Kapitel Nächster Morgen
Ein greller Blitz fuhr durch seine halb geöffneten Lider, und Raoul schloss schnell die Augen. Wie hell konnte ein Morgen sein? Wie spät war es überhaupt? Er war gestern Nacht ins Bett gefallen wie ein Stein und hatte erstaunlicherweise geschlafen wie lange nicht mehr. Nun pochte allerdings sein Schädel in einem steten Rhythmus, als säßen hinter seiner Stirn mindestens fünf enthusiastische Trommler, die zum Aufbruch riefen. Verflucht, wie viele Flaschen hatten sie gestern geleert? Nach der sechsten hatte der Vicomte aufgehört zu zählen. Es war unglaublich, wie viel diese Männer vertragen konnten, sein Vater hatte mitgehalten, ohne dass ihm oder Porthos etwas anzumerken gewesen war. Selbst ihre Aussprache war klar geblieben, als er schon Mühe gehabt hatte, einen einfachen Satz auch nur zu denken. Wie er es ins Bett geschafft hatte, wusste er nicht mehr. Das letzte Bild, an das er sich erinnern konnte, waren sein Vater und Porthos in regem Gespräch, während ihnen der Bischof von Vannes, den Kopf auf eine Hand gestützt, mit mildem Lächeln zuhörte. Parbleu, nie hatte er seinen Vater so viel trinken sehen. Nie hatte er ihn so entspannt erlebt, ja fast ausgelassen, mit seinen Freunden scherzend, mit dem Geliebten … dem Geliebten? Was dachte er da? Herrgott, sein Vater liebte einen Mann! Er war ein Sodomit! Ein Sünder der schlimmsten Sorte … es schmerzte, daran zu denken, aber wenn Raoul ehrlich zu sich selbst war, schmerzte vor allem die Tatsache, dass der Comte diese Seite seines Wesens so lange vor ihm verborgen hatte. Wie vor einem Kind, dem man nicht alles zeigen durfte, dem man die Wahrheiten des Lebens noch vorenthalten musste. Wie lange ging das schon? Wie konnte Athos, ein Mann, der auf Ehre und Anstand hielt, mit solch einer Lüge leben? Stöhnend versuchte er, die Augen wieder zu öffnen, puh, was war das Licht hell! Vorsichtig richtete er sich auf, was die Trommler zu einem frenetischen Tusch animierte – leise jetzt, ganz leise. Da tönte Porthos´ Stentorstimme von der Tür her: „Ha, Vicomte, soll ich Euch aus dem Bett helfen?“
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