Sans toit ni loi von kaloubet
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 99 BewertungenKapitel Fraternité
Als er erwachte, war es noch dunkel. Er hörte Porthos zu seiner Linken leise schnarchen, ein vertrautes Geräusch, hörte leises Atmen, das Kauen des Pferdes, seine Hufe auf dem festen Boden, das sanfte Knacken des heruntergebrannten Feuers, das immer noch ein wenig Wärme spendete. Rechts spürte er den Arm seines Sohnes, der in der Nacht den Trost seiner Umarmung gesucht hatte, während er am Tag versuchte, unbekümmert zu wirken. Er war stolz auf Raoul, er hatte Schlimmes erlebt, aber er war ungebrochen, zumindest schien es so. Sein Sohn war nie ein guter Schauspieler gewesen, genau wie er selbst hatte er es schlecht verstanden, die Menschen und vor allem seinen Vater zu täuschen. Wenn er etwas ausgefressen hatte, hatte Athos es in der Sekunde erkannt, in dem er vor ihm stand. Wenn er traurig war, hatte er die Traurigkeit in seinen Augen gesehen, auch wenn sein Gesicht ein Lachen zeigte. Und nun war sein Gesicht ernst, aber seine Augen voller Zuversicht. Zuversicht und Vertrauen in ihn, seinen Vater, und in seine Freunde, eine Zuversicht, die die Ereignisse der letzten Monate ihm nicht genommen hatten, auch wenn er tagsüber immer wieder nach der Hand seines Vaters suchte, wie um zu überprüfen, dass er wirklich da war. Es waren nur kurze Berührungen, gefolgt von einem überspielenden Lächeln, doch nachts, wenn es schließlich dunkel war, drehte sich Athos zu seinem Sohn um und nahm ihn in die Arme und Raoul wehrte sich nicht. Sie sprachen nicht darüber, das war nicht nötig, aber diese kleinen Gesten erlaubten ihnen, sich wiederzufinden. Draußen zwitscherte ein Vogel, der Himmel über dem eingestürzten Dach wurde allmählich heller, bald wäre es Tag. Der Frühling ließ dieses Jahr auf sich warten, er hätte schon lange da sein müssen, aber endlich schien es, als wolle es wärmer werden. In Bragelonne müssten jetzt die Felder bestellt werden, würden die Kühe kalben und die Stuten fohlen. Alles wäre voller Hoffnung und Neubeginn, so voller … Zukunft. Verzweiflung biss ihn ins Herz, tief und atemabschnürend, nie würde er seinem Sohn eine Zukunft bieten können. Nichts könnte er ihm bieten, gar nichts, womöglich warteten da draußen schon die Blauen, nahmen sie fest, schickten sie auf die Guillotine. Er wusste, er würde es nicht ertragen, nicht noch einmal. Er würde es nicht ertragen, seinen Sohn leiden zu sehen, zu sehen, wie sie ihm die Haare abschnitten, wie sie ihm die Hände banden. Wie sie ihn auf die Planke legten. Seine Hände spielten mit der Dose, die er seit jenem Tag, an dem Kerfaleque sie ihm gegeben hatte, in der Tasche trug. Die Dose mit den Pillen, die den Tod brachten und ihm ein wenig Trost spendeten. Ein Ausweg blieb ihnen. Aber etwas war anders, seit er die Dose das letzte Mal in den Händen gehabt hatte. Damals hatte er keine Angst vor dem Tod gehabt, er hatte ihn herbeigewünscht wie einen guten Freund, aber jetzt – jetzt hatte er Angst vor ihm. Nicht wegen sich selbst, wegen Raoul. Er wollte nicht sterben, wollte seinen Sohn nicht in den Tod schicken, mon Dieu, mach das wir es schaffen. Gib diesen Menschen, gib uns eine Chance, lass uns ein Schiff finden. So viele sind gestorben, was zählen wir schon? Ein paar Staubkörnchen, wen kümmert es, wenn wir entwischen? Grimaud!, durchfuhr es ihn da und der Schmerz kehrte wieder, Nicolas! Sie waren gestorben und es war seine Schuld gewesen. Zumindest Grimauds Tod, denn der treue Diener war nur seinem Herrn gefolgt. Er schluckte, als er an das Gemetzel von Saint Varent dachte, an die verfluchte Falle, in die sie getappt waren. Er hatte es geahnt, er hätte darauf bestehen sollen, dass sie umkehrten, hätte sie nicht sehenden Auges in den Tod rennen lassen sollen. Hätte. Er hätte die Zeichen sehen sollen, schon vor so vielen Monaten. Grimaud hätte ein Grab verdient, eine Beerdigung. Hatten sie ihn verbrannt? Trauer schnürte ihm die Kehle zu, er war ein Freund gewesen, weit mehr als ein Diener. Und er hätte gewollt, dass sie entkommen. Wo kam jetzt dieser Gedanke her? Wie ein Lichtblitz war er aufgetaucht, wie eine Elfe, der Wunsch eines Toten. Beinahe hätte er sich umgesehen, war da etwas? Jemand? Eine Seele? Ja, nahm er den Gedanken auf, Grimaud hätte gewollt, dass sie entkommen. Vor allem Raoul, der ihm wie ein Sohn gewesen war. Ja, flüsterte er seinem toten Diener zu und merkte, dass er ein Versprechen gab, ja, ich werd´s versuchen. Auf dass dein Tod nicht umsonst war, auf dass wir übrigbleiben, um dir zu gedenken, mein Freund. Leise richtete er sich auf und sah, die Dose in den Händen, auf die glimmende Asche. Dann steckte er sie ein.
Er stand leise auf und trat durch die zerstörte Seitenwand der Scheune nach draußen. Erste Sonnenstrahlen lugten über den Horizont, wanden sich wie feines Gespinst durch die Bäume und legten Lichttropfen auf die Wellen des Baches. Dunst stieg aus den Wiesen auf, ein Geruch nach Gras, nach Frische, nach Frühlingsmorgen lag in der Luft und ihn überkam eine überwältigende Lust auf ein Bad, die einherging mit Ekel. Ekel vor der zerlumpten Kleidung, Ekel vor seinem eigenen Geruch. Wann hatte er sich das letzte Mal gründlich gewaschen? In den Steinhöhlen hatten sie Wasser gehabt, aber es war nicht tief genug gewesen, um darin zu baden, außerdem war es zu kalt gewesen. Er trug zwar Seife mit sich herum, allein schon um sich zu rasieren, aber mehr als eine Katzenwäsche war kaum möglich gewesen. Das war ihm bis jetzt gleichgültig gewesen, aber jetzt richteten sich die kleinen Härchen auf seinen Armen erschauernd auf und jede Fiber in ihm drängte ins Wasser. Sein Verstand haderte, fand es zu kalt, aber schon hatte er Stiefel, Hosen und Wams abgelegt und streckte versuchsweise den Zeh in den Bach. Verflucht, das war nicht kalt, das war eisig. Schnell zog er sich auch das Hemd über den Kopf und watete ins Wasser, dessen Kälte ihm einen Moment lang den Atem abschnürte. Doch dann, als sich sein Körper an die Temperatur gewöhnt hatte oder einfach nur erfroren genug war, um nichts mehr zu spüren, war es herrlich. Er seifte sich ein und tauchte unter, wobei er darauf achtete, den Verband an seinem linken Arm nicht zu durchnässen, was vom Ufer aus sicher seltsam aussah. Prompt rief ihm eine Stimme zu: „Winkt Ihr mir oder wollt Ihr, dass ich Euch rette?“
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