlor seinen Kopf und die Handwerkskunst eines teuer bezahlten Tischlers war ruiniert.
Noch während die Bruchstücke über den Boden schlitterten, stürzte mit einem langgezogenen Schluchzer eine kleiner, braungelockter Junge aus dem Zimmer und kniete vor den Resten seines Lieblingsspielzeuges nieder. Keinen Augenblick später bemerkte Henri-Josèphe seinen Vater, der kopfschüttelnd das ihm vor die Füße gerutschte Bein des Pferdes aufhob und mehr fragend als vorwurfsvoll seinen Sohn ansah. Aus den Augenwinkel bemerkte Tréville noch Armand im Türrahmen stehen, der sich nun jedoch abrupt umwandte und ins Zimmer zurücktrat.
Der Fall schien offensichtlich, trotzdem störte das, von zwei feuchtglänzenden Augen begleitete, triumphierende Aufflackern in der Miene seines Jüngsten die erste Schlussfolgerung des Hauptmanns. Mit einem Stirnrunzeln folgte er Armand ins Zimmer und strich im Vorbeigehen Henri-Josèphe über die zersausten Haare, der daraufhin noch um einiges wehleidiger und überhaupt wie das unschuldige Opfer dreinblickte; für immer untröstlich über den Verlust der geliebten Holzfigur und auf der Suche nach Gerechtigkeit. Zweifelsfrei einer Gerechtigkeit, die ihm zum Vor- und seinem älteren Bruder zum Nachteil gereichen würde.
Armand stand am Fenster und blickte hinunter in den, am Abend wie ausgestorben wirkenden Hof des Hôtels. Für seine zehn Jahre war er ein recht hoch aufgeschossener Junge, bereits geschickt im Umgang mit dem Kurzdegen und auch sonst nicht minder gewitzt wie sein kleiner Bruder, dabei allerdings sehr viel ungestümer. Es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er in Wut eine Reiterfigur zerstörte, die früher auch sein eigenes Lieblingsspielzeug gewesen war und die er großzügig Henri-Josèphe überlassen hatte, als er sich selbst zu alt für solchen Kinderkram und seinem jüngeren Bruder überlegen fühlte.
Das war es auch, was in letzter Zeit zu kleinen Streitereien, sogar Balgereien geführt hatte: Armand wollte Henri-Josèphe ein Vorbild sein und zeigen, was er als der ältere schon alles durfte und konnte - was nur unwesentlich mehr war. Im Grunde lag sein Vorteil nur darin, dass Armand ein etwas aufbrausendes Temperament hatte, was ihm vor seinem Bruder manchmal besonders mutig erscheinen ließ. Eine kleine Bewunderung, die der Zahnjährige immer dann verspielte, wenn er den gutmütigeren Henri-Josèphe direkt herausforderte.
In der Regel waren die beiden ein gutes Gespann wenn es darum ging, von Clodine noch eine halbe Stunde mehr vor dem Schlafengehen zu bekommen, Streiche gegen Richard auszuhecken und dann ganz unschuldig ihren Vater davon zu überzeugen, dass der Diener einfach nur zu ungeschickt gewesen war, da die Brüder sich in übereinstimmender Aussage zur fraglichen Zeit eines solchen Missgeschicks an einem ganz anderen Ort aufgehalten hatten. Aber es war vorbei mit der verschworenen Einigkeit, wenn Armand der Meinung war, dass ihm Henri-Josèphe aufs Wort zu gehorchen hatte, weil er der Ältere war. Ansonsten ließ sich Trévilles Jüngster sehr leicht in die Abenteuer mit hineinziehen, die sich Armand überlegt hatte und es gefiel ihnen beiden, wie die Kletten aneinander zu hängen - und die einzige Person, auf welche die beiden Brüder immer sofort und ohne Widerspruch hörten, das war Francoise.
Die große Halbschwester kommandierte die Jungen nicht offensichtlich, aber trotzdem war sie es, die in den gemeinsamen Unternehmungen den Ton angab. Ihre Brüder hatten einen ordentlichen Respekt vor Francoise und meistens kamen die Geschwister sehr gut miteinander aus. Wie Pech und Schwefel schienen sie, wenn es galt, die elterlichen Anweisungen zu umgehen und ein lustiges Leben zu führen.
Im Augenblick trug Armand allerdings einen sehr verkniffenen Gesichtsausdruck, als sein Vater neben ihn an das Fenster trat und selbst hinausschaute. Es gab nichts zu sehen, außer vielleicht ein wenig vom kalten Herbstwind aufgewirbeltes Stroh aus den Ställen, das von der nächsten Bö haltlos mitgerissen wurde und irgendwo in der Dunkelheit verschwand. Trotzdem starrten sie beide nun mit aller Anstrengung in den dunklen Hof hinab, während hinter ihnen Henri-Josèphe leise in das Zimmer schlüpfte. Tréville beachtete seinen Jüngsten absichtlich nicht, sondern suchte weiterhin mit den Augen so konzentriert die Umgebung hinter dem Fenster ab, wie es Armand tat. Dem schien die anhaltende Stille allerdings mit der Zeit unbehaglich zu werden. Ein schweigsamer Tréville war manchmal unangenehmer für seinen Gegenüber, als ein aufs schönste fluchender und sehr plötzlich platzte es aus Armand: "Es war meiner!"
Monsieur de Tréville père hob leicht eine Augenbraue und wandte seine Aufmerksamkeit dem Sohn zu, der sich offensichtlich mühte, nicht zu Boden zu sehen sondern dem Blick seines Vaters standzuhalten. Es gelang ihm nicht besonders gut, besonders als Tréville nun sehr ruhig meinte: "In der Tat, dieser Reiter war einst in deinem Besitz. Du hast ihn deinem Bruder geschenkt." Im Rücken konnte der Hauptmann seinen Jüngsten breit grinsen spüren, doch er machte Henri-Josèphe einen Strich durch die Rechnung, indem er fortfuhr: "Von daher braucht es dich nicht zu kümmern, ob Henri-Josèphe ihn gegen die Wand wirft."
Er wandte sich um, gerade rechtzeitig um den erschrockenen und ertappten Gesichtsausdruck des Achtjährigen zu sehen. Strafe für den Ersten. "Aber du hast ebenso kein Recht, Armand, über den Besitz eines anderen frei verfügen zu können, auch und gerade, wenn es einmal dir gehört hat und weitergegeben wurde."
Jetzt schaute Armand ertappt. Strafe für den Zweiten. Für einen heftig ausgetragenen Streit waren diese Mahnungen sehr schnell vorbeigegangen und hatten Wirkung gezeigt. Es war schlimmer, bei einer Lüge erwischt zu werden und ganz genau zu wissen, dass man viel härter hätte bestraft werden müssen, anstatt nun so einfach davonzukommen, dass das schlechte Gewissen - und vor allem das Wissen darum, dass der Vater sehr genau bescheid wusste - einen noch lange beschäftigen konnte. Es sei denn, man sah seinen Fehler ein, vertrug sich mit dem Bruder und gewann dadurch das Wohlwollen des Vaters zurück. Ohne, dass Tréville noch etwas hinzufügen musste, trat Armand zu seinem Bruder und umarmte ihn kurz, der die Geste mit seinem typisch gutmütigen Lächeln erwiderte.
Das kaputte Spielzeug lag noch immer draußen vor der Wand und mimte den stummen Zeugen. Es gab sicher eine Möglichkeit, die Holzfigur zu reparieren, genauso wie auch schon andere Dinge im Zimmer der jungen Messieurs de Tréville geflickt worden waren.
Tréville nickte zufrieden über die Versöhnung zwischen den Brüdern, aber so ganz ungestraft durften sie nun auch nicht davonkommen. Außerdem gab es keinen besseren Vorwand, sie früh ins Bett zu schicken und dadurch Richard, sobald er zurückkehrte, etwas weniger Arbeit mit zwei, manchmal zu cleveren Plagegeistern zu machen. Nicht, dass der Hauptmann besondere Rücksicht auf den langjährigen Diener nehmen musste, aber vielleicht ersparte ihm das selbst weiteren Ärger mit dumme Jungen Streichen nach einer zu kurzen Nacht, wenn dieses Fest so lange und so überflüssig lästig sein würde, wie das letzte.
Also kommandierte Tréville seine beiden Söhne nun mit knappen Worten in die Betten, die das mit dem erwarteten Unmut, aber eingedenk der Szene von vorhin auch ohne großes Murren befolgten. Das Licht war bald gelöscht und ohne noch einmal mahnen zu müssen, zog Tréville die Tür auf dem Flur hinter sich zu. Er hob von der gegenüberliegenden Wand die Holzfigur auf und ging die Treppe wieder hinunter. In einigen Minuten würde Richard zurückkehren, dann wurde es Zeit, selbst aufzubrechen.
Tréville ging weiter, vorbei an seinem eigenen Zimmer, in dem sich nicht länger die zwei Damen des Hauses aufzuhalten schienen, denn es war weder das leise Murmeln eines Gespräch zu hören, noch fiel Licht unter der Türritze hindurch in den Flur. Wahrscheinlich wartete Madame bereits an der Kutsche auf ihren säumigen Gatten, doch einige Schritte weiter, als der Hauptmann gerade um die Flurecke bog, um zu dem weitläufigen Treppenaufgang, hinunter in die Eingangshalle und schließlich in den Hof zu gelangen, wurde Tréville noch einmal aufgehalten.
Vom Erdgeschoss aus gesehen, wenn man an der Treppe stand, kam Tréville im ersten Stock von der rechten Seite, dort, wo der Flur zu den privaten Räumen führte, wo bis auf die Bewohner des Hauses niemand etwas zu suchen hatte, und sei es auch im größten Trubel, der hier Tagsüber im Hauptquartier eigentlich immer herrschte. Linker Hand hingegen befand sich das Arbeitszimmer hinter dem Vorraum - und vor der Tür eben dieses Vorraums stand nun der Leutnant der Musketiere und machte ganz den Eindruck, schon länger auf das Erscheinen des Hauptmanns gewartet zu haben, denn d'Artagnan hielt sich nicht mit umständlichen Begrüßungsfloskeln auf, sondern trat gleich zu Tréville, um nach einem kurzen, respektvollen Kopfneigen sofort zum Grund seines Hierseins noch zu dieser späten Stunde zu kommen: "Es gab einen Zwischenfall in der Rue du Temple. Eine Schlägerei zwischen den Besuchern des Wirtshauses "Tänzelndes Einhorn", in die wohl auch einige Musketiere des Königs und Gardisten seiner Eminenz verwickelt waren", berichtete der Leutnant in knappen Worten, was sich vor nicht allzu langer Zeit zugetragen haben musste. "Ich habe es eben erfahren", schloss d'Artagnan und aus seiner recht ungeduldig klingenden Stimme war leicht herauszuhören, was von diesem Vorfall zu halten war: Viele Scherereien um eine Nichtigkeit und eine Audienz bei seiner Majestät am nächsten Morgen.
"Welchen Ausgang hat diese Rauferei genommen?" fragte Tréville darum auch im eher müden als interessierten Tonfall nach und drehte die lädierte Holzfigur in den Händen. Wahrscheinlich würde der Hauptmann nicht einmal bis zum nächsten Morgen verschont bleiben, wenn sich doch die wichtigsten Damen und Herren der Stadt heute Abend im Rathaus einfanden. So bekam das Fest wohl auch ein Gesprächsthema...
"Keine schlimmeren Verletzungen, beleidigter Stolz und Prellungen. Hinzu kommen die gegenseitigen Anklagen, wer die Schuld an diesem Zwischenfall trägt."
"Das Übliche also. Und wer trägt die Schuld?"
"Wahrscheinlich der Wein, mon capitaine", zuckte der Leutnant mit den Schultern und überließ es Tréville, sich den genauen Ablauf der Ereignisse auszumalen. Das fiel auch nicht weiter schwer. "Ich nehme an, zur Ausnüchterung hat die Stadtwache alle Beteiligten für diese Nacht ins Gewahrsam genommen?"
"Ja, mon capitaine", grinste d'Artagnan ein wenig schief über den Galgenhumor seines Hauptmanns. Wenn man gerade dachte, es konnte nicht schlimmer kommen...
"Gut, dort sind sie vorerst auch bestens aufgehoben", beschloss Tréville nach einem kurzen Moment des Schweigens, die Bestrafung seiner Musketiere heute Abend einmal dem Kommandanten der Nachtwache zu überlassen und sich erst am nächsten Tag auf ein gewaltiges Donnerwetter vorzubereiten, das dann noch zusätzlich über die Missetäter hereinbrechen würde - sobald er die Herren beim König entschuldigt und wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. Apropos Fuß... Das kleine Holzpferd würde ab heute wohl für immer nur drei Beine haben, zumindest folgerte es der Hauptmann so, als er nun das abgebrochene Bein an den Rumpf des Spielzeuges hielt.
"Der Kopf fehlt..."
Tréville sah von dem Spielzeug auf und es dauerte einen Augenblick, bis seine Gedanken soweit ins hier und jetzt zurückgekehrt waren, dass er die Bemerkung seines Leutnants richtig verstanden hatte. Dann jedoch nickte er knapp zu der nicht ganz so klugen Feststellung seines Untergebenen, der nach all dem Ärger wohl nur höflich sein wollte. "Er wird sich schon wiederfinden und flicken lassen. War das alles, Monsieur le lieutenant?"
"Noch nicht ganz." Das Öffnen der Dienstbotenpforte unten in der Eingangshalle unterbrach d'Artagnan allerdings, bevor er weiter erklären konnte. Hereintrat eine hagere Gestalt, die der Hauptmann sofort als Richard wiedererkannte, der sich kurz umblickte und sich auf den Weg die Treppe hinaufmachte, sobald er seinen Herrn dort stehen gesehen hatte. Mit einer knappen Geste bedeutete Tréville seinem Leutnant sich einen Moment zu gedulden, während Richard nun auf dem obersten Absatz anlangte, sich höflich verneigte und meinte: "Monsieur de Dupré hat den Brief erhalten und lässt ausrichten, dass Ihr morgen mit einer Antwort rechnen könnt, Herr."
"Danke, Richard", nahm der Hauptmann die Nachricht entgegen. Wenigstens eine gute Neuigkeit gab es also doch neben all den Ärgernissen. "Sieh nach den Kindern. Sie sollten schon schlafen", schickte Tréville den Diener nun weiter in den nächsten Stock und wandte sich dann wieder seinem Leutnant zu. "Was gibt es noch Wichtiges?"
"Dank dieser Schlägerei", nahm d'Artagnan seinen verlorenen Faden wieder auf, "und einer Nacht im Gefängnis werden wohl einige Musketiere morgen nicht pünktlich ihren Dienst versehen können. Das macht eine Änderung in der Wachliste nötig."
Natürlich, das kam auch noch hinzu - und war angesichts einer sicher schon ungeduldig auf ihren Gatten wartenden Madame de Tréville ein besonders lästiges Detail, um das sich zu kümmern der Hauptmann nun gerne seinem Untergebenen überließ. "Dann nehmt diese Änderungen vor und hängt den neuen Dienstplan aus, Leutnant. Morgen-"
Ein langgezogener, schmerzerfüllter Schrei und ein Poltern von der Treppe her unterbrach Tréville sehr abrupt und sein Leutnant folgte ihm auf den Fuße, als der Hauptmann nicht zögerte, über den Flur in die Richtung der Privaträume zu laufen. Kaum um die Ecke gebogen, erkannte Tréville auch schon die Ursache für den Lärm und drückte seinem Leutnant das Holzspielzeug in die Hände, bevor er sich an den unteren Absatz neben Richard niederkniete, der sich stöhnend den Kopf hielt. Der Hauptmann half dem Diener, sich halbwegs aufzurichten. Richard verzog das Gesicht, anscheinend hatte nicht nur sein Kopf bei dem Sturz etwas abbekommen und Tréville gab darauf acht, einer vielleicht gebrochenen Rippe durch schlechte Hilfe nicht noch eine zweite hinzuzugesellen. "Was ist geschehen?"
Oben wurden zwei Türen aufgerissen und bald schon blickten drei recht bleiche Kindergesichter über das Geländer, während Richard stöhnte: "Bin... gestolpert."
"Wahrscheinlich deswegen", mischte sich von hinten nun auch noch d'Artagnan ein, der sich nach einer kleinen, runden Kugel aus Holz bückte, die gegen die Wand gerollt war. Der Kopf der Reiterfigur.
"Geht wieder in eure Betten", schickte Tréville seine Kinder zurück in die Zimmer und ausnahmsweise gehorchten die drei einmal prompt. Francoise legte tröstend einen Arm um ihren kleinsten Bruder und strich ihm über die Wange, denn Henri-Josèphe sah schon wieder ganz den Tränen nah aus, während Armand seinerseits die beiden Geschwister mit sanfter Gewalt vor sich her zurück in das Zimmer der Brüder schob. Noch bevor die Kinder die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte sich Tréville wieder an seinen Leutnant. "Helft mir, ihn zu seiner Kammer zu bringen."
Gemeinsam zogen die beiden Musketiere Richard auf die Füße und stützten den unglücklichen Diener, der sich humpelnd zu seiner Kammer am Ende des Flures bringen ließ und dabei ein ums andere Mal einen leisen Fluch zwischen zusammengepressten Zähnen ausstieß, den er nur von seinem Herrn gelernt haben konnte. In dem kleinen Raum des Dieners angekommen, wurde Richard zu seinem Bett gebracht und einer ersten, notdürftigen Verarztung unterzogen, die darin bestand festzustellen, was sich der Lakai bei seinem Sturz getan hatte. Nach einigen Augenblicken stellte sich dabei heraus, dass sich Richard zum Glück keinerlei Knochenbrüche zugezogen zu haben schien, sich aber heftig die Rippen geprellt und den Kopf gestoßen haben musste, wie zwei allmählich größer werdende und in den interessantesten Farben schimmernde Blutergüsse bewiesen.
"Verzeiht, Monsieur", beklagte Richard sein eigenes Ungeschick und wollte sich schon wieder aufrappeln, doch Tréville hielt seinen Diener entschieden davon zurück. "Nein, du bleibst hier schön liegen und ruhst dich aus. Wenn es dir morgen noch nicht besser geht, werde ich nach einem Arzt schicken lassen, aber solange wirst du keine Dummheiten mehr anstellen."
"Aber, die Kinder..." wandte der Lakai nur halbherzig tapfer ein. "Ihr werdet schon im Rathaus erwartet und jemand muss doch auf sie aufpassen. Sonst sind sie ganz allein."
"Nein, Monsieur d'Artagnan wird auf sie Acht geben, verstanden Richard? Kein Widerwort mehr."
"Ja, Herr", schloss Richard erschöpft und erleichtert zugleich die Augen und war schon in einen erholsamen Schlaf gefallen, bevor die beiden Musketiere die Kammer verlassen und Tréville die Tür leise geschlossen hatte.
D'Artagnan sah recht beunruhigt drein und dies schien nicht damit zusammenzuhängen, dass sich einige Musketiere betrunken und einen Streit angezettelt hatten, noch brachte der unglückliche Sturz Richards den Leutnant sonderlich aus der Ruhe. Auf leisen Sohlen kehrten Hauptmann und Leutnant zurück zur Treppe und erst dort fragte Tréville, mit einen kurzen Blick hinauf in den oberen Stock: "Würdet Ihr mir diesen Gefallen erweisen? Ich werde mich sobald es möglich ist von diesem Fest verabschieden und zurückkehren. Nur lass ich die Kinder bis dahin ungern allein."
In der Miene des Leutnants spiegelte sich zweierlei wieder: Einmal das Wissen, hier nur für wenige Stunden bleiben zu müssen und damit seinem Hauptmann aushelfen zu können und andererseits die Erkenntnis, dass d'Artagnan zwar nicht wenig Erfahrung darin hatte, einige Musketiere auf Trab zu halten, aber reichlich ungeübt im Umgang mit Kindern war. Tréville war allerdings in diesem Moment der Meinung, dass sich Umgang schnell lernen ließ, dass in dieser Hinsicht sein Leutnant recht zuverlässig war und dass er selbst gleich noch einmal den Kragen zurechtgezupft bekommen würde. "Bis dahin werdet Ihr sicherlich die Wachaufstellung geändert haben. Die alte Liste liegt noch im Arbeitszimmer."
"Ja, mon capitaine", gab sich d'Artagnan schließlich geschlagen und Tréville nickte zufrieden. "Gut. Dann werde ich nun noch die Kinder jedes in sein richtiges Zimmer bringen und ihnen sagen, dass sie in guten Händen sind", schmunzelte der Hauptmann angesichts des wenig begeisterten Gesichtsausdrucks seines Leutnants und fügte noch hinzu: "Sie werden schlafen, doch mir ist sehr viel wohler, wenn ich weiß, dass jemand verlässliches anwesend ist, solange Madame und ich außer Haus sind."
"Ja, mon capitaine", wiederholte d'Artagnan und rang sich zu einem halbgequälten Lächeln durch. "Ich werde im Arbeitszimmer sein."
"Danke", nickte Tréville seinem Leutnant zu und stieg die Treppe hinauf, während sich d'Artagnan tatsächlich in Richtung des Arbeitszimmers trollte, noch immer die Einzelteile der Reiterfigur in der Hand und offensichtlich wenig begeistert darüber, womit er den Rest den Abends verbringen sollte... Der Leutnant durchquerte den verwaisten Vorraum und trat ins Arbeitszimmer ein. Mit drei Schritten hatte er den Schreibtisch erreicht und legte das kaputte Spielzeug zwischen einem Stapel von Papieren und einem Kästchen mit Schreibutensilien ab, bevor er Hut und Mantel wenig elegant über einen Stuhl warf. Etwas umständlich zündete er eine Kerze an und ließ sich dann seufzend in den Sessel des Hauptmanns sinken. Zwei oder drei Minuten saß d'Artagnan nur so da, dann jedoch machte er sich daran, auf dem Schreibtisch diejenigen Unterlagen ausfindig zu machen, welche sich mit der täglichen Routine in der Kompanie beschäftigten. Er fand die Wachaufstellung schließlich direkt unter der Soldlist wieder.
Bevor der Leutnant sich daran machte, in dem schlechten Licht nur einer einzigen, flackernden Kerzenflamme die nötigen Änderungen vorzunehmen, lauschte er in den ungewohnt stillen Raum hinein. Nichts rührte sich. Sogar die Wanduhr schien etwas leiser zu ticken als sonst und bis auf das gelegentliche Rütteln und Heulen des Windes am Fenster war nicht der geringste vertraute Laut zu hören. Es fehlte das beruhigende Knistern der Holzscheite im Kamin, die Geräusche von wartenden Menschen draußen im Vorzimmer, Schritte oder Stimmen, selbst das Kratzen eines Federkiels über ein Schriftstück. Die halbdunklen Ecken schienen näher zusammenzurücken und die Gegenstände auf dem Schreibtisch warfen tanzende Schatten, als führten sie ein heimliches Eigenleben zu einer Zeit, in der üblicherweise alle Bewohner des Hauses schliefen, denn nur dann waren die Dinge unbeobachtet.
Stirnrunzelnd verscheuchte d'Artagnan diesen letzten Gedanken und stellte dabei fest, dass er unmerklich den Atem angehalten hatte. "Was für ein Unsinn", murmelte der Leutnant leise und zuckte doch bei dem plötzlichen Knallen einer Peitsche zusammen. Keinen Augenblick später hörte man aus dem Hof eine Kutsche davon rumpeln und irgendwer schloss das große Tor hinter dem Gefährt. Dumpf vielen die Flügel ins Schloss und verschluckten das letzte Geräusch der sich entfernenden Kutsche. Das Hôtel blieb allein zurück.
Mit ein wenig erzwungener Gelassenheit griff d'Artagnan nach den Schreibutensilien und tunkte die Feder in Tinte ein. Er studierte sehr konzentriert die Wachliste und beschloss, sich nicht länger von einem reichlich einsam wirkendem Raum ablenken zu lassen. Ganz so verlassen war das Arbeitszimmer schließlich nicht und bald schon erfüllte wieder das gewohnte Kratzen eines Federkiels auf Papier die Stille.
Der Leutnant hatte gerade erst wenige Zeilen niedergeschrieben, als ein kalter Luftzug die Kerzenflamme heftig aufflackern, und beinahe verlöschen ließ. Die Tür zum Arbeitszimmer knarrte und fiel wieder zurück ins Schloss - im gleichen Moment ließ auch der Luftzug von der Kerze ab und eine kleine, in ein weißes Nachthemd gekleidete Gestalt stand unmittelbar vor dem Schreibtisch. Große Augen starrten unter einer wirren Lockenpracht zu d'Artagnan empor und schienen ihm stumm etwas mitteilen zu wollen.
Eine ganze Weile starrte der Leutnant nur zurück, bevor er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Indem er den Federkiel sehr behutsam beiseite legte und auch sonst keine allzu hastige Bewegung machte, um den kleinen Henri-Josèphe nicht noch weiter zu verunsichern, fragte er: "Ja?" mit eher gedämpfter als sanfter Stimme und musste sich ein wenig vorbeugen, um die beinahe tonlos geflüsterte Antwort des Jungen verstehen zu können, der bis auf sein Nachthemd nur noch ein paar wollene Socken an den Füßen trug. "Ich habe Durst."
Erleichtert, dass Henri-Josèphe nicht aus irgendeinem ernstlicheren Grund sein Bett verlassen hatte, zwinkerte d'Artagnan dem Jungen aufmunternd zu. "Dann wollen wir doch etwas dagegen unternehmen", erhob er sich von seinem Platz und schritt Richtung Tür des Arbeitszimmers. Fast ohne einen Laut auf seinen Strümpfen zu verursachen, folgte Henri-Josèphe dem Leutnant dicht auf und überrascht stellte d'Artagnan fest, dass er den Jungen bei der Hand genommen hatte, bevor sie beide die weitläufige Aufgangstreppe erreicht hatten.
Die Lichter waren in der Halle noch nicht gelöscht worden, wohlwissend, dass sich noch mindestens eine wache Person im Hôtel befand. Die Wirtschaftsräume befanden sich im Erdgeschoss und d'Artagnan schlug den Weg zur Küche ein, in der Hoffnung, dort schon irgendetwas trinkbares für den Jungen auftreiben zu können. Natürlich lag die Küche selbst in völligem Dunkel, darum löste der Leutnant einen Kerzenhalter von der Wand, bevor sie den Raum betraten und dort übernahm dann zielsicher Henri-Josèphe die Führung. Auf einem Tisch im hinteren Teil des Raumes stand eine Kanne und als d'Artagnan ihren Deckel hob und hineinsah, erkannte er die letzten Rest der frischen Milch von heute Morgen. Zumindest musste sie vom Morgen sein, denn die Milch roch nicht verdorben und in einem Schrank fand sich schließlich auch noch ein Becher für Henri-Josèphe, der erst jetzt die Hand des Musketiers losließ und sich an den Tisch setzte.
Der Junge trank in kleinen Schlucken und geduldig wartete d'Artagnan, bis der Becher geleert war. Es hieß, Milch beruhige und danach könne man besser schlafen. Für diese vorgerückte Stunde schien Henri-Josèphe noch sehr munter zu sein und Beine baumelnd sah er sich in der Küche um, aus der sich tagsüber die herrlichsten Düfte im ganzen Haus verteilten. "Clodine gibt uns manchmal einen Kanten frisches Brot", meinte der Junge unvermittelt, "und dazu macht sie uns eine heiße Schokolade. Wisst Ihr, wie heiße Schokolade schmeckt?"
"Nein. Wie schmeckt sie denn?" ließ sich der Leutnant auf dieses Spiel mit ein und lehnte sich gegen den Tisch.
"Bitter. Und gleichzeitig süß. Ist das nicht eigenartig? Mein Vater sagt, Clodine macht die beste heiße Schokolade auf der ganzen Welt."
"Das will ich gerne glauben", schmunzelte d'Artagnan amüsiert. "Sie hat sicherlich ein besonderes Rezept."
"Ohja!" freute sich Henri-Josèphe offensichtlich darüber, dass ihm ernsthaft zugehört wurde. "Sie mischt immer Sahne mit herein und streut etwas zerriebene Schokolade darüber. Das schmeckt soooo gut." Der Junge breitete die Arme aus, um ganz genau zu zeigen, wie gut das Getränk schmeckte, damit sich der Leutnant auch eine Vorstellung machen konnte.
"Ich fürchte, mein Bruder übertreibt, Monsieur."
Unbemerkt vom Leutnant und dem Jungen, hatte Armand die Küche betreten, selbst nur im Nachthemd, über das er einen Morgenrock gestreift hatte, und Pantoffeln, und schlängelte sich nun an den übrigen Tischen und Bänken vorbei zu den beiden Überraschten. "Solltet Ihr nicht schon längst wieder im Bett sein, statt hier zu plaudern, mon frère?"
"Ach, spiel dich nicht so auf, Armand!" gab Henri-Josèphe recht patzig zurück und d'Artagnan sah sich gezwungen, einzugreifen. "Mir scheint, die jungen Herren sollten sich beide nicht mehr hier aufhalten."
Armand streifte den Leutnant mit einem kühlen und hochmütigem Blick, hob dann aber die Schultern. "Ich wollte nur nach dem Lärm aus der Küche sehen, denn normalerweise sollte sich niemand hier aufhalten."
D'Artagnan verbiss sich die Bemerkung, was denn der tapfere Monsieur de Tréville fils nun gedachte zu unternehmen, da er doch zwei Unruhestifter in seiner Küche dingfest gemacht hatte, doch ermahnte sich der Leutnant gerade rechtzeitig, es hier nur mit einem Kind zu tun zu haben, das seine Grenzen bei einem neuen... Aufpasser - der noch dazu der Untergebene seines Vaters war - auskundschaftete. Aus diesem Grund nickte d'Artagnan dann auch nur und meinte: "Sehr Recht. Zurück in die Betten mit euch!"
Henri-Josèphe rutschte gehorsam von seinem Stuhl und auch Armand schien zu erkennen, es hier nicht mit Richard, sondern einem Mann zu tun zu haben, dessen Befehlen besser gehorcht werden sollte. Trotzdem gab sich der ältere der beiden Brüder ganz als Herr der Lage und schritt stolz erhobenen Hauptes voran, als führe er nun zwei Missetäter zurück. Der Leutnant schüttelte nur leicht den Kopf, ließ Armand jedoch gewähren, solange die Kinder nur wieder in ihre Zimmer zurückkehrten und er selbst dann diese Wachliste zu Ende bringen konnte.
Oben im Haus war es schon dunkel, darum stellte d'Artagnan den Kerzenhalter nicht zurück an seinen angestammten Platz, sondern nahm ihn mit nach oben. Henri-Josèphe trottete brav hinter seinem Bruder her und endlich im Zimmer angekommen, kletterte er zurück in sein Bett. Armand übernahm es, seinen Bruder gut zuzudecken und wandte sich dann zu dem Leutnant um, als wolle er ihn jetzt höflich, aber bestimmt verabschieden. "Was machst du hier?" fragte er allerdings eher entgeistert an d'Artagnan vorbei irgendwo in die Dunkelheit des Flures hinein.
"Ich will nur sehen, warum meine Herren Brüder um diese Zeit noch nicht schlafen, sondern durch das Haus schleichen", antwortete eine helle Stimme und Francoise trat in den Lichtkegel der Kerze. Sie begrüßte den Leutnant mit einem freundlichen Lächeln und schlüpfte an ihm vorbei ins Zimmer der Jungen. Dort sah sie sich prüfend um, als gäbe es irgendein Geheimnis zu entdecken und schließlich meinte sie entschuldigend zu d'Artagnan: "Ich hoffe, die beiden haben Euch keine Unannehmlichkeiten bereitet, Monsieur. Nur nehmen sie es mit dem Gehorsam nicht immer so genau."
"Solltest du nicht in deinem eigenen Zimmer sein?" knurrte Armand, doch seine Schwester lachte nur leise. "Eigentlich sollte ich heute Abend gar nicht hier sein, doch Mutter meinte, ich müsse auf meine Brüder aufpassen. Sie sind doch noch so klein."
"Du darfst nicht mit auf den Ball, du bist ja selbst noch zu klein", mischte sich nun noch Henri-Josèphe von seinem Bett aus ein und seine Schwester hob tadelnd eine Hand. "Ich bin auf jeden Fall alt genug, so vernünftig zu sein und zu erkennen, dass ich unsere Eltern erst auf das nächste Fest begleiten darf, während ihr beide schön behütet bei Clodine bleibt."
"Clodine ist nicht hier", fauchte Armand seine Schwester an und ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten sah sich d'Artagnan gezwungen, einen geschwisterlichen Streit zu beenden. "Jetzt ist genug! Marsch zurück in eure Betten, bevor ich eurem Vater hiervon erzählen muss. Er wird nicht sehr erfreut sein, wenn seine Kinder noch nach Mitternacht durch die Räume geistern."
Leider schienen diese Worte nicht eben sehr einschüchternd oder gar überzeugend auf die drei Angesprochenen zu wirken, sondern eher ihren Trotz zu wecken. "Wir geistern nicht durch die Räume, sondern gehen lediglich durch unser Haus", widersprach hochmütig Armand und Francoise fügte hinzu: "Wenn Henri-Josèphe doch durstig ist, warum sollte er da nicht aufstehen und sich etwas zu trinken holen dürfen?" und auch der Jüngste der Trévilles stimmte gleich seiner Schwester zu, indem er laut "Genau, genau!" rief.
D'Artagnan seufzte lautlos. Natürlich, Einigkeit der Geschwister gegen den Feind. Hatte ihr Vater nicht versprochen, die Kinder würden friedlich schlafen? Anscheinend eine weitere Kriegslist... "Bist du noch durstig, Henri-Josèphe?" fragte der Leutnant mit erzwungener Ruhe und der Achtjährige schien einen Moment angestrengt zu überlegen, sah zu seinen Geschwistern und wieder zurück zum Leutnant, bevor er dann leicht den Kopf schüttelte.
"Gut", nickte d'Artagnan und wandte sich dann an Francoise. "Mademoiselle, wie Ihr seht, müsst Ihr Euch nicht um Euren Bruder sorgen, sondern könnt beruhigt in Euer Zimmer zurückkehren. Was nun das Gehen durch Euer Haus betrifft, Armand, so werdet Ihr sicher meiner Meinung sein, dass es zu dieser nachtschlafenden Zeit für Euch keine wichtigen Dinge mehr zu erledigen gibt, um die sich nicht auch am nächsten Morgen gekümmert werden könnte. Ich werde gleich die Lichter löschen und in einem dunklen Haus gibt es ohnehin nichts interessantes zu sehen."
Einen Moment lang herrschte sprachlose Stille im Zimmer, doch gerade, als d'Artagnan erleichtert glaubte, nun endlich ein unumstößliches Machtwort gesprochen zu haben, meinte Armand ein wenig unsicher: "Ihr könnt die Lichter nicht löschen."
"Ja, Ihr dürft es nicht", fügte Francoise bekräftigend hinzu und der Leutnant hob verwundert eine Augenbraue. "Warum dürfte ich das nicht?"
"Weil es dann im Haus ganz dunkel ist", piepste Henri-Josèphe von seinem Bett her. "Es soll nicht ganz dunkel sein."
"Er hat Angst im Dunkeln", machte Armand eine wegwerfende Handbewegung, doch Francoise spöttelte: "Ihr etwa nicht, mon frère?"
"Nicht im Mindesten!" gab der Zehnjährige bestimmt zurück und beinahe wäre es zu einem weiteren Streit zwischen den Geschwistern gekommen, wenn d'Artagnan nun nicht gesagt hätte: "Aber hier im Zimmer ist es doch auch dunkel."
"Hier sind wir aber zu Zweit und ich beschütze meinen Bruder", erklärte Armand, indem er zu Henri-Josèphes Bett trat und sich auf die Kante setzte. "Aber wenn er nun noch einmal Durst bekommt? Oder wenn er aus einem anderen Grund raus muss? Dann wird er im Bett liegen bleiben bis die Sonne wieder aufgeht."
"Ja, das könnt Ihr doch nicht verantworten. Wenn Vater davon erfährt..." unterstützte Francoise ihren Bruder und d'Artagnan war einmal mehr davon überzeugt, es hier mit einem gefährlich schlauem Trio zu tun zu haben, dem er nicht recht gewachsen war. "Dann bleiben die Lichter eben an, aber nur, wenn ihr jetzt zurück unter eure Decken kriecht."
Armand hob kurz die Schultern, tat dann aber, was von ihm verlangt wurde, während Francoise zu Henri-Josèphe hinüberging und ihrem kleinen Bruder ein wenig das Haar verwuschelte. "Du musst keine Angst haben, ja?"
"Erzählst du mir noch eine Geschichte? Dann hab ich keine Angst-"
"Ich weiß nicht... Ich muss doch zurück in mein Zimmer. Aber vielleicht erzählt dir Monsieur d'Artagnan noch eine Geschichte zum Einschlafen?" Fragend, beinahe vorwurfsvoll sah Francoise zum dem Musketier, der sich endgültig geschlagen gab. "Ich bin nicht sehr gut, im Märchen erzählen."
"Oh, das macht nichts. Ich helfe Euch", klatschte Francoise vergnügt in die Hände und schlüpfte zu ihrem kleinen Bruder unter die Decke, während von der anderen Seite des Raumes ein entnervtes Seufzen Armands zu hören war. Doch schwieg der Zehnjährige, vielleicht war er selbst neugierig darauf, was der Leutnant nun zum Besten geben und ob er sich lächerlich machen würde.
Ein weiteres Mal sah sich d'Artagnan von den Kindern überrumpelt, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen und zu hoffen, dass dann endlich wieder Ruhe herrschen würde. Also stellte er die Kerze auf der Fensterbank ab und rückte sie ein Stück vor. Der Wind draußen hatte noch an Stärke gewonnen und musste eine Ritze im Holz entdeckt haben, denn zu dicht an der Glasscheibe flackerte die Flamme unruhig. Sich selbst ließ der Leutnant in einem Sessel nieder und drei Augenpaare sahen gespannt zu d'Artagnan, der sich ein wenig verlegen räusperte und dann versuchte daran zu erinnern, was ihm in seiner Kindheit selbst für Geschichten erzählt worden waren. Bis auf verschiedene Titel fiel ihm allerdings nichts ein, die Inhalte der Märchen hatten nur gemeinsam, dass eine holde Prinzessin von einem tapferen Prinzen gerettet wurde und sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage waren. Wenn sie nicht gestorben sind, hieß das. Und alle fingen mit den gleichen Worten an. "Es war einmal in einem Königreich-"
"Wann?" fragte Henri-Josèphe und seine Schwester stupste ihn an. "Das ist doch nicht wichtig. Vor langer, langer Zeit in einem Königreich."
"Welches Königreich."
"Ein Königreich weit, weit entfernt von hier."
"Oh", staunte Henri-Josèphe über das Wissen seiner Schwester und aus der Richtung von Armands Bett war ein unterdrücktes Kichern zu hören. Unbeeindruckt fuhr d'Artagnan fort: "Es war einmal vor langer, langer Zeit in einem Königreich weit, weit entfernt von hier, da lebte eine hübsche Prinzessin-"
"Wie hieß sie?" unterbrach erneut der Achtjährige nach und diesmal war es Armand, der antwortete: "Wahrscheinlich Annabelle."
"Bestimmt nicht. Eine Prinzessin heißt nicht Annabelle."
"Sicher hieß sie auch nicht Francoise!"
"Woher willst du das wissen, erzählst du die Geschichte?" zischte das Mädchen zurück. "Sie heißt bestimmt Francoise! Das ist doch so, oder Monsieur d'Artagnan?"
"Ha, wahrscheinlich hieß der Drache, der die Prinzessin entführt hat Francoise", rief Armand und seine Schwester warf ihm empörte Blicke zu. "Und der Prinz, der die Prinzessin retten wollte, hieß wahrscheinlich Armand. Aber der Drache hat ihn gefressen."
"Stimmt das?" fragte Henri-Josèphe an den Leutnant der Musketiere gewandt, der sich mit einem Schlage sehr, sehr müde fühlte. "Ja, wahrscheinlich stimmt das..."
"Dann ist es eine dumme Geschichte", befand der jüngste Tréville und seine Geschwister nickten zustimmend.
"Langweilig ist sie noch dazu", entschied Armand. "Damit beeindruckt man nur kleine Kinder."
"Heute ist doch der 31. Oktober. Geisternacht. Erzählt uns eine Gruselgeschichte!" bat Francoise und ihre Brüder nickten zustimmend.
"Eine Gruselgeschichte? Ich glaube nicht-", versuchte d'Artagnan, sich irgendwie aus seiner prekären Lage zu befreien, doch ließ man ihn erneut nicht ausreden. "Aber eine wahre Geschichte!" verlangte Armand. "Mit Spuk, Furcht, Angst und Schrecken. Leichen, Mördern und Geistern..."
"Es gibt keine Geister", wies Francoise ihren Bruder zurecht, aber diesmal war es Henri-Josèphe, der widersprach. "Natürlich gibt es Geister. Ich habe schon mal einen gesehen."
"Ach? Hat er auch mit den Ketten gerasselt und "buh!" gerufen?" spöttelte Armand und sein kleiner Bruder schüttelte bestimmt den Kopf. "Natürlich nicht! Aber er hat mich ganz traurig angeguckt."
"Henri-Josèphe hat Recht."
Schlagartig wurde es still im Zimmer und wieder richteten sich drei Augenpaare auf d'Artagnan, der sich bequem im Sessel zurücklehnte, aller Aufmerksamkeit der Kinder sicher. Draußen heulte der Wind und drückte gegen die Fensterscheibe, als wäre er verärgert darüber, dass all sein Toben nicht ausreichte, Schabernack mit der Kerzenflamme zu treiben. Der Leutnant ließ sich Zeit damit, weiterzusprechen und als er es Tat, hatte seine Stimme einen dumpfen Ton angenommen, als wollte er es vermeiden, dass man ihn hörte. "Ja, Henri-Josèphe hat einmal einen Geist gesehen. Hier im Haus, nicht wahr?"
Der Achtjährige nickte stumm und kuschelte sich näher an seine Schwester. Kein Wort fiel von Seiten der Kinder und so fuhr d'Artagnan langsam fort. "Habt Ihr Euch denn nie gewundert, was über dem zweiten Stock in diesem Haus geschieht?"
"Über uns gibt es keine weitere Etage", gab Armand zurück, doch mit unsicherer Stimme.
"Nein, natürlich nicht", grinste der Leutnant humorlos. "Nur scheint ihr auch noch nicht bemerkt zu haben, dass das Dach von der Straße aus gesehen sehr viel höher ist, als die Decke des zweiten Stockwerkes reicht."
"Das stimmt", flüsterte Francoise ihren Brüdern zu. "Es wäre genügend Raum, um noch ein weiteres Stockwerk anzufügen."
"Aber es müsste doch eine Treppe nach oben geben", vermutete Armand und sah fragend zu d'Artagnan, der lange Augenblicke zögerte, bevor er schließlich nickte. "Die gibt es auch. Am Ende dieses Flures, ihr müsstet nur nach oben blicken. Normalerweise ist die Treppe unsichtbar und versiegelt. Aber heute ist der 31. Oktober..."
"Geisternacht..." kam es wie aus einem Mund von den drei Kindern.
"Hat euer Vater euch nicht verboten, in die hinteren Teile des Hauses zu gehen?"
"Nein."
"Aber direkt erlaubt hat er es uns auch nicht", gab Armand zu bedenken. "Dort hinten sind nur ein paar ungenutzte Gästezimmer, da gibt es nichts interessantes."
"Darum gehen wir fast nie bis zum Ende des Flures", nickte Francoise und der Leutnant brummte verstehend. "Dort gibt es in der Tat nichts interessantes. Aber nun ist es schon Mitternacht und bis um ein Uhr ist Geisterstunde. Es gibt eine Etage über dieser hier. Nur wird sie nie betreten, denn dieses Hôtel war nicht immer im Besitz eurer Familie. Dort oben lagern die letzten Gegenstände der alten Bewohner. Oh doch, es gibt Geister. Und sie lieben es nicht, wenn man ihren letzten Besitz betritt. Ihr dürft hier wohnen und sie lassen euch in Ruhe, wenn ihr sie in Ruhe lasst. Nur einmal... einmal hat euer Vater, es ist schon einige Jahre her, diese Treppe gefunden. Er war neugierig, wohin sie wohl führte, denn es war der 31. Oktober, eine stürmische Herbstnacht. Alle Lichter waren schon gelöscht worden, nur euer Vater trug noch eine Kerze mit sich und er sah nach oben. Er sah die Treppe und er stieg sie hinauf..."
"Was ist dann passiert?" fragte Francoise beinahe tonlos.
"Er fand das verschwundene Stockwerk. Seit Jahren hatte es niemand mehr betreten, überall lag Staub, die Luft roch stickig. Im schwachen Licht der Kerze war nur wenig zu erkennen. Aber an diesem Abend hat Henri-Josèphe einen Geist gesehen..."
Der Achtjährige kauerte sich tiefer in seine Decke und seine Schwester strich ihm beruhigend über die Wange. D'Artagnan sah in Richtung des Fensters, ohne wirklich hinauszublicken und erzählte leise weiter: "Es war der Geist des früheren Hausherrn, der in seiner Ruhe gestört worden war. Wie euer Vater seine Familie aufschreckte, indem er dieses Stockwerk betrat, kam der Geist wie ein Schatten hinunter zur Familie des Monsieur de Tréville..."
"Was hat er getan?"
"Er hat sich umgesehen. Er wollte wissen, wer die Eindringlinge in seinem Haus sind. Und er fand Henri-Josèphe. Ein unschuldiges Kind von wenigen Jahren, dass sich in das Zimmer seines Vaters geschlichen hatte, weil er einen bösen Traum hatte und etwas Trost suchte", wandte sich der Leutnant wieder seinen Zuhörern zu. "Das war ein großes Glück. Der Geist sah blass aus, nicht wahr, Henri-Josèphe?"
Erneut nickte der Junge. "Er war ganz bleich. Ich habe ihn nicht direkt gesehen, aber sein Bild im Spiegel. Ich habe ihn angeguckt und er hat zurückgesehen. Und dann verschwand er! Papa kam ins Zimmer und dann verschwand er."
"Er ist wieder zurück in seine eigene Etage gegangen, nachdem euer Vater sie verlassen hatte. Du hast den Geist im Spiegel gefangen, Henri-Josèphe, solange, bis er zurückkehren konnte. Und darum sollt ihr heute Nacht schlafen, bis die Geisterstunde vorüber ist. Dann geschieht nichts, denn wer schläft, kann nicht bis zum Ende des Flures gehen und nach oben sehen..."
Allein das Pfeifen des Windes, der sich in einer Ritze am Fenster verfangen haben musste, war in dem Zimmer zu hören. Als erstes löste sich Armand mit einem kleinen Schaudern aus seiner Erstarrung. "Das ist doch Unsinn", behauptete er. "Woher wollt Ihr das wissen?"
"Weil ich dabei war", hob der Leutnant kurz die Schultern. "Es war ein später Abend, so wie jetzt und wie heute, so gab es auch vor einigen Jahren noch eine Änderung vorzunehmen, die nicht bis zum Morgen warten konnte. Ich habe den Hauptmann der Musketiere gesucht und ihn erst gefunden, als er die Treppe wieder hinunter kam." D'Artagnan schüttelte kurz den Kopf, als wolle er eine unangenehme Erinnerung auf diese Weise vertreiben. Wie für sich selbst murmelte er: "Ich habe Monsieur de Tréville noch nie so erschrocken gesehen und er lief fast, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Dort fand er Henri-Josèphe und es dauerte lange, bis er ihn wieder beruhigt hatte. In dieser Nacht wurden keine Änderung mehr vorgenommen..."
Das Schweigen im Zimmer dauerte an, doch schließlich erhob sich der Leutnant aus dem Sessel. "Nun, wie auch immer. Es ist schon spät, ihr solltet endlich schlafen."
"Kann Francoise heute Nacht hier bleiben?" flüsterte Henri-Josèphe und hielt die Hand seiner großen Schwester, um sie nicht gehen zu lassen. Zum ersten Mal fragte sich d'Artagnan, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, diese Schauergeschichte den Kindern zu erzählen. Tréville würde ihm den Kopf abreißen, wenn seine Kinder heute Nacht nur noch von Alpträumen geplagt wurden, also lächelte der Leutnant beruhigend. "Natürlich. Ich lasse euch die Kerze hier, sie sollte noch bis morgen früh brennen oder ihr löscht sie, wenn das Licht euch stört. Ich werde im Arbeitszimmer sein", verabschiedete sich d'Artagnan an der Tür und verließ den Raum leise.
Die Kinder lauschten, wie die Schritte des Leutnants ihn den Gang zurück nach unten und über die Treppe zum Arbeitszimmer führten. Erst, als dort die Tür schlug, sahen sich die Geschwister an. "Also, wer kommt mit, um nachzusehen?" fragte Francoise betont fröhlich und unbekümmert in die Runde hinein. "Was nachzusehen?" piepste Henri-Josèphe an ihrer Seite und Armand schnaubte ungeduldig. "Du glaubst diesen Unsinn doch nicht etwas, Francoise!"
"Natürlich glaube ich ihn nicht! Aber ich bin neugierig. Ich werde sehen, ob es da tatsächlich eine Treppe gibt." Entschlossen schwang das Mädchen die Bettdecke beiseite und stand auf. Ungewollt zog sie dabei ihren kleinsten Bruder mit, der noch immer nicht ihre Hand losgelassen hatte und sich nun an ihr Nachthemd klammerte, als könne er seine Schwester so von ihrem Plan abbringen. Sie ging allerdings unbeirrt zur Zimmertür und Henri-Josèphe folgte ihr widerstrebend. Eine Hand schon auf der Klinke, wandte sie sich Armand noch einmal zu. "Du kannst ja hier bleiben, wenn du zuviel Angst hast."
"Pah!" rief Armand und schwang die Beine aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Pantoffel und trat dann an seiner Schwester vorbei als erstes hinaus auf den dunklen Flur. Das Licht von der Eingangshalle war hier nur noch schwach zu sehen und es dauerte einen Augenblick, bis sich die Augen des Jungen an die schlechte Sicht gewöhnt hatten. Er lauschte in den Gang hinein, doch alles blieb still. Hinter ihm standen seine Geschwister und warteten darauf, dass er losgehen würde. "Einen Moment", flüsterte er und kehrte ins Zimmer zurück. Als er wieder herauskam, hatte er den Kerzenhalter in der Hand und leuchtete den Flur hinunter.
"Es sieht alles normal aus", flüsterte Francoise hinter ihm und Armand beschloss, mutig voranzuschreiten, statt zu antworten. Seine Geschwister folgten ihm dicht auf, Henri-Josèphe an der Hand seiner großen Schwester, den Flur hinunter, der sich lang und länger nach hinten erstreckte. Mit dem Kerzenlicht konnten die Kinder nur zwei oder drei Schritte weit sehen und der sonst so vertraute Gang schien etwas bedrohliches zu gewinnen, während die Geschwister von Tür zu Tür an den Gästezimmern vorbeischlichen, hinter denen ebenfalls nichts anders als stille Dunkelheit lauerte.
"Hier ist er zu Ende...", hielt Armand plötzlich an und deutete nach vorne, wo das Kerzenlicht auf eine holzvertäfelte Wand fiel. Seine Schwester legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn kurz. "Oben also..." flüsterte sie und Henri-Josèphe wimmerte leise.
"Sei kein Hasenfuß!" fuhr Armand seinen Bruder an, doch schlug auch ihm das Herz nicht allein vor Wut bis zum Hals. "Dann schau doch!" schimpfte Henri-Josèphe zurück und vergaß für einen Moment seine Ängstlichkeit.
"Ja, das werde ich auch tun", gab Armand zurück und starrte weiterhin die Wand an.
"Du musst die Kerze etwas höher halten, ich kann nichts sehen", meinte Francoise und der Zehnjährige zuckte erschrocken zusammen. Er wandte sich zu seiner Schwester um, die angestrengt nach oben an die Decke starrte und folgte ihrem Blick. Tatsächlich, es war zu dunkel.
"Ob vielleicht ein Uhr schon vorbei ist?" fragte Henri-Josèphe gedankenverloren und bekam keine Antwort, denn Armand hatte den Kerzenleuchter mit weit ausgestrecktem Arm über seinen Kopf gehoben und musterte interessiert die Decke.
"Ich glaube nicht..." murmelte Francoise und nahm ihrem Bruder das Licht ab. "Bitte halte das, Henri", drückte sie dem Bruder die Kerze in die Hand. "Ich mache Räuberleiter."
Armand nickte und stellte einen Fuß in die gefalteten Hände seiner Schwester. Mit ein wenig Schwung und etwas Hau-Ruck wurde er in die Höhe gestemmt. "Du musst das Licht höher halten, Henri-Josèphe, ich kann nichts erkennen."
Der Achtjährige tat, wie ihm geheißen und starrte selbst nach oben, doch mehr, als das sein großer Bruder an der Deckte irgendetwas herumfingerte, konnte er nicht sehen. Nach einigen Augenblicken schließlich rief Armand: "Ich hab es!" und zog mit einem kräftigen Ruck etwas aus der Decke. Für Francoise war dieser Ruck jedoch eine Anstrengung zuviel gewesen und ihr Hände lösten sich. Mit einem erschrockenen Schrei fiel Armand nach unten und riß seine Geschwister gleich mit sich zu Boden, während über ihnen die Decke rumpelte und dann einstürzte.
Erst nach einigen, atemlosen Augenblicken wagte es Armand, wieder aufzusehen. Die Kerze war ausgegangen und wenn es auch nicht stockduster war, so brauchte es doch eine ganze Weile, bis der Junge soweit die Umrisse erkennen konnte, dass er beruhigt aufatmete. "Alles in Ordnung", raunte er seinen Geschwistern zu, die sich auch nach und nach wieder aufrappelten. Armand lauschte ein weiteres Mal in den Gang hinein, doch anscheinend hatte d'Artagnan den Lärm nicht gehört, zumindest eilten keine Schritte durch das Haus zu den Kindern. "Es war nur die Treppe."
Erst jetzt wurde ihm klar, was er gesagt hatte. Sie hatten tatsächlich die Treppe gefunden! Nunja, vielmehr war es eine Leiter, die sich ausgeklappt hatte, nachdem Armand den Riegel von der Decke gelöst hatte.
"Wir haben sie tatsächlich gefunden", flüsterte Francoise begeistert und umarmte spontan den kleinen Henri-Josèphe, der nicht sonderlich glücklich dreinsah. "Was ist, wenn jetzt der Geist wiederkommt und dieses Mal nicht verschwindet?"
"Red nicht so dumm daher", ermahnte Armand ihn. "Es gibt keine Geister und was du damals gesehen hast, das hast du dir nur eingebildet nach deinem Alptraum. Ich hätte ihn ja auch sehen müssen und Francoise auch."
"Aber ich hatte ihn doch im Spiegel gefangen", erwiderte Henri-Josèphe unsicher und sein Bruder schüttelte den Kopf. "Es war nur eine Geschichte, ein Schauermärchen. Und nicht einmal eine besonders gute."
"Kommt ihr beiden nun, oder unterhaltet ihr euch noch den Rest der Nacht?" fragte Francoise ungeduldig von oben. Sie hatte bereits ein gutes Stück der Leiter erklommen und es fehlten nur noch zwei Sprossen, bis sie den Kopf durch die Öffnung in der Decke stecken konnte.
"Siehst du etwas?"
"Heute ist zwar eine stürmische, aber wolkenlose Nacht, Armand. Der Mond scheint hier heller in den Raum, als es eine Kerze könnte."
"Klettere weiter, ich will es auch sehen!"
"Bitte, geht nicht da rauf", flehte Henri-Josèphe leise von unten, als Francoise sich an den Kanten hochzog und auf den Rand setzte. "Hier ist nichts gefährliches, Henri. Nur ein muffiges, altes Dachgeschoss voller Gerümpel. Aber du kannst ja Wache halten."
Der Achtjährige nickte langsam und kauerte sich dann gegen die Flurwand, während nun auch noch sein Bruder die Leiter erklomm und über dem Rand der Öffnung verschwand.
Armand staunte nicht schlecht, als er sich in dem weitläufigem Raum wiederfand. "Sind wir direkt unter dem Dach?"
"Es scheint so", merkte Francoise an, indem sie noch ein paar Schritte weiter ging und sich staunend umsah. "So würde es wohl bei uns unten aussehen, wenn wir keine Wände hätten. Ist das groß!"
"Nur, das wir keine schrägen Fenster haben", scherzte Armand und fröstelte etwas. "Es ist kalt hier oben. Und es zieht."
"Hier kann wirklich schon lange niemand mehr gewesen sein", gab Francoise leise zurück und wischte mit einem Finger über einen rundlichen Gegenstand, von dem sie nicht genau sagen konnte, was er darstellen sollte. Dunkler, schmieriger Staub blieb auf ihrer Fingerkuppe zurück und das Mädchen verzog angewidert das Gesicht. "Das ist wirklich nur eine große Rumpelkammer."
"Was wohl dahinten unter den Tüchern ist?" lief Armand schon in die Richtung, in die er gedeutet hatte und etwas langsamer folgte ihm seine Schwester. "Kommt dir der Dachboden nicht auch viel zu groß vor?" fragte sie ihren Bruder, als sie ihn eingeholt hatte, doch der hob nur kurz die Schultern. "Das bildest du dir ein. Hilf mir lieber."
Gemeinsam zogen und zerrten die Geschwister an den weißen Tüchern, die, wahrscheinlich zum Schutz vor dem allgegenwärtigen Staub über die Gegenstände gelegt worden waren. Dreck wirbelte auf und die Kinder husteten unterdrückt, während sie Tuch um Tuch herunterzogen und jedes Mal neue Schätze entdeckten. Am Ende traten sie beide staunend einen Schritt zurück.
"Damit könnte man eine Wohnung einrichten", flüsterte Armand und betrachtete Sessel, Sofas, Kerzenhalter, Bilder, Spiegel, Schränke, Regale, andere alte Gegenstände und Tische, die unter den Tüchern zum Vorschein gekommen waren.
"Vielleicht sind das die Dinge, die den Leuten gehört haben, die vor uns hier gewohnt haben", überlegte Francoise und schritt die lange Reihe der Dinge hinunter. Vor einem Spiegel blieb sie schließlich stehen. Trotz der Tücher war das Glas milchig vor Staub und mit einer Hand wischte Francoise über die Fläche. Mit einem Aufschrei sprang sie zurück und stolperte ein paar Schritte rückwärts. "Da ist was, im Spiegel!"
"Was?" lief Armand zu seiner Schwester, totenbleich im Gesicht.
"Na dort, im Spiegel! Ein Gesicht, ganz bleich und-"
Ängstlich klammerte sich Francoise an den Arm ihres Bruders, der sich langsam, Schritt für Schritt, zwischen Neugier und Furcht dem Spiegel näherte. Armand streckte zitternd die Finger aus und berührte das kalte Glas nur mit den Kuppen. Vorsichtig und mit klopfendem Herzen wischte er ein wenig Staub fort, dann ein wenig mehr... und schließlich trat er an den "Spiegel" heran und wischte mit dem Hemdsärmel den restlichen Staub ab. Anschließend wandte er sich zu seiner Schwester um und grinste triumphierend. "Das ist kein Spiegel. Das ist ein Portrait hinter Glas."
"Achja? Und warum haben sich seine Augen gerade bewegt und starren dich an?"
Wie von der Schlange gebissen sprang Armand einen Satz nach vorne und wirbelte herum. Einen Augenblick später schoss ihm auch schon das Blut ins Gesicht, als er das glockenhelle, vergnügte Lachen seiner Schwester hörte. "Reingefallen."
Armand kam allerdings nicht dazu, irgendetwas zu erwidern, denn von der Luke auf den Dachboden war plötzlich ein leises Wimmern zu hören und eine helle Stimme rief: "Francoise! Armand!"
"Henri, wir sind hier!" rief Francoise zurück und lief in die Richtung, aus der sie die Stimme ihres Bruder gehört hatte. Aus dem Boden schob sich ein braungelockter Kopf mit schreckensgeweiteten Augen und auch Armand nahm nun die Beine in die Hand, um zu seinem Bruder zu gelangen. Gemeinsam zogen er und Francoise Henri-Josèphe von der Leiter auf den Boden und tröstend strich ihm die Schwester über die Wange. "Was ist denn nur, Henri?"
"Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesehen..." stammelte der Achtjährige und vergrub sein Gesicht in Francoise Nachthemd. "Wen denn gesehen?"
"Den Geist. Den Geist von damals. Er ist wieder da! Bitte, kommt zurück."
"Wo willst du einen Geist gesehen haben?" fragte Armand und versuchte, seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen.
"Na unten, unten im Gang. Er kam ganz dicht heran und ich habe mich an die Wand gedrückt. Es war dunkel und er hat mich nicht gesehen, aber ich habe ihn gesehen. Er ging vorbei. Jetzt ist er bestimmt in unseren Zimmern. Und dann wird er weitergehen. Kommt wieder herunter", schluchzte Henri-Josèphe völlig aufgelöst und Francoise wiegte ihn ein wenig. "Ja, wir kommen wieder. Wir gehen nach unten, in Ordnung? Armand klettert zuerst, dann du und dann komme ich nach, einverstanden?"
Der Achtjährige nickte ein wenig und Armand tat, was seine Schwester bestimmt hatte. Flink war er die Leiter hinuntergeklettert und half seinem Bruder, Sprosse für Sprosse nach unten zu gelangen, bis auch schließlich seine Schwester nachkam.
"Wir sollten die Luke wieder schließen", meinte Francoise, doch es blieb bei dem Vorhaben. Selbst mit vereinten Kräften schafften es die Geschwister nicht, die Leiter soweit nach oben zu stemmen, dass sich der Weg auf den Dachboden wieder schließen ließ.
"Oh nein, oh nein, oh nein", stammelte Henri-Josèphe. "Was machen wir jetzt nur? Der Geist wird nicht verschwinden, wenn die Luke offen bleibt."
"Dann müssen wir eben Monsieur d'Artagnan bitten, sie zu schließen", tröstete Francoise ihren Bruder. "Wir bekommen schon keinen Ärger, weil wir die Betten verlassen haben, wenn wir es ihm erklären."
Ohne die Antwort ihrer Brüder abzuwarten, ging Francoise den Gang hinunter und hastig folgten ihr Armand und Henri-Josèphe, die offensichtlich nicht allein bei der Leiter zurückbleiben wollten. "Sei vorsichtig, Francoise", flüsterte der Jüngste seiner Schwester zu. "Wir müssen an unseren Zimmern vorbei, vielleicht ist der Geist noch dort drinnen."
"Hoffen wir, dass er dort drinnen ist, dann wissen wir, wo er ist."
Fast wäre Armand, kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, in Francoise hineingelaufen, die urplötzlich angehalten hatte und sich nun auf den Boden kauerte. Ihre Brüder taten es ihr sofort nach und mit einigem Entsetzen musste Armand erkennen, was Francoise so erschreckt hatte. Da vorne war der Geist! Er kam gerade aus dem Zimmer der Brüder, bleich, schwankend und mit einem grauenvollen Stöhnen. Vielleicht lag es an der Dunkelheit im Gang, aber mehr als eine umrisshafte Gestalt konnte Armand nicht erkennen, die den Gang durchquerte und dann ins Zimmer von Francoise eintrat.
"Jetzt, jetzt, los, beeilt euch!" Francoise war schon wieder auf die Füße gesprungen und lief hastig den Gang hinunter, an ihrer Zimmertür vorbei und weiter, bis zur Treppe. Dabei zog sie Henri-Josèphe an der Hand einfach mit sich und Armand folgte ihr so schnell es ging. Eine Tür schlug hinter den Kindern und wieder war dieses Stöhnen zu hören, vielleicht Worte, vielleicht ein enttäuschter Schrei? Waren das humpelnde Schritte, die sie verfolgten? Keiner der Geschwister wollte zurücksehen, um sich zu vergewissern, stattdessen liefen sie weiter und liefen. Die Treppe hinunter in den ersten Stock, vorbei an dem Treppenaufgang der Eingangshalle und geradewegs bis zur Tür des Vorzimmers. Atemlos riss Francoise sie auf und stolperte weiter bis zum Eingang des Arbeitszimmers.
Armand drängte seine Schwester geradezu hinein in den Raum - der verlassen war. Die Kerze brannte noch, ein Federkiel, an dessen Spitze noch Tinte glänzte, lag schreibbereit neben einem Blatt Papier. Nur vom Leutnant war keine Spur. Stattdessen flackerte an der Wand der grauenvolle Schatten eines kopflosen Reiters. Francoise stieß einen spitzen Schrei aus, als sie den Schatten sah und hielt ihrem kleinsten Bruder die Hände vor die Augen. Armand drehte sich langsam in die Richtung, in der sich die Ursache für diesen Schatten befinden musste. Erleichtert atmete er auf, als er ihn auf dem Schreibtisch entdeckte. "Es ist nur das Spielzeug, nur unser kaputtes Spielzeug", beruhigte er Francoise und Henri-Josèphe.
Etwas polterte draußen vor dem Vorzimmer und knarrend öffnete sich dort die Tür. Ohne weiter zu überlegen, liefen die Kinder zum rückwärtigen Teil des Arbeitszimmers, wo hinter einem Wandteppich ein geheimer Ausgang verborgen war. Armand öffnete diese Tür und ließ Francoise und Henri-Josèphe zuerst in den Gang dahinter laufen. Er verschwendete keine Zeit darauf, zurückzusehen, als die Klinke zum Arbeitszimmer heruntergedrückt wurde, sondern warf stattdessen die eigene Tür hinter sich ins Schloss. Gemeinsam hasteten die Kinder weiter durch den dunklen Gang, von dem sie wussten, dass er sie direkt ins Schlafzimmer ihres Vaters führen würde.
So war es dann auch und hinter einem weiteren Wandteppich stolperten die Geschwister in das Schlafzimmer. Armand bedeutete seiner Schwester, ihm zu helfen, die Kommode vor die Tür zu schieben, doch so sehr die Kinder auch zerrten, sie konnten das schwere Möbel nicht einen Deut bewegen. "Dann verstecken wir uns", keuchte Francoise ein wenig atemlos und deutete auf das Bett. "Hier drunter."
Der Überwurf hing bis zum Boden und als Francoise ihn hoch hob, konnten ihre Brüder bequem unter das Bett kriechen. Sie selbst folgte in dem Moment, als humpelnde Schritte vor der eigentlichen Zimmertüre laut wurden und plötzlich erstarben. Langsam schwang die Tür auf und unter der Ritze zwischen Überhang und Boden konnten die Kinder nackte Füße sehen, die in den Raum traten. Henri-Josèphe drückte sich an seine Schwester, die beschützend einen Arm um ihren Bruder legte. Keines der Kinder, wagte zu atmen. Armand drehte ein wenig den Kopf und sein Blick fiel auf den großen Spiegel im Zimmer. Ein Gesicht war darin. Bleich und gespenstisch. Erschrocken sah Armand fort, doch es war zu spät. Das Gespenst hatte ihn ebenfalls entdeckt.
Mit zwei humpelnden Schritten war es am Bett heran und zog den Überhang fort. Erschrocken kreischten die Kinder auf und krochen in die andere Richtung davon. Der Geist war zu langsam, um sie packen zu können und so flüchteten die Kinder auf die noch offenstehende Tür zu. Armand lief voran und wagte es, einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Hätte er es doch besser nicht getan, denn so bemerkte er nicht, dass sich in diesem Moment eine weitere Gestalt in die Tür geschoben hatte, gegen die der Junge nun geradewegs prallte. Sein Schwung reichte aus, die Gestalt ein wenig zurückweichen zu lassen, ohne dass sie stolperte. Allerdings hörte Armand sie noch einen deftigen Fluch rufen, bevor seine Schwester und Henri-Josèphe auf ebenso abrupte Weise angehalten wurden, indem sie in ihren Bruder hineinstolperten.
"Mordioux, was macht ihr hier, Kinder?"
Mit einer Erleichterung, von der Armand nicht gedacht hätte, dass er sie einmal so empfinden würde, erkannte er in der Gestalt den Leutnant der Musketiere wieder, der reichlich verärgert die Geschwister musterte. Henri-Josèphe versteckte sich hinter seiner Schwester und rief: "Das Gespenst, das Gespenst! Es ist wieder da, es ist im Zimmer!"
D'Artagnan runzelte verwundert die Stirn und warf dann einen Blick auf das angebliche Gespenst, das humpelnd gerade den Türrahmen erreichte. "Meinst du vielleicht Richard, Henri-Josèphe?" fragte der Leutnant mit einem kleinen Lächeln und deutete auf den armen Diener, der sich erschöpft in den Türrahmen lehnte.
"Richard?" riefen die Kinder wie aus einem Munde und wandten sich zu dem Lakai um, der eine leichte Verneigung andeutete. "Ich soll ein Gespenst sein?"
"Aber wir haben es gesehen!" beharrte Henri-Josèphe. "Ich habe es auf dem Gang gesehen und dann kam es aus unserem Zimmer und ist in Francoises gegangen. Bis zum Arbeitszimmer hat es uns verfolgt!"
"Auf dem Gang, das war ich", nickte der Diener. Ich wollte nachsehen, was der Lärm zu bedeuten hatte und ich entdeckte die Leiter. Nur leider, ich kann im Augenblick nicht klettern, also bin ich zurückgegangen und habe dabei einen Blick in eure Zimmer geworfen. Ihr wart nicht da, also vermutete ich euch auf dem Dachboden. Aber dann seid ihr an mir vorbeigelaufen und ich bin euch gefolgt. Im Arbeitszimmer war ich hingegen nicht, sondern bin hierher gekommen, weil ich doch weiß, wo sich Kinder verstecken, wenn sie Angst haben: Bei ihren Eltern."
"Im Arbeitszimmer, das werde dann ich wohl gewesen sein. Ich hatte es kurz verlassen, um zu sehen, ob ihr auch wirklich gehorcht und in euren Betten bleibt. Allerdings musste ich nicht bis dorthin gehen, denn ich hörte einen spitzen Schrei und kam zurück. Als ich eintrat, war niemand da, doch ich hörte euch in diesem Zimmer toben und bin geradewegs hierher gekommen", schloss sich der Leutnant an und schüttelte leicht den Kopf. "Hier gibt es keine Gespenster, das war nur eine Geschichte. Kommt, Richard hatte heute schon genug Anstrengung und ihm ist ebenso befohlen worden, im Bett zu bleiben."
Die Kinder nickten stumm. Trotz der Erklärung schien ihnen die Angst noch in den Knochen zu stecken und das schlechte Gewissen des Leutnants regte sich einmal mehr. "Ich werde die Luke zum Dachboden schließen, Richard bleibt solange bei euch und passt auf."
"Aber Richard ist doch verletzt", piepste Henri-Josèphe hinter dem Rücken seiner Schwester. D'Artagnan seufzte leise. "Dann gehen wir alle zusammen und schließen die Luke, einverstanden?"
"Ich will nicht dahin zurück. Ich will nicht noch einmal auf den Gang", lehnte Henri-Josèphe vehement diesen Vorschlag ab und ohne ein Wort hinzuzufügen, schienen ihm seine Geschwister zuzustimmen, indem sie näher zusammenrückten.
"Eure Zimmer befinden sich auf dem Gang", meinte d'Artagnan ein wenig hilflos, doch stieß er nur auf taube Ohren.
"Das ist mir ganz gleichgültig! Heute Nacht gehe ich dort nicht mehr hin, nein, nein, nein! Und Richard kann nicht auf uns aufpassen, er ist krank!"
"Nun, da kann man wohl nichts machen", hob Richard beschwichtigend eine Hand und rückte im Türrahmen etwas beiseite, "und mir scheint, ihr Kinder habt bereits eine Lösung gefunden..."
*~*~*~*
Wie es zu erwarten gewesen war, hatten sich die Minuten auf dem Fest endlos dahingezogen und zu Stunden ausgedehnt. Dergestalt schien es Monsieur de Tréville, als die Kutsche endlich wieder auf den Hof des Hôtels rollte, als wäre er nicht für wenige Stunden, sondern gleich ganze Tage von zu Hause fort gewesen. Endlich kamen die Pferde zum Stehen.
Seine Frau schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, als er ihr aus der Kutsche half, doch brachte er selbst nicht mehr als ein müdes Grinsen zustande. Natürlich war das Gesprächsthema auf dem Fest heute das absolut unmögliche, raufboldenhafte Benehmen trunksüchtiger Soldaten gewesen und besonders ein gewisser Baron de Jallabert gab Spitze um Spitze seiner wenig amüsanten Bemerkungen von sich. Das würde Morgen bei seiner Majestät noch heiter werden...
Während Madame de Tréville bereits ins Haus trat, wartete ihr Gatte noch, bis die Pferde abgeschirrt waren, bevor er selbst das Hôtel betrat. Mit einigem Bedauern stellte er fest, während er die Stufen der Aufgangstreppe hinaufstieg, dass ‚Morgen' bereits ‚Heute' war und nur noch wenige Stunden den Tag von der Nacht trennten. Dementsprechend wenig froh gestimmt, schlug der Hauptmann den Weg zum Arbeitszimmer ein, um seinen Leutnant nach Hause zu schicken. Im Haus war alles still und friedlich, was darauf hindeutete, dass die Kinder brav schliefen und d'Artagnan gut auf sie aufgepasst hatte.
Darum beunruhigte es Tréville auch nicht wenig, als er sein Arbeitszimmer verwaist und eine unfertige Wachliste auf seinem Schreibtisch vorfand. Stirnrunzelnd begab sich der Hauptmann zu den Zimmern seiner Kinder, doch auch sie waren verlassen. War Tréville eben noch so müde gewesen, dass er auf der Stelle hätte einschlafen mögen, war er nun mit einem Schlage wieder wach genug, sich reichlich Sorgen um seine Kinder zu machen und mit eiligen Schritten begab er sich zu seinem eigenem Zimmer. Er riss die Tür beinahe auf und sah sich hastig um.
Erleichtert atmete Tréville auf, als er die Kinder in sein Bett gekuschelt entdeckte, Henri-Josèphe in der Mitte und jeweils einen Arm von Armand und Francoise um sich geschlungen. Sie schliefen friedlich - auch welche Weise es auch immer sie angestellt hatten, d'Artagnan, der es sich in einem Sessel in der Ecke bequem gemacht hatte und zufrieden vor sich hinschnarchte, zu überreden, heute Nacht ihrem Vater das Bett zu stehlen.
Mit einem leisen Lächeln und einem belustigtem Kopfschütteln betrachtete Tréville die friedliche Szene noch etwas länger. Bevor er sich entschließen konnte, seinen Leutnant zu wecken und ihn anzuweisen, ihm zu helfen die Kinder in ihre Zimmer zu tragen, legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. "Lasst sie schlafen, sie scheinen heute alle einen anstrengenden Tag hinter sich zu haben", flüsterte Madame de Tréville ihrem Mann ins Ohr, der lausbubenfrech grinste und zurückflüsterte: "Und wo soll ich heute schlafen?"
Anne lächelte nur vielsagend und Arnaud schloss leise die Tür.
Ende
Kapitel Die verlorenen Kinder von St. Jean von
Mit vielem Dank an Stella, für die Korrekturen und Verbessungen. Danke, dass du Geduld mit meiner Rechtschreibung hast!
Die verlorenen Kinder von St. JeanMonsieur de Tréville, Capitaine der Musketiere, war es gewohnt dass allerlei Geschichten sein Vorzimmer erfüllten. Wenn Porthos nicht zum Anfang einer Woche eine neue Weibergeschichte zu erzählen hatte, dann war er krank; genauso oft hatte Aramis eine neue, spitzzüngige Geschichte über die neuesten Sittenlosigkeiten im Palais Cardinal zur Hand, oder er stand wieder einmal kurz davor ins Kloster einzutreten, und wenn d’Alencourt nicht eine neue Unerhörtheit vom Hofe hatte, dann musste eine mittlere Tragödie passiert sein. Doch, dass sich eine solche Ansammlung von Musketieren im Vorzimmer ballte um anscheinend einer Geschichte zu lauschen, die Leutnant Silvanus zum besten gab, war mehr ans ungewöhnlich.
Es hätte sehr Trévilles Temperament entsprochen einfach dazwischen zu fahren und dem Leutnant überdeutlich klar zu machen, dass sich dieses Verhalten nicht für einen Offizier geziemte. Aber im selben Moment kam ihm mit diesem Gedanken eine Erinnerung, die ihn entscheiden ließ, erst einmal festzustellen was vorging und zur Not diese Rede unter vier Augen zu halten, ohne dass die Truppe es mitbekam. Zu deutlich war da die Erinnerung an einen Fähnrich der französischen Garden dem diese Rede von dem nur zwei Jahre älteren Leutnant in einer sehr großbrüderlichen Manier gehalten worden war und die Tréville immer noch ein Lächeln entlockte. Aus dem Vorzimmer hörte er eben Aramis Stimme. „Ihr könnt mir Glauben, Silvanus, es war ein kleines Kind, das weinte. Mitten in der Nacht auf dem Friedhof von St. Jean!“
„Ich glaube Euch auch, Aramis.“ , erwiderte Silvanus ruhig. „Man hört es des öfteren in dieser Jahreszeit.“ Und er klang nicht im mindesten überrascht.
„In dieser Jahreszeit?“ erkundigte sich Aramis. „Wollt Ihr damit sagen, dass dort etwas umgeht?“ Auch ohne ihn zu sehen, wusste Tréville, dass Aramis sich jetzt bekreuzigte. Er öffnete die Tür des Audienzzimmers gerade so weit, dass er sehen konnte was vorging, ohne selbst sichtbar zu sein.
„Allerdings.“ , erwiderte Silvanus sehr ernst. „Ihr werdet wohl den armen kleinen Jean de Salvion gehört haben. Sagt nur , Ihr habt noch nie davon gehört?“ Er schaute die ganze Runde an. „Der arme Junge war der Sohn einer guten Hugenottin und wurde am Tag vor der Pariser Bluthochzeit geboren. Er war nicht getauft, als das Gemetzel begann. Seine arme Mutter floh vor den mörderischen Katholiken in eine Gruft des Friedhofs von St. Jean und versteckte sich da. Bis zum Abend verbarg sie sich, und dann, nachdem es stundenlang still gewesen war, wagte sie es kurz vor Mitternacht die Gruft zu verlassen. Doch leider lief sie einem Mob von Katholiken in die Hände. Sie entrissen ihr das Kind und zerschmetterten den kleinen Körper an einem Grabstein, bevor sie über die arme Mutter herfielen.“ Entsetztes Schweigen herrschte unter den Zuhörern. Silvanus schwieg für einen Moment. „Und noch heute sucht die Seele des gemordeten Knaben den Friedhof heim, den Ort wo er gemeuchelt wurde, ehe sein Leben wirklich begonnen hatte.“
Nicht wenige unter den Männern bekreuzigten sich hastig und sicher hätten sie den Leutnant noch mit weiteren Fragen bestürmt, doch in dem Moment betrat ein Kardinalist das Vorzimmer und von einem Moment auf den nächsten waren die Musketiere schon kampfbereit. Doch Leutnant Claude de Jussac brachte nur ein Schreiben seines Hauptmannes für Capitaine de Tréville und ging dann wieder, nicht ohne einige Worte mit Silvanus zu wechseln. „Ihr habt nicht vergessen, was heute für ein Tag ist?“
Silvanus lächelte leicht. „Natürlich nicht, Leutnant Jussac. Wir schreiben den letzten Tag des Oktobers und morgen ist Allerheiligen.“ Niemand machte sich um diesen Wortwechsel besondere Gedanken.
***
Monsieur de Tréville war selten so spät unterwegs, doch eine lange Diskussion mit seinem Schwager, dem Hauptmann der französischen Garden, war länger gegangen als er erwartet hatte und so schlug die Glocke bereits Mitternacht, als er eine Straße unweit des Friedhofes von St. Jean durchquerte (überquerte). Eigentlich hätte er dem keine weitere Beachtung geschenkt, wären da nicht zwei Männer gewesen, die in einigem Abstand in Richtung Friedhof gingen. In der Stille der Nacht konnte er nicht umhin einen Teil der Konversation der beiden mitzubekommen und zu erkennen, dass es sich bei ihnen; um Jussac und Silvanus handelte. „Wofür ist es dieses Mal eigentlich?“, hörte er Silvanus gerade sagen.
Jussac lachte leise. „Außer, damit sie uns nicht zu bald Capitaines machen? Nun, fangen wir doch mal bei diesem elenden Gascognerbengel an, den dein Hauptmann protegiert, nehmen wir die Schande die ich erlitt, besiegt vor meinen Herrn zu treten und natürlich immer noch dass du eine schlechte Entschuldigung für einen Leutnant bist.“ Die letzten Worte waren eher im Scherz gesprochen schien es.
Silvanus nickte. „Dann also nicht viel neues und ich werde darauf verzichten, dir deine geistigen und sonstigen Mängel noch einmal aufzuzählen.“ Auch diese Worte waren nicht ohne Humor gesprochen.
Tréville folgte den beiden und wunderte sich nicht im geringsten, dass die beiden auf das Friedhofstor zuhielten. Jussac schüttelte den Kopf. „Irgendwann wird uns jemand auf diese kleine Geschichte kommen. War es gut, dass du die Legende vom kleinen Jean in den Kreisen deiner Kameraden verbreitet hast?.“
Silvanus hob andeutungsweise die Schultern. „Sagen wir einmal so: Aus Gründen, die viel näher liegen, ist die Geschichte des kleinen Jean mir immer sehr gegenwärtig gewesen. Und sie hatten schon genug gehört. Nebenbei mag es sein, dass die Geliebte des einen oder anderen von ihnen irgendwann dieses Weges bedarf.“ Im nächsten Moment wirbelte er herum; er hatte Trévilles Schritt gehört.
Der Hauptmann musterte die beiden Leutnants nicht ohne Spott. „Ich nehme nicht an, dass die Herren hier sind(,) um für die Seele des armen kleinen Jean de Salvion zu beten? Silvanus Ihr solltet Euch schämen, diese Geschichte als Deckung für – “, er unterbrach sich und deutete fast erschrocken auf die Seitenmauer des Friedhofes.
Jussac und Silvanus folgten mit den Augen der Geste und sahen es ebenfalls. Ein weißes Licht schien auf der Friedhofsmauer, direkt über dem Grab von Jean de Salvion. Es war keine Kerze oder Laterne, sondern sah eher aus wie ein eingefangenes Mondlicht, das dort schien. Jussac bekreuzigte sich hastig. „Diese kleine Seele hat wahrscheinlich wirklich Gebete nötig.“ , murmelte er.
Tréville schüttelte den Kopf. „Unsinn.“ , erwiderte er scharf. „Da war nie ein Licht, und wenn man ein Kind hat schreien hören – dann, weil da auch eines war.“ fügte er knapp hinzu. Mit raschen Schritten ging er auf das Grab zu. Nun zwangen ihm die Grabanlagen auf dem Friedhof einen verwinkelten Weg auf. Als er aufsah, konnte er das Licht nicht mehr sehen. „Silvanus! Könnt Ihr es noch sehen?“ , rief er zu dem wartenden Leutnant am Tor.
„Ist noch da!“ , hörte er Jussacs Stimme antworten. Silvanus schien immer noch wie gelähmt zu sein, denn von ihm war nichts zu hören.
Tréville ging weiter und und als er ein weiteres Grab umrundet hatte, war das Licht wieder da. Langsam wurde die Sache dem Gascogner die Sache zu dumm. Es mochte sich nicht gehören über Gräber hinweg zu eilen , aber er war der Spielchen müde. Geraden Schrittes überquerte er die Gräber; das Licht war stetig zu sehen. Ein weißes Licht über dem Grab des vor so langer Zeit ermordeten Kindes. Als Tréville die Friedhofsmauer, nahe der das Grab lag erreichte, streckte er die Hand aus um nach dem Licht zu tasten und bekam zu seiner eigenen Überraschung etwas Kaltes zu fassen. Im ersten Moment erschrak er so sehr, dass er beinahe losgelassen hätte, doch dann begriff er, dass dies keine Hand aus jenem Grab war, sondern ein leeres Parfümfläschchen aus klarem Glas, in dem sich das Mondlicht gebrochen hatte. Beinahe hätte er gelacht, als er begriff wie simpel dieser Spuk gewesen war, doch eine Bewegung in der Dunkelheit hinderte ihn daran. Eine Person hastete eilige davon, in Richtung des Friedhofstors, Tréville folgte der Gestalt – erneut quer über die Gräber. Doch als er sie einholte, sah er, dass Silvanus, der vom Tor her gekommen war, die Person ebenfalls erreicht hatte. Im bleichen Licht des Mondes erkannte Tréville die Gestalt eines sehr jungen Mädchens mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Erschrocken sah sie vom einen zum anderen.
„Keine Angst.“, sagte Silvanus leise und sanft. „Niemand wird dein Geheimnis weitererzählen.“
„Es hieß, niemand wäre dort...“, stammelte das Mädchen. „Nur, nur die Seele des kleinen Jean...“ Wie ein in die Enge getriebenes Tier sah sie sich unruhig um.
„Es war ein Unglück.“ , sagte Silvanus freundlich. „Es hätte niemand hier sein sollen. Ihr könnt es immer noch hier lassen, und niemand wird es jemals erfahren.“
Mit einem Schlag wurde Tréville klar, wozu das Licht auf der Mauer da gewesen war und zu welchem schrecklichen Zwecke die Frau auf den Friedhof gekommen war. Umso entsetzter war er, als sie das Kind Silvanus übergab, sich umwandte und in die Nacht davoneilte. Silvanus sah ihr traurig nach. „Begeh´ keine Dummheit, Mädchen.“, sagte er leise. Die Art wie er das kleine Kind im Arm hielt, zeigte Tréville überdeutlich, dass er Übung damit hatte.
Jussac kam ebenfalls herüber. „Sie ist fort.“, meinte er leise. „Und die Luft ist rein, niemand sonst hat etwas gesehen.“
Tréville sah die beiden Leutnants an. „Also diente dieses vorgebliche Treffen, dieses vorgebliche Duell einem ganz anderen Zweck?“ fragte er, als ihm klar wurde, dass dieses „geheime Duell“ – und er hatte schon von anderen geheimen Duellen der beiden gehört – nur eine Ausrede gewesen war. Ein leises Wimmern des Kindes unterbrach ihn.
Silvanus sah ihn an. „Wäre es möglich, dass wir das besprechen, mon Capitaine, wenn das Kleine hier im Warmen und versorgt ist?“, erkundigte er sich.
„Ihr begleitet mich alle beide zum Hôtel de Tréville! Dort werdet Ihr Euch erklären und die Amme kann nach dem Kind sehen. Kein Widerspruch! Hütet sie schon klein Henri- Josephe, kann sie noch ein weiteres Kind beglucken.“
***
Die Dienerin brachte ein Tablett mit einer Kanne spanischer Schokolade und mehreren Tassen. Tréville studierte die beiden Offiziere, die in zwei Sesseln nahe des Kamins saßen, nachdenklich. Sie hatten so einiges gemeinsam; das fiel ihm nicht erst heute auf. „Also – wer von Euch zeichnet für das Kind verantwortlich?“, eröffnete er das Gespräch.
„Keiner.“ , erwiderte Jussac, einen Sekundenbruchteil schneller als Silvanus. „Die Mutter – wer immer sie war, hat ihre Sorgen einem Brief anvertraut, den sie in den Krug dieser imitierten römischen-,“
„ – griechischen Staute“, korrigierte Silvanus freundlich, „warf. Die Kopie der Demeter der Körbe.“
Jussac nickte. „Wie auch immer. Der Brief wurde gefunden und ihr wurde gesagt, sie soll am Vorabend von Allerheiligen zum Friedhof von St. Jean kommen und das Kind an jenem Grab lassen, bei dem das Licht über der Mauer scheint. Die Seele des kleinen Jean würde es beschützen und dafür sorgen, dass es von einer guten Seele gefunden wird. – So geht doch die Legende Silvanus?“ Ein Nicken bestätigte es ihm. „Nun, und wir beide hätten es nur abgeholt und morgen zu Silvanus Tante gebracht, die wiederum ein anständiges Zuhause für das Kind gefunden hätte.“
Tréville schwieg für einige Momente und trank einen Schluck Schokolade. Einen Teil dieser Legende kannte er. Sie war mindestens dreißig Jahre alt und er hatte sie nie besonders ernst genommen. „Und wie sind die Herren an diese Merkwürdigkeit geraten?“
Silvanus und Jussac sahen sich an, dann nickte der Leutnant der Kardinalsgarde. „Gut; wenn Monsieur le capitaine dies zu wissen verlangen...“ , begann er dann. „Auch wenn es Euch eigentlich nichts angeht. Meine Mutter hatte kurz vor ihrer Ehe einen Fehltritt begangen und vertraute ihr Kind auf dem selben Wege das Mädchen von heute Nacht, der Seele des kleinen Jean an. Ich habe davon nur erfahren, weil sie es mir anvertraute, als ich nach Paris ging. Sie sagte dass irgendwo dort vielleicht noch mein Halbbruder sein mochte.“ Jussac schüttelte den Kopf. „Ich hatte keine Geschwister. Oft hatte ich mir gewünscht ich hätte welche, aber ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Darum ging mir der Gedanke, dass ich einen Halbbruder hatte, so nahe. Schließlich ging ich hier in Paris, auf die Suche nach ihm. Ich hörte von dieser Legende. Meine Mutter hatte mir erzählt, sie hätte damals einen Brief in den Krug geworfen und auf die spätere Antwort hin das Kind auf dem Friedhof gelassen. Lange zögerte ich, doch alle andere Spuren verliefen im nichts. Schließlich schrieb ich einen Brief, in dem ich meine Suche schilderte, und warf ihn in den Krug dieser Statue.“
Tréville sah ihn überrascht an. „Und Ihr erhieltet Antwort?“
Jussac nickte. „Das Glück wollte es, dass das Kind das in jener Nacht auf dem Friedhof aufgesetzt wurde bei einer jener Familien blieb, die eng mit dem Geheimnis verbunden sind. Man schrieb mir, dass ich meinen Bruder treffen könne, da dieser damit einverstanden sei. Er sei Soldat genau wie ich.“ Sein Blick glitt zu Silvanus. „Und so lernten wir uns kennen.“, schloß er.
Silvanus nickte. „Ich war damals schon selbst mit dem Geheimnis in Berührung gekommen, da meine Eltern mich nie darüber belogen haben, dass ich nicht ihr leiblicher Sohn war. Ihre Ehe war kinderlos und darum behielten sich mich. Und Claude war bereit mich zu unterstützen, was meine Aufgaben anging.“
Tréville kannte Silvanus Familie ein wenig. Vekrachte Humanisten, allesamt. Ihnen war sowohl die Beteiligung an einer derartigen Geschichte zuzutrauen, als auch, dass sie ein solches Kind behalten würden. „Was wird mit dem kleinen Mädchen werden, das wir dort draußen gefunden haben?“, fragte er.
Silvanus lehnte sich leicht zurück. „Ich werde es zu meiner Tante bringen und sie wird ein Zuhause für die Kleine finden. Wo sie aufwachsen kann, fern vom Stigma des Hurenkindes.“
Der Hauptmann studierte die beiden für einen Moment. „Das wird nicht nötig sein.“ , meinte er dann schließlich. „Wenn ich der Amme und meiner Frau schon die Freude gemacht habe, ein weiteres Mädchen zum beglucken zu haben, wollen wir das doch nicht wieder ändern, oder?“
***
Der Morgen dämmerte bereits über Paris als Silvanus sein Elternhaus erreichte. Alles schlief, und auch der Leutnant war rechtschaffen müde. Er hatte keinen Leuchter mitgenommen als er die Treppen hinauf stieg. Eine Bewegung ließ ihn innehalten. Er stand seitlich eines der alten Spiegel entlang der Treppe. In dem grauen Morgenlicht, irgendwo zwischen Dämmern und Morgen, glaubte er vage eine Gestalt zu sehen. Eine blasse Frau, die ihn traurig ansah. Ganz leise meinte er für Momente ein Lied zu hören, eine leise, traurige Melodie.
Schritte ließen ihn zusammenzucken. Sein Ziehvater war die Treppen herab gekommen. Wie er Silvanus so vor dem Spiegel stehen sah, schlich sich ein schmerzliches Lächeln auf seine Züge. „Du hast das Lied gehört?“, fragte er ihn leise.
Überrascht sah Silvanus auf. „Du auch?“
Claude de Chergis legte seinem Sohn sacht die Hand auf die Schulter. „Ja, ich habe es gehört. Es hat mich damals geführt, als ich dich fand. Du schliefst und deine Mutter hatte dich gerade verlassen. In der Ferne hörte ich sie noch dieses Lied singen.“ Er sprach nicht weiter. Er brauchte nicht zu sagen, dass er in jenem Moment gewusst hatte, dass von allen verlorenen Kindern von St. Jean, es dieser Junge war, den er nicht fortgeben konnte.