Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Ein Mann, ein Kleid, ein Mord
Anmerkung: Diese Story basiert auf der BBC Verfilmung „The Musketeers“. Ich habe mich in sie verliebt, weil sie die Gruppendynamik der Jungs ausgezeichnet trifft und auch das Äussere mit meinen Vorstellungen übereinstimmt. Allerdings könnte es für reine Buchleser etwas schwierig werden, sich in der Story zurechtzufinden, weil die Serie doch sehr frei mit dem Stoff umgeht, hier einige kurze Erläuterungen. Die Geschichte beginnt am Ende der ersten Staffel. Königin Anna ist schwanger, aber nicht von Louis sondern von Aramis, mit dem sie eine grosse Liebe verbindet. Athos weiss darüber Bescheid, die anderen Musketiere nicht. D’Artagnan wurde bereits offiziell zum Musketier ernannt. Constance lebt, ist aber verheiratet mit Bonacieux und hat ihn abgewiesen, weil ihr Mann gedroht hat sich umzubringen.
Kapitel 1
Porthos hatte gute Laune. Ausgesprochen gute Laune. Wer könnte auch schlechter Stimmung sein, wenn er neben der schönsten Frau in ganz Paris aufwachte? Lächelnd drückte er einen Kuss auf die wunderbar lilienweisse Schulter, die sich ihm so verlockend darbot und hauchte: „Wenn alle Engländerinnen so sind wie du, dann erscheint mir das Land mit einen Mal richtig einladend.“
Lady Adelina drehte sich zu ihm um, ihre dunklen Augen voller Spott. „Ein paar Nächte mit mir und schon vergisst der treueste aller Musketiere, wo seine Loyalitäten liegen? Ich bin entsetzt.“
Porthos schob ihre dunkelroten Locken weg, um ihren schmalen Nacken zu entblössen und ihn mit Küssen zu bedecken. Er spürte, wie sie erschauerte und als ihr ein kleines Stöhnen entschlüpfte, legte er besitzergreifend die Arme um sie und zog sie zurück auf das Bett. Ihr Mund war so süss und ihr Körper fühlte sich wunderbar weich unter seinen Händen an. Sie war kein unschuldiges Mädchen mehr, aber auch keine zu erfahrene Hure, die ihm das Gefühl gab nur eine von vielen zu sein, sie machte jede Nacht zu etwas Besonderen, war verrucht genug um ihm zu gefallen, aber unschuldig genug um ihn zu bezaubern…
Verflucht, er war drauf und dran sich in sie zu verlieben!
Er vergrub die Hände in ihrer wunderbar weichen Lockenpracht, doch sie schob ihn mit einem bedauernden Lächeln weg. „Ich muss gehen. Die Königin erwartet mich.“
Mit einem frustrierten Seufzer liess sich Porthos zurück in die weichen Kissen fallen. „Die Königin oder der König?“, fragte er und konnte den eifersüchtigen Unterton in seiner Stimme nicht verbergen. Adelina war eine zu schöne Frau, um den Blicken des Königs zu entgehen und sie war zu ehrgeizig, um eine Einladung in sein Bett abzulehnen. Aber Porthos teilte nicht gerne. Schon gar nicht, wenn es um Frauen ging.
Sie lachte schallend und rollte sich aus dem Bett. „Seit seine Frau schwanger ist, ist der König sehr zurückhaltend mit ausserehelichen Beziehungen. Und ausserdem, wo kämen wir da hin, wenn der französische König mit einer englischen Adeligen einen kleinen Bastard zeugen würde?“
„Und wo kämen wir da hin, wenn eine englische Adelige ein Musketier in ihre Gemächer schmuggelt, um mit ihm eine Liebesnacht zu verbringen?“, fragte Porthos im gespielt entsetztem Tonfall, während er zusah, wie Adelina in ihre Kleider schlüpfte, wobei er wie üblich nur staunen konnte, wie schnell die Damen mit all diesen Schleifen und Schnüren zurechtkamen.
„Du hast vergessen zu erwähnen, dass dieser Musketier wahnsinnig gut aussieht und einen geradezu mörderischen Charme auf die Adelige ausübt.“ Adelina drückte ihm einen schnellen Kuss auf die Nase und wollte gerade nach ihrer Haarbürste greifen, als sie das Klopfen hörten. Entsetzt starrten sie sich an.
„Wer kann das sein?“ In Porthos Geist tauchten blitzartig Bilder auf; Bilder eines sehr zornigen Tréville, der ihn an den Haaren zurück in die Garnison schleifte, während er von der Ehre des Musketiers faselte, Bilder einer wütenden, schwangeren Königin, die ihn anschrie, weil er die Ehre ihrer Hofdame besudelte oder noch schlimmer, Bilder eines schwertschwingenden Liebhabers, der ihm seine Männlichkeit abschneiden wollte, weil er mit seiner Liebsten im Bett gewesen war. Die Möglichkeiten schienen unendlich und instinktiv raffte Porthos die Bettlaken zusammen um seine Blösse zu bedecken.
Adelina fluchte auf nicht sehr damenhafte Art und Weise. „Ich habe mich gestern wegen angeblicher Kopfschmerzen früher zurückgezogen und gesagt, ich will heute nicht gestört werden. Es muss dringend sein“, sie überlegte fieberhaft, dann öffnete sie kurzentschlossen ihren Schrank. „Rein da!“
„Ich soll ernsthaft…“
„Nun mach schon“, zischte sie und zog ungeduldig an seinem Arm. Porthos konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Er hätte wissen müssen, dass es keine gute Idee war, mit einer Hofdame Liebeshändel anzufangen. Die Mädchen aus der Schenke waren da bedeutend unkomplizierter. Dennoch liess er sich von ihr in den Schrank schieben, wo er splitterfasernackt zwischen Schuhen und Kleidern kauerte, seinen Degen fest in der Hand.
Von dort beobachtete er, wie eine schüchtern wirkende Hofdame, fast noch ein Mädchen, das Gemach betrat. „Verzeiht, Mylady, aber die Königin verlangt nach Euch. Sie fühlt sich nicht sonderlich wohl und hofft sich durch Eure Gesellschaft etwas Zerstreuung.“
„Ich fürchte, in diesem Aufzug kann ich nicht zur Königin“, sagte Adelina mit einem entschuldigenden Lachen und deutete auf ihr nur nachlässig geschnürtes Mieder und die noch immer wirren Haare, „dürfte ich wohl Eure Hilfe in Anspruch nehmen?“
Porthos beneidete das Mädchen glühend, das Adelina berühren durfte, während er selbst in einem muffigen Kleiderschrank steckte. Er beschäftigte sich damit, sich vorzustellen, an welchen unmöglichen Orten sich der Frauenverführer Aramis schon wohl hatte verstecken müssen, um rachsüchtigen Ehemännern zu entgehen. Leider plauderte sein liebster Freund nur dann aus dem Nähkästchen, wenn er schon reichlich dem Wein zugesprochen hatte und es war ziemlich schwierig ihn abzufüllen und dabei selbst nüchtern zu bleiben.
„Nun, dann werde ich der Königin wohl meine Aufwartung machen“, sagte Adelina überlaut, wahrscheinlich um Porthos darauf aufmerksam machen, dass sie nun das Zimmer verliessen. Kurz darauf hörte Porthos wie die Tür leise ins Schloss fiel. Erleichtert stiess er den Atem auf und kroch, nicht besonders elegant, aus dem Schrank, wobei er sich erst eines äusserst hartnäckigen Seidenschals entledigen musste, der sich irgendwie um seine Waffe geschlungen hatte.
Als er seine Kleider suchen wollte, erkannte er, dass er ein ziemlich grosses Problem hatte.
Denn seine Uniform war nicht in Adelinas Gemach.
Siedend heiss fiel ihm ein, dass sie sich gestern spät in der Nacht ursprünglich im wunderschönen nächtlichen Garten getroffen und sie sich dabei auch gleich ihrer Kleider entledigt hatten. Sie hatten es geradezu genossen, sich vollkommen nackt durch den Louvre zu stehlen und sich zu fühlen, wie zwei Diebe in der Nacht, während sie den Wachen auswichen. Es war ein Spiel gewesen, das sie beide erregte.
Doch jetzt stand er hier ohne Kleider.
Und am helllichten Tag würde selbst der Roten Garde auffallen, wenn ein nackter Musketier durch den Palast spazierte.
Porthos Laune sank, als ihm klar wurde, dass es für seine Zwickmühle nur eine Lösung gab.
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Was Kardinal Richelieus Laune betraf, die hatte auch schon weit bessere Zeiten gesehen. Dass Anna schwanger war, war für ihn eine persönliche Niederlage, wäre er die verhasste, spanische Königin doch nur zu gerne losgeworden. Aber daran war natürlich nicht zu denken, solange sie den zukünftigen König Frankreichs unter dem Herzen trug. Und immer quälte ihn dieser eine Gedanke: Wie war es ihr nach all diesen Fehlgeburten und kinderlosen Jahren gelungen, schwanger zu werden? Er war überzeugt, dass nicht Louis der Vater dieses Kindes war, doch er hatte keinerlei Beweise für eine aussereheliche Affäre Annas.
Und ständig musste sie ihm ihren Triumph unter die Nase zu reiben. Hatte sie ihn sonst gemieden wie die Pest, war sie nun ausserordentlich bemüht seine Gesellschaft zu suchen, als wolle sie sichergehen, dass er ihren schwellenden Leib auch ja nicht vergesse. Aber das Schlimmste war, dass er sich seinen Zorn nicht anmerken lassen durfte, denn Louis war geradezu trunken vor Glück und reagierte gereizt auf jede Kritik an seiner geliebten Anna.
Richelieu war so in Gedanken versunken, dass er beinahe mit einer Dame zusammengestossen wäre. Er konnte ihr gerade noch ausweichen, touchierte aber trotzdem ihre Schulter. „Verzeiht“, murmelte er abwesend, ging einige Schritte weiter, blieb dann aber verdutzt stehen und sah der Frau hinterher.
Sie war wohl eher eine Matrone als eine Dame, gesegnet mit einer üppigen Figur und sehr breiten Schultern, die durch ihr enges und weit ausgeschnittenes Kleid eher unvorteilhaft wurden. Dazu trug sie einen ausladenden Sommerhut, den sie sich über die Ohren gezogen hatte, so dass ihr Haar nicht zu erkennen war. Das Gesicht versteckte sie hinter einem aufwendigen Pfauenfederfächer und er hatte nur einen kurzen Blick auf warme, braune Augen werfen können, bevor sie weitergehuscht war. Wobei huschen eigentlich nicht das richtige Wort war. Unwillkürlich drängte sich Richelieu bei dem breitbeinigen Gang das Wort „Bauerntrampel“ auf, entschied sich dann aber, diese seltsame Gestalt ohne weiteren Fragen ziehen zu lassen. Er hatte schliesslich genug andere Sorgen.
Und Richelieu ging weiter seiner Wege mit der Erkenntnis, dass die Pariser Damen auch nicht mehr das sind, was sie einmal waren.
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„Verzeihen Sie Madame, sucht Ihr vielleicht nach jemanden?“ d’Artagnan tippte der seltsam ausstaffierten Dame auf die Schulter, die versuchte sich möglichst unauffällig in die Garnison zu schleichen. Doch als sie sich umdrehte, bekam er einen kleinen Schrecken, denn die Dame trug einen Bart und hatte ein sehr bekanntes Gesicht. Porthos.
d’Artagnan klappte die Kinnlade herunter. „Porthos!“, rief er aus.
„Nicht so laut“, knurrte dieser, zog sich den Schal wieder ins Gesicht und öffnete den Fächer mit viel Schwung, um komplett hinter Pfauenfedern zu verschwinden. Aber d’Artagnan war zu verblüfft, um diskret zu sein. Von Porthos war er sich ja einiges gewöhnt, doch in Frauenkleidern hätte er ihn jetzt nie erwartet.
„Du trägst ein Kleid“, brachte er schliesslich hervor, verzweifelt bemüht nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Porthos blitzte ihn an. „Ach ja? Das ist mir gar nicht aufgefallen“, schnappte er, raffte seine Röcke und stolzierte in Richtung ihrer Schlafquartiere davon. Es war immer gefährlich, sich mit einem zornigen Porthos anzulegen, aber wie üblich triumphierte d’Artagnans Neugier über seine Vernunft und er hetzte seinem Freund hinterher.
„Was trägst du unter dem Rock? Ob ich mal einen Blick darunter werfen könnte, holdes Fräulein?“, flötete d’Artagnan und versuchte, Porthos den Rock zu heben. Empört gab ihm ‚das holde Fräulein‘ einen Klaps auf die Finger. „Lass das! Oder zerrst du jeder Frau gleich das Kleid weg?“
D’Artagnan überholte ihn und stellte sich ihm, über beide Ohren grinsend, in den Weg. „Sag mal Porthos, hast du dir Äpfel in den Ausschnitt gesteckt?“, erkundigte sich und linste neugierig in das üppige Dekolleté, das wohl tatsächlich mit dem Einsatz einiger Hilfsmittel zustande gekommen war, erblickte d’Artagnan doch tatsächlich das verräterische Rot dieser Frucht.
Porthos schlug mit dem Fächer nach ihm. „Natürlich sind das Äpfel. Oder glaubst du, mir sind über Nacht tatsächlich Brüste gewachsen?“
„Auf jeden Fall hast du wohl über Nacht deine weibliche Note entdeckt. Das hätte ich ja eher unserem Freund Aramis zugetraut. Haben er und Athos dich schon in diesem Aufzug entdeckt oder ist dieser Anblick nur meinen Augen vergönnt?“
Wie auf ein Stichwort erschien Athos hinter Porthos, erkannte seinen Freund allerdings verständlicherweise nicht und knurrte d’Artagnan an: „Es ist nicht besonders höflich, einer Dame den Weg zu versperren.“
D’Artagnan verneigte sich, scheinbar tief getroffen. „Du hast Recht, Athos. Mein Benehmen gegenüber dieser Schönheit lässt sehr zu wünschen übrig“, bei diesen Worten griff er nach Porthos‘ Hand und gab ihm einen formvollendeten Handkuss, „verzeiht mir mein Benehmen, holde Dame!“
„Halt jetzt endlich dein Maul“, brüllte die holde Dame.
Athos riss die Augen auf. „Porthos?“, fragte er erstaunt, als er das mächtige Stimmorgan seines Freundes erkannte. Als der Hüne sich umdrehte, sah d’Artagnan wie Athos‘ Mundwinkel zuckten; etwas, was nicht allzu oft vorkam, schon gar nicht am frühen Morgen.
„Was?“, keifte Porthos.
„Du trägst ein Kleid“, stiess er schliesslich hervor und seine Schultern bebten vor unterdrücktem Lachen, in das d’Artagnan von Herzen einfiel, auch wenn es ihm einen schmerzhaften Fausthieb von Porthos einbrachte. Aber dann musste er selbst lachen. So schnell er auch erzürnt war, so schnell war er wieder versöhnt und die ganze Szene war auch wirklich zu komisch.
„Ja, ich trage ein Kleid! Das solltet ihr auch mal versuchen. Sehr luftig“, betonte Porthos, „und es schmeichelt meiner Figur!“ Bei den letzten Worten wackelte er mit seinem Hintern, was d’Artagnan dazu brachte, vor Lachen zu kreischen und selbst Athos laut losprusten musste. Nur schade, dass Aramis nicht da war, dachte d’Artagnan, während er sich die schon schmerzenden Seiten hielt und nach Luft schnappte. Der Vierte im Bund schien die Nacht wieder einmal auswärts verbracht zu haben, sonst wäre er der Quelle dieses lauten Gelächters wohl schon lange auf dem Grund gegangen und dazu gestossen.
„Athos! D’Artagnan!“ Tréville eilte ihnen entgegen und jeglicher Humor wich von d’Artagnan, als er das sturmumwölkte Gesicht seines Captain sah. Sofort hörte er auf zu lachen und versuchte, eine ernste Miene aufzusetzen. Tréville machte ihm das allerdings nicht besonders einfach, denn als er an Porthos vorbeiwetze, stutze er und drehte sich um, wobei sein Gesicht von zutiefst besorgt, zu zutiefst verstört wechselte. „Porthos?“
Porthos versuchte ein Lächeln. „Das ist jetzt der letzte Schrei in Paris“, meinte er unschuldig und fächerte sich mit einem koketten Lächeln Luft zu.
Tréville sah aus, als wolle er ihm den Fächer irgendwo hinstecken wo es richtig wehtat. „Ich habe mich gerade entschieden, dass ich nicht wissen will, warum du ein Kleid trägst“, er wandte sich an Athos und d’Artagnan. „Ich habe schlechte Neuigkeiten.“
Wie von selbst glitt d’Artagnans Hand zu seinem Degen. Tréville war nie bekannt für sein sonniges Gemüt, aber jetzt sah er aus, als habe man ihm gerade gesagt, Richelieu werde der neue König von Frankreich. Er wechselte einen schnellen Blick mit Athos, der genauso beunruhigt aussah und sich merklich versteifte.
Tréville war kein Mann der langen Worte. „Francis ist tot. Ermordet.“
„Nein!“, rief d’Artagnan instinktiv, während Porthos erschrocken die Luft anhielt und Athos die Augen schloss, als würde diese grausame Tatsache weniger wahr, wenn er nichts mehr sehen konnte. Francis war wie sie ein Musketier, ein freundlicher und fröhlicher Mann, der gerne lachte und ausgezeichnete Manieren hatte. Und er hatte sich erst vor kurzem verlobt. Dass dieser tatkräftige Mann, der alle mit seiner guten Laune angesteckt hatte, nun gewaltsam aus dem Leben gerissen worden war, das konnte d’Artagnan nur schwer verstehen und er wollte es eigentlich auch gar nicht verstehen. Unbewusst machte er das Kreuzzeichen und murmelte: „Ruhe in Frieden, Bruder.“
„Wie“, fragte Porthos mit brüchiger Stimme, „wie konnte das passieren?“
„Ich weiss es nicht. Die Rote Garde hat ihn erstochen im Hinterhof einer Spelunke aufgefunden. Aber das ist nicht alles“, Tréville hielt inne und d’Artagnan fühlte auf einmal eine entsetzliche, innere Kälte in sich. Aramis war nicht hier. Und er und Francis hatten viel Zeit miteinander verbracht, sich immer gut verstanden. Was wenn er…nein. Das konnte nicht sein. Er hätte es doch gespürt. Er hätte es doch spüren müssen, wenn Aramis etwas zugestossen wäre. Porthos‘ kreidebleichem Gesicht sah er an, dass er denselben Gedankengang genommen hatte, seine dunklen Augen waren ein einziges Flehen in Richtung Captain.
Tréville gab sich einen sichtlichen Ruck. „Neben ihm lag Aramis. Bewusstlos, aber am Leben.“
„Gott sei Dank!“ Zum zweiten Mal an diesem Tag machte d’Artagnan das Kreuzzeichen, diesmal zeitgleich mit Porthos, doch Athos wirkte nur halbwegs erleichtert und fragte mit leiser, ernster Stimme: „Und was hat die Rote Garde mit Aramis gemacht?“
Tréville stiess einen schweren Seufzer aus. „Sie haben ihn verhaftet. Sie gehen davon aus, dass Aramis Francis im Streit erstochen hat. Ihm droht die Todesstrafe.“
Kapitel Wie Richelieu wieder gute Laune bekam
Als Aramis seinem Vater damals seine Entscheidung mitgeteilt hatte, dass er nach Paris gehen und ein Musketier werden würde, hatte dieser nur gemeint, aus ihm werde wohl tatsächlich nie etwas Vernünftiges. Daran musste er jetzt denken, als er in der dunklen, kalten Zelle sass, die Hände angekettet, die Beine angezogen, den schmerzenden Kopf darauf gebettet. Was würde sein alter Herr wohl erst sagen, wenn die Nachricht käme, sein jüngster Sohn sei als Mörder hingerichtet worden?
Ein Teil von Aramis wollte weinen um Francis, der ihm immer ein aufrichtiger Freund gewesen war und er schämte sich, weil er es nicht konnte. Sein Kopf tat so fürchterlich weh, noch immer verschwamm ihm ständig alles vor Augen und seine Gedanken waren ein einziges Durcheinander. Er versuchte, sich nicht selbst zu bemitleiden, aber wie so oft scheiterte er an sich selbst. Und es war auch gar einfach in Selbstmitleid zu versinken, denn immerhin drohte ihm der Tod, weil er angeblich einen Mann erstochen hatte. Weil er angeblich seinen Freund erstochen hatte.
Und er konnte sich an nichts mehr erinnern. Alles war ein Strudel aus Farben und Gefühlen, ein wirrer Ablauf von Geräuschen und zusammenhangslosen Gesprächen. Wenn er glaubte, irgendeinen Sinn zu erkennen, entglitt er ihm wieder und sein Kopf strafte ihn mit noch grausameren Kopfschmerzen. Er hätte gerne geschlafen, aber immer wenn er die Augen schloss, sah er Francis‘ lachendes Gesicht, den Dolch in seiner Brust, seinen gebrochenen Blick und die Rote Garde, die ihm sagte, er sei ein Mörder.
„Aramis?“
Die vertraute Stimme liess ihn den schweren Kopf heben. „Porthos?
Tatsächlich tauchte das grinsende Gesicht seines Freundes zwischen den Gitterstäben auf. Aramis blinzelte verwirrt. Sein Kopf musste wirklich bedeutende Schäden davongetragen haben, sah er Porthos doch in einem Damenkleid. Vielleicht war er auch nur eine Illusion und sein verwirrter Geist vermischte seinen besten Freund mit dem Aussehen der Frau, die er liebte.
„Nun, lass doch mal den Kopf nicht hängen. Du wirst nur für einen Mörder gehalten. Das ist jeden von uns mal passiert.“ Die scherzende Stimme von d‘Artagnan hörte sich denkbar unpassend an, in dieser düsteren Atmosphäre, aber er brachte ihn zumindest zum Lächeln.
„Ja. Es scheint die Galgenmänner haben eine Vorliebe für Musketiere.“ Athos. Der immer düstere, sarkastische Athos war ebenfalls gekommen, lehnte sich scheinbar lässig gegen die Gitterstäbe, doch Aramis kannte ihn zu lange, um nicht die Besorgnis in seinen Augen zu lesen oder um nicht zu sehen, wie er den Kiefer fest aufeinanderpresste.
Er ging auf den leichten Ton ein. „Ich wollte Gott immer nahe sein. Jetzt versuche ich eben mal die Auferstehung.“
„Hört auf mit den blöden Scherzen“, knurrte da ausgerechnet Porthos, der sonst für jeden Spass zu haben war, „Francis ist tot und wenn uns nicht schleunigst, was einfällt, dann folgt Aramis ihm bald! Wir stecken ziemlich tief in der Scheisse!“
Demonstrativ zerrte Aramis an seinen Ketten. „Ach ja? Das ist mir bisher gar nicht aufgefallen!“
„Aramis. Du musst uns erzählen, was gestern Nacht passiert ist“, sagte Athos mit ruhiger, gelassener Stimme. Und Aramis hätte ihn gerne geantwortet, doch als er sich verzweifelt versuchte zu erinnern, ergriff ihm ein heftiger Schwindel. Keuchend schloss er erneut die Augen und wartete, bis die Übelkeit verebbte. „Ich weiss es nicht mehr“, murmelte Aramis, „der Schlag auf den Kopf. Ich erinnere mich einfach nicht mehr!“
„Aber du musst dich doch an irgendetwas erinnern!“
„Lass ihn, d’Artagnan! Es geht ihm nicht gut.“
„Ohne Kopf wird es ihm noch bedeutend schlechter gehen!“
Porthos ignorierte Athos‘ und d’Artagnans Kabbeleien. Stattdessen fragte er Aramis im sanften Tonfall: „Hat sich ein Arzt deine Wunde angesehen?“
Aramis schnaubte. „Ja, der königliche Arzt hat sie sich angesehen, danach hat der König selbst mich zu Bett gebracht und Richelieu mir noch einen Gutenachtkuss gegeben.“ Kopfwunden waren immer heikel, das wusste er, aber wahrscheinlich wurde er ja sowieso in ein paar Tagen von seinem ganzen Kopf erlöst.
„Wir holen dich da raus“, versprach d’Artagnan, „ich habe zwar keinen blassen Schimmer wie, aber wir lassen nicht zu, dass sie dich uns wegnehmen.“
„Wenn wir deine Unschuld beweisen und Francis‘ Mörder finden, können wir dich retten und unseren Bruder rächen“, bekräftigte Athos, bevor er sich mit eleganten Schwung von den Gitterstäben abstiess und mit d’Artagnan im Schlepptau verschwand. Letzterer drehte sich noch einmal, um zu winken, doch Athos zog es wie üblich vor, dass Abschiedsritual einfach auszulassen.
„Ich lass dich nicht im Stich“, versprach Porthos.
Aramis muss trotz all seines Elends lächeln. „Das hast du noch nie.“
„Wenn du irgendetwas brauchst…“
Aramis spürte wie sein Lächeln diabolisch wurde. „Du könntest mir eine Geschichte erzählen. Zum Beispiel, die Geschichte wo du erzählst, warum du ein Kleid trägst.“
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„Was sagst du da? Ein Musketier wurde getötet?“ Richelieu wusste, dass er klang als hätte man Weihnachten vorverlegt, aber er konnte nicht anders. Seiner Meinung nach war nur ein toter Musketier ein guter Musketier und wenn ihm jemand diese Aufgabe abnahm, war das ihm mehr als recht.
Der aktuelle Hauptmann der Roten Garde; Jean Férardier, trug seinen üblich maskenhaften Gesichtsausdruck, als sei er kein lebender, atmender Mensch, sondern eine Marionette. Richelieu fand das zwar eine lobende Charaktereigenschaft für einen Soldaten in seinem Dienst, allerdings machte dass die Kommunikation nicht gerade einfach. Richelieu hatte oft das Gefühl, sich mit einer Gipsstatue zu unterhalten.
„Ein anderer Musketier lag neben ihm. Bewusstlos.“
Richelieu konnte einen gereizten Seufzer nicht unterdrücken. „Und?“, fragte er im gedehnten Tonfall.
„Er hatte eine blutige Wunde am Hinterkopf.“
Richelieus Geduldfaden riss. „Férardier, es ist nicht nötig, jeden Satz einzeln auszuspucken. Berichte mir einfach, was vorgefallen ist, ich möchte die Abendmesse nur ungern versäumen!“, bellte er.
Férardiers Gesicht blieb ungerührt. „Wir haben ihn sofort verhaftet, weil wir vermuten, dass er seinen Freund erstochen hat. Der Dolch lag neben ihm. Allerdings ist es nicht irgendein Musketier, sondern Aramis, der bei den Majestäten, besonders bei der Königin sehr beliebt ist und dazu gehört er noch zu den sogenannten Unzertrennlichen“, leierte er brav herunter.
Richelieus Herz machte einen kleinen Hüpfer. Aramis. Das war ja fast schon zu viel des Guten! Der Favorit der Königin, Adeles Geliebter, ein Dorn in seinem Fleisch…Ein Mörder! Er würde für eine öffentliche Hinrichtung sorgen, jeder sollte zusehen, wie der schöne Musketier für seine Verbrechen in den Tod ging und jeder sollte seine Seele verfluchen…Sollte er ihn verbrennen lassen? Nein, das war eher was für Ketzer. Dann vielleicht hängen. Oder den Kopf abschlagen! Doch dann legte der Kardinal seinen Gedanken Zügel an. Noch war Aramis nicht verurteilt. Das musste schnell gehen, bevor seine verfluchten Freunde ihn mal wieder reinwaschen konnten.
Vor allem aber musste er verhindern, dass die Königin Wind davon bekam. Wenn sie davon erfuhr, würde sie ihre neugewonnene Macht ausnutzen, um ihren Musketier zu retten. Doch der König musste es wissen, denn abgesehen davon, dass er das Todesurteil unterschreiben musste, wollte Richelieu nicht darauf verzichten, das Ansehen der Musketiere in den Schmutz zu ziehen.
„Das sind…erschütternde Neuigkeiten“, Richelieu lächelte boshaft, bevor er Férardier entliess und sich dann sogleich auf den Weg machte, den König zu suchen.
Er fand ihn in seinen Gemächern, in Gesellschaft seiner Schneider. Louis stand auf einem Schemel, während Monsieur Lacombe, der Hofschneider, einen grauenhaften grünen Mantel absteckte, der Louis aussehen liess, als sei er ein besonders knallig gewordenes Kleeblatt. Richelieu verneigte sich. „Eure Majestät.“
„Ah, Richelieu! Gefällt Euch mein Mantel? Ich möchte Anna damit überraschen“, erklärte Louis, während er dem Kardinal nachlässig die parfümierte Hand zum Kuss reichte.
Wahrscheinlich bekäme die Königin eine Augenentzündung, wenn Louis in diesem Aufzug bei ihr auftauchte, doch Richelieu hatte schon sehr früh begriffen, dass Ehrlichkeit in der Politik völlig fehl am Platz war und antwortete in gewohnt öliger Manier: „Diese Farbe schmeichelt Euch ungemein!“
„Grün ist die Farbe eines wahren Königs“, piepste Lacombe.
„Hört auf zu reden und konzentriert Euch lieber darauf, Eure Nadeln nicht ständig in mein Fleisch zu stechen“, wies Louis ihn zurecht, bevor er sich wieder an Richelieu wandte, „nun, weshalb seid Ihr gekommen? Doch nicht um mit mir über die Farbwahl meiner Kleidung zu sprechen.“
Richelieu bemühte sich um einen zutiefst bekümmerten Gesichtsausdruck. „Es scheint, als sei ich dazu aussersehen, Euch immer nur schlechte Nachrichten zu überbringen“, begann er salbungsvoll.
„Nun, niemand vermag es schlechte Nachrichten noch kryptischer zu überbringen als ihr, Kardinal“, meinte Louis mit mildem Lächeln.
„Und doch bereitet es mir kein Vergnügen, Euch Kummer zu bereiten. Aber ich werde es tun müssen. Ein Musketier wurde von seinem eigenen Kameraden ermordet!“
Seine Worte taten die gewünschte Wirkung. Louis trat vor Schreck einen Schritt zurück, Lacombe zog die Hand nicht schnell genug weg und machte eine etwas zu nahe Bekanntschaft mit den Schuhen seines Königs, verbiss sich aber einen Schmerzenslaut. Louis verhedderte sich in dem Stoff und versuchte fluchend sich wieder zu befreien, wobei er heftig mit den Armen ruderte. „Ein Musketier würde nie einen Freund töten“, fauchte Louis, während Lacombe versuchte, ihn aus dem Stoff zu wickeln.
Richelieu neigte in scheinbarer Betroffenheit das Haupt. „Leider sind die Beweise eindeutig. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Es scheint, als habe Aramis, diese Tat begangen.“
Louis runzelte die Stirn. „Aramis…“, murmelte er nachdenklich. Lacombe gelang es endlich seinen König aus dem Ungetüm von Stoff zu befreien, weshalb Louis nicht länger aussah wie ein tanzender Busch. „Ah, Aramis, ist das nicht dieser Musketier, der immer mit diesen beiden Raufbolden Lothos und Parthos zusammensteckt?“
„Seine Freunde heissen Athos und Porthos. Und dann ist da noch ein vierter Mann namens d’Artagnan“, korrigierte Richelieu.
„Meinetwegen. Auf jeden Fall haben sie mir schon oft ihre Treue bewiesen. Wieso sollte ein so ehrenhafter Mann seinen Freund erstechen?“
Louis war offensichtlich nicht gewillt, zu glauben, dass einer seiner geliebten Musketiere zu einen Mord fähig wäre, aber Richelieu spürte, dass der Samen des Zweifels schon gesät war. Jetzt musste er ihn nur noch ein wenig giessen. „Ich werde selbstverständlich einen fairen Prozess einleiten. Wenn Aramis unschuldig ist, werde ich das herausfinden“, versicherte Richelieu und neigte erneut das Haupt.
„Nun, dann macht Euch an die Arbeit! Ich will die Angelegenheit schnell bereinigt haben! Ich kann keine Gerüchte brauchen, dass sich meine Leibwächter gegenseitig an die Kehle gehen!“ Louis griff nach seinem Weinglas und leerte es in einem Zug, bevor er es so kräftig auf den Tisch knallt, dass es einen Riss davonträgt.
Richelieu legte die Hand auf die Brust und verneigte sich formvollendet. „Wie Ihr wünscht“, sagte er, bevor er scheinbar beiläufig hinzufügte: „Aber ich bitte Euch, behelligt die Königin nicht mit diesem Vorfall.“
„Die Königin? Was hat Anna damit zu tun?“, fragte Louis irritiert.
Richelieu faltete die Hände. „Sie ist sehr verbunden mit den Musketieren. Es würde sie sehr aufregen, wenn sie erführe, dass einer von ihnen als Mörder angeklagt ist.“
Louis hob die fein gezupften Augenbrauen. „Seit wann zeigt Ihr Euch so besorgt um meine Frau?“
„Sie trägt ein Kind. Sie muss sich schonen.“
Er wusste, es war ihm gelungen, den König zu überzeugen. Seit Anna schwanger war, war Louis geradezu krankhaft besorgt um das Kind, das in ihr heranwuchs. „Natürlich. Ich werde dafür sorgen, dass ihr diese Angelegenheit nicht zu Ohren kommt.“
Als Richelieu die Gemächer des Königs verliess, konnte er sich gerade noch davon abhalten, sich triumphierend die Hände zu reiben. Alles war so gegangen, wie er es sich vorgestellt hatte. Wenn ich es geschickt anstelle, dachte er mit leisen Lächeln, bringe ich diesen verdammten Tréville mitsamt seinen Musketieren endlich zu Fall!
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In Athos stieg der heftige Wunsch nach einer Flasche Wein auf, als er den Ort betrat an dem Francis gestorben war. Ein Hinterhof des Gasthauses „Zur fröhlichen Gans“, war wahrlich kein besonders ehrenhafter Platz zum Sterben, dachte Athos bitter, während er die getrocknete Blutlache musterte, die noch nicht beseitigt worden war. Obwohl er seit seinem kleinen Ehedrama nicht mehr sonderlich gut auf Gott zu sprechen war, nahm er seinen Hut ab und sendete ein Gebet Richtung Himmel. Für Francis…und für Aramis.
D’Artagnan bückte sich. „Hier hat also Francis gelegen? Wo lag dann Aramis?“
„Daneben oder?“ Athos nahm die Pflastersteine näher in Augenschein.
„Daneben ist ein sehr weitläufiger Begriff“, murrte Porthos. Athos wusste, sein Freund war aufgebracht und ungeduldig. Er konnte ihn verstehen. Aramis bedeutete ihnen allen viel und dass ihm jetzt die Hinrichtung drohte, erhöhte enorm den Druck Francis‘ Mörder zu finden. Aber er war nie ein Freund von blinder Panik gewesen und sie taten weder sich noch Aramis einen Gefallen, wenn sie sich wie kopflose Hühner benahmen.
Athos liess den Blick schweifen und stutzte. Ein goldenes Glitzern zwischen zwei auseinander gebrochenen Pflastersteinen nahm ihn gefangen und als er erkannte, was es war, bückte er sich und hob es auf. Es war ein Rosenkranz, der Rosenkranz, den Aramis stets um den Hals trug, sein ganz persönlicher Schutzengel, geschenkt von der Königin. Stumm zeigte er seinen Fund Porthos und d‘Artagnan.
Porthos zuckte mit den Schultern. „Das beweist nur, dass Aramis hier war. Das haben wir ja nie bezweifelt.“
„Die Kette ist kaputt. So als hätte sie ihm jemand gewaltsam vom Hals gerissen“, sagte Athos, dessen Herz schwer geworden war.
„Natürlich hat sie ihm jemand vom Hals gerissen. Der Mörder wird mit ihm gerungen haben“, erklärte Porthos ungeduldig.
„Man könnte aber auch meinen, Francis habe sie ihn vom Hals gerissen, als sie miteinander gekämpft haben“, brachte d’Artagnan die Sache auf den Punkt. Er sagte es ganz neutral, sprach einfach eine Tatsache aus, die auch Athos aufgegangen war, doch Porthos war nicht in Stimmung, um solche Nuancen zu hören. Er packte d’Artagnan am Kragen und schüttelte ihn heftig. „Aramis hat Francis aber nicht getötet!“
„Porthos, wir wissen, dass Aramis es nicht getan hat, aber der Richter ist nun mal nicht mit ihm befreundet! Er wird versuchen, Beweise für Aramis‘ Schuld zu finden. Also hör auf d’Artagnan zu schütteln, bevor er noch eine Gehirnerschütterung davonträgt und du auch noch im Gefängnis landest!“, bellte Athos.
Sofort liess Porthos d’Artagnan los. „Tschuldige“, murmelte er verlegen und tätschelte d’Artagnans Schulter. Schon längst an die emotionalen Ausbrüche seines Freundes gewöhnt, nahm dieser die Entschuldigung mit einem huldvollen Lächeln an, bevor er bekümmert anmerkte: „Wir werden den Rosenkranz wohl den Richter übergeben müssen.“
Athos glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. „Hast du nicht eben selbst noch gesagt, dass der Rosenkranz Aramis belasten könnte?“, fragte er und bemühte sich, jedes Wort langsam zu betonen.
D’Artagnan zog dieses bockige Gesicht, das er immer aufsetzte, wenn er sich ungerecht behandelt fühlte. Dieser Ausdruck erinnerte Athos immer an diese furchtbaren Möpse, die Anne sich kurz nach ihrer Hochzeit zugetan hatte. Die hatten genauso geguckt, wenn Athos sie aus dem Haus geworfen hatte. Er war heute noch überzeugt, dass Anne sie nur deshalb zu sich genommen hatte, um ihn zu ärgern. Sie hatte sich immer halb tot gelacht, wenn er mal wieder in einen Hundeschiss getreten war.
„Es wäre unehrenhaft, dem Gericht den Rosenkranz zu verschweigen. Ein echter Musketier, lügt nicht!“, erklärte d’Artagnan und warf sich in Pose, wie er es manchmal tat, wenn er ein weibliches Wesen beeindrucken wollte.
Athos unterdrückte den Impuls sich mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Mit einem Porthos, der gerade beim geringsten Anlass in die Luft ging und einem d’Artagnan, der einen geradezu krankhaften Hang zu Ehrlichkeit und dazu noch immer völlig verquere, romantische Vorstellungen vom Leben als Musketier hatte, konnte er froh sein, keine geistigen Schäden davonzutragen. Noch ein Grund Aramis aus dem Kerker zu holen. Auch wenn dessen theologische Abhandlungen auch nicht immer das Gelbe vom Ei waren.
Athos steckte den Rosenkranz ein. „Wir werden ihn natürlich nicht dem Richter übergeben. Sonst können wir Aramis gleich die Schlinge vorbeibringen.“
Porthos nickte zustimmend, doch d’Artagnan wirkte noch immer unbefriedigt. „Es ist nicht richtig“, beharrte er.
Glücklicherweise ging Porthos diesmal nicht gleich dazu über den jungen Musketier zu erwürgen, stattdessen legte er mit einem milden Lächeln den Arm um d’Artagnan Schultern. „Du musst es einfach so sehen: Wir haben den Rosenkranz gefunden. Die Rote Garde nicht. Es ist quasi, Schicksal. Ja, es würde mich nicht wundern, wenn Gott selbst seine Finger im Spiel hätte. Er mag Aramis.“
„Du weisst aber schon, dass Aramis nicht die Wiedergeburt Jesus ist, oder?“, fragte d’Artagnan und an seinem leichtherzigen Tonfall konnte Athos hören, dass seine Skrupel schon überwunden waren.
Porthos riss scheinbar überrascht die Augen auf. „Ist er nicht? D’Artagnan, du hast mir meinen Glauben genommen! Schäm dich!“
Athos verdrehte die Augen. „Seid froh, dass er nicht Jesus ist. Sonst würde er gekreuzigt und wir dürften dabei zusehen. Und wisst ihr, ich gebe eine verdammt schlechte Maria ab.“
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Anmerkung: Es freut mich sehr, dass die Geschichte so gut ankommt. Sie liegt mir wirklich am Herzen und es macht unglaublich viel Spass, in die Haut der Jungs zu schlüpfen. Der humorvolle Ton wird bestehen bleiben, einfach aus dem Grund, weil mir diese schrägen, witzigen Szenen quasi aus der Tastatur fliessen, während andere sich da schon störrischer anstellen. Aber dennoch wird es jetzt erstmal richtig düster für unseren Lieblingspriester/Musketier.
Kapitel Und ich lächelte und war froh
Kapitel 3
Und ich lächelte und war froh…
„Was soll das heissen, die Gerichtsverhandlung ist morgen?“, Porthos sah aus, als wolle er Tréville auf der Stelle den Hals umdrehen und d’Artagnan legte vorsichtshalber eine Hand auf seinen Arm. Er wusste, Porthos vergötterte ihren Captain, aber er liebte Aramis und momentan würde er jeden aus dem Weg räumen, der sich zwischen ihn und Aramis‘ Befreiung stellte.
Tréville sah aus, als sei er um Jahre gealtert und liess sich erschöpft in seinen Stuhl sinken. „Der König lässt nicht mit sich reden. Er will die Sache schnell aus der Welt schaffen.“
Athos liess ein unwilliges Knurren hören. „Falsch. Richelieu will die Sache schnell aus der Welt schaffen!“
Natürlich. Richelieu. Schon allein der Klang des Namens brachte d’Artagnan dazu die Hände zu Fäusten zu ballen. Wenn der Kardinal im Hintergrund die Fäden zog, dann hatte Aramis keine Chance auf eine gerechte Gerichtsverhandlung. Wie schon so oft dachte d’Artagnan, dass sein Leben bedeutend einfacher wäre, wenn er Richelieu einfach einen Kopf kürzer machen würde. Vielleicht war sogar die Hölle ein annehmbarer Preis dafür.
„Wir haben nichts um Aramis zu entlasten!“, stiess Porthos verzweifelt hervor und wirkte für einen Moment so verloren, dass d’Artagnan einen Arm um seine Schultern schlang und ihn kurz an sich drückte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Athos in seine Tasche griff und wusste, dass er nach dem verräterischen Kruzifix tastete. Er biss sich auf die Lippen. Noch immer fand er es nicht richtig, dass sie ihren Fund Tréville verschwiegen, andererseits wollte er Aramis unbedingt helfen und wenn er es nur mit Lügen konnte, musste das eben sein.
„Wenn wir Glück haben, wird morgen noch kein Urteil gefällt. Wir haben immer noch genug Zeit um den wahren Mörder zu finden.“ Er versuchte Optimismus zu verströmen, aber selbst in seinen eigenen Ohren hörten sich die Worte hohl und leer an. Der Mörder müsste schon von selbst in Trévilles Arbeitszimmer reinspaziert kommen, wenn sie ihn noch rechtzeitig finden wollten.
Tréville gab sich einen sichtbaren Ruck. „D’Artagnan hat Recht. Ich möchte, dass ihr Francis‘ Leben auseinandernehmt. Ich will alles wissen. Seine Liebschaften, seine Geldangelegenheiten, wann er pissen ging und wann seine Grossmutter gestorben ist.“
„Sehr pietätvoll“, rutschte es d’Artagnan heraus, was ihm einen mörderischen Blick von Tréville einbrachte. „Sehr pietätvoll ist eine Hinrichtung auch nicht! Glaube nicht, es macht mir Spass, im Leben meines verstorbenen Musketiers zu wühlen, aber wenn ich dadurch Aramis retten kann, werde ich notfalls mit Francis‘ Hebamme reden!“
„Porthos spricht mit Francis‘ Witwe“, erklärte Athos.
Porthos drehte sich empört zu ihm um. „Wieso soll ich mit Francis‘ Witwe sprechen? Weil ich so sensibel bin oder was?“
Athos zuckte lässig mit den Schultern. „Da unser Mann für das Sensible gerade hinter Gittern sitzt, bleibst nur du übrig.“
Porthos sah aus, als wolle er gleich aus dem Fenster springen. „Ich bin kein Witwentröster“, protestierte er gequält.
„Eigentlich ist sie ja gar keine Witwe. Sie ist ja nur Francis‘ Verlobte“, überlegte d’Artagnan laut. Als Porthos sich ihm zuwandte und dabei aussah, als wolle er ihm zum zweiten Mal an diesen Tag erwürgen, hob er beschwichtigend die Hände und fügte hinzu: „Wir müssen in den Leichenkeller. Das ist auch nicht gerade das Wahre.“ Noch schlimmer, er musste mit Athos in den Leichenkeller. Porthos oder Aramis machten immer Scherze, wenn ihr Weg sie dorthin führte, wo die Toten von Paris endeten, aber Athos fiel dann immer in diese melancholische Stimmung, die meist zu einem Trinkgelage oder einer Schlägerei führte.
„Leichen weinen wenigstens nicht.“ Porthos war immer noch nicht versöhnt mit der Aufgabenverteilung, weshalb d’Artagnan zu schwereren Waffen griff. „Du willst doch Aramis helfen oder? Stell dir vor, er wird gehängt, nur weil du dich nicht mit einer weinenden Frau auseinander setzen wolltest…“
„Ist ja gut, d’Artagnan“, fauchte Porthos, „ich hab’s verstanden.“
D’Artagnan grinste. Vielleicht sollte er den Kardinalshut nehmen. Manipulieren konnte er schon. Und Intrigieren konnte ja nicht so schwer sein.
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Ellen, Francis‘ Verlobte, war eine hübsche Person doch das tiefe Schwarz passte nicht recht zu den weichen, blonden Locken und den Sommersprossen auf ihrer Nase. Ihre Augen waren gerötet und dennoch wirkte sie eher wütend als traurig, als sie Porthos erkannte und ihr Mund verzog sich zu seinem missmutigen Strich.
„Was wollt ihr?“, zischte sie.
Porthos blinzelte überrascht. Er kannte Ellen und mochte sie eigentlich, auch wenn sie ihm immer eine Spur zu naiv und albern gewesen war. Als er sie das letzte Mal, bei der Weihnachtsfeier der Musketiere gesehen hatte, hatte sie sturzbetrunken eine äusserst verunstaltete Version von „Stille Nacht“ von sich gegeben. Mit diesem feindseligen Verhalten hatte er nicht gerechnet. Aber obwohl sie aussah, als wolle sie ihn und seine Freunde auf der Stelle erwürgen, nahm er den Hut ab und sagte: „Es tut mir sehr leid, Ellen.“
Ihre blauen Puppenaugen verengten sich. „Das Ihr es wagt, hierherzukommen!“, spuckte sie ihnen entgegen und machte Anstalten, die Türe zuzuwerfen. Doch Porthos reagierte wie üblich blitzschnell und schob den Fuss dazwischen. Er hatte damit gerechnet, dass sie aufgebracht sein würde, aber diesen Hass, Eden sie ihm entgegenbrachte, kam wie aus dem Nichts und so knurrte er unwillig: „Was soll das?“
„Aramis hat ihn getötet. Euer ach so guter, frommer Freund hat meinen Verlobten ermordet!“
Porthos spürte, wie er selbst wütend wurde und er musste tief durchatmen, um seine Stimme ruhig zu halten und sie nicht anzuschreien. Einer trauernden Frau den Schädel einzuschlagen, würde dem momentan ohnehin schon angeschlagenen Ruf der Musketiere nicht gerade helfen. „Das wissen wir doch noch gar nicht. Ihr kennt Aramis! Ihr wisst, dass er das nicht tun würde. Er und Francis waren Freunde!“
Ellens Augen schleuderten förmlich Blitze. „Ich weiss, dass Ihr Aramis für einen Heiligen haltet, aber Ihr verschliesst die Augen vor der Wahrheit: Er hat Francis getötet!“
Porthos ohnehin nur mühsam aufrecht erhaltene Contenance schwand. „Er wird nicht wieder lebendig, nur weil Ihr den erstbesten Verdächtigen die Schuld zuweist. Was für ein Grund sollte Aramis denn haben Francis zu erstechen?“, brüllte Porthos zurück und es ist ihm völlig egal, dass sich die Leute auf der Strasse verwundert nach ihnen umsahen.
Jetzt trat ein merkwürdiger Ausdruck, den Porthos nicht zu lesen vermochte, in Ellens Gesicht. „Er hatte einen Grund. Glaubt mir“, sagte sie gefährlich leise und mit diesen rätselhaften Worten schlug sie die Tür vor der Nase des verdutzten Porthos zu. Er starrte fassungslos die Tür an, während sein Verstand noch versuchte, Ellens Worte zu verdauen.
Er hatte einen Grund…Ellen war eine hübsche Frau…Aramis sehr charmant…
Porthos schloss die Augen. Ob es wohl eine Frau in ganz Paris gab mit der sein Freund nicht geschlafen hatte? Oder anders gefragt: Konnte Aramis nicht einmal mit einer Frau schlafen, ohne das es Ärger gab?
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„Sauberer Stich ins Herz. Hat nicht lange gelitten.“
Athos verdrehte die Augen. Genau darum hasste er es, den Leichenkeller aufzusuchen. Monsieur Duval, den er bei sich nur den Leichenfledderer nannte, war ein unangenehm riechender und erbarmungsloser Mensch, für den die Körper, die bei ihm landeten nichts mehr waren, als eine Ansammlung von Knochen. Er hatte einen morbiden Charakter und Athos wusste, es machte ihm Spass die Leichen zu begutachten und sie wenn nötig aufzuschneiden.
Aber wenn er die Wahl hatte zwischen einer hysterischen Frau und dem Leichenfledderer, war ihm das Letztere immer noch lieber.
„Und es war auf jeden Fall Mord? Es ist nicht möglich, dass es irgendwie ein Unfall war?“, fragte d’Artagnan, der seine ihm eigene Unbeschwertheit nicht einmal inmitten eines Kellers voller Leichen verlor und sogar mit einem gewissen Interesse die Leichen musterte.
Duval verdrehte die Augen. „Natürlich ist es möglich, dass der Musketier gestolpert, gestürzt und dann in einen Dolch gefallen ist…aber das wäre dann doch fast so etwas wie ein göttliches Wunder.“
„Hat er sich gewehrt?“, fragte Athos.
Duval sah ihn an, als sei er derjenige, der gerne Leichen aufschnitt. „Woher soll ich das wissen? Ich vermute mal, nein, er hat sich nicht gewehrt. Er stand wohl sehr offen zu seinem Mörder, hat ihn wohlmöglich vertraut…sonst hätte er nicht so zielsicher zustechen können.“
D’Artagnan warf Athos einen beunruhigten Blick zu. Das alles half Aramis kein bisschen, eher im Gegenteil, es war sogar belastend.
Einer plötzlichen Eingebung folgend erkundigte sich Athos: „Was ist mit seinen Sachen? Wurden sie ihm abgenommen?“
Duval zog ein Gesicht und Athos wusste, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Der Leichenfledderer hatte vorgehabt, die Gegenstände zu stehlen. So wie er es immer tat, wenn man nicht aufpasste. Missmutig griff er in seine Tasche und warf d’Artagnan einen kleinen Beutel zu, der ihn geschickt auffing. „Hab ich wohl vergessen.“
Athos warf ihm einen scharfen Blick zu. D’Artagnan schüttelte den Inhalt des Beutels auf seine flache Hand. Ein Rosenkranz war dabei, ein Ring und ein Medaillon, mädchenhaft und zierlich gearbeitet, wahrscheinlich von Ellen. Ungebeten spürte Athos einen Kloss im Hals. Er war Francis nicht so nahegestanden und dennoch waren diese persönlichen Dinge so erfüllt von seinem Geist, dass es ihn schmerzte. Er steckte den Beutel ein. Ellen würde die Sachen haben wollen.
D’Artagnan spürte seinen Stimmungsumschwung. „Können wir ihn sehen?“, stellte er die Frage, die er nicht zu stellen gewagt hatte. Duval schnaubte, was Athos so ärgerte, dass seine Hand wie von selbst zum Degen griff, doch d’Artagnan umschloss sie sanft mit seinen Fingern und fügte an Duval gewandt ein leises Bitte hinzu.
Francis‘ Körper wirkte irgendwie falsch auf diesem kalten Tisch. Athos ertrug seine Nacktheit nicht und löste den Verschluss seines Umhangs um ihn über Francis‘ Körper zu breiten. „Ruhe in Frieden“, murmelte er, während d’Artagnan sanft über Francis‘ Stirn strich. Und als Athos diese schlichte, liebevolle Geste sah, die immer so selbstverständlich von diesem jungen Musketier kamen, wurde er plötzlich von einer grauenhaften Angst gepackt. Was wenn er d’Artagnan einmal hier finden würde? Zerschlagen, geschunden, tot. Was wenn sein Freund, dieser wunderbare Freund, vor ihm liegen würde, leblos und auf immer fort? Oder wenn es Porthos wäre, der grossartige, mutige Porthos, das Lachen für immer erloschen, der Blick aus den dunklen, warmen Augen gebrochen? Oder Aramis…
Die Antwort war einfach: Er würde es nicht ertragen.
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Aramis war kalt. Obwohl ein warmer Frühling in Paris Einzug hielt, war der Kerker nicht nur eiskalt, sondern auch feucht und von den Wachen schien niemand erpicht darauf zu sein, ihm die Gefangenschaft angenehmer zu machen. Er zitterte wie Espenlaub und wünschte sich verzweifelt eine Decke oder zumindest einen Mantel. Sein Kopf pochte noch immer und er hatte solchen Hunger, dass sein Magen schmerzte. Wenn nicht die Ketten gewesen wären, die ihn mit eisernem Griff hielten, er hätte sich in die Ecke gelegt und sich zusammengerollt wie ein kleines Kind.
Stattdessen streckte er die Beine aus, lehnte die Stirn gegen die Wand und versuchte in den Schlaf zu flüchten. Er war so müde, dass es ihm endlich gelang einzuschlafen, doch diese Gnade währte nicht lange. Schwere Schritte, das Rascheln von Kleidern und das Klirren eines Schlüssels weckten ihn. Als er mühsam die Augen öffnete, wünschte er sich beinahe schon tot zu sein, denn er blickte direkt in das triumphierende Gesicht von Kardinal Richelieu.
Aramis legte den Kopf in den Nacken. „Ich würde ja Euren Ring küssen, aber ich bin gerade ein bisschen eingeschränkt in meiner Bewegungsfreiheit.“
„Eure Frechheit wird Euch bald noch vergehen. Euch wird morgen der Prozess gemacht.“ Richelieus Stimme war samtig und weich, doch es nahm seinen Worten nicht die Schärfe. Aber Aramis war zu stolz, um sich eine Blösse zu geben und antwortete nur: „Ich habe es schon immer gehasst, Sachen auf die lange Bank zu schieben.“
„Ich bin nicht sicher, ob Ihr Euch über Eure Situation im Klaren seid.“
„Ich bin dankbar, dass Ihr mich darüber aufklärt. Was wäre ich nur ohne Eure Drohungen?“
Aramis wusste, der Kardinal war ein gefährlicher Gegner. Aber da er schon ganz unten angekommen war, konnte er auch gleich damit weiterfahren sich in die Bredouille zu reiten. Und er war so müde, er hatte keinen Nerv für Richelieus Spielchen und sein Geist fühlte sich sogar zu benommen am, um sich gross Sorgen zu machen. Er wollte einfach schlafen.
Zu seiner Überraschung beugte Richelieu sich vor. Aramis erschrak über die plötzliche Nähe und er wäre zurückgewichen, wenn er gekonnt hätte. Denn dieses Gesicht war nichts, dass er von Nahen sehen wollte. Aber es wurde noch schlimmer. Richelieus lange, feingliedrige Hand legte sich auf seine Stirn und er konnte einen Laut des Ekels gerade noch unterdrücken. Es fühlte sich an, als berühre ihn der Teufel persönlich.
Richelieu schnalzte mit der Zunge. „Es scheint, als brütet Ihr was aus.“ Sein langer Zeigefinger glitt über Aramis‘ Wange. Er liess es starr über sich ergehen. Richelieu wollte ihn reizen, er wollte es geniessen, dass es ihm so ausgeliefert war und sich nicht wehren konnte gegen diese ungewollten Berührungen. „Es ehrt mich, dass Ihr Euch so um meine Gesundheit sorgt. Es würde mich zutiefst bekümmern, wenn ich meine Verabredung mit dem Henker verpassen würde.“
Von der lauernden Zartheit war plötzlich nichts mehr zu spüren. Der Kardinal packte ihn grob am Kinn und zwang ihn direkt in seine Augen zu blicken. „Du wirst sterben, Musketier“, zischte er, jegliche Form von Höflichkeit fiel von ihm ab, „du wirst sterben und deine Freunde werden dir dabei zusehen.“
Aramis erwiderte Richelieus Blick ruhig. „Das ist gut. Sie mögen eine gute Hinrichtung. Wäre schön, wenn Ihr für sie Plätze reservieren könnt. Damit ihnen auch ja nichts entgeht.“
„Ihr und Eure Sprüche! Die werden Euch nichts mehr nützen, wenn Ihr mit zitternden Knien vor dem Henker steht.“
Aramis stiess einen schweren Seufzer aus. Die Erschöpfung liess ihn schon schwammig vor Augen werden und ihm war immer noch so verflucht kalt. „Warum seid Ihr hier, Richelieu? Um Euren Triumph auszukosten? Geniesst es nur, so lange Ihr noch könnt. Die Macht der Königin wird von Tag zu Tag grösser. Und wenn sie Louis einen Erben schenkt, was glaubt Ihr wo da Eurer Platz ist? Weiterhin an der Seite des Königs? Nein, Ihr seid dann da, wo Hunde hingehören: Unter dem Tisch, wo ihr darauf wartet, dass Ihr die Knochen abnagen könnt, die man Euch gnädig zuwirft!“
Er war zu weit gegangen. Er wusste es in dem Moment, als Richelieus Gesicht ganz starr wurde. Dabei wirkte der Kardinal nicht einmal so wütend. Ganz ruhig, beinahe sanft legte er die Hand auf Aramis‘ Hinterkopf. Und mit genau derselben Bedachtsamkeit krallte er seine Finger in Aramis‘ Haar und schlug seinen Kopf seitlich gegen die Steinmauer. Sterne explodierten vor seinen Augen, während sein Schädel zu bersten schien und in seinen Ohren rauschte das Blut. Er spürte noch, wie sein Körper aufschlug, während der Kardinal ungerührt zusah, wie sein Blut das Stroh verklebte.
Und dann spürte und sah er nichts mehr.
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Tréville musste nicht fragen, um zu wissen, dass seine Musketiere nichts gefunden hatten, dass Aramis helfen könnte. Der Blick in ihre trübsinnigen Gesichter reichte schon aus. Er wollte mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, beherrschte sich aber. Er wollte neben all dem Unglück sich nicht auch noch um neues Mobiliar kümmern müssen. Stattdessen stützte er sich schwer auf seinen Schreibtisch und sagte: „Ihr seht aus, als wärt ihr alle von eurer Geliebten verlassen worden.“
Porthos zerknautschte seinen Hut so heftig, als sei er Schuld an der ganzen Misere. „Ellen ist der Überzeugung, Aramis habe Francis getötet.“
Tréville hob die Augenbrauen. „Und wie kommt sie auf diese Idee?“
Auf einmal wirkte Porthos verlegen. „Nun ja, sie hat angedeutet…also sie meint…“
Der Groschen fiel sofort. Tréville stöhnte. „Porthos, ich weiss durchaus wie das mit Frau und Mann funktioniert. Und ja stell dir vor, ich weiss auch, dass Aramis keine Jungfrau mehr ist. Also hat er mit ihr angebandelt.“
„Das bezweifle ich. Aramis und Ellen, die hatten sich eigentlich nie viel zu sagen. Und selbst wenn, wäre es für ihn eher ein Ausrutscher gewesen. Und deswegen würde er wohl kaum Francis erstechen.“ Athos stellte wie üblich ganz ruhig die Tatsachen fest. Doch Tréville wusste sofort, was der Haken an dieser Argumentation war. „Aber man könnte auch sagen, dass Francis eifersüchtig auf Aramis war und vielleicht auf ihn losgegangen ist. Und Aramis hat sich gewehrt.“
„Und die Kopfwunde hat er sich gleich selbst beigebracht“, fügte Porthos sarkastisch hinzu.
„Duval sagt, es sei ein präzis ausgeführter Stich gewesen. Direkt ins Herz“, erzählte d’Artagnan bedrückt und mit gesenkten Kopf, „Aramis wüsste wie zustechen. Auch das wird den Richter interessieren.“
Tréville fühlte sich auf einmal merkwürdig leer. „Soll das heissen wir haben nicht nur nichts: Wir haben auch noch einen Haufen Beweise für Aramis‘ Schuld?“, fragte er mit leiser, gepresster Stimme.
Betretenes Nicken, in Porthos‘ Fall sogar einen heftigen Tritt gegen das Stuhlbein. Tréville massierte sich die Schläfen und wünschte sich, er könne damit seine Sorgen aus seinem Kopf verdammen. Aramis im Gefängnis, Porthos dauergereizt, Athos kurz davor wieder zur Flasche zu greifen. Bald würden er und d’Artagnan das Regiment wohl alleine führen müssen. Er hätte wirklich ein Krämer werden sollen, statt Soldat.
Mit einem Mal straffte Athos die Schultern. „Wir vergessen einen Spieler auf diesem Feld.“
D’Artagnan warf ihm einen schiefen Blick zu. „Wenn du jetzt Gott sagst…“
Doch Tréville ahnte worauf er hinauswollte. Der König war in Richelieus Hand, aber die Königin hatte ein Herz für Musketiere. Und Aramis hatte ihr mehr als einmal das Leben gerettet. „Anna. Sie wird tun, was in ihrer Macht steht.“
Und er bettete, dass ihre Macht gross genug war.
Kapitel ...und es kam schlimmer
Kapitel 4
…und es kam schlimmer
D’Artagnan war nach Athos‘ bestimmten Worten einigermassen beruhigt zu Bett gegangen und seine Fähigkeit zum Schlafen liess ihn ohnehin nur äusserst selten im Stich. So stand er nun sehr ausgeruht und frisch neben seinen zwei Freunden, die im Gegensatz zu ihm aussahen, als hätten sie die ganze Nacht damit verbracht, um den Louvre zu rennen. Beide waren müde, unausgeschlafen und äusserst gereizt.
Porthos verlagerte sein Gewicht ständig von einem Bein zum anderen und trommelte nervös mit den Fingern auf seinen Degen, der ein regelmässiges, melodiöses Klirren von sich gab. Athos stöhnte entnervt. „Lass das, Porthos oder ich steck ihn dir dorthin, wo er bestimmt nicht mehr Lärm machen kann!“
Sofort hörte der grosse Musketier damit auf. „Wo bleiben die denn so lange?“, knurrte er.
Das fragte sich d’Artagnan allerdings auch. Das neugierige Volk hatte sich schon versammelt, gespannt darauf wartend einem königlichen Musketier beim Fall zuzusehen. D’Artagnan konnte sogar einige Angehörige des Adels ausmachen, die es sich nicht nehmen liessen, einen neuen Skandal beizuwohnen. Doch das hohe Gericht fehlte ebenso wie Aramis. „Wird der König auch kommen?“
Athos zuckte mit den Schultern. „Es geht um einen Musketier. Da erscheint er manchmal.“
Ein ungutes Gefühl breitete sich in d’Artagnans Magen aus. „Aber die Königin kommt bestimmt?“
„Sie wird nicht zulassen, dass Aramis verurteilt wird“, sagte Athos und wieder wunderte sich d’Artagnan über die Sicherheit in der Stimme seines Mentors. Natürlich mochte Anna Aramis, aber sie war schwanger und hatte vielleicht gerade andere Sorgen als die Ehrenrettung eines Musketiers.
Porthos hatte gar nicht auf die Unterhaltung geachtet, sondern starr auf die Tür geblickt. Jetzt straffte er auf einmal die Schultern. „Sie kommen.“
Doch als d’Artagnan sah, wer da kam, wünschte er sich beinahe, sie hätten sich noch ein wenig Zeit gelassen. Denn herein kam kein Richter, sondern in einem wehenden, roten Mantel Kardinal Richelieu selbst und das triumphierende Lächeln auf seinem fuchsigen Gesicht, verhiess nichts Gutes für Aramis. D’Artagnan fühlte wie Panik in ihm aufsteigen. Wenn Richelieu Gericht hielt, stand das Urteil eigentlich schon fest.
Hinter ihm wurde Aramis in den Raum gezerrt. D’Artagnan hatte nicht erwartet, dass er aussehen würde wie das blühende Leben, aber dass er so schlecht aussah, dass der sonst so gesunde und strahlende Aramis überhaupt so aussehen konnte, das hatte er sich nicht vorgestellt. Und an dem scharfen Luftholen zu seiner linken und rechten Seite erkannte er, dass es Porthos und Athos nicht viel anders ging.
„Was haben sie mit ihm gemacht?“, fragte Porthos grollend und d’Artagnan lege ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter, obwohl er selbst nicht übel Lust hatte, Kardinal Richelieu seine Faust ins Gesicht zu rammen.
Aramis sah aus, als wäre eine Horde Kühe über ihn hinweg getrampelt. Sein Haar war blutverklebt und auf der linken Seite seines Gesichts verteilten sich unschöne Blutergüsse, die sich gespenstisch von seiner bleichen Haut abhoben. Seine Hände waren gebunden, ein roter Gardist hielt ihn am Ellbogen gepackt und schleifte ihn vorwärts. Er taumelte stark und schien Mühe zu haben seinen Blick zu fokussieren. Aber am schlimmsten war das Zittern, das seinen ganzen Körper erbeben liess. Und trotzdem huschte so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht, als er seine Freunde sah.
Tréville hielt sich dicht hinter seinem Musketier und an seinem Blick erkannte d’Artagnan, wie sehr Aramis‘ Zustand ihm Sorgen bereitete. Doch hinter Tréville kam niemand mehr. Weder der König. Noch die Königin.
Jetzt wurde Athos unruhig. „Verdammt, wo bleibt sie?“, fluchte er leise.
„Vielleicht kommt sie später“, antwortete d’Artagnan ebenso leise. Porthos blieb stumm, den Blick stur auf seinen besten Freund gerichtet, der gefährlich schwankte und von Tréville gestützt werden musste.
Athos schüttelte nur den Kopf und zog die Brauen zusammen, wie er es tat, wenn er nach der Lösung eines vertrackten Problems suchte. „Oder sie weiss es nicht.“
„Wie kann sie das nicht wissen? Richelieu wird es kaum unterlassen haben uns beim König anzuschwärzen.“
„Beim König, aber nicht bei der Königin. Ich hole sie.“
D’Artagnan blinzelte verwirrt. „Du willst ernsthaft in die Gemächer der Königin um sie hierher zu schleppen?“ Athos erstaunte ihn doch immer wieder. Kaum glaubte man, jetzt könne er einen nicht mehr überraschen, tat er entweder etwas ganz Heldenhaftes oder einfach nur etwas wahnsinnig Blödes.
Das jetzt war wohl eine Mischung davon.
In Blitzgeschwindigkeit hatte Athos sich seinen Hut aufgesetzt, Porthos noch schnell auf die Schulter geklopft und war hinausgestoben wie ein Rächer auf der Suche nach seinem nächsten Opfer. D’Artagnan seufzte schwer. Er liebte seine Freunde, aber manchmal machten sie es ihm verdammt schwer, nicht zu bereuen, dass er in ihr Leben gestolpert war.
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Aramis nahm alles nur durch einen dumpfen Nebel war. Er spürte Tréville Präsenz ebenso wie den harten Griff des Gardisten, er sah seine Freunde, die ihn musterten, als sei er bereits tot, er sah Athos, der geradezu panisch rausstürmte, er sah Richelieus falsches Grinsen und hörte, wie er die Anklage verlas, aber es drang alles nicht richtig zu ihm. Sein Kopf schmerzte inzwischen so sehr, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte und obwohl es hier bedeutend wärmer war als im Kerker, fror er noch immer. Das Einzige was sich heiss anfühlte waren seine Wangen.
Wenn er sich jemals beschissen gefühlt hatte, dann war es jetzt.
„Was habt Ihr zu Eurer Verteidigung zu sagen?“
Aramis schrak zusammen. Er hatte kein Wort von dem verstanden, was Richelieu gerade erzählt hatte und wie so oft, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand, flüchtete er sich in flapsige Bemerkungen. „Dass ich gut aussehe?“
Verhaltenes Lachen, dass Richelieu ungehalten unterband. „Wie schön, dass Ihr den Tod eines Musketiers so auf die leichte Schulter nehmt.“
„Ich weiss, für Euch ist der Verlust sicher unermesslich“, murmelte Aramis sarkastisch, aber Richelieus scharfen Ohren entging diese erneute Frechheit nicht. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während der rote Gardist dazu überging seinen Oberarm zu zerquetschen.
„Einen Kameraden zu töten ist das Abscheulichste was ein Soldat tun kann.“
In Aramis regte sich Widerstand. „Das weiss ich. Und ich würde das auch nie tun. Francis war mein Freund. Ich hatte keinen Grund ihm weh zu tun!“
„Aber Ihr lagt neben ihm in dieser schmutzigen Gasse.“
„Bewusstlos. Ich wurde niedergeschlagen. Wahrscheinlich vom Mörder selbst.“
Richelieu beugte sich vor, ein wahnhaftes Glitzern in seinen grauen Augen. „Oder aber, Ihr habt Euch mit Francis gestritten, Ihr habt ihn erstochen, aber es ist ihm gelungen Euch niederzuwerfen. Ihr seid mit dem Kopf aufgeschlagen und habt die Besinnung verloren.“
Wenn ihm nicht so elend gewesen wäre, hätte Aramis gelacht, weil dies alles so absurd klang. Erschöpft schloss er die Augen „Und warum sollte ich ihn erstechen? Weil mir eben gerade danach war oder was?“ Er höre Porthos‘ dunkles Lachen und klammerte sich daran wie an ein Rettungsseil. Sie waren hier. Porthos, d’Artagnan, Tréville. Athos hatte es zumindest versucht. Vielleich würden sie ihn sogar irgendwie da rausholen. Wenn das jemand konnte, dann sie.
Doch als er die Augen wieder öffnete und Richelieus triumphierende Miene sah, wusste er, dass es keine Hoffnung mehr gab.
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Ellen war das Idealbild einer trauernden Witwe in ihren langen, schwarzen Kleid und ihrem hauchzarten Schleier. Sie schritt in den Raum wie eine Königin und Porthos spürte eine neue Welle der Abneigung gegen diese Frau. Sie würde Ärger bedeuten, dass wusste er und die bitterbösen Blicke, die sie Aramis zusandte, als sie neben ihm stehen blieb, bestätigten seine dunkle Ahnung.
Aramis sah so aus, als breche er jeden Moment zusammen und Porthos wünschte sich nichts mehr, als ihn von hier wegzubringen, irgendwohin wo es warm war und sich ein verdammter Arzt um ihn kümmern konnte. Denselben Gedanken schien auch Tréville zu bewegen. Er schlang den Arm fest um seinen zitternden Musketier und fragte scharf: „Kann er sich wenigstens hinsetzen? Ihr seht doch, dass er sich kaum aufrecht halten kann!“
Der Kardinal nickte gnädig und Tréville führte Aramis umgehend zu einer Bank, wo er sich schwerfällig hinsetzte. Für einen Moment suchte er Porthos‘ Blick und er nickte ihm aufmunternd zu, hoffte, dass er verstand, dass er bei ihm war, dass er immer bei ihm bleiben würde, selbst bis zum Ende. Und als sich Aramis‘ Mundwinkel für einen winzigen Augenblick hoben, wusste er, sein Freund hatte verstanden.
„Mademoiselle Chopine. Ihr wart die Verlobte des ermordeten Francis?“ Richelieu klang so aufrichtig mitfühlend, dass selbst Porthos ihn geglaubt hätte, wäre er nicht schon oft in das zweifelhafte Vergnügen von Richelieus zahlreichen Intrigen gekommen. Dieser Mann war ein schlecht getarnter Wolf im Schafspelz.
Ellen schnüffelte geziert in ihr Taschentuch. „Das war er. Bis Monsieur Aramis ihn…“Sie schluckte schwer.
„Monsieur Aramis hat gar nichts“, rief Porthos. Dass dieses Weib es wagte ihre haltlosen Anschuldigungen hier vorzubringen! Dass sie Aramis willentlich ins Unglück stürzte! D’Artagnan zupfte an seinem Ärmel und erst dann wurde ihm bewusst, dass er den Degen schon halb gezogen hatte. „Lass das!“, zischte d’Artagnan warnend.
Richelieu sah Porthos kalt an. „Wenn Ihr die Verhandlung noch einmal unterbrecht, lasse ich Euch hinauswerfen“, und dann, in seiner öligen, verständnisvollen Stimme, „bitte fahren sie fort, Mademoiselle Chopine.“
Ellen nicke. Sie wirkte tatsächlich wie ein Häuflein Elend, doch für einen Moment glaubte Porthos in diesen blauen Augen einen verschlagenen Funken aufleuchten zu sehen. Doch sie senkte die Wimpern so schnell, dass er sich auch getäuscht haben könnte. „Ich schäme mich sehr dafür, aber es gab eine Zeit da…“ Ihre zarte Mädchenstimme brach.
Richelieu gab erneut den einfühlsamen Onkel. „Ihr braucht keine Angst zu haben. Sprecht.“
Ellen nahm einen tiefen, zitternden Atemzug. „Ich hatte ein Verhältnis mit Aramis.“
„Keine Überraschung“, murmelte d’Artagnan.
Doch für einen war es ganz offensichtlich eine ziemliche Überraschung und zwar für den Betroffenen selbst. Aramis wurde so blass wie ein Leintuch. „Wie…was erzählst du da?“, stammelte er. Porthos wusste nur zu gut, sein Freund war kein Sangeswunder und wenn es jemanden gab, der überzeugend lügen konnte, dann war es Aramis. Aber so elend wie dieser sich gerade fühlte, konnte nicht einmal dieser ausgefuchste Schauspieler den Schrecken so gut spielen.
Ellen vermied es, Aramis anzusehen. „Es ging nur ein paar Wochen. Dann habe ich es beendet. Weil ich Francis liebte. Ich beichtete es ihm. Und er verzieh mir.“
„Und wie reagierte Monsieur Aramis darauf?“
„Er wurde sehr wütend. Und sagte furchtbare Dinge wie, dass ich jetzt ihm gehöre und dass er Francis den Schädel einschlagen würde, wenn ich ihn jetzt einfach verlasse…“
Spätestens da wusste Porthos, dass sie log. Aramis würde niemals sagen, dass eine Frau ihm gehöre, dass widersprach völlig seinem freundlichen und warmherzigen Charakter. Wenn er liebte, dann liebte er wirklich, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Und er wollte geliebt werden, nicht gefürchtet. Porthos sah zu Aramis. Wehr dich, wollte er ihm zurufen, verdammt noch mal, wehr dich! Doch Aramis sah Ellen einfach nur an und der verletzte, verratene Ausdruck in seinen dunklen Augen war schlimmer, als es Wörter hätte sein können.
„Monsieur Aramis. Ihr bestreitet also, dass Ihr mit Mademoiselle Chopine intim wurdet?“
„Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Ich habe sie nie angerührt“, sagte Aramis und man hörte seiner Stimme an, wie erschöpft er war. Aber Ellens Stimme klang schneidend und klar, als sie kalt erwiderte: „Du Lügner!“
Und als sie das sagte, musste d’Artagnan seine Fingernägel in Porthos‘ Hand bohren, sonst hätte er sie an den Schultern gepackt und so lange geschüttelt bis die Wahrheit aus ihrem verlogenen Mund fiel. „Du kannst ihm nicht helfen“, flüsterte d’Artagnan, „du machst es nur noch schlimmer.“
Porthos fragte sich langsam, ob es überhaupt noch schlimmer kommen konnte. Keine Königin, dafür ein offensichtlich kranker Aramis und ein intrigantes Frauenzimmer…Es war fast wie in einer griechischen Tragödie. Und in Tragödien waren bekanntlich am Ende alle Protagonisten tot.
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Athos war ein Mann mit einem Auftrag und wie üblich, wenn er ein festes Ziel vor Augen hatte, scherte er sich nicht sonderlich um Gepflogenheiten oder Manieren. Diese Eigenschaft hatte schon seine Mutter in den Wahnsinn getrieben. Mit grimmiger Miene, die Hand auf dem Degen, den Hut tief ins Gesicht gezogen, stürmte er mit langen Schritten durch den Palast und kümmerte sich weder um die Rote Garde, die ihn mit harschen Befehlen zum Anhalten bringen wollte, noch um die Zofen und Hofdamen, die sich ihm händeringend in den Weg stellten.
Er erreichte die Gemächer der Königin, doch als er die breite Flügeltür aufstossen wollte, stellte sich ihm ein Gardist in den Weg. Er atmete schwer, ein Indiz dafür, dass er Athos die ganze Zeit nachgerannt war. „Halt!“
Athos musterte ihn nur aus schmalen, zusammengekniffenen Augen. „Ich muss zur Königin.“
„Sie ist nicht zu sprechen, Musketier“, entgegnete der Gardist hochmütig.
„Für mich ist sie zu sprechen!“
Ein herablassendes Lächeln kräuselte die Lippen des Soldaten. „Ihr vergesst Euch. Ihr seid nur ein schmutziger, heruntergekommener Musketier. Schert Euch fort!“
Athos war eigentlich kein Mann roher Gewalt. Das überliess er lieber Porthos oder d’Artagnan. Seine gräfliche Erziehung hatte eben doch Spuren hinterlassen. Von klein auf hatte er gelernt, dass Gefühle etwas für den niedrigen Stand waren. Doch er war kein Graf mehr, er war ein Musketier, ein Soldat des Königs und vor allem war er ein Mensch, der seinen Freund vor dem sicheren Tod bewahren wollte.
Seine Hand legte sich mit tödlicher Präzision um den Hals des Mannes. „Dieser schmutzige, heruntergekommene Musketier weiss übrigens genau, wie er anderen Schmerzen zufügt, gerade so, dass es richtig weh tut, aber nicht zwangsläufig zum Tod führt.“ Der Mann keuchte und Athos lockerte den Griff wieder.
Der Gardist rieb sich den Hals. „Das werde ich dem Kardinal melden!“
„Da habe ich aber Angst!“ Mit einer fast schon beiläufigen Bewegung packte Athos ihn am Kragen und schleuderte ihn achtlos zur Seite. Sein Gegner stolperte und stürzte direkt in eine äusserst kostbare und ebenso hässliche Vase, die ihn tausend Stücke zerschellte. Athos schenkte weder den Scherben, noch dem heftigen Fluchen des Gardisten Aufmerksamkeit, sondern trat zielstrebig in die Gemächer der Königin.
Es war ein dramatischer Auftritt, der selbst d’Artagnans grösste Heldenstücke in den Schatten stellte. Die Hofdamen der Königin sprangen auf wie erschreckte Hühner und quietschten erschreckt. Anna selbst wirkte schlichtweg erstaunt, ihr voller Mund öffnete sich und ihre Augen blickten eher fragend, als wütend.
Er machte eine halbherzige Verbeugung. „Eure Hoheit.“
„Athos.“ Sie stand auf. Die Schwangerschaft war inzwischen deutlich sichtbar, doch es tat ihrer Anmut und ihrer Würde keinen Abbruch. Schon immer hatte Athos ihren Stolz bewundert. Anna war mit jedem Zoll Königin, jeder ihrer Gesten und Handzeichen war huldvoll. Doch ihm gegenüber, zeigte sie auch stets eine weichere und mädchenhaftere Seite, was wahrscheinlich daran lag, dass er um ihre Liebe zu Aramis wusste.
„Hoheit, verzeiht wenn ich hier so eindringe, aber es geht um Leben oder Tod. Ich muss mit Euch alleine sprechen.“
Mit einer einzigen Handbewegung schickte Anna ihre Hofdamen aus dem Zimmer. Eine von ihnen, eine Schönheit mit roten Locken warf noch einen neugierigen Blick über ihre Schulter, bevor sie die Tür hinter sich schloss. „Geht es um das Leben des Königs?“, fragte die Königin rasch, kaum waren sie allein.
Athos schüttelte den Kopf. „Eure Hoheit, wenn Ihr nichts unternehmt, ist Aramis vor Sonnenuntergang ein toter Mann.“
Kapitel Das Wort der Königin
Kapitel 5
Das Wort der Königin
Es gab Momente im Leben, da wünschte man sich nichts sehnlicher als aufzuwachen, einfach, weil die Wirklichkeit so furchtbar war, dass man sich verzweifelt wünschte, es wäre nur ein böser Traum. Aramis hatte bisher wenige solche Momente gehabt, denn er gehörte zu jener Sorte Menschen, die aus jeder Situation irgendwas zu ihren Vorteil drehen konnten. Doch jetzt, als er wie ein Häufchen Elend dasass, die Hand Trévilles fest auf seiner Schulter und zuhören musste, wie Ellen diese Lügen erzählte und sah, wie Richelieu seine Freude kaum noch bezähmen konnte, war dieser Moment auch für ihn gekommen.
Aber es war kein Traum.
Richelieu wandte sich wieder ihm zu. Sein falsches, mitleidiges Lächeln löste eine neue Welle von Übelkeit in Aramis aus. „Monsieur Aramis, was ist an diesem Abend geschehen?“
Da war sie wieder. Die Frage, die er so fürchtete. Er leckte sich mit der Zunge über seine viel zu trockenen Lippen, eine nervöse Geste, für die er sich gleich darauf schämte. „Ich weiss es nicht.“ Es kam ihm vor, als hätte er diesen Satz schon tausend Mal wiederholt, vor seinen Freunden, vor Tréville, vor Richelieu. Und doch schien ihn niemand zu begreifen.
„Ihr scheint auffallend viel nicht zu wissen. Ihr wisst ja auch nicht mehr, dass Ihr mit der Verlobten Eures Freundes ein Verhältnis hattet.“
Aramis würgte seine Übelkeit herunter und versuchte, seiner Stimme ihren gewohnt lässig selbstbewussten Klang zu geben, als er antwortete: „Ich erinnere mich normalerweise an meine Bettgenossinnen und Ellen gehörte definitiv nicht dazu.“
Richelieu zog seine Brauen zusammen, was ihm das Aussehen eines Falken verlieh, der seine Beute anvisierte. „Ihr erinnert Euch also an nichts?“
„Er wurde niedergeschlagen und kann sich deshalb nicht erinnern. Wie oft muss er das noch sagen?“, fragte Tréville. Aramis war seinem Captain dankbar, dass er ihn so leidenschaftlich in Schutz nahm, aber er wünschte sich, er würde die Stimme ein wenig senken. Wenn er weiterhin so schrie, würde ihm gleich der Schädel platzen.
Der Kardinal ignorierte diesen Einwand gekonnt. Er legte die Fingerspitzen aneinander und liess das Kinn darauf ruhen. „Wenn Ihr Euch an nichts erinnert…Könnt Ihr Euch da denn absolut sicher sein, dass Ihr Euren Freund nicht getötet habt?“
Francis‘ Bild tauchte vor Aramis auf, der lachende, unbeschwerte Francis, der sich Huren auf seinen Schoss zog und gleichzeitig schmalzige Gedichte schreiben konnte. Der Francis, der ihn so oft umarmt hatte, der ihm gezeigt hatte, wie man eine Wunde nähte, der mit ihm über Bücher geredet hatte und so oft mit ihm angestossen hatte. Der jetzt tot und kalt und endgültig fort war, der nie wieder lachen würde, nie wieder mit einer Frau schlafen würde, nie Ellen heiraten würde. Diese Erkenntnis schmetterte ihn mit jäher Wucht nieder und mit wie von selbst antwortete er: „Nein, kann ich nicht.“
Er hörte Porthos‘ Stöhnen, das scharfe Lufteinholen Trévilles, das Raunen der Schaulustigen. Und als er in Richelieus freundlich lächelndes Gesicht sah, wusste er, dass er verloren hatte. Er würde als verurteilter Mörder sterben.
Kardinal Richelieu öffnete den Mund, um das Messer zum Todesstoss anzusetzen, da erklang eine neue Stimme; eine Stimme, die er nur zu gut kannte, eine Stimme, die das Befehlen gewohnt war, die er aber auch verletzlich und weich gehört hatte. Aber jetzt war sie barsch und kurzangebunden als sie laut fragte: „Was geht hier vor, Kardinal?“ Aramis‘ Herz schlug auf einmal rasend schnell. Die Königin war gekommen.
Anna war gekommen.
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Athos‘ Wortschatz wurde noch um einige spanische Fluchworte bereichert, als er die Königin in den Ratssaal begleitete und dem Klang nachzuschliessen, waren es noch kräftigere Schimpfwörter als Aramis sie normalweise brauchte. Er fragte sich, wo die wohl bestbehütete Frau in Frankreich diese aufgeschnappt hatte, entschied sich dann aber, seine Erkundigungen in einen weniger emotional aufgeladenen Zustand anzustellen.
„Der Kardinal hat verhindert, dass der König mich darüber in Kenntnis setzt. Aber ich werde nicht zulassen, dass er Aramis hinrichtet, nur um seinen kleinlichen Rachefeldzug gegen die Musketiere fortzusetzen“, zischte die Königin, die linke Hand fest auf ihren gerundeten Bauch gepresst. Die unausgesprochenen Worte schwangen deutlich in ihrer Stimme mit. Ich werde nicht zulassen, dass er den Mann tötet, den ich liebe.
Bevor sie den Gerichtssaal betraten, ergriff er so sanft wie möglich ihren Arm. „Eure Majestät, niemand wünscht sich mehr als ich, dass Aramis gerettet wird, aber vergesst nicht: Ihr seid die Königin.“ Er sah ihr fest in die Augen und sah, dass sie verstand: Ihr seid seine Königin, nicht seine Geliebte!
„Athos, ich werde so handeln wie es einer spanischen Prinzessin und Frankreichs Königin gebührt.“
Er musste lächeln als er ihren entschlossenen Gesichtsausdruck sah. Wahrlich er konnte verstehen wieso sich sein so lebenslustiger Freund in diese selbstbewusste, strahlende Frau verliebt hatte. So wie er es vor langer Zeit getan hatte. Nur dass es bei ihm nicht gut ausgegangen war. Und auch bei Aramis niemals gut enden würde.
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Als die Königin mit rauschenden Gewändern den Gerichtssaal betrat, mit Athos, der sich respektvoll in ihrem Schatten hielt, konnte d’Artagnan sich einen Freudenschrei gerade noch verkneifen. Stattdessen drückte er Porthos‘ Arm. Annas Auftauchen würde den Prozess die entscheidende Wendung geben, da hatte er keinerlei Zweifel.
Richelieu war aufgestanden und verbeugte sich gerade tief genug um nicht unhöflich zu sein. Er war ein zu beherrschter Mann, um sich seine Enttäuschung anmerken zu lassen, aber d’Artagnan sah deutlich, wie sich seine Hände unter den weiten Ärmel seines Gewandes zu Fäusten ballten.
Anna musterte den Kardinal kühl. „Ich bin überrascht, dass dieser Prozess stattfindet, kaum, dass der Leichnam des Musketiers kalt ist. Gewiss gibt es einen Grund für diese Eile.“
D’Artagnan kannte Anna als freundlichen und gütigen Menschen. Jetzt sah er zum ersten Mal eine Frau, die ihr Leben lang um Würde bemüht war und die mit jedem Zoll ihres Körpers Königin war und fest daran glaubte, von Gott für dieses Amt auserwählt worden zu sein. Ihr Kinn war leicht gehoben, die Hand ruhte auf ihrem gerundeten Bauch und sie sah so betont auf Richelieu hinab, dass klar wurde, dass sich ihre Rangfolge geändert hatte.
„Es war der Wunsch des Königs diese schmutzige Angelegenheit so schnell wie möglich aus der Welt zu schaffen.“
„Es war also der Wunsch meines Mannes, der sich selbst Louis der Gerechte nennt, dass ihr einen Mann vor Gericht zerrt, ohne dass ihr die Umstände näher beleuchtet, ohne ihm die Chance zu geben, sich zu verteidigen?“, fragte Anna und der Zorn liess ihre Wangen aufflammen. D’Artagnan hätte gerne applaudiert, aber wahrscheinlich würde er dann von Richelieu auf der Stelle zu Hochverrat verurteilt werden, wenn er seiner Königin Beifall spendete.
Richelieu wand sich sichtlich. „Nun, ich denke, dass in diesem Fall…“
Anna hob die Hand und erstickte so seine Verteidigung im Keim. Stattdessen wandte sie sich an Tréville. Der Hauptmann stand noch immer neben Aramis, die Hand auf seiner Schulter. „Captain Tréville. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Monsieur Aramis ein verdienter Musketier ist, der Frankreich stets unter Einsatz seines Lebens gedient hat?“
Tréville sah aus, als könne er sich nur schwer davon abhalten Anna zu umarmen. „Das ist richtig, Majestät.“
Annas Blick ruhte nun auf Aramis. D’Artagnan wusste, dass Anna Aramis mochte. Immerhin hatte er ihr mehrmals das Leben gerettet und war ein Schöngeist, ganz nach dem Geschmack der Königin. Auch jetzt wurde der Ausdruck ihrer Augen weicher, als sie den Musketier ansah und d’Artagnan glaubte sogar einen Hauch von Besorgnis in ihrem Gesicht zu lesen. Aber sie sprach nicht mit ihm, sondern richtete ihr Augenmerk wieder auf den Kardinal. „Dann verstehe ich nicht, warum er hier behandelt wird, als stünde seine Schuld bereits fest.“
Richelieus Miene verfinsterte sich. „Es gibt deutliche Hinweise, die diesen Schluss nahe legen, Eure Majestät.“ Die Floskel hängte er im letzten Moment noch an, als könne er sich nur schwer zu diesem Respektbeweise durchringen.
„Aber keine Beweise. Und kein Schuldeingeständnis.“
„Eure Majestät, mit allen gebührenden Respekt: Wir können nicht die Gefahr eingehen, ihn laufen zu lassen. Wer einmal zum Mörder wird, kann immer zum Mörder werden“, erwiderte Richelieu deutlich ungehalten. Dass er etwas die Fassung verlor, wertete d’Artagnan als gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass er seine Felle davon schwimmen sah.
„Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass ihr ihn freisprechen sollt. Aber ich verlange von Euch, dass ihr den Mord gründlich aufklärt. Ich verlange, dass Ihr erst dann das Urteil sprecht, wenn eindeutig bewiesen ist, dass Aramis schuldig ist. Bis seine Schuld oder seine Unschuld bewiesen ist, bleibt er in Haft. Dies ist der Wunsch Eurer Königin und ich rate Euch sehr, ihm nachzukommen!“
Mit diesen Worten drehte Anna sich um und rausche aus dem Saal, wobei Athos ihr die Türen aufhielt. Nicht nur der Kardinal, alle Anwesenden starrten dieser energischen Königin mit offenem Mund hinterher. „Das war wohl das, was man einen grosses Auftritt nennt“, flüsterte Porthos d’Artagnan zu und grinste von Ohr zu Ohr. D’Artagnan erwiderte das Grinsen. Anna hatte Aramis gerettet.
Zumindest für den Moment.
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Bevor die Wachen Aramis wieder abführen konnten, eilte Porthos zu ihm, wobei er einigen Prozesszuschauer auf die Füsse trat und noch mehr Gardisten „zufällig“ den Ellbogen in die Seite rammte. „Wartet!“, rief er. Die Soldaten hätten Aramis wahrscheinlich trotzdem rausgezerrt, wenn nicht Tréville aufgetaucht wäre und sie mit einem einzigen warnenden Blick zum Stillstehen gebracht hätte. Darum liebte Porthos seinen Captain so. Immer wenn man ihn brauchte, tauchte er wie aus dem Nichts aus.
Von Nahem sah Aramis noch schlechter aus. Seine Augen glänzten und seine Wangen waren gerötet, dennoch schaffe er es irgendwie Porthos anzulächeln. „Ich hoffe, du hast mein Bett in der Garnison noch nicht an jemand anderen vermietet. Vielleicht habe ich doch noch Verwendung dafür.“
Es war ein mehr als nur halbherziger Versuch zu scherzen. Aber es war bezeichnend für Aramis, das er versuchte sich in blöde Witze zu flüchten. Und dennoch wirkte er so verloren, so schwach und verletzlich ohne seine Waffen und seine Uniform. Spontan zog Porthos ihn in eine Umarmung und hielt den immer noch zitternden Leib fest in seinen Armen. „Alles wird gut, Aramis. Wir kriegen das hin. Wir kriegen doch alles immer irgendwie hin.“
Aramis drückte sein Gesicht an Porthos‘ Schulter. „Ich hatte nie eine Beziehung mit Ellen. Das musst du mir glauben“, murmelte er, doch Porthos achtete kaum auf seine Worte. Selbst durch den Stoff seiner Kleidung spürte er die Hitze, die von seinen Freund ausging. Er löste sich aus der Umarmung und schob Aramis von sich, um ihm eine Hand auf die Stirn zu legen. Erschrocken zog er sie zurück. „Aramis, du glühst ja.“
„Mir geht es nicht so gut.“
„Ach ja? Das wäre mir ja gar nicht aufgefallen!“ Die Besorgnis liess Porthos laut werden. Aramis war offensichtlich krank. Er brauchte einen Arzt, er brauchte Wärme und er brauchte ein vernünftiges Bett. Was er nicht brauchte waren kalte Steinfliesen, Gitter und Ratten.
Aramis seufzte. „Du wirst es nicht glauben, aber im Gefängnis achten sie nicht so wirklich auf meine Gesundheit. Da konzentrieren sie sich eher darauf, dass ich nicht davonlaufe. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass der Henker schwer enttäuscht sein wird, wenn ich sterbe, bevor er mir die Schlinge um den Hals legen kann.“
„Aramis, das ist nicht komisch!“, brauste Porthos auf. Wie konnte Aramis das so leicht hinnehmen? Menschen starben an Fieber! Ganz besonders, wenn sie in dunklen Kellerlöchern gefangen gehalten wurden. Aber dann bereute er es schon wieder Aramis angeschrien zu haben. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und er hatte nichts Besseres zu tun, als ihn anzubrüllen.
Doch Aramis war nicht wütend. „Porthos, mach dir nicht zu viele Gedanken. Ich werde schon wieder gesund, es ist nicht ungewöhnlich im Kerker krank zu werden. Ich werde einfach viel schlafen und während ich mir eine schöne Zeit machen, dürft ihr in den schmutzigen Gassen von Paris nach dem wahren Mörder absuchen.“ Er klang so selbstbewusst wie immer und sogar das freche Funkeln in seinen dunklen Augen war wieder da, so als stünden sie nicht in einem Gerichtssaal und als schwebte Aramis nicht in Lebensgefahr. Als zittere er nicht wie Espenlaub, weil ihm so kalt war.
Porthos berührte Aramis‘ geschwollene Wange. „Und was ist hier passiert? Haben sie dich geschlagen?“ Was für eine blöde Frage! Natürlich hatte man ihn geschlagen! Aber Porthos wollte von ihm hören, wer das getan hatte, damit er denjenigen verprügeln konnte oder noch besser, ihm gleich den Degen in den Leib stossen konnte!
Sanft zog Aramis die Hand von seinem Gesicht. „Ich war ein wenig vorlaut. Das ist meine eigene Schuld.“
„Aramis…“ begann Porthos, doch der rote Gardist verlor endgültig die Geduld. „Ich muss leider diese herzzerreissende Unterredung unterbrechen, aber wir müssen gehen!“
Porthos achtete nicht auf ihn. Stattdessen zog er seinen Mantel aus und wickelte seinen Freund behutsam ein. „Damit du mir nicht erfrierst“, erklärte er. Er hätte ihm noch viel mehr sagen wollen, aber da wurde Aramis schon fortgezerrt und ihnen blieb nicht mehr als sich noch ein flüchtiges Lächeln zuzuwerfen.
Tréville trat neben Porthos, den Blick ebenfalls auf Aramis‘ entschwindende Gestalt gerichtet. „Er ist zäh, Porthos. Er wird durchhalten.“
Porthos nickte abwesend. Ja, Aramis war bei Gott nicht zartbesaitet, auch wenn er manchmal den Eindruck machte, als sei er nicht mehr als ein verwöhntes Junkersöhnchen. Und dennoch, sein Hang sich in Schwierigkeiten zu bringen war legendär, auch wenn er in letzter Zeit ernsthafte Konkurrenz von d’Artagnan bekam. Vielleicht hatte er deshalb immer das Gefühl, ihn schützen zu müssen.
Tréville klopfte ihn aufmunternd auf die Schulter. „Wir kriegen das hin!“
Porthos schnaubte. „Wir sollten das als neues Motto nehmen. Es passt zu uns.“
„Nein, mein Guter. Wenn ich je ein neues Motto ausgebe wird es höchst wahrscheinlich lauten: Unser Captain wird’s schon richten.“
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Kapitel Lügen haben schöne Beine
Kapitel 6
Lügner haben schöne Beine
„Ellen lügt.“ Mit diesen Worten schlug Porthos die Tür von Trévilles Arbeitszimmer zu. Der Luftzug der Türe liess die Blätter auf dem Tisch rascheln und einige davon zu Boden flattern. Doch Tréville schien zu erschöpft um sich darüber zu ärgern. Er bückte sich lediglich, hob sie auf und warf sie dann achtlos auf ihren Platz zurück, bevor er seinen Hut und Degen ebenso lieblos in die Ecke pfefferte.
Athos wusste, es war kein gutes Zeichen, wenn der Captain sich so offensichtlich gehen liess. Aber es war ein langer Tag gewesen und er hatte ihnen allen an den Kräften gezerrt. Aramis war vorläufig gerettet, aber jede Stunde die ihr Freund im Kerker verbringen musste, war eine Stunde zu viel. Und draussen sah man bereits wieder das Abendrot hereinbrechen.
„Wir müssen sie dazu bringen die Wahrheit zu sagen“, grollte Porthos und er wäre wohl gleich aus dem Zimmer gestürmt, wenn Athos ihn nicht noch rechtzeitig am Ärmel gepackt hätte. Dank diesem Kunststück kugelte er sich beinahe die Schulter aus, denn Porthos zurückzuhalten hatte immer etwas von einem Kampf mit einem Stier.
„D’Artagnan und ich werden das übernehmen“, bestimmte Athos und erwiderte den zornblitzenden Blick seines Freundes ruhig.
„Und wieso übernehmt ihr das?“, giftete Porthos, die Hände in die Hüfte gestemmt.
„Weil wir ihr nicht gleich eine reinhauen werden, wenn sie vor uns steht und man grundsätzlich besser aussagen kann, wenn man in Besitz aller seiner Zähne ist“, übernahm d’Artagnan die Erklärung. Besser hätte man es auch gar nicht auf den Punkt bringen können, wie auch Tréville mit heftigen Nicken bestätigte.
Porthos öffnete den Mund um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder. Seinem mürrischen Gesichtsausdruck war zu entnehmen, dass er sich nur widerwillig fügte. „Ich will ihm nur helfen“, seufzte Porthos schwer, nahm den Hut ab und löste sein Kopftuch. Ohne diesen piratenhaft anmutenden Schmuck wirkte er auf einmal furchtbar müde und mutlos, ein Anblick, der Athos ins Herz traf. Porthos war nie entkräftet, er war immer voller Energie und Tatendrang.
„Porthos, du solltest versuchen den Abend zu geniessen. Du hast getan, was du konntest. Geh zu deiner Liebsten und lass dich von ihr verwöhnen“, riet Athos.
„Sag mal Athos, bist du verrückt? Mein Freund sitzt krank in einer Zelle und ich soll mich vergnügen?“, fragte Porthos, wobei er jedes Wort in die Länge zog um seinen Zorn Ausdruck zu verleihen.
„Klingt nach etwas, was Aramis vorschlagen würde“, sagte d’Artagnan mit einem feinen, ironischen Lächeln. Seine Bemerkung entlockte allen drei Musketieren ein Lachen. Ja, das wäre wohl tatsächlich Aramis‘ Methode mit einer solchen Situation umzugehen: Sich neben einer hübschen Frau ins Bett legen und sie nach allen Regeln der Kunst zu verführen. Oder er würde weise Bibelverse rezitieren, je nachdem ob er gerade in frommer oder liebestoller Stimmung war.
Gott, es schmerzte so, dass Aramis nicht bei ihnen sein konnte.
Tréville riss Athos aus seiner düsteren Stimmung, indem er mit den Fingerknöcheln auf seinen Schreibtisch klopfte. „Nun, meine Herren, wir verbringen den Abend folgendermassen: Athos und d’Artagnan werden die reizende Ellen besuchen, ich werde die Gaststätte ‚Zur Fröhlichen Gans‘ aufsuchen, um noch einmal mit dem Wirt zu sprechen und Porthos wird das Andenken seines Freundes ehren, indem er dessen liebster Beschäftigung frönt.“
Es war humoristisch gemeint, doch Porthos Gesicht wurde mit einem Schlag wieder todernst. „Sprecht nicht von Andenken. Ich muss mir kein Andenken von Aramis bewahren, denn er ist nicht tot. Er wird leben bis wir beide alt und grau sind und uns sogar zum Gang auf dem Abtritt gegenseitig stützen müssen!“
Athos war sich nicht sicher, ob das ein Versprechen oder eine Drohung war.
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Tréville kannte das Gasthaus „Die fröhliche Gans“ nicht. Er vermied es bewusst, dieselben Spelunken wie seine Soldaten aufzusuchen. Es gab Dinge, die wollte er nicht wissen und was seine Musketiere in der Nacht taten gehörte gewiss dazu. Dennoch hatte er eine bestimmte Vorstellung von der Kneipe, die seine Männer anzog wie die Motten des Lichts; und weil er deren zweifelhaften Geschmack kannte, stellte er sich ein schmutziges, heruntergekommenes Gebäude mit vor Staub blinden Fenstern und Huren vor der Türen vor.
Deshalb musste er zweimal blinzeln, als er vor der Gaststube stand. Das Schild, das über dem Eingang prangte war auffallend bemalt mit einer rosafarbenen Gans, die eine quietschblaue Schleife um den Kopf gebunden trug. Die Schrift war knallrot und so verschnörkelt, dass sie kaum zu lesen war. Aber auch ansonsten hatte man sich farblich ausgetobt. Die geblümten Vorhänge strahlten in einem satten Gelb und wirkten fürchterlich unpassend zu dem wuchtigen Gebäude, das mit grässlichen Wasserspeiern in Form von Engeln verziert war. Oder zumindest nahm Tréville an, dass die geflügelten, dickbäuchigen Babys Engel darstellen sollten. Die Fassade war wohl ursprünglich kunstvoll mit einer riesigen Gans bemalt gewesen, doch die Jahre hatten die Farbe abblättern lassen und den Vogel verblassen lassen, der, wenn Tréville richtig sah, ebenfalls eine dieser fürchterlichen Schleifen trug, allerdings in rosa. Dieses Haus wirkte bunt und zusammengewürfelt, so als hätte sich ein Maler nicht richtig entscheiden können, welchen Stil er ausprobieren sollte und einfach alles schnell hingekleckst.
Doch trotz des ungewöhnlichen Äusserem: Als Tréville das Gasthaus betrat, musste er sich beinahe mit Gewalt den Weg zum Tresen bahnen, denn es war rappelvoll und das, obwohl die Inneneinrichtung ebenfalls sehr gewöhnungsbedürftig war. Es gab rote Sofas, die eher in das Boudoir einer Dame gepasst hätten, als in einen Gasthof, überall auf den Tischen standen goldene Kerzenständer, an den Wänden hingen Bilder von schönen Damen und Herren und als Tréville den Kopf in den Nacken legte, erblickte er einen Kronleuchter, der so schief hing, als würde er jeden Moment herunterkrachen. Die Schankmädchen hatten weiss geschminkte Gesichter, aufgemalte Schönheitsflecken und aufgetürmte Frisuren; sie bewegten sich geziert und anmutig, als seien sie Prinzessinnen. Der Raum war erfüllt von Lachen, Gesprächen und Geschrei; eine bunte Ansammlung von Leben. Nun verstand Tréville, wieso Athos einmal gesagt hatte, er begleite Aramis grundsätzlich nur an dessen Geburtstag in die „Glückliche Gans“. Allein die Vorstellung des immer ernsten Musketiers, umgeben von diesen überdrehten Menschen, reizte ihn schon zum Lachen.
Zum Lachen reizte ihn dann auch die Gestalt des Wirtes, der hinter dem Tresen stand. Seine Kleidung war mehr als zusammengewürfelt, so trug er einen grossen, ausladenden Hut mit einer riesigen Pfauenfeder, die bei jedem Schritt neckisch auf und ab wippte, dazu einen roten Mantel, der ihn bis zu den Knie ging und mit goldenen Stickereien verziert war. Um den Hals hatte er sich einen türkisfarbenen Seidenschal geschlungen, der fast dieselbe Länge hatte, wie der Mantel. Er hatte blondes Haar, das ihn in mädchenhaften Ringellocken auf die Schultern fiel und einen feinen Schnurrbart, so perfekt gestutzt, das jeder Höfling hätte neidisch werden können. Obwohl umgeben von Bier und Rauch roch der Mann, als sei er gerade in einen Rosenstrauch gefallen.
Als er Tréville erblickte, breitete sich ein sonniges Lächeln auf seinem rundlichen Gesicht aus. „Was kann ich für Euch tun, mein lieber Captain!“, flötete er. Er hatte eine hohe, gezierte Stimme, die eher zu einer Dame, als zu einem Herren gepasst hätte.
Tréville konnte seine Verblüffung nicht ganz verbergen. „Ihr kennt mich?“
Der Wirt zog einen Schmollmund. „Oh, mon chéri, ich verbringe einen Grossteil meiner Zeit damit, die Kotze Eurer Männer wegzuwischen!“, rief er aus. Dann schenkte er Tréville einen fast schon neckischen Augenaufschlag. „Und ständig erzählen sie mir von ihrem tapferen Captain, den grossen Monsieur Tréville. Ich muss sagen, Euer Antlitz lässt mich glauben, dass all diese Geschichten sogar noch untertrieben waren.“
Tréville beschloss, auf dieses schamlose Gebaren nicht einzugehen. Er wusste, es gab Männer, die andere Männer liebten, aber für ihn war dies nicht nur unnatürlich, sondern widersprach auch Gottes Wort und er wollte nichts damit zu tun haben. Ohnehin fand er, dass ein zu ausschweifendes Liebesleben nur Probleme bereitete und fühlte sich durch die immer neuen Liebestragödien seiner Männer auch stets bestätigt.
„Und mit wem habe ich das Vergnügen?“, erkundigte sich Tréville betont kühl.
Elegant lüftete der Mann seinen Hut. „Monsieur Lefèvre, zu Ihren Diensten! Aber natürlich könnt Ihr mich auch getrost, Pierre nennen.“
Tréville ignorierte das unverschämte Angebot. „In Eurem Hinterhof ist ein Mann getötet worden.“
Monsieur Lefèvre verzog das Gesicht. „Das werde ich wohl nicht so schnell vergessen. Diese schrecklichen roten Gardisten, die sich alle plötzlich so brennend für meinen Laden interessierten! Und Ihr wisst ja was passiert, wenn Rote Gardisten und Musketiere aufeinandertreffen. Ich musste einen ganzen Tag lang schliessen, um die Sauerei wieder wegzumachen.“ In einer dramatischen Geste fasste er sich an den Kopf, gerade so, als führe schon die Erinnerung zu einem Schwächeanfall.
„Kanntet Ihr den Toten?“
Lefèvre schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Leider nicht wirklich. Ich weiss, dass er Francis hiess, ein Musketier war, ein mehr als angenehmes Äusseres hatte und gerne meinem Wein zusprach. Und leider meine Mädchen mehr mochte als mich.“ Bei den letzten Worten warf er einem Schankmädchen eine Kusshand zu.
„Francis war aber verlobt.“
Theatralisch griff Lefèvre sich ans Herz. „Er war verlobt? Und er hat trotzdem andere Frauen auf seinen Schoss gezogen? Ich bin empört! Entsetzt! Dass es so etwas gibt!“
„Seine Verlobte war aber nie hier?“
„Frauen kommen eher selten in mein bescheidenes Haus. Nein, Francis war immer mit Aramis hier. Ihr wisst schon: Dieser Musketier mit den dunklen Haaren und den feurigen Augen.“ Ein träumerischer Ausdruck glitt über Lefèvres Gesicht.
Tréville räusperte sich entnervt. „Ich weiss, wie meine Männer aussehen“, blaffte er. Sobald das alles hier vorbei war, würde er Aramis dafür bezahlen lassen, dass er sich seinetwegen mit diesen süsslichen Kerl unterhalten musste.
Eine fein gezupfte Augenbraue wanderte in die Höhe. „Aber wisst Ihr es auch zu schätzen?“
Der ohnehin schon arg lädierte Geduldsfaden von Tréville riss endgültig. Er schlug mit der flachen Hand auf den Tresen. „Ich führe ein Regiment und kein Bordell. Und ich bin nicht zu meinen Vergnügen hier, sondern um herauszufinden, wer meinen Musketier ermordet hat“, bellte er.
Lefèvre riss erschrocken die blauen Augen auf. „Mon chéri, ich wollte Euch nicht ärgern! Und natürlich liegt auch mir daran, herauszufinden wer den armen Francis ermordet hat. Nur leider, kann ich Euch nicht wirklich helfen. An dem Abend, als es passiert ist, meinte einer meiner Gäste, er müsste sich an den Kronleuchter hängen. Mit äusserst unangenehmen Konsequenzen.“
„Also habt Ihr nichts gesehen und nichts gehört“, resümierte Tréville gereizt.
„Das habe ich nicht gesagt. Sehen und hören tu ich hier immer viel, aber da Ihr mir ja etwas verklemmt scheint, will ich Euch nicht mit diesen Dingen behelligen.“ Sein Lächeln war spitzbübisch und verriet, das hinter dieser lächerlichen Aufmachung tatsächlich so etwas wie Ironie und Intelligenz steckte und beinahe widerwillig musste Tréville zurücklächeln.
„Aramis ist des Mordes an Francis angeklagt.“
Das tat die gewünschte Wirkung. Auf einmal wirkte Lefèvre ehrlich betroffen. „Auf so einen lächerlichen Gedanken können nur Rote Gardisten kommen. Aramis würde doch Francis nie etwas antun. Die beiden waren ein Herz und eine Seele!“
Tréville beugte sich vor. „Ich weiss das, Ihr wisst das. Aber das nützt nichts. Ich muss es beweisen können. Ich habe einen meiner Männer verloren. Ich werde nicht noch einen zweiten verlieren.“
Lefèvre strich sich mit einem Seufzen das Haar hinter die Schultern. „Das ist ja alles so grauenhaft. Ich werde heute Nacht nicht schlafen können. Aber vielleicht kann ich Euch tatsächlich helfen.“ Graziös tänzelte er hinter dem Tresen hervor und verschwand so schnell zwischen seinen Gästen, dass er beinahe versucht war, an Zauberei zu glauben. Genauso schnell tauchte er wieder auf und zog einen Mann mit sich.
Dieser war rein äusserlich das Gegenteil von Lefèvre. Schlank, hochgewachsen, mit strengen Gesichtszügen, ganz in schwarz gekleidet, mit sorgfältig gestutzten Haaren und Bart, der Gang steif und stolz. Er reichte Tréville höflich die Hand. „Monsieur Dupont, zu ihrem Diensten.“
„Robert war an besagten Abend mit Aramis und Francis zusammen“, erläuterte Lefèvre.
Dupont nickte ernst. „Ich hoffe, ich kann Aramis helfen.“
Tréville jubelte innerlich. Endlich, eine Spur! Er nickte Lefèvre dankbar zu, der beflissen lächelte und dann davoneilte, um einen Streit zwischen zwei Männern zu schlichten, die gerade dazu übergingen sich die Gläser gegenseitig auf den Schädel zu hauen.
„Ihr wisst, was an jenem Abend geschehen ist?“, fragte Tréville.
„Ich muss Euch enttäuschen, Captain. Ich weiss nicht, was auf dem Hinterhof passiert ist. Da hatte ich den Gasthof schon längst verlassen. Aber ich sass an dem Abend mit Aramis und Francis zusammen und ich weiss: Die zwei hatten keinen Händel miteinander.“
Ein pures Glücksgefühl durchströmte Tréville und am liebsten hätte er den Mann geküsst. „Francis‘ Verlobte behauptet, sie und Aramis hätten ein amouröses Verhältnis gepflegt. Sie hätte es beendet und Aramis wäre wütend geworden.“
Dupont schüttelte ungläubig den Kopf. „Ellen behauptet das?“
„Sie hat es vor Gericht ausgesagt und damit Aramis schwer belastet. Er sitzt im Kerker.“
„Das verstehe ich nicht. Aramis ist gewiss kein Kind von Traurigkeit, aber mit Ellen hat er sich nie eingelassen. Wisst Ihr, sie ist eine anstrengende Frau. Selbst Francis hat sie kaum ausgehalten und sich nur zu gerne mit anderen Frauen getröstet. Weiss der Himmel, wieso sich die zwei verlobt haben! Die grosse Liebe war das nicht mehr.“
Dieses Miststück hatte also eiskalt gelogen. Genau wie sie vermutet hatten. „Die Stimmung an dem Abend war also friedlich?“
Nun zögerte Dupont und legte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Nun ja, friedlich würde ich nicht sagen. Aramis war ausgeglichen und fröhlich wie immer, aber Francis wirkte abwesend und fahrig. Irgendwie nervös. Etwas schien ihn zu beschäftigen, doch er wollte nicht darüber reden. Deshalb bin ich dann auch schnell gegangen. Aber Aramis wollte bei ihm bleiben.“
Das klang schon weniger vielversprechend, dennoch würde Duponts Aussage Aramis entscheidend entlasten. Er konnte bestätigen, dass Aramis die Wahrheit gesprochen hatte und Ellen eine Lügnerin war. Und er wusste, dass Francis seiner Verlobten nicht immer treu gewesen war. Das deutete ganz klar auf Ellen als Täterin hin. Selbst der Kardinal konnte das nicht einfach beiseite wischen.
„Wärt Ihr bereit, diese Aussage auch vor Gericht zu wiederholen?“, drängte Tréville.
Dupont neigte das Haupt. „Ich stehe ganz zu Euren Diensten. Bestellt mich in den Palast, sobald Ihr mich braucht. Meine Wohnung liegt in der Rue de la Lune.“
Von jäher Erleichterung erfüllt trat Tréville auf Dupont zu und schüttelte ihm herzhaft die Hand. „Ich kann Euch nicht genug danken!“
„Ihr braucht mir nicht zu danken, Captain. Aramis ist mein Freund. Je schneller er aus dem Gefängnis ist, desto besser.“ Dupont lächelte noch einmal, bevor er sich an den Hut tippte und sich verabschiedete.
Und auf einmal fand Tréville das Gasthaus gar nicht mehr so schrecklich.
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D’Artagnan gab sich gar nicht erst die Mühe galant zu sein, sondern hämmerte gleich mit der Faust gegen Ellens Tür, eine Verhaltensweise, die er sich von Porthos abgeguckt hatte. Er stellte fest, dass es etwas unglaublich Befriedigendes hatte, seinen Frust an der hilflosen Haustüre auszulassen, auch wenn es ihm einen tadelnden Blick von Athos einbrachte, der noch nie viel von sinnloser Energieverschwendung gehalten hatte.
Zu seiner Verblüffung war es aber nicht Ellen, welche die Tür öffnete sondern ein beleibter Herr mit einem riesigen Schnurrbart trug, der äusserst missmutig dreinblickte und zum Nachthemd auch noch die passende Schlafmütze angezogen hatte. In der Hand hielt er einen Kerzenständer. Erst da fiel d’Artagnan ein, das Ellen ja wohl kaum alleine lebte, sondern noch bei ihren Eltern, zumindest bis sie endgültig unter der Haube war. Er hätte sich ohrfeigen können.
Schnell nahm d’Artagnan den Hut ab und bemühte sich um eine charmante Verbeugung, wobei er leider Athos auf den Fuss trat, was der ganzen Geste etwas von ihrer Galanterie nahm. „Monsieur Chopine, verzeiht die späte Störung. Wir wollten eigentlich mit Ellen sprechen.“
Das war definitiv ein ungeschickter Einstieg ins Gespräch gewesen. Monsieur Chopine kniff die Augen zusammen, während er die beiden Musketiere abschätzend von oben bis unten musterte. „Das sich die Soldaten des Königs nicht schämen sich nicht schämen, dermassen unverschämt einer Dame nachzustellen!“, giftete er.
D’Artagnan hob abwehrend die Hände. „Nichts läge mir ferner als Eurer Tochter nachzustellen…Also nicht, dass Eure Tochter nicht hübsch wäre, aber sie ist eine feine Dame und ich nur ein Musketier…obwohl ich ja gerne ein Musketier wäre, ein ganz und gar ehrenwertes Gewerbe….“ Er warf einen hilfesuchenden Blick zu Athos, der allerdings nur grinsend die Arme verschränkt hatte und die Szene sichtlich genoss. Schöner Freund.
Monsieur Chopine stemmte die freie Hand in die rundliche Hüfte. „Meine Tochter hat mich gewarnt, dass Ihr kommen werdet! Dass Ihr sie mit Euren widerlichen Angeboten bedrängt und dass Ihr jedem Rock nachläuft.“
„Also, es ist ja wohl leicht übertrieben zu sagen, dass ich jedem Rock hinterherjage…Moment, was soll das heissen, widerliche Angebote?“ d’Artagnan war verwirrt. Er und Athos trugen Uniform, sie hatten saubere Gesichter, gestutzte Bärte und sahen weder aus wie Schürzenjäger, noch wie Strassenräuber. Dieses ablehnende Verhalten war ungewöhnlich.
Monsieur Chopine stiess ihn den Zeigefinger hart in die Brust. „Sie hat mir alles erzählt!“
Athos trat einen Schritt vor. „Wie schön. Dann erzählt uns doch, was sie euch erzählt hat, damit wir alle wissen worum es geht.“
D’Artagnan bewunderte Athos dafür, dass er alleine mit seiner Ausstrahlung, Menschen für sich einnehmen und einschüchtern konnte. Doch seine Aura schien sich nicht auf zornige Väter erstrecken, denn obwohl Athos ihn um Haupteslänge überragte, betrachtete Chopine ihn, als sei er ein Schuljunge. „Ihr seid ein lüsterner, alter Bock, der die Finger nicht von meinem Mädchen lassen kann! Sie hat mir alles erzählt! Dass Ihr unter den Musketieren gewettet habt, wer sie schneller ins Bett kriegt und sie seitdem alle verfolgt, wie ein Jagdhund seine Beute!“
Athos schnaubte abschätzig. „Keiner von uns Musketieren würde sich mit Eurer Tochter einlassen, Monsieur, da müsst Ihr Euch keine Sorgen machen.“
„Was soll denn das heissen? Das meine Tochter nicht gut genug für Euch ist?“ Monsieur Chopine holte mit den Kerzenständer aus, doch Athos war geistesgegengewärtig genug auszuweichen.
D’Artagnan gelangte zu der Einsicht, dass Chopine alles missverstehen würde, dass Athos und er vorbrachten. Offensichtlich hatte Ellen geahnt, dass die Musketiere nachforschen würden und sie hatte mit ihren Lügen dafür gesorgt, dass ihre Eltern ihr den Rücken deckten. Wenn er dieses intrigante Biest in die Finger bekäme! Aber was sie konnte, konnte er schon lange.
In einer schwungvollen Bewegung griff d’Artagnan nach Chopines Hand. „Oh Monsieur Chopine, Ihr habt ja so Recht! Wir sind untröstlich!“
„Ach, sind wir das?“, fragte Athos ungläubig, doch d’Artagnan ignorierte seinen Einwurf einfach und fuhr unbeirrt mit seiner Komödie fort. „Ja, es war schlecht von uns diese unsägliche Wette anzunehmen, aber es sollte nicht mehr sein als ein Scherz.“
„Ein Scherz auf Kosten der Ehre meiner Tochter“, brummte Chopine, aber d’Artagnan konnte spüren, dass er ihn schon etwas beschwichtigt hatte.
„Ja, es war wahrlich ein übler Gedanke. Die Schönheit Eurer Tochter hat unseren Geist benebelt. Sie ist eine begehrenswerte Frau, klug, intelligent, sinnlich und warmherzig. Jeder würde sich wünschen, sie sein Weib nennen zu können. Aber nun haben wir die Wette abgebrochen und wollten Ellen um Vergebung bitten, damit unsere gepeinigten Seelen Erlösung finden können.“
Es funktionierte. D’Artagnans Lobrede auf Ellens Qualitäten, liess Chopine vor Stolz ganz rot werden und seine Stimme klang schon freundlicher als er erwiderte: „Nun, dies ist ein nobles Ansinnen. Aber Ellen ist leider nicht hier.“
„Wo ist sie denn?“, fragte Athos in seiner üblichen, kurzangebundenen Art und ohne auf d’Artagnans blumige Sprechweise einzugehen.
„Sie hat sich zu ihrem Verlobten zurückgezogen.“
„Ihren Verlobten?“, fragten die Musketiere wie aus einem Mund.
Chopine missverstand ihren ungläubigen Tonfall und wurde ein wenig nervös. „Ich weiss ja, dass es sich nicht geziemt für eine Dame vor ihrer Hochzeit bei einem Mann zu nächtigen, aber sie sind ja verlobt und halten gewiss alle Regeln des Anstands ein. Das Mädchen war so verzweifelt.“
Verzweifelt war d’Artagnan auch. War Chopine übergeschnappt? Ellen konnte gar nicht bei ihren Verlobten sein! „Es wäre uns aber ein Anliegen, uns so schnell wie möglich bei Ihr zu entschuldigen. Könnt Ihr uns sagen, wo dieser Verlobte wohnt?“
„Damit Ihr ihr weiter nachstellt? Kommt nicht in Frage. Ich werde Ihr Nachricht senden, dass sie getrost zu uns zurückkehren kann. Gute Nacht, meine Herren!“
„Gute Nacht Monsieur Chopine“, verabschiedete sich d’Artagnan freundlich und lächelte auf seiner charmanteste Art, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war.
Dann fuhr er zu Athos herum. „Wie kann das sein? Ihr Verlobter ist tot! Hat sie sich vielleicht zu ihm ins Leichenschauhaus gelegt oder was?“
„Sei nicht albern. Es heisst einfach, dass unsere unschuldige Mademoiselle Ellen ein Geheimnis hütet. Und ich bin schon sehr gespannt darauf, es zu lüften.“
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Porthos konnte an nichts anderes denken, als an Aramis‘ erschöpftes Gesicht und seine leise Stimme. Er konnte an nichts anderes denken, als an den Blick aus seinen dunklen Augen, als sie ihn wieder fortgeschleppt hatten. Und das schlechte Gewissen nagte an ihm, weil er hier auf seine Geliebte wartete, während sein Freund krank im Kerker sass. Aber was hätte er tun sollen? Was konnte er für ihn tun? Porthos wünschte sich sehnlichst, er könnte einfach den Degen ziehen, das Gefängnis stürmen und Aramis da rausholen. Und dann, flüsterte eine Stimme in ihm, was dann? Ein Leben auf der Flucht, gejagt von ihrem eigenen Land, als Geächtete behandelt? Es würde sie beide ins Unglück stürzen.
Die Wut in ihm loderte erneut auf. Aramis brauchte ihn. Und er konnte nichts tun, absolut nichts um ihn zu helfen. Mit einem Schrei liess er die Faust gegen den Baumstamm krachen, in der Hoffnung sich danach etwas besser zu fühlen. Doch alles was er erreichte war, dass seine Hand schmerzte.
Warme Arme schlangen sich um ihn. „Hab ich dir etwas getan, dass du unseren Baum so misshandelst oder hältst du das für männlich und stark?“
Er drehte sich um und sah direkt in Adelinas lächelndes Gesicht. Sie trug eine Kapuze, wie üblich wenn sie sich heimlich aus dem Palast stahl, um sich mit ihm hier zu treffen. Vor Monaten waren sie sich hier zum ersten Mal begegnet, damals im Herbst als Adelina von ihrem Pferd gestürzt war und er ihr geholfen hatte. Seitdem arrangierten sie ihre heimlichen Treffen gerne hier, weil ihnen der Wald vorkam wie ein magischer Ort. Und Porthos lief hier wenigstens nicht in Gefahr in Frauenkleidern rumrennen zu müssen.
Als Adelina ihre Kapuze in den Nacken schlug, sog Porthos ihren Anblick in sich auf. Ihr leicht schräges Lächeln, die feinen Sommersprossen auf ihrer kleinen, zierlichen Nase, die schwarzen Augen, die geschwungenen Augenbrauen. Sie hatte ihre roten Locken im Nacken zu einem Knoten geschlungen, doch einige widerspenstige Strähnen hatten sich gelöst und umrahmten ihr herzförmiges Gesicht. Sie war schön, sie war witzig, sie war geistreich. Und sie war Balsam für seine Seele.
„Adelina. Ich brauche dich.“ Er schlang die Arme um sie, als sei sie das Letzte, was ihn in dieser Welt halten konnte. Und sie stellte keine Fragen, auch nicht als er ihre Kleider abstreifte und auch nicht, als er sich den seinigen entledigte und auch nicht, als er sie liebte, als sei es das letzte Mal in seinem ganzen Leben.
Später, als sie nebeneinander im Gras lagen und er mit weit aufgerissenen Augen in den mit Sternen gesprenkelten Himmel sah, legte sie die Hand auf seine Brust und fragte mit weicher Stimme: „Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“
Er wandte sein Gesicht zu ihr und fuhr mit dem Finger ihren Lippen nach. Bis jetzt war alles zwischen ihnen einfach, spielerisch und fröhlich gewesen, ohne dass persönliche Dramen ihre Beziehung berührt hätte. Doch jetzt erzählte er ihr alles. Er berichtete ihr von Aramis, der seit Jahren sein Freund war, sein treuester und bester Freund, der mit ihm gelacht, gekämpft und gelitten hatte. Sein Freund, der so voller Lebensdurst war, das er sich ständig in Schwierigkeiten brachte. Und er berichtete ihr von Francis, der erstochen worden war und dass der Kardinal glaubte, Aramis habe es getan. Er sagte ihr, wie sehr er fürchtete, dass es ihnen nicht gelang, seine Unschuld zu beweisen und dass sie ihn verlieren würden. Sie hörte ihm schweigend zu, während ihre Hand unaufhörlich durch seine Haare strich, als sei er ein Kind, das es zu beruhigen galt.
Als er geendet hatte, hauchte sie ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ihr werdet seine Unschuld beweisen.“
Er lächelte sie traurig an. „Du kennst ihn ja nicht einmal. Wie kannst du so sicher sein, dass er unschuldig ist?“
Ihre Hand schob sich in seine. „Weil er dein Freund ist. Und wenn du so eine hohe Meinung von ihm hast, kann er kein schlechter Mensch sein. Denn du, Porthos, bist der beste Mann, den ich je kennengelernt habe.“
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Anmerkung: Ja, ich gebe zu, bei der Gestaltung der Fröhlichen Gans sind die Pferde mit mir durchgegangen. Erst wollte ich ja so eine klassische Gasthausszene schreiben, ihr wisst schon: Finstere Gestalten, mürrischer Wirt, jemand spielt Klavier im Hintergrund…aber dann dachte ich: Eigentlich wäre es doch schön so eine Art Schwulenbar zu beschreiben.
Natürlich ist mir bewusst, dass Homosexualität ein schwieriges Thema ist und damals streng geahndet wurde. Allerdings war diese Zeit auch dafür bekannt, dass sie sehr ausschweifend war und die Franzosen genossen das Leben durchaus in vollen Zügen, auch in sexueller Hinsicht. Also dachte ich: Ich mach’s einfach.
Mir gefällt es.
Kapitel Verrrat im Rücken
Kapitel 7
Verrat im Rücken
Auch Kardinal Richelieu war noch zu so später Stunde auf den Beinen, allerdings waren es keine Liebeleien, die ihn wach hielten. Er sass in seinem Arbeitszimmer und brütete über einen Brief des englischen Königs, unschlüssig, wie er ihn zu deuten hatte. Frankreichs Angelegenheiten hielten ihn oft bis weit nach Mitternacht wach, aber bis jetzt war es ihm immer leicht gefallen, denn auf seine Energie und seinen immer arbeitenden Verstand konnte er sich immer verlassen.
Doch heute spürte er die Müdigkeit in jedem Knochen und so lehnte er sich in seinem Stuhl zurück, schloss die Augen und rieb sich über die Nasenwurzel. Vielleicht sollte er doch schon ins Bett gehen. Auch wenn sich keines seiner Probleme schlafend lösen lassen würde, der Gedanke an seine weichen Seidenkissen liess ihn schwach werden.
Bevor er diesen Gedanken jedoch zur Ausführung bringen konnte, liess ein lautes Klopfen, gefolgt vom Poltern schwerer Stiefel ihn den Kopf heben. Aber eigentlich hätte er sich das sparen können, denn wer ausser Captain Tréville würde es wagen, so spät noch in sein Arbeitszimmer trampeln?
Richelieu stiess einen Seufzer aus und legte die Feder weg. „Captain Tréville. Wie komme ich zu dieser späten Ehre?“
Tréville wirkte richtiggehend aufgekratzt. Seine Augen glänzten und zu Richelieus Missfallen stütze er sich schwer auf seinen Schreibtisch. Trévilles Hände waren schmutzig und zeugten deutlich davon, dass der Hauptmann Körperpflege nicht als oberstes Gut betrachtete und das parfümierte Leben am Hof mit Verachtung strafte. Er war Soldat, aufrecht und ehrlich, aber kein Diplomat.
Kein Wunder konnten sie sich nicht ausstehen.
„Aramis hat es nicht getan.“
Langsam bereute es Richelieu ernsthaft die Sache mit diesem elenden Musketier überhaupt angerissen zu haben. Aramis hatte ihn seine Liaison mit Adele gekostet und die Hand nach Dingen ausgestreckt, die ihm nicht gehörten. Ihn dafür hängen zu sehen war Richelieu geradezu himmlisch erschienen. Doch seine persönlichen Rachegefühle hatten ihm Ärger mit der Königin eingebracht und Tréville klebte jetzt an ihm wie ein Bluthund.
„Das habt Ihr mir schon ein paar Mal gesagt. Es hätte mich auch gewundert, wenn Ihr zugegeben hättet, dass einer Eurer Musketiere eines Mordes fähig ist.“
„Ihr wollt unbedingt, dass es Aramis gewesen ist. Ihr habt ihm kaum eine Chance gelassen sich zu verteidigen“, sagte Tréville anklagend.
„Ich hab ihm durchaus eine Chance gelassen. Nur bestand seine Verteidigung grösstenteils aus Lügen und der Geschichte, dass er sich an nichts erinnern kann. Wenn Euer Musketier so dumm ist sich bei einem Mord erwischen zu lassen und sich dann bei der Gerichtsverhandlung noch dümmer verhält, ist das wohl kaum meine Schuld!“
Zu Richelieus äusserster Befriedigung lief Tréville krebsrot an. Es war immer wieder amüsant, dem sonst so beherrschten Musketier Gefühlsregungen abzuringen und es versüsste ihm den Tag ungemein, wenn es ihm gelang. „Aramis geht es offensichtlich schlecht. Und Ihr habt ihn dennoch vor Gericht gezerrt!“
Natürlich musste Tréville wieder einmal den besorgten Papa für seine Männer spielen. Richelieu verwarf die Hände Richtung Himmel. „Oh ja, ich bin ein schlechter Mensch. Ich fasse einen mutmasslichen Mörder nicht mit Samthandschuhen an und nehme keinerlei Rücksicht auf seinen geistigen Zustand. Das wird mich das Paradies kosten.“
„Wenn Ihr tatsächlich ins Paradies gelangt, gehe ich freiwillig in die Hölle!“
Tréville gab sich nicht einmal die Mühe diplomatisch vorzugehen und seine Abneigung gegen ihn zu verbergen. Das war nicht nur erfrischend, sondern gab Richelieu auch die Sicherheit, dass ihn von Seiten der Musketiere kein geheimes Attentat drohte. Sollte Tréville je seine ständigen Drohungen wahrmachen und ihn tatsächlich einmal umbringen wollen, würden die Musketiere einfach ganz offen in sein Arbeitszimmer marschieren und ihn mit der Muskete erschiessen.
„So sehr ich theologische Diskussionen mit Euch schätze: Es ist schon spät, also würde ich es vorzuziehen, endlich zu erfahren, was Euch zu mir führt.“
Ein wilder Triumph trat in Trévilles dunkle Augen. „Ich will, dass Ihr für morgen eine Anhörung ansetzt.“
„Habt Ihr mir nicht eben noch vorgeworfen, ich nähme keine Rücksicht auf Aramis‘ Gesundheitszustand? Und jetzt wollt Ihr ihn selbst noch einmal den Strapazen einer Gerichtsverhandlung ansetzen?“
„Kein Gericht. Eine Anhörung. Ich habe neue Beweise, die Aramis entlasten werden. Danach können wir ihn auf freien Fuss setzen und endlich den Mörder von Francis suchen“, sagte Tréville mit diesem kleinen, triumphierenden Lächeln, das Richelieus Blut stets in Wallung geraten liess.
Aber er war ein zu beherrschter Mann um sich seinen Ärger anmerken zu lassen. Da war es doch diesen vermaledeiten Musketieren wieder einmal gelungen, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Was für ein unheimliches Talent diese Männer doch hatten, stets im letzten Moment irgendwelche Beweise aus dem Hut zu zaubern. Doch noch befand sich Aramis in seiner Hand.
„Ich nehme an, Ihr werdet mir nicht verraten, was für Beweise das sind?“
Tréville verdrehte die Augen. „Doch natürlich. Ich werde Euch alles bis ins kleinste Detail erzählen, damit Ihr bis morgen hübsch Zeit habt, alles zu verdrehen, so dass es Euch in den Kram passt und Aramis an den Galgen kommt, weil ich liebe es, meine Musketiere baumeln zu sehen.“
Meine Musketiere. Meine Männer. Warum musste Tréville immer so dramatisch sein? Richelieu hatte seine Rote Garde damit sie ihn beschützten und das taten, was er von ihnen verlangte, nicht weil er das Bedürfnis hatte, seine Vatergefühle für sie auszuleben. Die Welt wäre ein weitaus vernünftigerer Ort, wenn es nicht so viele gefühlsduselige Menschen wie Tréville gebe.
„Sarkasmus steht Euch nicht, Monsieur Tréville. Aber wenn es Euch so glücklich macht, werde ich morgen eine Anhörung abhalten. Ich gebe Euch noch Nachricht mit der genauen Uhrzeit. Zufrieden?“
„Sogar sehr zufrieden. Dann sehen wir uns also morgen.“ Tréville tippte sich an den Hut, bevor er sich umdrehte und aus dem Gemach marschierte, ganz wie ein General nach einer erfolgreich geschlagenen Schlacht.
„Ich kann es kaum erwarten“, grollte Richelieu. Seine vorübergehende Hochstimmung war schon wieder verflogen. England machte Scherereien, die Königin wurde von Tag zu Tag aufsässiger, er wurde Aramis wohl doch nicht los und Tréville wurde immer unverschämter.
Und abgesehen davon hatte Tréville ihm mit seinen dreckigen Stiefeln den teuren Teppich versaut.
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„Francis, was ist los mit dir?“
„Nichts!“
„Für nichts, machst du aber ein ziemlich böses Gesicht. Du hast noch keinen einzigen schlechten Witz gerissen, seit wir hier sind.“
„Du wirst es nicht glauben, aber das Leben besteht nicht nur aus Spass…“
„Rede mit mir!“
„Du wirst mich hassen, wenn ich es dir erzähle.“
„Ich werde dich niemals hassen!“
„Aramis…ich habe einen furchtbaren Fehler begangen.“
Ein alles umfassender Schmerz, ein leichenblasses Gesicht, leere Augen, die in den Himmel starren, ein Körper, der nie mehr atmen würde. Ein roter Gardist, der ihn wegzerrt von der Leiche seines Freundes, eiserne Ketten um seine Handgelenk und die ersterbende Stimme von Francis, der seinen Namen haucht.
Aramis erwachte schweratmend in der Kälte seines Kerkers. Seine Kopfschmerzen waren verschwunden, aber er fühlte sich immer noch fiebrig und schwach. Dennoch wertete er es als positives Zeichen, dass er wieder einigermassen klar denken konnte. Und vor allem war er froh, dass seine Erinnerungen zurückkehrten, denn sein Traum hatte aus Bruchstücken der letzten Unterhaltung mit Francis bestanden.
Er schloss die Augen und versuchte, die Fetzen seines Traumes irgendwie in Einklang zu bringen. Francis war so anders gewesen an jenen Abend. So traurig und gleichzeitig irgendwie aufgekratzt und unterschwellig aggressiv. Und dann hatte er irgendwas von Schuld gesagt, weil er…Ja, was hatte er getan? Er hatte es ihm gesagt, Aramis war sich sicher, dass Francis ihm an jenem Abend sein Herz ausgeschüttet hatte. Und er wusste, es war eine wichtige Information gewesen, aber an diesem Punkt verweigerte sein Kopf ihm wieder den Dienst. Er konnte sich nicht mehr erinnern.
Seufzend schlug er die Augen auf. Er musste dankbar sein, dass seine Erinnerung zumindest teilweise zurückgekehrt war. Ausserdem bestand die Hoffnung, dass der Rest auch noch zurückkehrte. Er musste Geduld haben. Geduld und Vertrauen in seine Freunde.
Ihm war immer noch so furchtbar kalt, obwohl Porthos‘ Mantel schwer um seine Schultern hing und ihn zumindest etwas wärmte. Er war Porthos dankbar dafür, dass er ihm das Kleidungsstück überlassen hatte, nicht nur, weil es die beissende Kälte in Schach hielt, sondern weil es ihm das Gefühl gab, dass sein Freund irgendwie bei ihm war.
Wenn Porthos hier wäre, wäre es einfacher. Er würde die Wachen ärgern, brüllend nach Essen verlangen und schlechte Witze erzählen. Er würde Aramis zwingen, sich mit ihm zu unterhalten, damit er ja nicht auf die Idee käme, in seinen dunklen Gedanken zu versinken. Denn so war Porthos. Gut und treu und lustig. Sein bester Freund.
Doch jetzt war er nicht hier. Aramis war allein mit der Kälte, der Dunkelheit und der Angst, die ihn jeder Ecke lauerte.
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Porthos hätte Tréville am liebsten geküsst, als dieser ihnen berichtete, dass er einen Zeugen gefunden hatte, der Aramis entlasten könnte. Aber er beherrschte sich gerade noch. Über d’Artagnans Gesicht glitt ein sonniges Lächeln und selbst Athos‘ Mundwinkel hoben sich für seine Verhältnisse geradezu übermässig viel.
„Ich habe den Kardinal um eine erneute Anhörung gebeten. Morgen kommt Dupont in den Palast und wird wiederholen, was er mir gesagt hat.“ Trévilles Gesicht hatte einen äusserst zufriedenen Ausdruck angenommen, genau wie eine Katze, die gerade eine Maus verspeist hatte.
„Und dann kommt Aramis aus dem Gefängnis“, jubelte d’Artagnan. Vor Freude schloss Porthos den jungen Mann in die Arme. Endlich würde alles wieder gut werden. Mit Aramis an ihrer Seite würden sie Francis‘ wahren Mörder finden und dann würde ihr toter Bruder endlich Frieden finden. Und Ellen, diesem Biest, würden sie den hübschen Hals umdrehen.
Athos schloss sich den allgemeinen Freudentaumel nicht an, sondern verschränkte die Arme vor der Brust. „Es gibt immer noch einiges Ungeklärtes an diesem Fall. Zum Beispiel wieso Ellen bei ihrem Verlobten ist, obwohl dieser gerade im Leichenschauhaus liegt. Warum sie Aramis so schwer beschuldigt hat. Und der Kardinal wird trotzdem alles tun, um Aramis wieder ins Gefängnis zu bringen.“
Ja, man konnte sich doch immer darauf verlassen, dass Athos die Stimmung wieder runterzog. Porthos wollte ihn schon scharf zurechtweisen, liess es dann aber. Athos gehörte nun einmal zu den Menschen, die alles immer schwarzsahen. Aber gerade jetzt wollte Porthos einfach nur glücklich darüber sein, dass er Aramis bald wieder bei sich hatte.
Er konnte es kaum erwarten, Adelina davon zu erzählen.
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Tréville hatte schlecht geschlafen. Er hatte geträumt, dass Dupont gar nicht aufgetaucht war. Der Kardinal hatte ihn ausgelacht und dann befohlen, Aramis zu exekutieren. Sie hatten ihn in den Raum gezerrt und ihm den Kopf abgeschlagen, unter den entsetzten Blicken von Porthos, Athos und d‘Artagnan. Und dann hatte Richelieu ihm mit triumphierender Miene den abgetrennten Kopf in den Schoss geworfen, er hatte geschrien und war dann schweissgebadet auf dem Boden seines Zimmers aufgewacht.
Der Traum steckte ihm noch in den Knochen, als er ungeduldig auf das Erscheinen Duponts wartete. Seine Nervosität wurde nicht gerade gemindert durch die Tatsache, dass Porthos neben ihm ständig hin und her tigerte, unfähig, seine Ungeduld zu verbergen. Athos dagegen stand wie ein Fels neben ihm, als wohne er gerade einer Parade bei, während d’Artagnan seine Angespanntheit nur dadurch verriet, dass er sich ständig durch die Haare fuhr.
„Ist dieser Dupont denn zuverlässig?“, erkundigte sich Porthos.
„Er hat einen sehr angenehmen Eindruck auf mich gemacht“, antwortete Tréville, den Blick geradezu fanatisch auf die Tür gerichtet. Er hatte einen seiner Musketiere geschickt um Dupont abzuholen. Er wollte, dass dieser in Palast war, bevor der Kardinal und Aramis erschienen. Nicht, dass sich sein Traum noch bewahrheitete. Dankbarerweise fand die Anhörung nicht im Gerichtssaal statt, sondern in dem Raum, wo der König intimere Gäste zu empfangen pflegte. Kein Publikum mehr. Das würde für Aramis eine grosse Erleichterung bedeuten.
„Er wirkte seriös und vertrauenswürdig.“
„Aramis hat von ihm gesprochen. Ist das nicht dieser Herr, der sich zum Priester weihen lassen will?“, warf Athos unvermittelt ein. Das würde freilich die Freundschaft der beiden erklären. Und Tréville konnte sich diesen besonnenen Mann mit dem melancholischen Zug um den Mund sehr gut als Priester vorstellen.
„Warum hat Aramis nicht gesagt, dass Dupont an diesem Abend mit ihm unterwegs war?“ D’Artagnan stellte die Frage, die sich Tréville auch schon gesellt hat. Inzwischen hatte er sich eine Antwort zusammengereimt. „Aramis war vor Gericht doch kaum bei Sinnen. Ich glaube nicht, dass er sich in diesen Moment an irgendwas erinnert hat, was in dieser Mordnacht passiert ist.“
„Dupont hätte auch vorher auftauchen können. Hätte Aramis viel Leid ersparen können“, knurrte Porthos.
„Er wusste es wahrscheinlich gar nicht“, verteidigte Tréville ihn.
„Wie kann er das nicht wissen?“ Wie immer, wenn Porthos‘ Nerven angegriffen waren, suchte er irgendetwas um Dampf abzulassen und in diesem Fall war es eben der abwesende Robert Dupont. Aber mit ein bisschen Glück war der Albtraum bald ausgestanden und alle Unzertrennlichen würden wieder zu ihrem normalen geistigen Zustand zurückkehren. Falls man bei diesen vier Männern überall von „normal“ sprechen konnte.
Athos verdrehte die Augen. „Porthos, du wirst es nicht glauben, aber nicht alle Menschen auf der Strasse von Paris reden über Aramis.“
Porthos‘ Gesicht verdunkelte sich auf geradezu dramatische Weise und Tréville befürchtete schon einen heftigen Ausbruch, als sich endlich die Tür öffnete und Dupont eintrat. Allerdings sah er, zu Trévilles Bestürzung, nicht wirklich gut aus. Er war so bleich, wie ein Leichentuch und auf seiner Wange zeichnete sich eine unschöne Rötung ab, die gestern Abend noch nicht da gewesen war.
Sofort stürzte Tréville auf ihn zu. „Monsieur Dupont, ist Euch etwas geschehen?“
Dupont musterte ihn erstaunt und fasste sich dann an die Wange, als erinnere er sich erst jetzt an die Wunde. „Mir geht es gut Captain. Ich war nur etwas…ungeschickt.“
Tréville kannte diese Ausrede. Seine Musketiere brauchten sie immer, wenn sie mit irgendwelchen mysteriösen Blessuren bei ihm auftauchten. Robert Dupont log. Und das konnte nichts Gutes bedeuten. Er wollte weiter in ihn dringen, wollte wissen was geschehen war, sicher gehen, dass er bei seiner Aussage bleiben würde, doch in dem Moment rauschte Richelieu herein mit weit gebauschtem Mantel und einer Miene, als habe er gerade in etwas sehr Saures gebissen. Kurz danach wurde Aramis ins Zimmer gebracht, noch immer sichtlich gezeichnet von den Strapazen, aber mit einem hoffnungsvollen Leuchten im Gesicht.
Trévilles Herz wurde schwer, als er zu ahnen begann, dass er diese Hoffnungen enttäuschen würde. Und ihm wurde kalt bei dem Gedanken, dass er seinen Musketier nicht gerettet, sondern wenn möglich noch tiefer ins Unglück gestürzt hatte.
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Aramis pflegte immer zu sagen, dass Athos jeden Morgen wenn die Sonne aufging schon daran dachte, dass es bald wieder Nacht werden würde. Damit drückte er auf seine übliche poetische Art und Weise aus, dass er Athos für einen Miesepeter hielt. Und Athos selbst konnte ihm eigentlich nur Recht geben. Das Leben hatte ihn zu einem misstrauischen Menschen gemacht und am meisten misstraute er dem Glück.
Als Tréville ihnen gestern berichtet hatte, dass er einen Zeugen gefunden hatte, der Aramis entlasten konnte, hatte sich der Zweifel augenblicklich in sein Herz geschlichen. Nachdem alles so gründlich schief gelaufen war, tauchte plötzlich der rettende Engel auf? Das schien ihm etwas sehr viel glücklicher Zufall. Seine Freunde mochten sich über seine pessimistischen Ansichten lustig machen, aber er lag meistens richtig mit seinem Gefühl. Er bettete, dass es ihn heute trog.
Richelieu wirkte ausnehmend schlecht gelaunt. Er bedachte alle Anwesenden mit einem finsteren Blick, erinnerte sich dann aber an seine amtlichen Pflichten und sprach förmlich: „Ihr habt um eine erneute Anhörung in der Sache des Mordfalles an dem Musketier Francis gebeten, Captain Tréville. Nun, ich warte: Wo sind die neuen Beweise?“ Er schlug die knochigen Hände zusammen und blickte Tréville erwartungsvoll an.
Dieser schob Dupont in dem Vordergrund. Athos entging nicht, dass er seine Hände fest auf die Schultern des Mannes drückte, als fürchtete er, er wolle davonlaufen. „Monsieur Dupont hat eine wichtige Aussage zu machen.“
„Darf ich vielleicht erst erfahren, wer Monsieur Dupont ist?“, fragte Richelieu mit einem gekünstelten Lächeln.
Dupont nahm den Hut auf. Athos fiel auf, dass seine Hand zitterte. Dieser Mann war furchtbar nervös. Oder aber er hatte Angst. Wobei man durchaus einen Schreck bekommen konnte, wenn man zum ersten Mal in Richelieus Antlitz sah, dass eine geradezu frappante Ähnlichkeit mit dem Teufel aufwies. „Ich bin Robert Dupont. Ich bin nach Paris gekommen, um mich dem geistigen Studium zu widmen.“
„Ihr wollt Priester werden?“, hakte Richelieu nach.
Dupont schlug bescheiden die Augen nieder. „Wenn Gott mich will.“
„Nun, da Ihr ein Mann Gottes seid, brauch ich Euch wohl nicht zu ermahnen, hier die Wahrheit zu sprechen. Nun erzählt mir: Was ist an jenem Abend wirklich passiert?“
Nun tat Dupont etwas sehr Seltsames. Er sah auf und suchte den Blickkontakt mit Aramis. Dieser lächelte ihm arglos zu, doch es war genau dieses freundliche Strahlen, dass Dupont noch mehr aus der Fassung brachte. Athos konnte sehen, dass er hart schluckte. Für einen Moment verzog sich seine Miene zu einer gequälten Maske. Doch dann verschwanden diese Empfindungen und zurück blieb ein maskenhafter Gesichtsausdruck, den Athos nur zu gut kannte. Denselben sah er, wenn er in den Spiegel blickte.
„An jenem Abend hatten Francis und Aramis einen furchtbaren Streit.“
Athos‘ Magen drehte sich um. Das klang gar nicht gut. Das war auf keinen Fall ein Einstieg für eine Unschuldserklärung für Aramis. Wie von selbst streckte er die Hand aus und umfasste Porthos‘ Arm mit festen Griff. Diese Geste hatte er in den letzten Tagen so oft wiederholt, dass es schon fast schmerzhaft vertraut war. Vielleicht sollte er Porthos beim nächsten Gerichtstermin einfach vor der Tür anbinden.
„Und um was ging es bei diesem Streit?“
Dupont leckte sich über die Lippen. „Um Ellen. Aramis hatte eine Affäre mit ihr und Francis hat es rausgekriegt. Sie haben sich furchtbare Dinge an den Kopf geworfen und schliesslich ist Francis rausgestürmt. Und Aramis…“ Er geriet ins Stocken und senkte den Kopf. Athos realisierte, dass er Aramis nicht in die Augen sehen konnte. Dupont hatte die Hände zu Fäusten geballt, als wäre seine Aussage ein einziger Kampf. Sah der Kardinal denn nicht, dass dieser Mann log?
Doch Richelieu achtete nicht auf Duponts offensichtliches Unbehagen. „Was hat Aramis?“
„Er…er hat gesagt, dass er nicht zulassen würde, dass Ellen wieder zu Francis zurückkehre. Er war völlig ausser sich. Ich wollte ihn beruhigen, aber er stiess mich von sich. Und dann rannte er Aramis hinterher. Und….in der Hand hielt er ein Messer.“ Die letzten Worte würgte er förmlich hervor, als blieben sie ihm sonst im Halse stecken.
Die Beschreibung „verdattert“ hatte wohl noch nie so gut gepasst wie jetzt. Alle starrten Dupont mit heruntergelassener Kinnlade an. Selbst Richelieu wirkte nicht triumphierend, sondern schlichtweg verdutzt. „Und inwiefern solle diese Aussage Monsieur Aramis entlasten?“, wandte er sich sichtlich ratlos an Tréville.
Athos löste seine Finger von Porthos‘ Arm. Sollte sein Freund doch auf ihn losgehen. Er würde ihn sogar noch unterstützen. Auf seiner anderen Seite griff d’Artagnan nach seinem Degen. Athos wusste, dass seine beiden Brüder dasselbe dachten wie er: Dass sie so lange auf diesen verdammten Lügner eindreschen würden, bis die Wahrheit aus seinem verlogenen Mund kam. Tréville würde sie nicht aufhalten. Ihr Captain sah eher so aus, als wolle er das Verprügeln gleich selbst übernehmen.
Es war Aramis, der ihren Zorn in Zaum hielt. Er sah sie an und sein Mund formte ein tonloses Nein. Athos begriff, dass sein Freund nicht wollte, dass sie mit ihm in den Abgrund stürzten, aber es war so schwer, die Verzweiflung auf seinem Gesicht zu sehen und nichts tun zu können, um sie zu lindern. Alles was er tun wollte, war ihn in die Arme zu nehmen, einfach um ihm zu versichern, dass sie ihn nicht aufgeben würden. Doch er bezähmte diesen Drang, denn was hätte es Aramis schon genutzt? Nichts.
Richelieu fing sich als Erstes wieder. „Das sind schwere Anschuldigungen, die Ihr da erhebt.“
Dupont biss sich auf die Lippen. „Aber es ist die Wahrheit.“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
„Warum sagst du so etwas? Ellen war schon immer verlogen, aber dass du mich betrügst, Robert, das hätte ich nie geglaubt.“ Aramis‘ leise, enttäuschte Stimme war schwerer zu ertragen, als wenn er geschrien hätte. Athos mochte sie kaum vorstellen, wie er sich fühlen musste. Das wäre, wie wenn d’Artagnan sich plötzlich hinstellen und behaupten würde, Athos habe jemanden ermordet. Nichts schmerzte so sehr wie der Verrat eines Freundes.
Duponts Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. „Wir alle müssen für unsere Sünden büssen, Aramis.“
Mit einer Kraft, die ihm niemand mehr zugetraut hätte, riss Aramis sich von dem Gardisten los und stürzte sich auf Dupont. Wären seine Hände nicht gefesselt gewesen, er hätte ihn wohl am Kragen gepackt, doch so blieb er einfach vor ihm stehen, der Blick aus seinen dunklen Augen mörderisch und die Stimme so donnernd wie ein tobendes Gewitter, als er sagte: „Sprich du mir nicht von Sünde, Robert! Das was du mir heute angetan, dafür wirst du dich verantworten müssen. Nicht vor mir. Aber vor unserem Herren.“
„Monsieur Aramis, Ihr vergesst Euch!“, bellte Richelieu und die Wache zerrte Aramis so hart an der Schulter zurück, dass er beinahe gestürzt wäre. Doch da war schon Porthos an seiner Seite und fing ihn auf, wobei er den Gardisten anknurrte: „Lass deine Finger von ihm oder ich breche dir jeden einzeln!“
„Musketiere, zügelt euer Temperament oder ich lass euch aus dem Palast werfen.“ Oh, wie Richelieu diese Situation genoss! Seine Feinde hatten sich selbst ins Bein geschossen und jetzt fiel ihm alles wie reife Äpfel in den Schoss. Athos hätte sich nicht gewundert, wenn Richelieu jetzt seine Roben gerafft und getanzt hätte, aber zum Glück blieb ihnen zumindest dieser Anblick erspart. Athos hätte es nicht ertragen, jetzt auch noch Richelieus Beine sehen zu müssen.
„Monsieur Aramis, die Aussage Duponts belastet Euch schwer. Ist Euch klar, dass damit Euer Todesurteil so gut wie unterschrieben ist?“
Ein humorloses Lächeln glitt über Aramis‘ schöne Züge, als er sagte: „Das war im Grunde schon unterschrieben, als Ihr den Vorsitz in dieser Sache übernahmt, Kardinal Richelieu.“
Porthos drückte seinen deutlich zierlicheren Freund an sich. D’Artagnan glitt ebenfalls an Aramis Seite, während Athos sich hinter seine Brüder stellte. Sie waren eine Einheit. Gerade in dieser dunklen Stunde gehörten sie zusammen. Alle drei wandten das Gesicht zu Richelieu, in stummer Erwartung des Urteils.
„Wie rührend“, höhnte der Kardinal, „wollt Ihr Euch nicht noch dazu gesellen, Tréville? Dann wäre die Familie vereint.“
Tréville sah aus, als wolle er dem Kardinal die Faust ins Gesicht rammen. „Macht es kurz, Richelieu. Habt zumindest diese Gnade.“
„Nun, denn meine Herren. Ich denke, dank Monsieur Duponts Aussage ist aus einem Verdacht leider traurige Gewissheit geworden. Die Königin hat nach mehr Beweisen verlangt. Die hat uns Robert Dupont geliefert. Aramis hat seinen Freund aus Eifersucht erstochen. Damit ist er ein Mörder und ein Verräter an den Musketieren, was einem Verrat an Frankreich gleichkommt. Dafür verurteile ich Aramis zum Tode. In vier Tagen findet die Hinrichtung statt.“
Anmerkung: Ach Gott, ich bin ja so gemein! Jetzt ist es für unseren Musketier noch eine ganze Ecke düsterer geworden. Ahnt ihr schon wer hinter diesem tödlichen Spiel steht? Theorien sind immer willkommen! Ich persönlich hatte viel Spass beim Duo Richelieu und Tréville! Deshalb werden die zwei wohl noch ein wenig mehr Zeit miteinander verbringen…Ich freu mich schon darauf.
Kapitel Die Frauen der Musketiere
Kapitel 8
Die Frauen der Musketiere
Wenn Aramis sich auf etwas immer hatte verlassen können, dann war es sein unbändiger Überlebenswillen und seine Lebensfreude. Aber er konnte förmlich spüren, wie ihm beides entglitt, als er anhören musste, wie Robert ihn verriet. Ellen konnte er verschmerzen, aber Robert war sein Freund. Sicher nicht so ein enger Freund wie Athos und d’Artagnan, ganz gewiss nicht auf die Art wie Porthos. Dennoch hatte er viel mit Robert geteilt, weil dieser – im Gegensatz zu Porthos – seinen Glauben an Gott nicht nur nachvollziehen konnte, sondern ihn sogar teilte.
Und jetzt unterschrieb Robert mit seiner Aussage sein Todesurteil.
Aramis vernahm Richelieus Urteil und fühlte, wie sein Herz stehen blieb. Er liebte das Leben, schon immer hatte er es in vollen Zügen genossen und jeden Moment ausgekostet. Natürlich, er hatte dem Tod schon hundert Mal ins Auge geblickt, das blieb nun einmal nicht aus, wenn man Soldat war, aber es auf diese Art und Weise aufzugeben, als Mörder verurteilt und hingerichtet, das war ein entsetzlicher Gedanke. Er spürte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich.
Seine Beine wollten ihm den Dienst versagen, doch Porthos eiserner Griff um seine Hüften verhinderte, dass er zu Boden sackte. Für einen Moment fand Aramis Trost in der Umarmung seines Freundes, in Athos‘ Hand, die seine Schulter streichelte und in d’Artagnan, der in sein Ohr wisperte. „Vertrau auf uns, Aramis.“
Doch dann wurde er erbarmungslos fortgezerrt. Er hörte Portos‘ Grollen und d’Artagnans lauten Protest, beides verpuffte jedoch wirkungslos. Bevor der Gardist ihn jedoch grob aus dem Raum stiess, warf Aramis noch einmal einen Blick zurück. Er wollte nicht sterben, ohne vorher in die Gesichter jener gesehen zu haben, die für ihn alles waren. Lautlos formte er mit dem Mund Einer für alle. Und sie antworteten mit einem ebenso stummen: Und alle für einen.
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Tréville war ausser sich vor Wut und zum ersten Mal, seit langer Zeit, vergass er sich. Kaum war Aramis aus dem Zimmer geführt worden, packte er Dupont grob am Kragen und schüttelte ihn heftig. „Wieso habt Ihr das getan? Wieso stürzt Ihr Aramis ins Unglück? Warum stürzt Ihr Euren Freund ins Unglück?“
„Captain, Ihr sollet Euch kein Beispiel am flegelhaften Benehmen Eurer Männer nehmen.“ Richelieus Stimme, süss und klebrig wie Honig, drang durch Trévilles vor Zorn rauschende Ohren hindurch. Schweratmend liess er Dupont los. Wenn er ihn erwürgte, würde Richelieu gleich noch einen zweiten Musketier verhaften können und das würde dem König wohl kaum gefallen.
Richelieu glitt wie eine Schlange an Duponts Seite und legte ihm in scheinbarer Brüderlichkeit den Arm um die Schultern. „Ihr habt Recht getan, Monsieur. Ihr habt Euch rechtzeitig für die Wahrheit entschieden“, flötete er.
Tréville schnaubte. „Wahrheit. Ihr wisst ja nicht einmal, wie man das Wort schreibt, Kardinal Richelieu.“
„Immer wenn Euch etwas nicht gefällt, nennt Ihr es Lüge“, sagte Richelieu, die Augen so kalt wie Eis, die Hand immer noch in Duponts Schulter vergraben.
„Wenn Ihr Eure Spiele spielt, geht es auch äusserst selten um die Wahrheit.“
Richelieu musterte ihn mit kalter Geringschätzung und wieder kräuselte dieses überhebliche Lächeln, das Tréville so hasste, seine schmalen Lippen. „Das ist keines meiner Spiele, Tréville. Stellt Euch den Tatsachen, Captain: Aramis hat seinen Freund umgebracht. So sehr Ihr Euch auch wünscht, dass es eine von mir angezettelte Intrige ist, ich muss Euch enttäuschen.“
Richelieu klang durchaus aufrichtig und ehrlich, aber Tréville kannte niemanden, der so aalglatt lügen konnte, wie der Kardinal. Und als er zusah, wie Richelieu den Saal hocherhobenen Hauptes verliess, wobei er Dupont mit sich zerrte, war er geradezu überzeugt, dass er es diesem schleimigen Kirchenmann zu verdanken hatte, dass sein Zeuge so schlagartig seine Meinung geändert hatte.
Das nächste Problem nährte sich mit grossen Schritten. Athos baute sich drohend vor seinem Captain auf, das Gesicht wie immer eine reglose Maske, die Haltung wie immer locker und entspannt. Nur der Sturm in seinen Augen verriet seine aufgewühlte Seele. Athos griff nach Trévilles Arm, nicht gerade grob, aber nachdrücklich. „Ich dachte, der Zeuge sollte Aramis entlasten und nicht belasten“, zischte er.
Tréville befreite seinen Arm. „Mässigt Euch! Ich bin immer noch dein Hauptmann, Athos. Und stell dir einmal vor, ich habe mir das alles auch anders vorgestellt oder meint Ihr es macht mir Spass zuzusehen, wie einer meiner Musketiere zum Tod verurteilt wird?“, sagte er, eine Spur schärfer als beabsichtigt. Aber er hatte die Nase voll davon, dass jeder so tat, als hätte er diese Katastrophe absichtlich verursacht.
Ein kurzes Lächeln blühte in Athos‘ Gesicht auf und der Hauptmann wusste, es war seine Art sich entschuldigen. Mehr konnte er nicht erwarten. „Der Kardinal muss herausgefunden haben, wer Euer Zeuge ist und ihn unter Druck gesetzt haben“, sprach Athos den Verdacht aus, den auch Tréville insgeheim hegte.
„Das müssen wir beweisen. Und das werden wir“, versprach Tréville.
In Athos Augen glomm ein verzweifelter Funken auf, den der Hauptmann nur zu gut kannte. So hatte der Graf ausgesehen, als er vor Jahren um Aufnahme bei den Musketieren gebeten, wobei eher, gebettelt hatte. Bevor er Freundschaft mit Aramis und Porthos geschlossen hatte, hatte er genauso ausgesehen. Leer, ausgelaugt und voller Hass auf sich selbst. „Wir haben keine Zeit mehr. In vier Tagen ist Aramis tot.“
Tréville biss sich auf die Lippen. Er wusste, er war ein guter Hauptmann, weil er auch in der Lage war, schwierige Entscheidungen zu treffen. Zum Wohle Frankreichs stellte er nicht nur sein eigenes Wohl, sondern auch das Wohl seiner Männer in den Hintergrund. Aber er würde nicht zulassen, dass Aramis wegen einer Intrige sein Leben verlor. Und wenn er dafür seinen Rang und sein Ansehen beim König aufs Spiel setzen musste, dann würde er es tun.
„Ich erwarte Euch zusammen mit Porthos und d’Artagnan in meinem Büro“, sagte er brüsk und er wusste, dass Athos verstanden hatte, was er damit ausdrücken wollte: Wir werden nicht aufgeben.
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Porthos‘ grösste Angst war es nicht, sein eigenes Leben zu verlieren. Aufgewachsen als Waisenkind im gefährlichsten Ort von Paris, im Verbrechernest, dass der Hof der Wunder genannt wurde, hatte der Tod immer zu seinem Leben gehört und er hatte ihn akzeptiert. Aber der Gedanke daran, dass Athos und d’Artagnan zu verlieren war unerträglich, der Gedanke daran, Aramis zu verlieren schlicht unmöglich. Und jetzt wurde sein schlimmster Alptraum wahr.
Wie so oft in den letzten Tagen standen sie in Trévilles Büro. Vielleicht sollten sie gleich hier übernachten, dachte Porthos bitter. Niemand sagte ein Wort, ihnen allen steckte die grauenhafte Szene von vorhin noch in den Knochen und jeder hing seinen Gedanken nach.
Er hätte seinem Captain gerne Vorwürfe gemacht. Statt Aramis zu helfen, hatte er alles noch einmal schlimmer gemacht. Doch Tréville war so aschgrau im Gesicht, dass Porthos es einfach nicht übers Herz brachte. Er war von dieser falschen Schlage Dupont genauso verraten worden wie Aramis selbst. Wenn Porthos an das totenbleiche Gesicht seines Freundes dachte, als er sich Roberts Vorwürfe hatte anhören müssen, musste er die Zähne fest aufeinander pressen um seiner Wut Herr zu werden.
„Dupont wirkte ängstlich. Ich bin sicher er wurde bedroht.“ Athos ruhige Stimme durchbrach das Schweigen.
„Hm, dann überlegen wir mal: Wer will unbedingt, dass Aramis seinen Kopf verliert“, überlegte d’Artagnan gespielt angestrengt und legte die Stirn in Falten, „ich lehne mich jetzt mal ganz weit aus dem Fenster und sage: Der Kardinal!“
Porthos wusste, er neigte als Musketier dazu, Richelieu an allem die Schuld zu geben, von schlechtem Wetter bis hin zu der Erbsünde. Dennoch, in diesem Fall drängte sich Richelieu als Verdächtiger geradezu auf. Er hasste die Musketiere und er hasste Aramis. Und er war ein Mann, der über ein ausgezeichnetes Spionagenetz verfügte, das ihn laufend mit Informationen fütterte. Vielleicht hatte eines seiner Vögelchen ihm auch gezwitschert, dass Dupont Aramis entlasten könnte?
„Das Problem ist nur: Wir haben Ellen, die lügt und offensichtlich etwas verbirgt. Jetzt haben wir auch noch Dupont, der bedroht wird. Es wird seine Zeit dauern, bis wir dieses ganze Geflecht aus Lügen aufgelöst zu haben. Zeit, die wir in Gottes Namen nicht mehr haben!“, fauchte Porthos.
„Ich weiss, Porthos!“ Trévilles sonst so gelassene Stimme, war laut und schneidend geworden.
„Und was sollen wir dann tun? Uns eine schöne Grabrede für Aramis ausdenken?“, fragte Athos, in einem Anflug von morbiden Humor. Es war typisch für ihn, sich in Sarkasmus zu flüchten, wenn es brenzlig wurde und oft sorgten seine unerwarteten, trockenen Kommentare selbst in den schlimmsten Situationen für Lacher, aber jetzt rang er ihnen allen nur ein müdes Lächeln ab.
„Ihr wisst, was wir tun müssen: Wir müssen Aramis erst aus dem Gefängnis holen und dann seine Unschuld beweisen.“
„Und wie wollt Ihr ihn aus dem Gefängnis holen, wenn wir nichts haben um ihn…oh.“ Mit einem Mal begriff Porthos, was sein Hauptmann sagen wollte. Er redete nicht davon, Aramis offiziell auszuholen. Er wollte genau das tun, was er ihnen sooft vorwarf: Mit dem Kopf durch die Wand und Aramis mithilfe des Degens oder zumindest mit List zu befreien. Und Porthos konnte sich nicht helfen: Wenn er sich Richelieus dummes Gesicht vorstelle, wenn er erfuhr, dass Aramis unter seiner Nase aus dem Gefängnis entkommen war, breitete sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus.
Athos dagegen wirkte skeptisch. „Das wäre Verrat am König“, gab er zu bedenken.
„Und es wäre Verrat an Aramis, wenn wir nichts tun“, entgegnete Porthos heftig.
„Versteh mich nicht falsch, Porthos. Für Aramis würde ich mich sogar mit dem Papst anlegen. Aber ich will einfach, dass wir uns gut überlegen, was wir tun und nicht kopflos ins Gefängnis rennen. Sonst landen wir gleich mit ihm auf dem Schafott und so gerne ich Zeit mit euch verbringe, ich will nicht unbedingt mit euch den Weg ins Himmelreich antreten.“
Tréville verdrehte die Augen. „Athos, glaubt Ihr wirklich, dass ich mir meinen Degen schnappe, ins Gefängnis marschiere und anfange Soldaten niederzumetzeln? Ich hoffe, Ihr traut mir mehr Stil zu! Nein, um Aramis zu retten brauchen wir einen verdammt guten Plan. Und ich habe schon eine Idee, wie er aussehen soll…“
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Noch in derselben Nacht sattelte d’Artagnan sein Pferd und verliess Paris, um die Person aufzusuchen, deren Nähe er unbedingt hatte meiden wollen. Während des Rittes überschlug er noch einmal Trévilles Plan…und musste zugeben, dass er mehr als raffiniert war. Es hatte wohl seinen Grund, dass der Hauptmann als genialer Stratege galt. Dennoch gefiel d’Artagnan die Rolle, die ihm in diesem Spiel zugefallen war, nur bedingt.
Das Problem an dieser Befreiungsaktion war, wo sie Aramis verstecken sollten. Die Garnison fiel schon einmal aus, da Richelieu da bestimmt als erstes suchen würde. Ein Kloster wäre eine Option gewesen, aber die Macht der Kardinals war in den kirchlichen Institutionen schier unermesslich. Und da war d’Artagnan Constance eingefallen, die ihre Beziehung – falls man das was sie gehabt hatten überhaupt so nennen konnte – so abrupt beendet hatte.
Er liebte Constance. Sie war schön, sie war mutig, sie war voller Witz und Grazie. Dass sie in einer Ehe mit diesem hirnlosen Wicht Bonacieux gefangen war, war tragisch genug, dass sie ihre Liebe einfach weggeworfen hatte um zu ihm zurückzukehren, war furchtbar. Er wurde immer noch zornig, wenn er daran zurückdachte. Endlich war sie so weit gewesen, sich auf eine Affäre mit ihm einzulassen und dann hatte Bonacieux, dieser feige Hund, einen Selbstmordversuch unternommen. D’Artagnan war sich sicher, dass er nicht ernsthaft vorgehabt hatte, sich das Leben zu nehmen. Er hatte lediglich mit diesem Trick versucht, Constance wieder an sich zu binden. Und das hatte er geschafft. Sie war zu ihm zurückgekehrt, reumütig und zerknirscht.
Und hatte d’Artagnan damit das Herz gebrochen.
Ein kleiner Teil von d’Artagnan, der nicht vor Eifersucht raste, konnte sie sogar verstehen. Der wesentlich grössere Teil war wütend auf sie. Er ertrug ihren Anblick nur schwer, sie immer wieder zu sehen und zu wissen, dass sie niemals zu ihm gehören würde, war die reinste Tortur. Deshalb war er ganz froh gewesen, als er erfahren hatte, dass sie sich gemeinsam mit ihren Mann auf ein Landhaus ausserhalb von Paris zurückgezogen hatte. So war die Gefahr gebannt ihr zufällig über den Weg zu laufen.
Doch jetzt musste er sie aufsuchen und um Hilfe bitten. Ein Landhaus, weit ab von Kardinal Richelieu war geradezu perfekt als Versteck geeignet. Und Constance würde ihm seine Bitte nicht abschlagen, auch wenn sie nicht gut auf ihn zu sprechen war. Sie hatte die drei Unzertrennlichen schon gekannt, bevor er nach Paris gekommen war und immer ein freundschaftliches Verhältnissen zu ihnen unterhalten. Ausserdem hatte sie ihnen schon oft aus der Patsche geholfen. Und auch wenn sie ihm vermutlich mehr Ohrfeigen gegeben hatte als jede andere Frau, mochte sie Aramis.
Das einzige Problem war Monsieur Bonacieux. Er würde sie zweifellos verraten, wenn er verstand, was da vor sich ging. Allerdings würde es bei seiner begrenzten Intelligenz wohl kaum schwierig sein, ihm irgendeine Lüge aufzutischen und wenn er trotzdem den Braten roch, würde ihn d’Artagnan mit dem grössten Vergnügen höchstpersönlich in den Keller sperren.
D’Artagnan hielt sein Pferd an, als er sein Ziel erreichte. Landhaus war eigentlich ein zu hoch gegriffener Begriff für das schlichte, doppelstöckige Gebäude mit dem roten Dach, aber es wirkte sauber und ordentlich. Constance hatte ihm einmal davon erzählt, dass sie es hasste, wenn Bonacieux sie hierherschleppte, weil sie sich hier immer zu Tode langweilte und er hatte scherzhaft gefragt, ob sie ihm den Weg beschreiben könne, damit er sie retten könne. Wer hätte gedacht, dass ihm dieses Wissen einmal ernsthaft nützen würde.
Ein Lichtschein tanzte durch die Fenster und für einen Moment erkannte d’Artagnan Constances zierliche Silhouette. Sein Herz wurde schwer vor Sehnsucht. Die Monate, die er bei ihr gelebt hatte, waren eine schöne Zeit gewesen. Nicht nur weil er sich unsterblich in sie verliebt hatte, sie hatten auch wunderbare Momente der Freundschaft und der Verbundenheit erlebt. Bei ihr hatte er sich geborgen gefühlt, hatte Frieden gefunden, nach dem gewaltsamen Tod seines Vaters. Jetzt war alles so furchtbar kompliziert geworden.
Während er sein Pferd anband, überlegte er, wie er es am besten anstellen sollte, mit Constance zu reden. Anklopfen war keine Möglichkeit. Die Wahrscheinlichkeit das Bonacieux öffnete, war einfach zu gross. Wenn erst d’Artagnan auftauchte und dann zwei Tage später plötzlich ein Musketier sich bei ihm einquartierte, würde sogar der tumbe Tuchhändler misstrauisch werden.
Also griff er zu derselben Methode, wie zahlreiche abgewiesene Liebhaber vor ihm. Er warf Steinchen gegen die Fenster. Es machte sogar auf eine abstruse Art und Weise Spass, fast so, als werfe er Steine gegen Bonacieux selbst. Ein Steinchen in sein selbstgefälliges Gesicht, ein Steinchen in seine kostbarsten Teile, ein Steinchen in seine…
„Autsch!“
D’Artagnan zuckte zusammen. In seiner Selbstvergessenheit hatte er völlig verpasst, dass Constance das Fenster geöffnet hatte. Der Stein hatte sie direkt an der Stirn getroffen, die sie sich jetzt mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb. D’Artagnan verbiss sich einen Fluch. Das war ja ein toller Anfang für ihr Wiedersehen.
Er trat aus dem Schatten. „Ich bin es“, rief er leise.
Eine Weile blieb es still, dann wurde das Fenster geschlossen. D’Artagnan schluckte schwer. Sie war wohl noch wütender, als er angenommen hatte. Wobei er nicht ganz nachvollziehen konnte, wieso sie jetzt beleidigt war. Sie hatte ihn ja abgewiesen. Aber Frauen waren eben kompliziert, pflegte Aramis zu sagen, der sich ja immer wieder opferte, um auch die letzten Mysterien des schönen Geschlechts zu entschlüsseln.
D’Artagnan überlegte schon, wie er es seinen Freunden schonend beibringen soll, dass sie sich ein neues Versteck für Aramis suchen mussten, da öffnete sich zu seiner Verblüffung die Tür und Constance stand im Türrahmen.
Ihr Anblick war nach all den Monaten, als tauche man seinen Kopf in eisiges Wasser. Sie hatte ihr Haar gelöst und es fiel ihr in schönen, gleichmässigen Locken um das herzförmige Gesicht. Die braunen Augen hatten noch immer ihre vertraute Wärme und für einen Moment wollte d’Artagnan nichts mehr, als sie in seine Arme schliessen. Aber dann erinnerte er sich daran, dass er dieses Privileg verloren hatte.
Sie lächelte nicht, aber ihre Stimme klang durchaus freundlich als sie sagte: „Du brauchst dich nicht hierherzuschleichen wie ein Dieb in der Nacht. Mein Mann ist nicht hier. Komm rein.“
In d’Artagnan stimmte ein Orchester eine Ode der Freude an. Bonacieux war gar nicht hier. Das war ja geradezu fantastisch! Das konnte man ja fast also Zeichen Gottes sehen. Dennoch, als er in Constances Haus trat, fühlte er, wie die Nervosität wieder nach ihm griff. Er war hier mit der Frau, die er liebte…und er durfte sie nicht anrühren. Himmel, er wusste nicht einmal, was er ihr sagen sollte.
„Wie geht es dir?“, fragte er ungeschickt, während Constance die Tür hinter sich schloss.
Sie hob eine Augenbraue. „Bist du gekommen, um mich das zu fragen?“, fragte sie schnippisch, „nachdem du dich wochenlang nicht gezeigt hast? Mir nicht einmal geschrieben hast?“ Sie klang beleidigt und eingeschnappt. Fast, als wäre sie seine vernachlässigte Ehefrau.
„Du hast dich für deinen Mann entschieden!“, fauchte d’Artagnan.
„Damit habe ich nicht gemeint, dass du dich einfach ganz aus meinem Leben verabschiedest! Ich dachte, wir wären Freunde!“ Ihre Stimme schlug diesen heftigen, leidenschaftlichen Ton an, den d’Artagnan zu gut kannte. Die Ungerechtigkeit in ihrem Vorwurf kränkte ihn, denn er hatte seine Gründe, wieso er ihr ausgewichen war. Nicht so sehr, weil er zornig auf sie war, sondern weil es ihm schier unerträglich war in ihrer Nähe zu sein und sie nicht im Arm halten zu dürfen. Nur ihr Freund zu sein, das war schwerer, als ihr Feind zu sein.
Dennoch war er heute als Freund zu ihr gekommen. „Da sind wir auch. Und ich muss dich um etwas bitten.“
Sie legte ihre Stirn in Falten und seufzte dann schwer. „Das klingt nach einer längeren Geschichte. Komm, setzen wir uns in die Küche.“
Die Küche war geräumig und so gemütlich, wie die in Constances Pariser Haus. Es roch nach ihrem Tee und auf dem Tisch lag eine angefangene Näharbeit neben einer halb heruntergebrannten Kerze. Als er sich setzte, erwartete er beinahe, dass sie ihm das Essen auf dem Tisch stellte und ihn dann neugierig nach Palastgerüchten fragte. Aber das war vorbei.
„Wo ist dein Mann?“, fragte er schliesslich unvermittelt.
„In Calais. Es hat Schwierigkeiten gegeben mit einer Lieferung seiner Stoffe. Gestern ist er abgereist.“
„Dann kommt er in den nächsten Tagen nicht zurück?“
In Constances dunklen Augen blitzte es traurig auf und sie verschränkte in einer abwehrenden Geste die Arme vor der Brust. „Was soll das, d’Artagnan? Ich habe dir doch gesagt, dass das mit uns nicht geht und…“
„Ich bin nicht wegen uns gekommen. Constance, Aramis steckt in richtig schlimmen Schwierigkeiten.“
Ihre Miene wechselte von berührt zu besorgt und sie setzte sich ihm gegenüber. „Erzähl mir alles“, forderte sie.
Und d’Artagnan erzählte es ihr. Vom Francis‘ Tod, dem furchtbaren Verdacht, der auf Aramis lastete, dem Urteil der Königin, der geplanten Hinrichtung, von Ellen und Dupont, die logen und Aramis ins Unglück stürzten. Er erzählte von Trévilles Plan. Und wie immer, wenn er mit Constance sprach, erzählte er ihr noch viel mehr, von seiner Angst zu versagen, von seiner Angst Aramis zu verlieren und mit ihm auch einen grossen Teil von Porthos und Athos. An irgendeinen Punkt seiner Erzählung nahm Constance seine Hand in ihre und drückte sie, eine sanfte, unterstützende Geste.
„Und ihr wollt, dass ich Aramis zu mir nehme?“, vergewisserte sie sich am Ende seines Berichtes.
„Wenn dein Mann nicht hier ist, ist das Versteck geradezu perfekt. Und es geht ihm nicht so gut. Es wäre wichtig, dass jemand bei ihm ist, den er vertraut und kennt“, erklärte er Constance.
Sie nickte. „Gut. Mein Haus steht ganz zu eurer Verfügung. Und wenn Kardinal Richelieu es wagt sein hässliches Gesicht hier zu zeigen, wird er es bereuen!“ Sie wirkte so wild entschlossen, dass d’Artagnan es ihr ohne weiteres zutraute, Richelieu höchstpersönlich mit dem Besen zu verprügeln. Er wusste, Aramis war bei ihr in guten Händen.
Er räusperte sich. „Da gibt es aber noch etwas anderes, das du für uns tun musst…“
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Obwohl er den grössten Teil seines Lebens an diesem Ort verbracht hatte und ihn auf eine verquere Art und Weise immer noch sehr liebte, schauerte er leicht, als er den Hof der Wunder betrat. Hier herrschten andere Gesetze, hier ging es Tag um Tag ums nackte Überleben und er war mit dem Anlegen seines Waffenrocks zum Feind für seine ehemaligen Verbündeten geworden.
Obwohl die Nacht schon weit fortgeschritten war und die Strasse wie leergefegt, spürte Porthos die lauernden Blicke, die auf ihn gerichtet war. Er war nicht mehr Porthos, der Strassenjunge und König der Diebe, er war ein Musketier. Dennoch war er auch eine lebende Legende und deshalb liessen sie ihn unbehelligt, aus Furcht vor seinem Kampfkünsten.
Dann begann Porthos zu pfeifen. Eigentlich war es die Melodie eines albernen Kinderliedes, aber sie hatten sie verändert, so dass jetzt ein aggressiver und trotziger Ton mithallte, passend zu den Charakteren dieses Viertels, die sich mit erhobenen Kopf gegen die Härte des Schicksals stellten und dabei eben auch zu zweifelhaften Mitteln griffen. Sie pfiffen es, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten steckte und manch einer hatte es gepfiffen, wenn er den traurigen Weg zum Schafott hatte antreten müssen. Es war das Zeichen zur Versammlung.
Als Porthos das Lied jetzt pfiff, kam niemand. Er hatte das auch nicht erwartet. Seine Hoffnung ruhte auf einer einzigen Person, die, obwohl zierlich von Angesicht mit einer scharfen Zunge und einem noch schärferen Degen gesegnet war. Seine grosse Jugendliebe, Floh, die geschickteste Diebin von ganz Paris und wehrhaft wie eine Katze.
Als er bei den zerbrochenen Brunnen ankam, der jahrelang als ihr Versteck für ihre reiche Diebesbeute gedient hatte, stieg so etwas wie Wehmut in ihn auf. Er hatte nie bereut den Musketieren beigetreten zu sein, aber einen Teil seines alten Lebens vermisste er sehr und dazu gehörte ganz klar Floh.
Mit einem traurigen Lächeln strich er über den kalten Stein, als eine vertraut spöttische Stimme hinter ihm sagte: „Wirst du nostalgisch, Porthos?“
„Es ist schwierig eine Frau wie dich zu vergessen.“
„Bis jetzt ist es dir ganz gut gelungen.“ Floh löste sich aus den Schatten der Nacht und ihr Anblick raubte Porthos den Atem. Ihre katzenhaft geschnittenen Augen funkelten wie Sterne in der Dunkelheit und als sie auf ihn zuschritt, hatten ihre Bewegungen die übliche Geschmeidigkeit, die Porthos schon immer fasziniert hatte. Sie war keine feine Lady, aber ihre wilde Anmut war ebenso anziehend wie Adelinas vollkommene Manieren.
Sie war fast einen Kopf kleiner als er und höchstens halb so breit, dennoch sah sie ihm furchtlos in die Augen. „Ich bin überzeugt, du hast einen Grund wieso du dich hierherwagst. Sag, was du willst.“
„Vielleicht will ich dich auch einfach nur besuchen?“
„Porthos. Bitte. Beleidige nicht meine Intelligenz.“
Porthos schenkte ihr sein verführerischstes Lächeln. „Sag mal, Floh: Hast du nicht schon immer davon geträumt, den Kardinal zu überfallen?“
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Kapitel Was auf dem Friedhof gesprochen wurde
Kapitel 9
Was auf dem Friedhof gesprochen wurde
Der Husten kam in der Nacht. Aramis hatte es ernst gemeint, als er Porthos gesagt hatte, er solle sich keine Sorgen machen. Er war wirklich der Meinung gewesen, sein Unwohlsein hänge einfach mit der Kopfwunde und dem feuchten Aufenthalt im Kerker zusammen. Jetzt, als er bereits zum dritten Mal von einem fürchterlichen Hustenkrampf geschüttelt wurde und seine Brust sich anfühlte, als stünde sie in Flammen, war er sich dessen nicht mehr so sicher.
Als er endlich das Gefühl hatte, wieder atmen zu können, lehnte er erschöpft die heisse Wange gegen den kalten Stein. Er hätte sogar die Kälte diesem furchtbaren Gefühl der Atemnot vorgezogen, das ihm so schlagartig überfiel wie ein plötzlicher Pfeil ins Herz. Er rieb sich mit der Hand über die Brust und schloss die Augen. Die Erkenntnis, die lange im Hintergrund gelauert hatte, dämmerte ihm nun deutlich und klar. Er war ernsthaft krank.
Obwohl Porthos gerne so tat, als sei Aramis ein Wunderheiler, war er kein Arzt. Er hatte sich auf dem Schlachtfeld einige medizinische Erkenntnisse angeeignet, weil er nicht hatte ansehen wollen, wie seine Freunde vor seinen Augen verbluteten. Mit Krankheiten dagegen kannte er sich nur oberflächlich aus. Dennoch reichten seine bescheidenen Fähigkeiten aus, um zu begreifen, dass seine Krankheit in der Lunge sass und nicht im Kopf. Und er wusste auch, dass Lungenkrankheiten oft genug tödlich verliefen.
Wieder stieg der Hustenreiz in ihm auf. Instinktiv versuchte Aramis ihn zu unterdrücken, aber das stellte sich als blöde Idee heraus. Seine Brust fühlte sich an, als wolle sie auseinanderbrechen und seine Atemzüge kamen in schnellen, heftigen und schmerzhaften Stössen. Doch als er versuchte, den Schleim abzuhusten, brachte das seine Kopfschmerzen mit jäher Heftigkeit wieder zurück. Sein Kopf fühlte sich an, als müsse er zerspringen, während er sich verzweifelt um Luft bemühte.
Als der Anfall vorbei war, zitterte er am ganzen Körper und seine Haare klebten feucht an seiner Stirn, die sich furchtbar heiss anfühlte. Das Fieber hatte ihn endgültig im Griff. Nun, dachte Aramis mit einem jähen Anflug von Galgenhumor, dann bleibt wohl nur noch die Frage: Was tötet mich zuerst? Meine Lunge oder der Henker?
Er wünschte sich, dass Porthos wäre hier um über den Witz zu lachen.
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Es war geradezu grotesk, dass die Sonne in aller Fröhlichkeit vom Himmel strahlte, während sie Francis zu Grabe trugen. Wenn es nach Porthos‘ Stimmung gegangen wäre, hätte es in Strömen regnen sollen, es hätte Blitze und Donner geben müssen, am besten noch ein Sturm. Aber während sie um das frisch aufgeschüttete Grab standen und der Pfarrer in leisen, aber klaren Worten die letzten Gebete für Francis sprach, zwitscherten die Vögel ihr Frühlingslied und die ersten Sommervögel tanzten im Wind, als wäre dies eine Hochzeit und keine Beerdigung.
Ein besonders hartnäckiges Exemplar eines Falters setzte sich auf den dunklen Priesterrock des Pfarrers. Es war ein schönes Tier, mit zitronengelben Flügeln. Jedoch entdeckte Porthos auf den zweiten Blick zarte, weisse Tupfer. Der Anblick des Schmetterlings lenkte ihn ab von den traurigen Worten und der Tatsache, dass sie hier gerade einen Bruder begraben hatten. Porthos hasste Abschiede. Er hatte seine Mutter früh verloren, er hatte viele Freunde verloren und er ahnte, dass er auch noch viele verlieren würde. Das blieb nicht aus, wenn man in einem Regiment diente, dass für seine Kühnheit im Kampf berühmt war. Und dennoch zog sich Porthos‘ Herz bei jedem Mann, den sie verabschieden mussten, vor Schmerz zusammen. Denn nichts erschien ihm schlimmer, als wenn jemand endgültig fortging und es keine Chance gab, all das zu sagen, was unausgesprochen geblieben war.
„Fällt es sehr auf, wenn ich ihr den Hals umdrehe?“
D’Artagnans zischende Stimme schreckte Porthos aus seinen Gedanken. Er riss sich vom Anblick des Sommervogels los und folgte d’Artagnans Blick. Was er sah, liess seine Laune noch weiter in den Keller sinken. Ellen war da. Er hatte sie bis jetzt nicht erkannt, weil sie einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht getragen hatte. Jetzt hatte sie ihn – vermutlich wegen der Hitze – zurückgeschlagen. Ihre Tränen rührten Porthos nicht im Mindesten, im Gegenteil. Ihre Leidensmiene liess Porthos‘ Blut vor Zorn kochen. Dupont mochte den Todesstoss gegen Aramis geführt haben, aber es war Ellen, die ihm das Schwert erst an die Kehle gelegt hatte.
„Ich denke, es würde die Stimmung doch etwas stören, wenn du die Verlobte des Toten erwürgst“, sagte Athos in seiner üblich trockenen Art und Weise. Porthos kam nicht umhin seinen Freund zu bewundern, der in der Lage war zu sprechen, ohne dass man seine Lippenbewegungen sah.
„Aber ich würde mich danach besser fühlen!“, moserte d’Artagnan.
„Ich helfe dir gerne dabei“, bot Porthos an.
Athos fuhr seine beiden Ellbogen aus, um seinen Freunden gleichzeitig einen Knuff zu verpassen. „Jetzt hört endlich auf mit euren Rachegedanken! Fällt euch nicht irgendwas an ihr auf?“
„Dass sie schon wieder weint?“, lautete d’Artagnans geistreiche Bemerkung, was ihm einen erneuten Rippenstoss seitens Athos einbrachte.
„Ihre Eltern sind nicht dabei.“
Porthos fand, dass Athos auch schon interessantere Entdeckungen gemacht hatte. Normalerweise war ihr Anführer unschlagbar darin, verborgene Zeichen richtig zu deuten und Schlüsse daraus zu ziehen. „Es soll junge Damen geben, die das Haus durchaus ohne elterliche Begleitung verlassen.“
„Stell dir vor, das weiss ich! Aber mal angenommen, du wärst eine Frau, Porthos…“
D’Artagnan gluckste, ein allzu heiteres Geräusch, was ihm einen strafenden Blick des Pfarrers einbrachte. Aber wie üblich liess sich der junge Mann nicht massregeln. „Oh ja, wenn sich jemand in das Wesen einer Frau einfühlen kann, dann ist es wohl unser Porthos!“
„Wenn du jetzt wieder mit dem Kleid anfängst, kannst du dich gleich zu Francis ins Grab legen!“, drohte Porthos. Aber obwohl er ärgerlich klang, fühlte er sich seltsam beschwingt. Es tat gut mit seinen Freunden zu scherzen und sich gegenseitig zu necken. Es gab ihm trotz der traurigen Atmosphäre das Gefühl, am Leben zu sein.
„Könnt ihr euch vielleicht kurz mal wie erwachsene Menschen benehmen? Wenn du eine Frau wärst, Porthos und du gerade deinen Verlobten verloren hättest: würdest du dann alleine an seine Beerdigung gehen? Ohne die Unterstützung jener, die du liebst?“
Porthos zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Wahrscheinlich würde ich es vorziehen, sie an meiner Seite zu haben. Aber worauf willst du hinaus?“
„Ich denke, dass Ellens Eltern nicht hier sind, weil sie gar nicht wissen, dass Francis tot ist. Und wahrscheinlich auch nicht wissen, dass Francis und Ellen verlobt waren.“
Das war Porthos dann doch etwas zu weit hergeholt. Er schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiss, ist es üblich die Eltern um die Hand ihrer Tochter zu bitten. Da müssen sie schon etwas gewusst haben, Athos.“
„Wissen wir denn, ob sie wirklich offiziell verlobt waren?“, gab Athos zurück.
Porthos öffnete schon den Mund zu einer Erwiderung, da drehte sich Tréville zu ihnen um und seine Miene verhiess nichts Gutes. „Könnt ihr das Getuschel sein lassen? Das ist wirklich mehr als pietätslos!“
So verstummten die drei Musketiere und lauschten den sanften Worten des Pfarrers, während ihr Bruder in die letzte Ruhe hinüberglitt. Und Porthos schwor sich noch einmal, dass er Francis‘ Tod aufklären würde. Nicht nur um Aramis zu retten, sondern auch, um seinen verstorbenen Freund die Möglichkeit zu geben, Frieden zu finden.
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Athos wartete bis sich die Trauergemeinde verstreut hatte, bevor er zu Tréville trat. Der sonst so ausgeglichene Mann, der seine Gefühle stets unter Verschluss hielt, wirkte sichtlich erschüttert und traurig. „Das ist jetzt schon der zweite junge Musketier, den ich innerhalb eines halben Jahres zu Grabe tragen muss“, murmelte er abwesend.
„Ich fürchte Captain, es wird nicht der Letzte sein, der uns verlässt.“
Ein schwerer Seufzer hob Trévilles Brust. „Wenn es aufhört mich zu kümmern, wenn ich Männer verliere, ist es Zeit meinen Abschied als Captain der Musketiere zu nehmen. Aber lasst uns hoffen, dass Aramis nicht der Nächste sein wird.“
Das hoffte Athos allerdings auch. Der Plan versprach zwar Erfolg, aber zugleich war er riskant und nicht leicht durchführbar. Und er besass einige Schwachstellen. „Meint Ihr wirklich, dass der Kardinal nicht stutzig wird, wenn wir uns plötzlich so besorgt um seine Gesundheit zeigen?“
„Natürlich wird er stutzig. Der Kardinal ist nicht dumm. Aber er wird sich dem Wunsch des Königs nicht widersetzen, da bin ich sicher.“
„Und wenn der König nicht darauf eingeht?“ Athos wusste, sie hatten das alles schon besprochen und bis tief in die Nacht an dem Rettungsplan gefeilt, aber er war trotzdem unsicher. Nicht weil er um sein eigenes Leben fürchtete, denn Athos war längst an einem Punkt angelangt, an dem der Tod keinen Schrecken mehr für ihn barg. Aber er hatte Angst davor, seine Freunde zu verlieren und wenn sie erwischt würden, würden sie Aramis bei seiner Hinrichtung gleich Gesellschaft leisten.
Ein humorloses Lächeln umspielte Trévilles Lippen. „Oh glaubt mir, Athos. Wenn es um die Sicherheit seines geliebten Kardinals geht, gibt es kein Opfer, das für Louis gross genug wäre.“
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„Ich muss mal schnell für kleine Musketiere.“
Porthos trug jene unschuldige Miene zur Schau, die er immer dann hervorkramte, wenn er etwas Dummes vorhatte. Also kniff d’Artagnan misstrauisch die Augen zusammen. „Du willst doch was anstellen, oder?“
„Anstellen würde ich das nicht nennen“, druckste Porthos herum.
„Du willst mit Ellen reden, oder?“
Von seinen drei Freunden war Porthos am leichtesten zu durchschauen. Athos war verschwiegen wie ein Grab und selbst seine Körpersprache war so sparsam, dass es schwierig war sie zu deuten. Aramis dagegen war ein Meister der Verstellung und man wusste nie so Recht ob er einem etwas vorspielte oder ob es ihm ernst war. Porthos dagegen war wie ein offenes Buch. Er trug sein Herz auf der Zunge und machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen und Empfindungen. Und jetzt konnte d’Artagnan förmlich von seiner Stirn ablesen, was er vorhatte.
Porthos lächelte ertappt. „Ich möchte ihr einfach ins Gewissen reden. Ihr klarmachen, was sie anrichtet mit ihren Lügen. Vielleich kann ich zu ihr durchdringen.“
Das bezweifelte d’Artagnan. Diese Frau hatte den mehr als nur elend aussehenden Aramis kalten Herzens ins Gefängnis geschickt, sie würde sich kaum von einem wutschnaubenden Porthos beeindrucken lassen. Und Athos würde vermutlich einen Anfall kriegen, wenn er von dieser Aktion erfuhr. Aber d’Artagnan verstand, wieso Porthos das tun wollte. Es ging um Aramis. Seinen besten Freund. Also nickte d’Artagnan ergeben und Porthos verschwand mit einem letzten, dankbaren Winken.
D’Artagnan verspürte wenig Lust auf seine beiden Freunde zu warten. Also ging er alleine den sauber angelegten Friedhofswegen entlang. Der Friede der über dem Friedhof lag, barg etwas Tröstliches. In Gedanken versunken strich er den aneinandergereihten Gräbern entlang. Traditionell wurden Musketiere in diesem Teil des Friedhofs begraben, unter dem Namen, den sie in den Reihen ihrer Brüder getragen hatten. Teilweise waren die Namen schon so verwittert, dass d’Artagnan sie nicht mehr lesen konnte, andere waren schmerzhaft frisch und gestochen scharf. Und die meisten von ihnen, waren früh gestorben.
Als d’Artagnan die Musketiere kennengelernt hatte, war er begeistert und fasziniert gewesen von ihrer natürlichen Lebensfreude und ihrer Abenteuerlust. Sie genossen das Leben in vollen Zügen und das hatte auf ihn, den Bauernjungen, der bis jetzt vor allem harte Arbeit kannte, eine grosse Anziehungskraft ausgeübt. Aber nach und nach war ihm klargeworden, dass dieses Leben auch Schattenseiten barg. Ein früher Tod im Dienste des Königs war keine Seltenheit. D’Artagnan war ein Draufgänger, aber er verspürte nur wenig Lust den Heldentod zu sterben.
Ein Grabstein erregte d’Artagnans Aufmerksamkeit. Das Wetter hatte noch kaum Spuren auf dem Stein hinterlassen und das Datum lag gerade mal ein halbes Jahr zurück. Also hätte d’Artagnan den Mann wohl kennen müssen. Aber der schwungvoll geschriebene Name Isaac sagte ihm nichts. Was d’Artagnan jedoch mehr fesselte war die Grabinschrift, die unter dem Namen stand. Nur der Tod kann nicht verraten.
Meist zierten Familienmottos Gräber, aber das erschien d’Artagnan ein reichlich merkwürdiges Motto. Vielleicht war es aus einem Gedicht entnommen? Aber für d’Artagnan erschien es eher wie eine Warnung oder Drohung. Auf jeden Fall war es ein mehr als merkwürdiger Abschiedsgruss.
Ein lautes Fluchen liess d’Artagnan den Kopf heben. Zu seinem Amüsement sah er den Pfarrer, der sich gerade mit heftig gestikulierenden Armbewegungen einer besonders hartnäckigen Biene zu erwehren versuchte, wobei er ständig über sein Priestergewand stolperte. „Weiche von mir, du Kreatur des Teufels“, schrie er und schlug mit seiner Bibel nach dem armen Tier.
D’Artagnan wollte dem bedrängten Gottesmann schon zu Hilfe eilen, als sein Blick auf die beiden Mädchen fiel. Sie standen unter einer grossen Eiche und diskutieren heftig. Beide trugen Trauerkleidung und d’Artagnan glaubte, die eine auf der Beerdigung gesehen zu haben.
„Marie, du solltest das lassen! Das ist gefährlich!“ Die Sprecherin war blond, schlank und hochgewachsen und d’Artagnan hätte sie wohl hübsch gefunden, wäre ihre Stimme nicht so unerträglich schrill gewesen wäre.
Marie war deutlich kleiner als ihre Freundin und mit einer Fülle von dunklen Locken gesegnet. „Ich muss das tun. Er hat mich darum gebeten, es ist meine Pflicht, Fleur!“
Fleur umfasste Maries Schultern. „Ich beschwöre dich, Marie! Dein Cousin wurde ermordet. Willst du unbedingt die Nächste sein?“
D’Artagnan lauschte mit angehaltenen Atem. Das klang ja überaus interessant. Er hätte gerne weiter zugehört, doch unglücklicherweise sah ihn Fleur in diesem Moment. Er senkte zwar schnell den Kopf und tat so, als sei er noch immer in den Anblick des Grabsteines vertieft, aber Fleur schien bemerkt zu haben, dass ihr Gespräch belauscht wurde. Sie zog ihre Freundin am Arm und verschwand aus d’Artagnans Blickfeld.
D’Artagnans Gedanken überschlugen sich. Wenn Marie Francis‘ Cousine war, wusste sie vielleicht etwas. Und offenbar wollte ihre Freundin nicht, dass sie dieses gefährliche Wissen teilte? Oder war es um etwas ganz anderes gegangen und er interpretierte viel zu viel in dieses hitzige Gespräch hinein?
Auf jeden Fall, überlegte d’Artagnan, während er zusah wie der Pfarrer endlich die störrische Biene loswurde und mit gerafftem Priesterrock davonstapfte, muss ich Aramis fragen, ob Marie wirklich die Cousine von Francis ist. Und wenn ja, dann musste er dieser Dame mal auf dem Zahn fühlen. Aber erstmal musste er sich auf ihren Rettungsplan konzentrieren. Immer eine Katastrophe nach den anderen, das war seine Devise.
Vielleicht stand das ja einmal auf seinem Grabstein.
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Porthos machte nicht viel Federlesen. Als Ellen endlich alleine war, packte er sie grob am Handgelenk und zerrte sie hinter eine ausladende Eiche. Sie war so verblüfft, dass sie es mit sich geschehen liess, doch kaum hatte sie sich gefasst, hob sie blitzschnell das Knie und verpasste ihm einen höchst schmerzhaften Tritt zwischen die Beine.
Er verdankte es allein seinem jahrelangen Training als Soldat, dass er nicht vor Schmerz aufschrie. Zwar kniff er die Augen zusammen und Tränen rannen über seine Wangen, aber kein Laut kam über seine Lippen und er liess Ellen auch nicht los. Stattdessen drückte er Ellen noch fester gegen den Baumstamm und hielt ihr den Mund zu, um sie am Schreien zu hindern.
„Ihr werdet mir jetzt zuhören. Ich weiss, dass Ihr ein Geheimnis habt! Und ich weiss auch, dass Ihr lügt, wenn Ihr den hübschen Mund aufmacht. Nun, Mademoiselle Ellen: Mir ist es völlig gleichgültig mit wem Ihr nun verlobt oder nicht verlobt seid oder mit wem Ihr ins Bett. Meinetwegen könnt Ihr es mit dem Teufel selbst treiben, wenn es Euch Vergnügen bereitet!“ Ellen gab einen erstickten Laut von sich und atmete schwer unter seiner Hand, die er unnachgiebig auf ihren Mund presste. Es machte ihm kein Vergnügen einer Frau Schmerzen zuzufügen, also lockerte er seinen Griff und liess die Hand sinken, bevor er eindringlich fortfuhr: „Aber wenn Ihr ein Herz habt, dann besinnt Euch darauf, dass ein unschuldiger Mann Euretwegen hingerichtet wird. Ein guter Mann, der sein Leben dem König gewidmet hat und der Euch nie etwas zu Leide getan hat. Er wird sterben Ellen! Wollt Ihr wirklich diese Schuld auf Euch laden?“
Ihr Blick nahm einen verschlagenen Ausdruck an. „Ist Euch je der Gedanke gekommen, dass ich nicht lüge? Dass Aramis die Tat tatsächlich begangen hat?“
„Nicht einen Moment lang, Ellen. Aramis ist kein Heiliger, bei Gott nicht. Aber er würde nie einen Freund töten. Schon gar nicht wegen einem Mädchen, das den Charme einer Distel besitzt.“
Ellen sah aus, als wolle sie ihm das Gesicht zerkratzen, aber sie beherrschte sich. „Was bildet Ihr Euch ein, dass Ihr es wagt mich zu beleidigen? Ihr seid nicht mehr als ein erbärmlicher Musketier!“
„Nun, Ihr wart die Verlobte eines solchen erbärmlichen Musketiers, Ellen. Oder irre ich mich da etwa?“ Er liess die letzte Bemerkung absichtlich zweideutig klingen und dem schlagartigen Erbleichen ihres Gesichts nach zu schliessen, verstand sie seine Andeutung sehr wohl.
„Droht so viel Ihr wollt, Porthos. Aramis ist so gut wie tot. Und wenn Ihr das nicht könnt, schlage ich vor Ihr springt gleich in die Seine.“
Porthos Temperament drohte auszubrechen und für einen Moment wollte er nichts mehr als diese Frau zu schlagen, die ein so dreckiges Grinsen im Gesicht trug, als könne nichts und niemand sie beeindrucken. Aber er hatte Grundsätze und einer davon war, keine Frau zu schlagen und mochte sie auch noch so ein verdorbenes Geschöpf sein.
Er stiess sie so heftig von sich, dass sie stolperte. „Ellen, an Eines solltet Ihr denken: Wenn wir in den Fluss stürzen, dann reissen wir Euch mit!“
Und zum ersten Mal sah er so etwas wie Angst in ihren sonst so kühl blickenden Augen.
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„Tréville! Was für ein erfreulicher Anblick! Ich sah Euch in den letzten Tag kaum.“ Hinter den scheinbar so freundlich gesprochenen Worten des Königs steckte eine scharfe Kritik. Louis mochte es nicht sonderlich, wenn er links liegen gelassen wurde und in den letzten Tagen war Tréville zu beschäftigt mit Nachforschungen gewesen, um ihm seine Aufwartung zu machen.
Deshalb fiel seine Verbeugung auch etwas tiefer aus, als sonst. „Eure Majestät.“
Louis sass an seinem Schreibtisch und wie üblich, wenn er gezwungen war, seine Zeit mit Papieren zu verbringen, wirkte er äusserst missgelaunt. Jetzt stand er auf und entliess ihn mit einer gnädigen Handbewegung aus dem Knicks. „Ich höre allerlei Unerfreuliches von Euren Musketieren, Tréville. Wenn Ihr gekommen seid, um meine Gnade zu erbitten, muss ich Euch enttäuschen. Aramis muss hingerichtet werden, so Leid es mir tut.“
„Ich bin nicht deswegen hier.“ Natürlich nicht. Wenn Tréville geglaubt hätte, dass er den König überreden könnte, die Anklage fallen zu lassen, hätte er sich nicht diesen mehr als nur waghalsigen Plan ausgedacht.
Louis hob verblüfft die Augenbrauen. „Das erstaunt mich allerdings. Momentan scheint mir jeder mit dieser leidigen Angelegenheit in den Ohren zu liegen. Stellt Euch vor, sogar die Königin hat mich darum gebeten, den Musketier zu begnadigen!“
Es war nicht ungewöhnlich für die Königin Partei für die Musketiere zu ergreifen. Sie mochte und schätze ihre Leibgarde sehr und sie besass genug Verstand um zu wissen, dass es klug war sich mit jenen gutzustellen, die ihr Leben beschützten. Aber dass sie den König um etwas bat geschah selten und dass sie für einen Musketier ihren spanischen Stolz überwand, erstaunte Tréville aber doch einigermassen. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich: Was verband Aramis und Anna?
„Sie hatte schon immer ein gutes Herz“, sagte Tréville glatt.
„Nun, wohl wahr. Und sie ist schwanger. Das Kind verleitet sie zu allerlei Gefühlsausbrüchen.“ Wie immer wenn die Rede auf Annas schwellenden Leib kam, wurden Louis‘ Züge weicher.
Tréville nutzte diese gute Stimmung. Bei dem König war diese oft mehr als nur flüchtig. „Majestät, ich mache mir Sorgen um den Kardinal.“
Für einen Moment sah Louis aus, als wolle er lachen, doch er beherrschte sich gerade noch. „Ihr? Sorgen um den Kardinal? Verzeiht, wenn ich Euch so direkt frage aber: Fühlt Ihr Euch nicht wohl?“
Tréville hatte damit gerechnet, dass er Louis‘ Misstrauen wecken würde. Selbst der sonst so gutgläubige Monarch würde schwer zu überzeugen sein, dass Tréville sich auf einmal um den Kardinal sorgte. Ihre Feindschaft war ja sozusagen legendär. Zudem war er ein grauenhafter Schauspieler. Aber irgendwo musste er sein Anliegen überzeugend vorbringen, davon hing ihr ganzer Plan ab.
„Majestät, ich kann nicht behaupten, dass ich Liebe für den Kardinal empfinde…“ Nein, es ist eher ein leidenschaftlich gepflegter Hass, fügte er in Gedanken hinzu, „aber niemand dient dem Reich mit grösserer Leidenschaft und ich möchte mir ein Frankreich ohne ihn gar nicht vorstellen.“
Er schien auf dem richtigen Weg zu sein. Louis‘ Augen verdunkelten sich, als er an die Sterblichkeit seines engsten Beraters erinnert wurde. Er schluckte schwer. „Da habt Ihr Recht. Gibt es einen konkreten Anlass für Eure Besorgnis?“
„Ja, Eure Majestät. Die Menschen in Frankreich lieben und verehren Euch, aber sie hassen und fürchten den Kardinal…“
„Das braucht Ihr mir nicht zu erzählen, Tréville, das weiss ich…“ unterbrach Louis ihn ungeduldig. Seine Nervosität war ein gutes Zeichen. Er machte sich bereits Sorgen um Richelieu.
Er fuhr also ungerührt fort: „Ich habe beunruhigende Gerüchte gehört. Es scheint, als plane man ein Attentat auf Kardinal Richelieu.“
„Ein Attentat? Wer vom Pöbel würde es wagen, meinen ersten Minister anzugreifen?“, brauste Louis auf.
Diejenigen, die wir darum gebeten haben, dachte Tréville sarkastisch. „Sie sind verzweifelt und voller Hass. Eine gefährliche Mischung.“
Louis legte die königliche Stirn in Falten. „Nun, aber der Kardinal hat seine Rote Garde. Sie wird ihn beschützen.“
Der Captain achtete darauf so lange zu zögern, dass es dem König auffallen musste. „Natürlich. Davon bin ich überzeugt.“
Es war geradezu erstaunlich, wie leicht Louis den Köder schluckte. „Ihr glaubt nicht, dass die Garde ausreicht?“, hakte er sogleich nach.
Die nächsten Worte wägte Tréville sehr sorgfältig ab. „Richelieu ist ein Mann der einsamen Wege. Mir wurde berichtet, dass er in den frühen Morgenstunden gerne eine abgelegene Kapelle aufsucht, um in Ruhe zu beten. Das fordert einen Hinterhalt geradezu heraus. Ich denke, nur die besten Soldaten, sollten den besten Mann im Reich schützen.“
„Und die besten Männer habt Ihr in Eurem Regiment“, schlussfolgerte Louis mit gewohnter Verstandesschärfe. Tréville unterdrückte einen triumphierenden Laut. Er hatte seine Majestät genau dort, wo er ihn haben wollte.
Mit einer scheinbar bescheidenen Geste lüftete der Hauptmann seinen Hut. „Es wäre mir eine Ehre meine Männer in den Dienst des Kardinals zu stellen.“
Für einen Moment glaubte Tréville, er habe zu dick aufgetragen, denn Louis schwieg lange. Dann kam endlich die Erlösung in Form eines knappen, förmlichen Nickens. „Wenn die Gefahr für den Kardinal wirklich so gross scheint, werde ich dafür Sorge tragen, dass er meine Männer an seiner Seite hat. Auch wenn es ihm keine Freude bereiten wird.“
Nun galt es noch die letzte Hürde zu nehmen. „Wenn ich Euch einen Rat geben darf, Eure Majestät: Versucht ihn zu überrumpeln. Er wird über den Vorschlag nicht erfreut sein. Er traut meinen Musketieren nicht sonderlich.“
Ein halbwegs amüsiertes Lächeln hob Louis‘ Lippen. „Das wäre mir gar nicht aufgefallen. Nun gut,, Tréville. Offeriert Kardinal Richelieu Euren und seid Euch meiner Zustimmung sicher. Hauptsache, Ihr sorgt dafür, dass mein Minister heil bleibt.“
Tréville verliess das Arbeitszimmer des Königs unendlich erleichtert aber in Schweiss gebadet. Intrigieren war verflucht anstrengend, das überliess er in Zukunft mit Freuden Richelieu und den Höflingen. Dennoch, dachte er, während er von einem Spiegel stehen blieb und seinen Hut richtete, sein Ziel war erreicht. Morgen würde Richelieu eine äusserst hartnäckige Eskorte von Musketieren an sich kleben haben.
Er freute sich jetzt schon auf das dumme Gesicht seines ewigen Widersachers.
Kapitel Eine Jungfrau in Nöten
Kapitel 10
Eine Jungfrau in Nöten
Richelieu pflegte nicht nur spät zu Bett zu gehen, er pflegte auch sehr früh aufzustehen. Er liebte die frühen Morgenstunden fast noch mehr als die Nacht. Wenn der König und sein Gefolge schlief, waren die Gänge des Palastes wie ausgestorben und es war ein Genuss durch den noch mit Tau benetzten Garten schlendern zu können, ohne Angst haben zu müssen, hinter jedem Busch über ein Liebespaar zu stolpern. Und er liebte es, alleine in der einsamen Kapelle zu beten, die er zu der seinen auserkoren hatte.
Er war kein Mann, der sich selbst belog. Er wusste, er hatte sich in seinem Streben nach Macht weit von Gott entfernt und diese stillen Gebetsmomente, waren die einzigen in denen er sich seinem Herrn noch nahe fühlte. Damals, als er sich der Politik zugewendet hatte, hatte er gewusst, dass er diesen Preis zahlen müsste und er hatte es gerne getan. Dennoch bedeutete das nicht, dass er nicht hin und wieder die Notwendigkeit spürte, seine Sünden ehrlich vor Gott zu tragen.
Seine Laune war deshalb durchaus gut zu nennen, als er in seinen Reisemantel gekleidet aus seinen Gemächern trat und sich abmühte, die ledernden Handschuhe überzuziehen. Sie wurde jedoch schlagartig schlechter, als er beinahe mit diesem missmutigen Musketier Athos zusammengestossen wäre, der aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen draussen rumlungerte.
„Ist Euch langweilig, Monsieur Athos?“, fauchte Richelieu. Er hatte gehofft, so schnell keinen Musketier mehr zu Gesicht zu bekommen. Nachdem dieser Prozess endlich zu einem für ihn sehr erfreulichen Ende gekommen war, war er nicht gerade scharf auf die Gesellschaft jener Männer, deren Freund gerade im Kerker vor sich hin schmachtete.
Zu seiner Überraschung vollführte Athos einen eleganten Hofknicks, der von einer höfischen Erziehung zeugte. „Eure Eminenz, ich stehe ganz zu Euren Diensten.“
„Was steht Ihr?“, hakte er missgelaunt nach. Einer der vielen Gründe wieso Richelieu die Musketiere nicht ausstehen konnte, war ihr zu ausgeprägter Sinn für Humor. Man konnte immer davon ausgehen, dass irgendeiner von Trévilles Männern noch einen blöden Witz riss. Und Athos hatte einen sehr feinen Sarkasmus, man wusste nie Recht ob er einen auf dem Arm nahm oder tatsächlich etwas ernst meinte.
Athos‘ Gesicht konnte man nur als liebenswürdig bezeichnen. „Zu Euren Diensten“, wiederholte er, „der König selbst hat den Wunsch geäussert, dass wir für Eure Bewachung zuständig sind.“
Zum zweiten Mal in dieser Woche war Richelieu so überrumpelt, dass ihm die Züge entgleisten. „Und wieso genau sollte ich mich ausgerechnet von Euch bewachen lassen?“
In Athos‘ blauen Augen tanzte ein spöttischer Funken, als er zuckersüss erwiderte: „Weil der König es will.“
Wenn Richelieu etwas nicht war, dann war es dumm. Es kam ihm äusserst seltsam vor, dass Louis ihm auf einmal seine ach so geliebten Musketiere zur Verfügung stellte und Athos‘ betont unschuldiger Augenaufschlag weckte sein Misstrauen erst recht. „Und wer mag dem König wohl diesen Gedanken eingegeben haben?“, fragte er gedehnt. Er konnte sich nur den Captain Tréville vorstellen. Aber wieso sollte der Hauptmann so etwas tun.
Die Lippen des Musketiers kräuselten sich amüsiert. „Aber Eminenz: Wer würde es je wagen, den König irgendwelche Gedanken einzugeben?“
Richelieu sah ihn scharf an. Von diesen vier ständigen Unruhestiftern hasste er Aramis, weil er ihm die Geliebte ausgespannt hatte, Porthos widerte ihn an, weil seine Haut dunkel war und d’Artagnan faszinierte ihn, weil er viel Potential in diesem jungen Burschen sah. Doch vor Athos fürchtete er sich ein wenig, denn Athos war weder ein einfacher Bauernjunge noch kam er von der Gosse. Er war ein Edelmann, dass sah man in jeder Geste und hörte man in jedem Wort. Und es war sehr schwierig ihn zu lesen, denn er verschloss sein Herz und hielt seine Zunge streng im Zaun.
Deshalb wusste er, er würde aus diesem Mann nicht mehr rauskriegen. Aber er würde dieser seltsamen Laune des Königs schon noch auf dem Grund gehen. Also schwieg er, rauschte mit wehenden Gewändern an Athos vorbei, der sich ihm anschloss wie ein stummer, hartnäckiger Schatten.
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Thomas Maleyn war übler Stimmung. Statt sich mit den Huren von Paris zu vergnügen, musste er sich vor der Zelle dieses vermaledeiten Musketiers die Beine in den Bauch stehen, weil der Kardinal dessen strengste Bewachung gefordert hatte. Als könne sich dieser Aramis einfach mit einem Schlag in Luft auflösen, wenn man nicht ständig durchs Schlüsselloch späte. Wenn Thomas den schlimmen Husten richtig deutete, würde dieser Mann so oder so abkratzen, selbst wenn es ihm wie durch ein Wunder gelänge, der drohenden Hinrichtung zu entgehen.
Das Rascheln von Röcken riss ihn aus seinen trüben Gedanken. Ein ganz und gar zauberhaftes Wesen huschte die dunklen Gänge entlang, ein schmales Frauenpersönchen mit einem geflochtenen Korb in der Hand. Sofort nahm Thomas eine geradere Haltung an und versuchte sich an einem lieblichen Lächeln, als die Frau näher kam. „Mylady.“
Er konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Der Kerker war nur schwach von Fackeln beleuchtet und sie trug eine reichlich altmodische Haube, die ihr Haar verdeckte und zusätzliche Schatten auf ihre Stirn warf. Dennoch, ihrem wohl gerundeten Körper nach zu schliessen, war sie jung und wohl auch leidlich ansehnlich.
Sie lachte geziert. „Ich bin keine Lady. Sondern eine gute Fee!“ Mit flinken Händen schob sie das Tuch von ihrem Korb und enthüllte eine Flasche Wein.
Wenn Thomas Maleyn ein intelligenter Mann gewesen wäre, hätte er gewiss begriffen, dass dies kein Zufall sein konnte. Schöne Frauen tauchten nicht einfach ohne Grund bei Wachmännern an und betörten sie mit Wein. Aber er kein intelligenter Mann, er war grobschlächtig und grausam, besass aber weder Verstand noch ein Gespür für andere Menschen. Deshalb sagte er dem Wein tüchtig zu, währen die geheimnisvolle Schöne mit mildem Lächeln neben ihm sass und keinen Tropfen anrührte. Und als er unendlich müde wurde, seine Glieder sich schwer anfühlten und er zu Boden sackte, gab er sich dem süssen Schlaf ohne Widerstand hin.
Und merkte nicht einmal, wie geschickte Finger den Schlüssel aus seiner Tasche fischten.
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Aramis hob die schweren Lider, als er unwirsch am Arm hochgezogen wurde. Der Husten hatte ihn die ganze Nacht wachgehalten und am Ende war er in einen unruhigen Schlummer gefallen. Jetzt stand er auf mehr als wackligen Beinen und blinzelte verwirrt. Für einen Moment glaubte er seine Sinneskraft spiele ihm einen Streich, denn vor ihm stand niemand anders als eine grinsende Constance, gekleidet wie eine trauernde Witwe.
„Du machst dich ganz gut als Jungfrau in Nöten, Aramis“, sagte sie und die spöttische Stimme war zweifellos die von Constance. Doch trotz ihrer spitzen Worte waren ihre braunen Augen voller Sorge und sie wollte die Hand prüfend auf seine Stirn legen. Weil er wusste, dass sie sein steigendes Fieber bemerken würde, drehte er den Kopf weg. Er wollte nicht, dass seine Freunde von seiner Krankheit erfuhren. Sie machten schon genug durch, seinetwegen.
„Ich liebe diese Rolle“, murmelte er, während Constance sich an seinen Ketten zu schaffen machte.
„Erwarte aber nicht, dass ich dich wie meine Braut über die Schwelle trage.“
Als es ihr endlich gelang Aramis‘ Fesseln zu lösen, fühlte er ihm ersten Moment nur brennenden Schmerz, als seine tauben Knochen jäh zum Leben erwachten. Zudem fand er es auf einmal furchtbar schwierig das Gleichgewicht zu halten und er sackte hilflos gegen seine Retterin, die ihn sanft auffing und stützte. Schweratmend blieb er einige Momente schwer auf sie gestützt stehen und versuchte seine Kräfte wieder zu sammeln.
Sie schüttelte ihn leicht. „Aramis, wir müssen gehen. Wir haben wenig Zeit und wenn ich dich nicht rechtzeitig hier rauskriege, wird Porthos mir den Kopf abreissen.“
Aramis nickte. „Woher hast du den Schlüssel?“, fragte er und unterdrückte mit Mühe, einen neuerlichen Hustenanfall. Seine ersten Schritte waren wacklig, aber schliesslich kehrten seine Lebensgeister halbwegs wieder zurück. Constance hielt ihm hilfsbereit die Tür auf.
Constance blinzelte kokett. „Weibliche Überzeugungskraft“, erklärte sie mit diesem reizenden Mädchenlächeln, mit dem sie wohl d’Artagnan einst um den Finger gewickelt hatte. Als Aramis aus seiner Zelle trat, sah er, was sie mit weiblicher Überzeugungskraft gemeint hatte. Der Wache lag friedlich schlummernd vor der Tür, einen Arm selig um die Weinflasche geschlungen.
Sie eilten durch die dunklen Gänge. Aramis spürte, dass ihn mit jedem Schritt die Kraft mehr verliess und er sehnte sich danach anzuhalten, um nach Luft zu schnappen. Seine Lunge brannte unbarmherzig und er war so schweissgebadet, als sei er lange Zeit gerannt und nicht erst ein paar Schritte gegangen. Er spürte wieder die vertraute Schwere in seinem Geist, ein undurchdringlicher Nebel schien sich darüber zu legen und zu verhindern, dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Seine Beine wurden schwerer und er stolperte Constance hinterher wie ein junger Hund.
Die junge Frau eilte durch das Gefängnis, als breche sie jeden Tag aus einem aus, so zielstrebig wusste sie, welche Abzweigungen sie nehmen mussten, um nicht einer Wache in die Finger zu laufen. Und so gelangten sie unbehelligt in das grelle Morgenlicht.
Aramis blinzelte in der plötzlichen Helligkeit und zum ersten Mal seit Constance wie ein rettender Engel in seiner Zelle erschienen war, spürte er, wie süsse Erleichterung ihn durchflutete. Er war frei. Es war eine Gnade den Wind noch einmal spüren zu können und die Sonne, die ihm ihre warmen Strahlen schenkte, als wolle sie ihm einen Gruss senden.
Zwei Pferde standen wartend im Hof. Constance schwang sich trotz ihres umständlichen Rockes mühelos in den Sattel und nahm die Zügel in die Hände. „Komm schon, Aramis“, rief sie ungeduldig.
Aramis stieg ebenfalls auf sein Pferd, allerdings bedeutend langsamer. Seine Seite schmerzte und sein Atem ging schnell und hastig. Als er im Sattel sass, rollte ein neuer Hustenanfall über ihn und er wäre um Haaresbreite zu Boden gestürzt. Constance lehnte sich zu ihm rüber und klopfte ihn auf den Rücken, was als liebe Geste gemeint war, ihm jedoch nicht sonderlich half.
Als der Husten endlich verebbt war, schnalzte Constance ärgerlich mit der Zunge. „Sobald wir in Sicherheit sind, legst du dich ins Bett. Du klingst wie ein erkältetes Fischweib!“
Obwohl er sich so elend fühlte, musste Aramis lächeln, als er diesen unrühmlichen Vergleich hörte. „So sehr ich deine bezaubernde Anwesenheit schätze: Wieso schickt d’Artagnan mir sein Mädchen statt selbst zu kommen?“ Dass seine Freunde einen waghalsigen Rettungsplan schmiedeten um ihn rauszuholen, überraschte ihn nicht sonderlich, aber die Tatsache, dass sie ihn nicht selbst in die Tat umsetzten, war eigenartig. Porthos liebte es seinen Retter zu spielen und für d’Artagnan war ein Tag ein verlorener Tag, wenn er nicht mindestens eine waghalsige Aktion gewagt hatte.
Constance lächelte geheimnisvoll. „Oh sagen wir, deine Freunde sorgen gerade für eine andere Jungfrau in Nöten.“
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„Warum zum Teufel kann er nicht in einer normalen, schönen Kirche beten? Warum muss es ausgerechnet die Kapelle am Arsch der Welt sein?“, zischte d’Artagnan, als er schon wieder einen Stiefel voller Schlamm rauszog. Athos konnte sich ein amüsiertes Lächeln nicht verkneifen. D’Artagnan war immer der Erste wenn es um einen heldenhaften Kampf ging, aber wenn es seinen Kleider oder Schuhen an den Kragen ging war er so mimosenhaft wie ein Mädchen.
„Der Kardinal schätzt eben die Einsamkeit. Wenn Richelieu eine Kirche der Stadt betritt ist er doch sogleich umgeben von Bittstellen und Meuchelmördern“, erklärte Athos leise, den Blick auf Richelieus Rücken gerichtet. Der Kardinal schritt forschen Schrittes voran, Porthos an seiner Seite. Er hatte seit ihrem Aufbruch keinen Ton gesagt, sondern schien tief in Gedanken versunken. Nur hin und wieder warf er ihnen einen bitterbösen Blick zu, allerdings war dies ja nichts Neues für die Musketiere.
„Wie kann er nur so schnell laufen“, stöhnte d’Artagnan und wischte sich den Schweiss von der Stirn.
Athos zuckte mit den Schultern. „Er ist nun mal ein Mann von vielen Talenten.“ Und ein gefährlicher Mann, erinnerte er sich. Das Possenspiel, das sie hier wagten, war riskant. Richelieu war nicht dumm, er würde wissen, dass hier etwas faul war. Aber jetzt war es ohnehin zu spät alles abzublasen.
Die Kapelle war schon in Sichtweite, als ein lauter Pfiff durch den Wald schallte. Flohs Zeichen. Athos legte die Hand auf seinen Degen und sah wie d’Artagnan es ihm gleichtat. Sie wechselten einen schnellen Blick. Es war so weit.
Nur wenige Wimpernschläge danach brach die Höhle los.
Mit einem ohrenbetäubenden Gebrüll stürzten sich absonderlich maskierte Gestalten auf die kleine Delegation und fuchtelten drohend mit ihren Messern. Sie wären auch wahrlich ein unheimlicher Anblick gewesen, wenn Athos nicht gewusst hätte, dass es Porthos‘ alte Bekannte waren, die unter den bemalten Masken steckten.
„Angriff!“, brüllte Porthos völlig überflüssigerweise und stiess den Kardinal eine Spur zu heftig in den Schlamm, bevor er seinen Degen zog.
Athos stellte bald fest, dass es ganz schön schwierig war, nur so zu tun, als würde er ernsthaft kämpfen. Porthos hatte Floh versprechen müssen, dass sie niemanden ernsthaft verletzen würden, was, rückblickend betrachtet ein ziemlich blödes Versprechen gewesen war. Athos fühlte sich gezwungen, sich absichtlich einen Schlag gegen die Schläfe einzuhandeln, damit er einigermassen überzeugend seinen Degen fallen lassen konnte.
D’Artagnan und Porthos lieferten eine ähnlich peinliche Vorstellung. D’Artagnan fuchtelte mit seinen Degen wahllos in der Gegend herum, wobei er seinen Gegner jedes Mal um Haaresbreite verpasste, als habe er kurzfristig sein Sehvermögen eingebüsst. Porthos hatte sich entschieden sowohl Hut als auch Degen in dramatischer Geste wegzuwerfen und sich mit dem Anführer – vermutlich Floh – auf dem Boden zu wälzen, wobei sie schrille Schreie ausstiessen, wobei diese eher nach einer leidenschaftlichen Liebesnacht, als nach einem Kampf auf Leben und Tod klang.
Athos beschloss, seine Ehre zumindest halbwegs wieder herzustellen, zumal sie die Angreifer irgendwie überzeugend wieder loswerden mussten. Er setzte einen der Räuber ausser Gefecht, indem er ihm das Knie zwischen die Beine rammte. Einem anderen hieb er den Ellbogen ins Gesicht und schlug ihm eine blutige Nase.
D’Artagnan war dazu übergegangen einen der Maskierten mit viel Geschrei durch den Wald zu verfolgen, als sei dieser ein besonders appetitlich aussehendes Reh. Porthos und Floh genossen noch immer ihr Schäferstündchen auf dem Boden, während der Kardinal sich langsam wieder aufrichtete, die dunklen Augen geweitet. Offenbar war er verängstigt, also hatte er das Schmierentheater noch nicht durchschaut.
Wie vereinbart zog einer der Diebe eine Muskete und richtete sie auf Kardinal, wobei er sich so langsam bewegte, als sässen sie alle zusammen bei einem gemütlichen Sommerpicknick. Das gab Athos genug Zeit sich mit viel Gewese auf den wieder stehenden Kardinal zu stürzen. „Runter!“, und legte sich mit seinen ganzen Gewicht auf Richelieu, wobei er seinen Kopf vielleicht eine Spur zu euphorisch in den Schlamm drückte.
Damit verhinderte er, dass der Kardinal sehen konnte, wie sich seine Angreifer völlig unbehelligt von den Musketieren zurückzoogen und einer von ihnen Porthos sogar noch einen schnellen Kuss auf die Wange drückte. Um zumindest die Geräuschkulisse überzeugend zu gestalten, schlug Porthos mit seinem Degen nach Bäumen und d’Artagnan gab einen überzeugenden Triumphschrei von sich.
Erst als Flohs Leute verschwunden waren, liess Athos Richelieu los und half ihm auf die Beine. „Es ist vorbei, Eure Eminenz“, sagte er.
Richelieu sah mehr als nur derangiert aus. Sein kostbarer Reisemantel war völlig mit Schlamm bespritzt, sein sonst so sauber gekämmtes Haar war ein wilder Wirrwarr aus Schwarz und Grau und sein Gesicht war voller Dreck. D’Artagnan reichte ihm ein Taschentuch, welches der Kardinal mit spitzen Fingern entgegen nahm, als sei es vergiftet.
„Kann mir einer der Herren erklären, was das eben war?“, fragte Richelieu. Seine sonst so gefasste Stimme zitterte ein wenig, aber der Hochmut kehrte schon in seine Haltung zurück.
„Ein Überfall würde ich sagen“, bemerkte Porthos unverschämt gutgelaunt, während er Hut und Degen wieder einsammelte.
„Das ist mir auch aufgefallen! Aber was wollten die?“, grummelte Richelieu, während er versuchte, das Gesicht wieder halbwegs sauber zu kriegen.
Athos versuchte, einen nachdenklichen Ausdruck in seine Miene zu zaubern. „Ich kann mir auch keinen Grund vorstellen. Wo Ihr doch so gut wie keine Feinde habt, Eure Eminenz!“
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Constance hätte wissen müssen, dass ihre Flucht bisher zu einfach verlaufen war. Sie und Aramis waren kaum vom Hof geritten, als sie Geschrei hinter sich hörte. Als sie sich im Sattel umdrehte, sah sie einige Soldaten herausstürmen, die Degen erhoben und laut fluchend. Mit hämmernden Herzen wandte sie sich wieder Aramis zu. „Schnell“, gebot sie, doch Aramis schien die Gefahr trotz seines schlechten Zustandes selbst erkannt zu haben und gab seinem Pferd die Sporen. Seite an Seite hetzten sie davon und blickten nicht zurück.
Wie jeder Musketier war auch Aramis ein guter Reiter, elegant und graziös, wenn auch nicht mit der Würde eines Athos‘ oder der Wildheit eines Porthos‘. Er gab ein ordentliches Tempo vor und Constance musste die brave Stute, die eigentlich d’Artagnan gehörte, ganz schön antreiben um mithalten zu können. Dennoch sah Constance, dass seine Finger sich förmlich um die Zügel klammerten und sie bemerkte auch sehr wohl, dass seine übliche Lässigkeit fehlte. Aramis war geschwächt, ob durch die unbarmherzige Kälte des Kerkers oder die erhaltene Kopfwunde vermochte sie nicht zu sagen. Aber auf jeden Fall war er nicht unbedingt in dem Zustand für eine wilde Flucht.
Constance wagte einen Blick über die Schulter und zerbiss sich einen Fluch. Zwei hartnäckige Reiter, gewandet in das auffallende Rot der Kardinalsgarde, setzten ihnen nach. Auffälliger ging es ja wohl nicht. Zum Glück befand sich das Gefängnis etwas ausserhalb von Paris, so dass ihnen zumindest die Verfolgung durch den Mob erspart blieb. Aber jetzt mussten sie die beiden irgendwie abschütteln, bevor sie zum Landhaus kamen und damit ihre Identität und ihren Aufenthaltsort verrieten.
Derselbe Gedanke schien auch Aramis gekommen zu sein. Er verliess im scharfen Galopp die Strasse und schlug sich in die Büsche. Constance folgte ihm, auch wenn sie nicht sonderlich begeistert war. Im Gegensatz zu ihren Freunden war sie keine sonderlich begnadete Reiterin und ihr Hintern tat jetzt schon weh. Wenn sie jetzt noch durch den mehr als unwirtlichen Wald jagen mussten, war wohl endgültig Schluss mit schmerzfreiem Sitzen. Doch zu ihrer Verblüffung blieb Aramis keineswegs im Sattel, sondern sprang ab. Seine übliche Gewandtheit liess ihn allerdings in Stich, er landete ziemlich unrühmlich in einem Dornengestrüpp, aus dem er sich mit einigen unflätigen Worten jedoch schnell wieder befreite. Sein Pferd stürmte ohne ihn davon.
„Aramis“, begann Constance, da wurde sie schon von ihm vom Pferd gerissen. Sie stolperte über den Saum ihres Kleides und hätte ebenfalls nähere Bekanntschaft mit dem Dornbusch geschlossen, wenn er sie nicht am Arm festgehalten hätte. Mit der anderen Hand gab er d’Artagnans Stute, die verwirrt stehen geblieben war, einen Klaps und sie sprengte ebenfalls davon. Ihr blieb allerdings keine Zeit dem Pferd lange hinterherzuschauen, denn Aramis zerrte sie in eine Mulde und warf sich mit ihr auf den Boden.
Constance begriff langsam, was Aramis vorhatte. Statt sich von den beiden Gardisten wie Hasen durch den Wald jagen zu lassen, wollte er sich verbergen, bis sich vorüber waren. Da sie die Pferde frei gelassen hatten, würden sie vielleicht sogar den Hufgetrampel folgen und sich damit weglocken lassen. Und selbst wenn dies nicht gelang, so war es zu Fuss bedeutend einfacher sich zu verstecken.
„Du weisst schon, dass d’Artagnan uns umbringen wird, wenn wir ohne sein geliebtes Pferd auftauchen oder?“, fragte Constance in scherzhaftem Flüsterton.
„Diese Pferde finden ihren Heimweg immer wieder. Sie werden munter in den Stall der Garnison zurückkehren“, erwiderte Aramis, ebenso leise. Sie lagen so nahe beieinander, dass Constance seinen schweren, rasselnden Atem hören konnte. Wieder stieg eine Welle der Besorgnis in ihr auf und wieder wollte sie ihm die Hand auf die Stirn legen. Er fasste ihr Handgelenk, noch bevor ihre Fingerspitzen seine Haut berühren konnten.
„Ein verlorenes Pferd wird d’Artagnan uns vergeben, wenn wir jetzt zu vertraut miteinander werden, wird er vermutlich nie mehr mit mir sprechen“, sagte Aramis mit halbem Lächeln.
Constance errötete und fühlte eine eigenartige Scham, weil Aramis so unverhohlen auf ihre Liebelei mit d’Artagnan anspielte. Allerdings hatten sie und der Gascogner sich auch nie gross bemüht ihre Beziehung geheim zu halten. Ihre Entrüstung war also nur zum Teil gespielt, als sie antwortete: „Monsieur! Ich bin eine verheiratete Frau.“
„Verheiratet mit dem wohl grössten Idiot in ganz Paris.“ Aramis leises Lachen ging in ein heftiges Husten über und er hielt sich die Hand vor dem Mund, um den Laut zu unterdrücken. Constance bemerkte die Schweisstropfen, die auf seiner bleichen Stirn standen und wahrscheinlich nichts mit ihrer hastigen Flucht zu tun hatten. Constances Herz wurde schwer bei dem Gedanken, dass es ihnen irgendwie gelingen musste, zu Fuss zu ihrem Landhaus zu kommen, obwohl Aramis sich so offensichtlich unwohl fühlte.
Aramis schien ihren Trübsinn zu bemerken. „Ich finde, wir hätten hier eine perfekte Ausgangslage für eine Romanze. Wir sind Mann und Frau, allein im Wald, mit nichts ausser unseren Kleidern am Leib. Und der Mann sieht dazu noch blendend aus“, versuchte er sie aufzumuntern.
Constance schnaubte. „Aramis, ich will dich ja nicht beleidigen, aber im Moment schwitzt du wie ein Schwein, bist bleich wie ein Leichentuch und atmest schlimmer als mein Grossvater in seinen letzten Atemzügen. Eine Ziege wäre im Augenblick anziehender als du.“
„Ich bin ein Musketier. Es wäre schön, wenn du mir etwas Respekt erweisen würdest“, brummte Aramis, doch das schalkhafte Funkeln in seinen Augen verriet Constance, dass er ihre Kabbelei genoss.
„Ich habe lange genug mit einem Musketier unter einem Dach gelebt. Ich weiss, wie man mit euch redet“, sie warf ihm einen strafenden Blick zu, „und glaub mir, mein Leben war bedeutend ruhiger, als ihr noch nicht bei mir ein – und ausgegangen seid!“
Kapitel Zwei allein im Wald
Kapitel 11
Zwei allein im Wald
Richelieu betrachtete sich kritisch in seinem grossen Wandspiegel. Er hatte sich umgezogen und sich seiner schmutzigen Roben entledigt, genau wie er sich das Gesicht gewaschen hatte. Zeuge dieses Überfalls waren lediglich noch seine zerzausten Haare und der Schreck in seinen Gliedern.
Er machte sich keine Illusionen über seine Beliebtheit im Volk. Minister zu sein, bedeutete auch unerfreuliche Entscheidungen treffen zu müssen und allzu oft wurden ihm auch Louis‘ unpopuläre Seiten angelastet. Damit konnte er leben und meist verdrängte er den Hass, der ihm entgegenschlug. Aber wenn er so jäh und heftig über ihn hereinbrach, war es schwierig ihn zu ignorieren.
Dennoch, dachte er, während er mit dem Finger seinen Schnurrbart glattstrich, irgendetwas war seltsam gewesen. Wieso hatten sie auf einmal so plötzlich von ihm abgelassen? Gewiss, die Musketiere hatten ihn mit überraschender Leidenschaft verteidigt, dennoch waren die Angreifer eine Spur zu plötzlich verschwunden. Als wären es gar keine Menschen, sondern Gespenster gewesen.
Ein plötzliches Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Ärgerlich wandte er sich zur Tür. „Herein“, knurrte er ungeduldig.
Jean Férardier, Hauptmann der roten Garde, betrat das Arbeitszimmer, mit gesenkten Kopf und hochgezogenen Schulter, ganz wie ein Junge, der Schelte von seinem Lehrmeister erwartete. Richelieu ahnte, dass er ihm keine guten Neuigkeiten bringen würde und verzichtete darauf, ihm einen Stuhl anzubieten. Stattdessen blaffte er ihn an: „Was ist jetzt wieder passiert? Plant der König eine Feier auf dem Dach des Palastes oder hat die Königin einen Drachen zur Welt gebracht? Was immer es ist, spukt es aus, bevor Ihr daran erstickt!“
Férardier sah aus, als wäre er am jeden Ort lieber, als hier mit dem Kardinal. „Eure Exzellenz…Der Musketier Aramis…er ist fort.“
Richelieus Augen verengten sich. „Wie fort? Ist er gestorben? Davongeflogen? Kurz spazieren gegangen?“, fragte er, seine Stimme so scharf wie eine Peitsche. Er spürte, wie kalter Zorn in ihm hochkochte. Diese Musketiere waren einfach nicht zu zähmen, selbst wenn man sie einsperrte und seine Gardisten beweisen einfach immer wieder, dass sie über gleich viel Intelligenz verfügten, wie ein Eichhörnchen, das sich bei einem Sturz vom Baum den Kopf angeschlagen hatte.
Sein Hauptmann knetete nervös seine Finger. „Er ist heute Morgen geflohen“, würgte er schliesslich mühsam hervor.
Richelieu musste all seine Würde zusammennehmen, um Férardier nicht gleich seine Faust ins Gesicht zu rammen. Überhaupt schienen alle Bewohner dieses Palastes entschlossen zu sein, ihn zu Gewalttätigkeiten zu reizen. „Erzählt Ihr mir gerade“, sagte Richelieu, langsam und betont, „dass es Aramis gelungen ist, aus einem bewachten Gefängnis zu fliehen? Wohlgemerkt ein Gefängnis, dass ich zusätzlich mit Roten Gardisten verstärkt habe?“
Férardier schluckte schwer. „Nun, also, die Wache ist eingeschlafen.“
Das wurde ja immer besser. „So, so. Deshalb stelle ich natürlich auch Wachen vor die Gefängniszellen. Damit sie mal in Ruhe schlafen können“, sagte Richelieu, auch wenn er wusste, dass Sarkasmus an diesem tumben Mann völlig verschwendet war. Aber irgendwie, musste er seinem Ärger Luft machen.
Dennoch, Férardier fuhr trotz Richelieus mörderischen Blickes tapfer fort: „Er hat gesagt, ihm sei ein Engel erschienen und habe ihn im das Himmelreich geführt.“
„Wer hat das gesagt? Aramis?“
„Nein, der wachhabende Soldat, Thomas Maynard hat das gesagt. Nachdem wir ihn endlich wachgekriegt haben.“
Richelieus lange Finger legten sich um eine kostbare, äusserst hässliche Porzellanfigur. Es war geradezu verführerisch, sie gegen die Wand zu knallen. Allerdings war sie ein Geschenk des Königs und Louis hatte die äusserst entnervende Eigenschaft, sich genau zu merken, wem er was geschenkt hatte. Es könnte seinem Ansehen erheblich schaden, wenn er seinem Herrn gestehen musste, dass er seine Gabe in tausend Scherben zerbrochen hatte. Louis war da sehr empfindlich.
Stattdessen stiess er ein langes Schnauben aus. „Natürlich. Ein Engel ist ihm erschienen. Waren die zwölf Apostel auch dabei oder waren die gerade damit beschäftigt, irgendeinen anderen Verbrecher mit Harfen und Trompeten aus dem Gefängnis zu geleiten?“
Diese spöttische Äusserung überforderte Férardiers begrenzten Verstand endgültig. Er blinzelte verwirrt. „Wie bitte?“
„Das waren keine Engel, Hornochse! Das waren Trévilles Teufel! Natürlich haben sie ihren Freund befreit!“, fauchte Richelieu, raffte seine Robe und rauschte an dem immer noch verdutzten Férardier vorbei zur Tür hinaus. Sein Kopf pochte schmerzhaft, als er die Gänge mit langen Schritten durchmass, das Gesicht eine einzig drohende Gewitterwolke, um zu verhindern, dass jemand auf die Idee kam ihn anzusprechen.
Tréville hatte seinen Mann befreit, daran bestand kein Zweifel. Diesmal war der Captain zu weit gegangen. Der König würde dies nicht dulden, auch wenn er die Musketiere beinahe so sehr liebte, wie seine Schosshunde. Das war Trévilles Genickbruch und er würde Louis persönlich davon in Kenntnis setzen. Auch der Hauptmann hatte nicht das Recht, eigenmächtig Gefangene frei zu lassen, nur weil es ihm gerade so gefiel.
Doch als Richelieu in das Arbeitszimmer des Königs trat, sah er zu seinem ausserordentlichen Ärger, dass Tréville bereits da war. Er sass, flegelhaft wie immer, gegenüber von Louis am Schreibtisch, drehte sich beim Eintreten von Richelieu halb im Stuhl um und schenkte ihm ein geradezu aufreizend freundliches Lächeln.
Louis war äusserst gutgelaunt. „Ah, Richelieu! Meine beiden besten Männer zur gleichen Zeit im gleichen Raum und noch ist keiner der beiden tot. Was für ein wundervoller Tag!“ Manchmal enthüllte der König einen überraschenden Sinn für Ironie, der Richelieu immer wieder verblüffen konnte.
„Mir ist leider nicht nach Scherzen, Eure Majestät. Ich habe eben Nachricht erhalten, dass der Musketier Aramis aus dem Gefängnis geflohen ist.“
Die Wirkung seiner Worte war weniger durchschlagend als erhofft. Der König hob lediglich die Brauen und sagte mit einer gewissen Schärfe in der sonst so scheinbar sanften Stimme: „Das ist bedauerlich. Was für ein Sinn macht ein Gefängnis, wenn ihre Insassen einfach rein – und rausspazieren, wie es ihnen beliebt.“ Seine Betroffenheit hielt sich aber, zu Richelieus Missvergnügen, sichtlich in Grenzen.
Tréville gab sich nicht einmal Mühe, seine Freude zu verbergen. „So hat Gott vielleicht für Gerechtigkeit gesorgt und den Unschuldigen befreit. Was ihm, bei dem bedauernswerten Zustand in der sich die Rote Garde befindet, vermutlich nicht einmal schwergefallen ist“, bemerkte er spitz.
Das zum zweiten Mal innerhalb weniger Augenblicke jemand diesen Unsinn von einer himmlischen Macht verzapfte, war zu viel für Richelieus mühsam gezügelte Wut. „Redet mir nicht von Gott, Tréville! Ihr selbst wart es doch! Ihr und Eure Musketiere!“
Tréville griff sich an die Brust. „Ich soll meinen rechtmässig verurteilten Musketier befreit haben? Gegen den Willen des grössten Richters Frankreichs, den Willen von Kardinal Richelieu? Ihr beleidigt meine Ehre!“
Richelieu sah, dass Louis den Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber er war zu erregt, um seinen König aussprechen zu lassen. „Spart Euch Euer falsches Getue! Wie nennt ihr diese Männer, die ihr zu den Besten Eures verfluchten Regiments zählt? Die Unzertrennlichen! Und ist Aramis nicht einer dieser Unzertrennlichen? Natürlich haben sie ihren Freund befreit! Wahrscheinlich mit Eurem Segen!“
Trévilles dunkle Augen glommen auf wie verkohlende Asche. „Bevor Ihr mich weiterhin mit Dreck bewerft: Habt Ihr die Güte uns zu sagen, wann Aramis entkommen ist?“
„In den frühen Morgenstunden, aber das wisst Ihr wahrscheinlich besser als ich!“
Nun mischte sich der König ein. „Kardinal Richelieu, ich verstehe, dass Euch das aufregt, aber ich schlage vor, Ihr senkt erstmal ein wenig die Stimme. Es muss nicht der ganze Hofstaat mitbekommen, wie sich mein Minister und der Hauptmann meiner Musketiere schon wieder in den Haaren liegen! Und ausserdem kann es Tréville gar nicht gewesen sein, denn er war den ganzen Morgen mit mir zusammen in diesem Raum.“
Das verschlug Richelieu erst einmal die Sprache. Sosehr Louis auch mit väterlicher Zuneigung an Tréville hing, er würde ihm kein falsches Alibi geben. Seine mehr als turbulente Kindheit und Jugend hatte dafür gesorgt, dass er auf jede Form von Verrat äusserst heftig reagierte.
Tréville nutzte Richelieus vorübergehende Sprachlosigkeit. „Und was die Unzertrennlichen angeht: Athos, Porthos und d’Artagnan waren heute Morgen, wenn ich mich recht entsinne, in äusserst respektabler Gesellschaft. Nämlich in Eurer, Kardinal.“
Richelieu fühlte, wie sich seine Wangen vor Scham röteten. In seiner Überzeugung, dass nur diese drei hinter Aramis‘ Flucht stecken konnten, hatte er völlig übersehen, dass sie einen geradezu unfehlbaren Zeugen hatten: Ihn selbst.
Louis klatschte in die Hände. „Nun, wenn also Hauptmann Tréville und seine Männer nicht die übersinnliche Fähigkeit entwickelt haben an zwei Orten gleichzeitig zu sein, ist ihre Unschuld wohl hinreichend bewiesen. Kardinal, ich erwarte, dass Ihr den flüchtigen Musketier wieder einfangt.“
„Vielleicht wäre es besser, wenn unser lieber Hauptmann sich darum kümmern würde. Immerhin kennt er seinen Mann am besten und weiss besser um dessen eventuelle Verstecke als meine Gardisten“, wandte Richelieu giftig ein.
„Das mag sein, Kardinal, aber die Musketiere haben schon die Aufgabe, Euch zu beschützen. Trévilles Befürchtungen um Eure Sicherheit haben sich ja heute Morgen leider bewahrheitet“, erwiderte Louis.
Jetzt erkannte Richelieu, wie geschickt Tréville ihn aufs Kreuz gelegt hatte. Er hatte nicht nur für sich und seine Musketiere die beiden mächtigsten Männer Frankreichs als Zeugen beschafft, sondern mit seinen Schachzug auch dafür gesorgt, dass Richelieu jetzt mit dem Segen des Königs, auf Schritt und Tritt von seinem Regiment bewacht werden würde. Tréville hatte diese Runde gewonnen.
Richelieu wusste, wann er einen Schritt weichen musste. „Wie Ihr wünscht, Majestät.“
Louis reichte ihm die parfümierte Hand, die Richelieu mit einer demütigen Verbeugung ergriff und küsste. Doch trotz dieser versöhnlichen Geste, blieb der Blick des Königs ungewöhnlich kühl. „Ich muss auch sagen, ich bin nicht sehr erbaut darüber, dass Ihr ausgerechnet die Männer des Verrats beschuldigt, die Euch heute Morgen so heldenhaft gegen diesen schändlichen Angriff verteidigt haben.“
„Vergebt mir. Die Wut hat mich gedankenlos gemacht“, säuselte Richelieu und erhielt für seine ungewohnte Einsicht ein gnädiges Nicken seitens der König. Louis würde diesen Zwischenfall schnell vergessen. An ihm selbst würde diese Demütigung jedoch noch lange nagen.
Kaum waren er und Tréville vom König entlassen worden, packte Richelieu seinen ewigen Widersacher am Kragen und schob ihn in eine Ecke. Tréville war sichtlich überrascht, wand sich jedoch mit der Gewandtheit eines Soldaten aus seinem Griff. „Wenn Ihr küssen wollt, gäbe es auch noch gemütlichere Plätze, Kardinal Richelieu.“
Der schlechte Humor seiner Männer schien auf den Captain abzufärben. „Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Tréville.“
Trévilles graue Augen funkelten. „Ihr wisst, dass mir Intrigen nicht liegen. Im Gegensatz zu Euch. Ihr seid darin ja ein Naturtalent.“
Richelieu brachte sein Gesicht so nah an Trévilles, dass er den ruhigen Atem des anderen spüren konnte und jede Falte, die dieses wettergegerbte Gesicht durchzog, hätte zählen können. „Hört mir zu Tréville: Ich lasse mich nur ungern übertölpeln. Ich werde Aramis wieder einfangen und seiner gerechten Strafe zuführen. Und ich werde herausfinden, wer hinter diesem merkwürdigen Überfall von heute Morgen steckt.“
Und mit diesen Worten liess Richelieu den Hauptmann stehen und rauschte davon, wobei sich der wallende, rote Umhang bauschte, wie eine unheilverkündende, blutige Fahne der Rache.
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„Die blauen Flecken werden noch tagelang zu sehen sein“, jammerte d’Artagnan theatralisch, während er den linken Ärmel seines Hemdes hochschob um den Schaden zu begutachten. Porthos fiel es allerdings schwer, auf der wie immer gebräunten Haut des jungen Mannes eine Beule auszumachen.
Athos Mitleid fiel eher karg aus. „Da Madame Bonacieux zur Zeit beschäftigt ist, wird dieser Schönheitsmakel wahrscheinlich niemanden auffallen“, bemerkte er und griff nach der Weinkaraffe, um sich tüchtig nachzuschenken.
So zu tun als ob man einen Überfall abwehrt war noch erschöpfender als es tatsächlich zu tun, stellte Porthos fest, während er seine verspannten Muskeln kreisen liess. Kaum zurück in der Garnison hatten die drei sich auf ihren bevorzugten Platz, die Holzbank im Schatten von Trévilles Büro geworfen und einen neuen Rekruten angewiesen, ihnen Wein zu bringen.
D’Artagnan hatte die Beine auf der Bank ausgestreckt und lehnte mit dem Rücken gegen Athos Schulter, der entschlossen schien, so viel Wein wie möglich in sich reinzuschütten. Sein Alkoholkonsum war weniger bedenklich als noch vor ein paar Jahren, aber immer wenn der Stress zunahm, neigte er dazu, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
Porthos stand auf. „Gentlemen, ich muss euch leider wieder verlassen“, verkündete er und setzte sich seinen Hut wieder auf. Er wollte zwar nichts mehr, als sich ein paar Stunden auszuruhen, aber Floh war noch nie sehr geduldig gewesen.
Athos hob eine Augenbraue. „Wo willst du hin? Den Kardinal tatsächlich überfallen wie ein echter Pirat?“
„Je mehr du trinkst, desto schlechter werden deine Witze, Athos. Nein, ich habe noch eine Verabredung mit der liebreizenden Floh.“
„Und wann habt Ihr das vereinbart? Als ihr euch auf den Boden gewälzt hat?“, fragte d’Artagnan und Porthos konnte einen leicht eifersüchtigen Unterton in seiner Stimme ausmachen. Armer Kleiner. Mit der süssen Bonacieux war es übel ausgegangen und d’Artagnan schien es einfach nicht zu gelingen, sein Herz einer anderen zu schenken. Wobei, wenn man eine Frau wie Constance erobert hatte, war es wahrscheinlich schwer eine zu finden, die ihr das Wasser reichen konnte.
„Ich habe sie gebeten, mich zu treffen. Ich brauche ihre ganz besonderen Fähigkeiten.“
„Nun, denn. Ich wünsche dir viel Vergnügen.“ Athos wollte schon wieder nach dem Wein greifen als sich d’Artagnans Finger um seine Hand schlangen. Auf das nachdrückliche Kopfschütteln seines jungen Freundes hin, liess er sich tatsächlich grummelnd zurücksinken. D’Artagnan war es schon immer leicht gefallen, den ehemaligen Grafen zu zügeln. Genauso wie es Aramis leicht fiel, Porthos zu zähmen.
Er verdrängte den Gedanken an Aramis wieder. Sie hatten noch nicht gehört, ob es Constance gelungen war ihren Freund zu befreien und sie hatten das Thema bis jetzt sorgfältig vermieden. Zu gross war die Angst, dass es schief gegangen war, dass er und Constance geschnappt worden waren und dass sie den Preis hatten zahlen müssen.
Es lag nicht in seinen Händen. Er konnte nur hoffen und beten. Und auf Constances Cleverness und Aramis‘ Mut vertrauen. Er winkte seinen Freunden noch einmal zum Abschied, bevor er die Garnison verliess und sich auf den Weg durch die belebten Strassen von Paris zu machen.
Es war ein grauer Frühlingstag. Kühl und regenverheissend. Paris wirkte in dieser Atmosphäre noch schmutziger als sonst, dennoch genoss Porthos den Spaziergang. Das pulsierende Leben um ihn herum, die lauten Gespräche, die schönen Frauen, die schreienden Händler, dass gab ihm immer ein Gefühl der Vertrautheit, egal wie sehr sein Leben gerade Sprünge vollführte.
Die Kirche Sankt Martin gehörte zu den kleiner und unbekannteren der Stadt. Porthos kannte sie eigentlich nur dank Aramis, der manchmal den christlichen Drang verspürte, seine Freunde in irgendwelche Gottesdienste zu schleppen. Er selbst hatte den zerbrochenen Brunnen als erneuten Treffpunkt vorgeschlagen, aber Floh hatte ihm abgeraten. Er sei nicht mehr so beliebt im Hof der Wunder, war ihre lakonische Antwort gewesen. Eine Kirche war vielleicht ein gar ironischer Treffpunkt für die wohl grösste Gaunerin in ganz Paris und einem Musketier, der in eine Verschwörung gegen den Kardinal verwickelt war.
Floh wartete bereits auf ihn und betrachtete mit gelangweilten Gesichtsausdruck die herumstreunenden Kinder. Als sie ihn sah, blühte dieses halb spöttische, halb zärtliche Lächeln auf, das stets für ihn reserviert schien. Dennoch vermied sie es ihn zu umarmen, als hätte sie Angst, die alten vergrabenen Gefühle wieder hervorzuholen.
„Bist du zufrieden mit der Leistung meiner Jungs?“, fragte sie mit kecken Lächeln.
„Es war hochdramatisch“, bestätigte er ihr.
„Ich hoffe, du hältst dein Versprechen. Umsonst geben wir solche Vorstellungen nicht.“
„Auch nicht, wenn ich an deine Freundschaft appelliere?“
„Hüte dich, Porthos. Wenn du mit mir feilscht, wird es noch teurer!“, warnte Floh und Porthos wusste nur zu gut, dass sie es ernst meinte. Über Geld pflegte Floh nicht zu scherzen.
Er nahm sie am Arm und zog sie weg von der Strasse. Hinter der Kirche lag ein kleiner, verwilderter Friedhof, der geradezu perfekt erschien um heikle Unterhaltungen zu führen. Vor einer auffallend grossen Engelsfigur mit ausgebreiteten Flügeln und zerschlagenem Gesicht blieben sie stehen.
„Es gibt da noch etwas, worum ich dich bitte.“
„Wenn du jetzt von mir verlangst den König zu überfallen, muss ich dich enttäuschen. Das ist mir dann doch eine Spur zu verräterisch.“
„Es geht um eine Frau…“ begann Porthos.
Floh legte den Kopf schräg. „Geht es nicht immer um irgendeine Frau? Willst du, dass ich eine deiner Mätressen verfolge?“ Zu seinem Amüsement hörte Porthos die unterschwellige Eifersucht in ihrer Stimme.
Porthos holte tief Luft. Das würde eine längere Geschichte werden. „Ich wünschte beinahe es wäre so einfach. Es geht um eine Frau namens Ellen…“
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Aramis blieb stehen und lehnte sich schweratmend gegen einen Baum. Er wünschte sich, seine Lunge würde nicht mehr so fürchterlich schmerzen. Ebenso wünschte er sich, er wäre in seinem Bett in der Garnison und nicht in einem vermaledeiten Wald, der immer dunkler und verworrener zu sein schien. Sein Husten war inzwischen so schlimm, dass er sich inzwischen die Mühe sparte, ihn sich zu verkneifen. Und ihm war so heiss. Seine Kleider klebten an ihm und ganze Sturzbäche von Schweiss rannen seine Schläfen hinunter. Er konnte nicht mehr. Aber er wusste jede Pause, die sie einlegten, konnte gefährlich werden. Sie wussten nicht, ob die Gardisten ihr Ablenkungsmanöver geschluckt hatten.
Er spürte Constances zierliche Hand auf seinen Rücken. Sie bedrängte ihn nicht, war aber schon durch ihre stille Präsenz eine grosse Hilfe. Die letzten Stunden hatten sie sich gemeinsam durch den Wald gekämpft, wobei sie ihn öfters hatte stützen müssen als ihm lieb war. „Sag mir bitte, dass es nicht mehr weit ist“, sagte er mit rauer, erschöpfter Stimme und drehte sich zu seiner Begleiterin um.
Constances braune Augen waren voller Sorge, als sie, ohne auf seine Frage einzugehen, mit beiden Händen sein Gesicht umfasste. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du ernsthaft krank bist? Du glühst ja förmlich.“ Ihre Finger fühlten sich wunderbar kühl an auf seiner Haut, dennoch löste er sich aus ihrem Griff und küsste ihren Handrücken. „Es ist nichts, dass ein paar Tage Bettruhe nicht zu heilen vermögen.“
Er sah Constance an, dass sie ihm widersprechen wollte, doch bevor sie die Stimme anheben konnte, hörte Aramis das Knacken von Zweigen und ein schweres Schnaufen. Und als er sich umdrehte sah er, wie ein riesiges Wildschwein seinen massigen Körper aus den Gebüschen schälte.
Aramis war auf dem Land aufgewachsen. Er wusste, dass Wildschweine im Normalfall eher scheu waren und Menschen mieden. Aber sie konnten gefährlich werden, wenn es sich um Muttertiere handelte, die ihre Frischlinge verteidigte. Und sie konnten rasend vor Wut werden, wenn sie verwundet waren. Unglücklicherweise war das bei diesem Exemplar der Fall. Aramis sah, dass das Fell auf der rechten Seite des Tieres blutverklebt war. Beinahe hätte er gelacht. Wie gross war wohl die Wahrscheinlichkeit, dass er und Constance dem vermutlich einzig verletzten Keiler in diesem Wald über den Weg liefen? Wahrscheinlich nicht sehr gross. Und dennoch stand das riesenhafte Vieh jetzt vor und starrte sie aus dunklen, listig blitzenden Augen an.
Er wollte Constance gerade zuraunen, sie solle einfach ganz still stehen bleiben, da stiess sie auch schon einen markterschütternden Schrei aus. Das kam überraschend von der Frau, die vor wenigen Stunden noch furchtlos in ein Gefängnis marschiert war, um ihn zu befreien. Aber Constance war bleich wie ein Bettlaken, ihre schönen Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund formte ein entsetztes ‚O‘. Wie gebannt blickte sie auf das riesige Untier, während ihre linke Hand ihren Hals umklammerte, als versuche sie sich selbst irgendwie Halt zu geben.
Ihr Schrei hatte die Aufmerksamkeit des Wildschweins geweckt. Langsam hob es den schweren Kopf. Und da tat Constance in ihrer offensichtlichen Panik das Falsche. Sie warf sich herum und stürmte, als sei die von Furien gehetzt, davon. „Auf den Baum!“, rief Aramis Constance zu, doch seine Stimme, heiser von vielem Husten schien nicht zu ihr durchzudringen.
Ihre wilde Flucht weckte natürlich erst recht den Instinkt des Tieres, das ihr prompt nachsetzte. Glücklicherweise hinderte seine Verletzung es daran, sein übliches Tempo zu erreichen, weshalb Aramis Constance echte Chancen ausrechnete zu entkommen. Er wollte gerade seinen eigenen Rat befolgen und sich auf einen Baum flüchten, da schrie Constance erneut. Sie war gestolpert und im hohen Bogen in einen Bach gelandet, was komisch gewesen wäre, wenn nicht gerade ein bösartiges Wildschwein auf sie zugerast wäre.
Aramis blieb keine Zeit um zu überlegen, ob seine Idee gut war oder nicht. Wie so oft, wenn er sich in brenzligen Situationen befand, schien ein anderer seine Handlungen auszuführen. Er bückte sich, ergriff einen Stein und warf ihn hart gegen das Wildschwein. Der Schmerz liess das Tier tatsächlich innehalten und Constance schien endlich wieder zu Vernunft geworden. Sie richtete sich blitzschnell auf und nutzte die Zeit, die Aramis ihr verschafft hatte, um auf einen Baum zu klettern.
Nur beschloss das Wildschwein jetzt Aramis zu hassen und stürmte auf ihn zu. Selbst wenn Aramis vollkommen gesund und kräftig gewesen wäre, wäre es ihm schwer gefallen auszuweichen, denn das herandonnernde Tier lähmte ihn jetzt genauso, wie Constance. Panik stieg in ihm auf. Er würde sterben. Er würde von einem verdammten Wildschwein niedergetrampelt werden! Wie peinlich war das denn? Porthos würde sich totlachen.
„Aramis!“
Er sah das Messer, das Constance ihm zuwarf im letzten Moment. Es gelang ihm es aufzufangen, während er gleichzeitig versuchte dem Wildschwein auszuweichen. Um Haaresbreite entkam er den scharfen Keilerzähnen, wobei er sich auf den Boden warf und das Messer hochriss. Es war mehr dem Glück, als seine Zielgenauigkeit zu verdanken, dass sich die Klinge tief in den Hals des Wildschweines bohrte.
Aramis liess das Messer fallen und rappelte sich auf. Das Tier stand immer noch, rotz aufgeschlitzter Kehle hielt es sich noch schwankend aufrecht. Doch er liess sich keine Zeit um den unbändigen Überlebenswillen des Tieres zu bewundern. „Constance, komm runter!“, befahl er seiner Begleiterin. Sie sah aus wie ein triefend nasses Eichhörnchen als sie sich von ihrem Ast schwang.
Gemeinsam stolperten sie weiter, beide noch immer aufgekratzt durch diese mehr als nur abenteuerliche Episode und darauf bedacht möglichst viel Distanz zwischen sich und dieses Biest zu bringen. Als der Schock langsam verebbte, fühlte Aramis die Schwäche in seinen Beinen und auf einmal erschien ihm jeder Schritt wie eine unendliche Qual. Seine Kräfte verliessen ihn rasend schnell und er registrierte kaum noch wie er auf den weichen Waldboden fiel, bevor die Dunkelheit sich um seinen Geist legte.
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Floh stimmte Porthos‘ Plan schnell zu und versprach ihm, sich wie ein Bluthund an Ellens Fersen zu heften und ihm Bericht zu erstatten, sobald sie deren Geheimnis enthüllt hatte. Er sah ihr nach, als sie wie ein schwarzer und sehr hübscher Rabe zwischen den Grabsteinen verschwand. Sie war nicht nur eine ausgezeichnete Diebin, sondern auch eine äusserst begabte Spionin. Wenn jemand hinter Ellens Machenschaften kam, dann sie.
Ihm war leichter ums Herz als in den letzten Tagen. Aramis war – hoffentlich – in Sicherheit und in der Obhut von Constance. Und Floh kümmerte sich um Ellen. Vielleicht war der ganze Spuk in ein paar Tagen schon vorbei und alles war, wie es sein musste.
Porthos streckte sich wie eine zufriedene Katze, als sich unvermittelt eine Hand auf seine Schulter legte. Er erschrak sich beinahe zu Tode, wirbelte herum und zog noch in der Bewegung seinen Degen, in der Erwartung einen Roten Gardisten oder wohlmöglich sogar ein Gespenst zu sehen (wobei, wenn er es sich genau überlegte, würde eine Klinge gegen ein Gespenst wohl kaum gross Wirkung zeigen). Aber er sah nichts dergleichen. Stattdessen stand er einer Frau gegenüber. Die allerdings auch ziemlich gruselig war.
Ihre Haare waren vollständig bedeckt von einem Kopftuch, das allerdings ihre Ohren freiliess, so dass man ihre grossen Ohrringe bewundern konnte, die ihr das Aussehen einer Zigeunerin verliehen. Ihr Gesicht war stark geschminkt, aber keine Schminke der Welt konnte die tiefen Falten verbergen, die ihre Haut durchzogen, deutliche Linien eines langen Lebens. Die stechend blauen Augen waren mit Kohl umrandet, was ihnen einen raubtierhaften Ausdruck gab. Ihre Lippen dagegen waren so rot wie Blut und teilten sich jetzt zu einem Lächeln, das in ihrer Jugend wohl verführerisch gewesen war, ihm jetzt allerdings eher Schauer über den Rücken jagte. „Monsieur, Ihr stört die Ruhe der Toten“, säuselte sie und er konnte sehen, dass ihr einige Zähne fehlten.
„Oh, ich gedenke nicht mehr lange zu stören“, entgegnete Porthos und steckte seinen Degen weg, „auch wenn ich bezweifle, dass die Toten noch sonderlich viel davon mitbekommen, was hier vor sich geht.“
Sie blinzelte ihn an. „Wenn Ihr Euch da mal nicht täuscht, mein lieber Freund. Die Toten flüstern. Besonders die Toten, die auf gewaltsame Art und Weise ums Leben gekommen sind. Sie lechzen nach Gerechtigkeit.“
O Gott, die Frau hatte wohl nicht mehr alle Sinne beisammen. Porthos versuchte sich an einem unverbindlichen Lächeln. „Nun, ich dagegen denke, dass das was tot ist, tot bleibt.“
Sie musterte ihn mit deutlichem Hochmut. „Nun, Ihr seid auch ein schlichter Soldat, der nichts ahnt von den Welten, die neben unserer existieren. Ich dagegen bin Madame Lilith. Die Geister sprechen zu mir.“
„Freut mich. Ich bin Porthos. Zu mir sprechen vor allem Bierkrüge. Und manchmal mein Degen.“ Er konnte nicht widerstehen. Die Frau war so herrlich schrullig, er musste sie einfach auf dem Arm nehmen.
Sie nahm ihm das ziemlich übel. Ihre überraschend kräftige Faust traktierte seinen Oberarm. „Ihr macht Euch lustig. Das solltet Ihr nicht. Gerade in dieser Kirche gibt es viele unruhige Geister. Es ist ein böser Ort.“
„Ich bin ohnehin kein regelmässiger Kirchgänger“, lachte Porthos. Schade war Aramis nicht dabei. Er würde sich köstlich amüsieren.
Die Frau wandte sich der Engelsfigur zu. „Unter den Füssen des Engels ruht der zu Unrecht Erschlagene“, sagte sie in einem merkwürdigen, dunklen Singsang. Nun konnte Porthos doch nicht verhindern, dass ihm ein Schauer über den Rücken lief. Madame Lilith sprach mit einer solchen Sicherheit, dass es keinen Zweifel gab, dass sie wirklich an den Unsinn glaubte, den sie da von sich gab. Sicherheitshalber trat er einen Schritt zurück. Nicht, dass sie sich plötzlich auf ihn stürzte, weil sie glaubte er sei vom Teufel besessen.
„Nun, so gern ich diesen Geistern auch noch lauschen würde. Ich muss fort. Hat mich gefreut, Eure Bekanntschaft zu machen!“ Er lüftete seinen Hut zum Abschied.
Er hatte den Friedhof schon beinahe verlassen, da hörte er, wie sie ihm nachrief: „Der Freund, um den Ihr Euch sorgt. Er ist krank. Sehr krank. Ihr solltet zu ihm gehen, wenn Ihr ihn noch einmal sehen wollt!“
Und auf einmal war Porthos eiskalt.
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Constance unterdrückte einen Jubelschrei, als sich Aramis‘ Lider flatternd hoben. Seine braunen Augen waren glänzend vor Fieber, aber seine Stimme klang einigermassen klar, als er leise fragte: „Wie lange war ich weg?“
„Nicht lange.“ Gott sei Dank. Der Zusammenbruch des Musketiers hatte ihr einen schönen Schrecken eingejagt. Sie war nicht stark genug um Aramis zu tragen und hier im Wald fehlten ihr alle nötigen Utensilien um ihn medizinisch zu versorgen. Sie mussten es irgendwie zu ihrem Landhaus schaffen. Dort konnte sie Aramis ins Bett stecken und dieses furchtbare Fieber bekämpfen, das in seinem Körper wütete.
Aramis griff sich an die Stirn. „Ich fühle mich, als sei dieses Wildschwein über mich hinweg getrampelt.“
„Glücklicherweise nicht. Gebrochene Rippen hätten uns gerade noch gefehlt.“ Während Aramis‘ kurzer Bewusstlosigkeit hatte sie das Wildschwein verflucht, vor allem aber hatte sie sich selbst verflucht. Hätte sie sich nicht benommen wie eine hysterische Göre, hätte Aramis sich nicht so mit seinen Kräften übernehmen müssen. Sie stützte ihn, als er versuchte in eine sitzende Position zu kommen. Selbst durch den Stoff seiner Kleider spürte sie die Hitze die von ihm ausging und als er sich endlich aufgerichtet hatte, legte er schweratmend den Kopf auf ihre Schulter.
„Vorsicht, Monsieur Aramis. Wenn du mir zu nahe kommst, hetz ich dir nicht nur meinen Mann, sondern auch noch meinen Verehrer auf dich. Und letzterer kann verdammt gut mit dem Degen umgehen.“
Aramis lachte krächzend. „Momentan könnte ein Lämmchen mich im Duell schlagen, fürchte ich.“
Ein neuer Hustenanfall schüttelte ihn nach diesen Worten. Constance schlang die Arme um ihn, in verzweifeltem Bemühen sein heftiges Zittern irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Schliesslich verebbte das Husten endlich, auch wenn seine Atemzüge noch immer schwer und rasselnd waren, als sei er ein alter Mann.
„Es tut mir Leid, Aramis. Wenn ich nicht so losgekreischt hätte und panisch davongelaufen wäre, ging es Euch jetzt nicht so schlecht.“
„Mir ging es schon vorher schlecht, Constance“, gab Aramis zu und dieses Eingeständnis löste eine neue Welle von Panik in ihr aus. Wenn er jetzt schon zugab, dass es ihm nicht gut ging, hatten sie wirklich ein Problem. Als spürte er ihre wachsende Besorgnis, fügte er eine kleine Neckerei an: „Obwohl ich zugeben muss: Ich habe dich nicht als eine Frau eingeschätzt, die beim Anblick eines Wildschweines gleich in Panik ausbricht. Kreischst du auch bei Mäusen?“
Constance fühlte, wie sich ihre Wangen vor Scham röteten. Zugleich spürte sie, wie eine Trauer in ihr aufstieg, die sie lange in ihrer Seele vergraben hatte. Eigentlich sprach sie nicht gerne darüber, aber Aramis hatte ein Recht darauf es zu erfahren, nachdem es ihn fast das Leben gekostet hatte.
„Ich habe furchtbare Angst vor Wildschweinen. Aber es gibt einen Grund dafür.“
„Das klingt nach einer Geschichte.“
Sie strich ihm über die schweissnassen Locken, als sei er ein Kind, dem sie eine Gutenachtgeschichte erzählen wollte. „Sie ist nicht besonders lustig.“
„Mir ist auch nicht besonders nach Lachen“, sagte Aramis mit der Stimme, die rau und kratzig klang.
Constance liess ihre Hand auf seiner heissen Stirn ruhen. „Als ich noch ein kleines Mädchen war, ging mein kleiner Bruder in den Wald. Alleine. Er ist einfach davongelaufen. Nicht aus Bosheit, er war einfach so verspielt. Er wollte immer Schmetterlinge jagen“, fügte sie mit einem seligen Lächeln der Erinnerung hinzu, dass jedoch gleich erstarb, als sie an das wunderbar unschuldige, runde Gesicht ihres Bruders dachte. Er war noch so klein gewesen.
Aramis schien schon zu verstehen, welchen Lauf diese Geschichte nahm. „Und dabei hat er den Weg eines Wildscheines gekreuzt.“
Sie nickte. „Ja. Es hatte Frischlinge bei sich und wahrscheinlich wollte er diese streicheln, weil sie so süss waren. Aber Wildschweine sind erbarmungslos, wenn es um die Verteidigung ihrer Jungtiere geht.“ Ihre Stimme brach und ungewollt schossen ihr wieder die verhassten Tränen in die Augen. So lange war es schon her und sie hatte es noch immer nicht vergessen, geschweige denn überwinden können. Aramis musste sie ja für albern halten!
Er schien sie jedoch ganz und gar nicht für albern zu halten. Er hatte den Kopf gehoben, wobei er mit einer beiläufigen Bewegung ihre Hand von der Stirn fegte. Seine dunklen Augen waren voller Mitgefühl und Anteilnahme. Einer seiner schönsten Charakterzüge war die Fähigkeit, jedem das Gefühl zu geben, dass er auf seine Art und Weise genau richtig war. Das war wohl das Geheimnis seiner vielen Frauengeschichten, nicht einfach nur seine schöne Gestalt und seine Begabung für klangvolle Gedichte. Er bedrängte sie nicht, mit der Erzählung fortzufahren, sondern wartete geduldig, bis sie soweit war sie fortzusetzen.
„Als wir ihn endlich gefunden hatten, war er schon tot. Die Wunden waren tief. Er ist einfach verblutet “, beendete sie die Geschichte.
„Das tut mir sehr leid“, sagte Aramis sanft, „und es tut mir Leid, dass ich über deine Furcht gelacht habe. Du hast allen Grund dazu.“
Constance holte tief Luft. „Vielleicht. Aber ich schäme mich, dass diese Angst noch immer mein Handeln beeinträchtigt. Es hätte uns den Hals kosten können.“
„Sei nicht so streng mit dir. Es gibt weitaus peinlichere Ängste, als die vor Wildschweinen. Und jeder Mensch trägt Furcht in sich.“ Er schenkte ihr ein schräges Grinsen.
„Wovor hast du Angst?“, fragte sie mit jäh erwachter Neugier, aber wie immer, wenn das Gesprächsthema auf so etwas Persönliches kam, nahm seine Miene einen Hauch von Reserviertheit an und er entgegnete nur mit mildem Lächeln: „Ich bin die löbliche Ausnahme.“
Constance war mit dieser Antwort ganz und gar nicht befriedigt. Er schien ihren Missmut zu spüren und so beeilte er sich hinzuzufügen: „Aber ich kann dir eine äusserst amüsante Geschichte über Athos‘ Ängste erzählen. Unser furchtloser Anführer erzittert nämlich beim Anblick von Spinnen, ganz wie eine holde Jungfrau vor dem bösen Drachen.“
Sie konnte nicht anders, als sich vorzustellen wie ein kreischender Athos vor einer Spinne davonrannte und sich dabei in die schützenden Arme seines Captains warf. Ein Kichern entschlüpfte ihren Lippen. Athos gab sich immer so kühl und unbeeindruckt, egal was gerade um ihn herum geschah. Es war zu köstlich, dass er sich vor diesen eigentlich harmlosen Tierchen fürchtete. „Das ist mir nie aufgefallen.“
Aramis hob die Schultern. „Er unterdrückt seine Angst. Sie ist ihm, wie du dir vorstellen kannst, überaus peinlich. Ich weiss es eigentlich nur, weil Porthos ihm einmal Spinnen ins Bett geschmuggelt hat.“
„Wieso hat Porthos ihm Spinnen ins Bett getan?“ Sie wusste ja, dass die vier Männer sich schon mal in Kleinkinder verwandelten, wenn sie zusammen waren, aber so etwas erschien ihr sogar nach Musketier – Massstäben gar kindisch.
„Das war kurz nachdem Athos zum Regiment gestossen ist. Wir mochten ihn damals nicht sonderlich.“
Es war schwer sich eine Zeit vorzustellen, in der die Unzertrennlichen noch nicht die besten Freunde waren. Als Constance die drei kennenglernt hatte, waren sie schon ein Herz und eine Seele gewesen. „Ihr habt ihn nicht gemocht? Wieso nicht?“
Aramis sah sie schräg an. „Mal ehrlich: Athos macht es einem nicht immer leicht ihn zu lieben. Waren seine ersten Worte an dich nicht Madame, ich denke, Euer Kleid entspricht kaum noch den guten Sitten einer Kirche, da Ihr Euren Busen praktisch entblösst?“
Das hatte er tatsächlich gesagt, erinnerte sich Constance und noch während er gesprochen hatte, hatte er ihr seinen Schal gereicht und gemeint, sie solle um Himmels willen ihren Ausschnitt bedecken.
„Und hast du nicht so etwas gesagt wie Es wäre geradezu sündig, irgendeinen Zoll dieser wunderbaren Haut zu bedecken?“
„Und dann hast du mir – völlig unverständlicherweise – eine geschmiert.“
Sie lächelten sich zu, als sie gemeinsam in diesen Erinnerungen schwelgten. Das war kurz nach ihrer Hochzeit gewesen, bevor d’Artagnan nach Paris gekommen war und sie alle in die Intrigen des Hofes gezogen worden waren. Doch dieser kurze, friedliche Moment wurde durch einen erneuten, schlimmen Hustenanfall von Aramis unterbrochen. Die harschen, keuchenden Hustenklänge brachten Constance wieder zu Bewusstsein, dass sie noch immer nicht über den Berg waren und Aramis dringend ein Bett und Pflege brauchte
Sofort sprang sie auf die Füsse. „Komm. Je schneller wir zu unserem Haus kommen, desto eher kann ich dich in Decken packen und dir Tee kochen.“ Sie reichte ihm die Hand und er zog sich ungewohnt schwerfällig an ihr hoch. Als er stand, schwankte er bedrohlich und stützte sich schwer auf Constances‘ Schulter. Aber schliesslich gelang es ihm, halbwegs sicher stehen zu bleiben. Seine Schritte waren eine Spur unsicher, dennoch hoffte Constance, dass er es irgendwie bis zu ihrem Haus schaffen würde, ohne noch einmal zusammenzuklappen.
Sie mussten es einfach schaffen.
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Kapitel In einer Regennacht
Kapitel 12
In einer Regennacht
Der warme Tag war einem kühlen Abend gewichen und als Kardinal Richelieu aus dem Fenster seines Arbeitszimmers sah, ging ein leichter Frühlingsschauer nieder. Regen passte ganz ausgezeichnet zu seiner Stimmung und so öffnete der Minister in einem jähen Anflug von Naturliebe, die Fensterläden und sah den Regentropfen zu, die sich zu einem trüben Teppich verwoben.
Wenn es diese verfluchten Musketiere nicht gebe, dachte er bitter, wäre mein Leben um einiges leichter. Erst dieser Skandal in England, weil Trévilles Schosshunde nicht einmal ordentlich spionieren konnten, jetzt diese Geschichte mit Aramis. Lohnte es sich wirklich, weiter seine Zeit mit persönlichen Rachegefühlen zu verplempern? Es gab bei Gott Wichtigeres für ihn zu tun. Aber sein Stolz war zu tief getroffen, als dass er jetzt von seinen Drohungen ablassen konnte.
Richelieu wollte sich gerade wieder seinen Papieren zuwenden, als es leise klopfte. Ärgerlich über die Störung brummte er unwillig: „Herein.“ Ein König konnte es sich erlauben, nicht zu sprechen zu sein, sein Minister dagegen musste sich jeden Trottel anhören. Diese Regel hatte Richelieu sich selbst auferlegt und auch wenn es dazu führte, dass er oft noch spät in der Nacht Gäste und Bittsteller empfangen musste. Aber so erklärte es sich, dass er die Dinge oft lange vor seinem König erfuhr.
Jetzt allerdings trat zu Richelieus Erstaunen ein junges Mädchen in sein Arbeitszimmer. Es knickse unsicher und blieb dann mit weit aufgerissenen Augen stehen, was ihn unwillkürlich an eine Kuh auf der Weide erinnerte. Wobei eine Kuh auf der Weide wahrscheinlich weniger fehl am Platze gewirkt hätte, als dieses eingeschüchterte Kind, dass seiner Kleidung nach wohl als Zofe diente.
„Nun? Möchtest du mich weiter mit offenem Mund anstarren oder hast du mir etwas mitzuteilen?", fragte Richelieu unwirsch. Er konnte durchaus charmant sein, nur war er heute rein gar nicht in Stimmung dazu, auch wenn das Mädchen leidlich hübsch war und wahrscheinlich nichts Böses im Schilde führte.
„Eminenz, ich weiss gar nicht was ich sagen soll“, stammelte sie.
Er bekam nun doch Mitleid mit dem armen Ding, das aussah als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen. Das Letzte was er jetzt brauchte waren bewusstlose Damen in seinem Zimmer. Die Gerüchteküche würde schlagartig anfangen zu brodeln und morgen würde es wahrscheinlich schon heissen, er verschleppe neuerdings auch kleine Mädchen, um sie auszustopfen und als Trophäe auszustellen.
„Nun, dann sag mir doch erstmal deinen Namen“, sagte er also im deutlich freundlicheren Ton.
„Marie. Ich bin die Zofe der Gräfin Adelina.“
Ah, die englische Lady. Eine Schönheit, allerdings ihm persönlich eine Spur zu keck für eine Frau. Kein Wunder schätzte Königin Anna ihre Gesellschaft deshalb so. Je rebellischer und aufmüpfiger, desto mehr war man sich der Aufmerksamkeit Annas sicher.
„Nun, mein Kind, Mademoiselle Adelina ist Gast bei uns. Es ist keine Schande einer so vornehmen Dame zu dienen, selbst wenn sie Engländerin ist“, erwiderte Richelieu und hoffte, seiner Stimme eine ermunternden Klang geben zu können.
„Oh, ich komme nicht deswegen, Eure Eminenz. Es ist vielmehr, wegen meines Cousins. Er war ein Musketier.“
„Liebes Kind, so sehr mich deine Verwandtschaften interessieren, jetzt ist wohl kaum der richtige Zeitpunkt sie mir mitzuteilen.“ Sein Lächeln wurde immer verkrampfter. Konnte diese dumme Gans nicht endlich zum Punkt kommen? Sie war ja noch schlimmer als dieser elendige Férardier!
Endlich schien sie sich ein Herz zu fassen. „Ach, Eure Eminenz, ich weiss, dass Euch mein Geschwätz kaum interessiert. Aber Ihr müsst wissen, ich bin nur aus familiären Pflichtgefühl hier, denn ich wollte mich nie in die Intrigen des Hofes einmischen. Aber manchmal schickt Gott uns auf seltsame Wege." Ihr treuherziger Blick, aus der die Unschuld ihrer jungen Jahre sprach, liess Richelieu widerwillig lächeln.
„Aus deinen Worten entnehme ich, dass dich wohl dein Cousin hergeschickt hat?“
Sie schüttelte den Kopf und zu seinem ausserordentlichen Entsetzen füllten plötzlich Tränen ihre blauen Augen. Wenn es etwas Schlimmeres gab als ohnmächtige Frauen, dann waren es weinende Frauen. Bewusstlose Damen waren wenigstens still. Aber Marie beherrschte sich und sagte nur mit erstickter Stimme: „Mein Cousin ist tot. Sein Mörder wurde vor wenigen Tagen verhaftet und Ihr selbst habt den Urteilsspruch über ihn gesprochen.“
Francis, durchzuckte es Richelieu. Schon wieder! Nun musterte er Marie mit neuem Interesse. Was hatte sie wohl mit dieser verzwickten Geschichte zu tun? „So seid Ihr die Cousine von Francis.“
„Ja. Er hat mir eine Stelle bei der Gräfin Adelina besorgt, weil meine Eltern nicht genug Geld haben um mich und meine Geschwister durchzubringen. Er war immer sehr gut zu mir. Aber in den letzten Wochen war er so seltsam und bedrückt. Er redete immerzu von seinem nahenden Ende und eines Tages hat er mir einen Brief in die Hand gedrückt mit der Anweisung, diesen Euch zu übergeben, sollte ihm etwas zustossen.“ Sie steckte die Hand unter ihre Schürze, zog einen schlichten, weissen Umschlag hervor und reichte ihm den Kardinal.
Dessen Herz schlug schneller, als er den Brief an sich nahm. Das war ja mehr als merkwürdig! Eine Nachricht von einem Toten. Und dazu noch von einem toten Musketier! Warum hatte er wohl nicht seinem Hauptmann, sondern ausgerechnet ihm diese Botin geschickt? Der Kardinal hatte eine Schwäche für Intrigen und Mysteriöses. Vielleicht fühlte er sich deshalb so wohl am französischen Hof.
„Gelesen hast du ihn aber nicht, mein Kind?“
Marie schüttelte heftig ihren Kopf, so dass ihre Locken flogen. „Er hat es mir verboten. Und ich habe ihn wirklich nicht gelesen, Eminenz. Ich bin froh, dass ich ihn los bin und ich mag nichts mehr hören von diesen Heimlichkeiten!“
„Dies ist ein lobenswerter Vorsatz. Bewahre ihn dir.“ Er reichte ihr die Hand, um ihr zu erlauben seinen Ring zu küssen. Eifrig sank sie in eine Verneigung und er legte ihr mit diesem gütigen Lächeln, das schon ganze Länder miteinander versöhnt hatte, die Hand auf den Schopf. „Und ich bin sicher, Francis wäre stolz auf dich, da du seinen Auftrag gegen alle persönlichen Bedenken so treu ausgeführt hast.“
Richelieu wartete, bis Marie das Zimmer verlassen hatte, dann riss er den Brief auf. Er war zu neugierig, was ihm der Musketier da wohl aus dem Grab hatte zukommen lassen, als dass er noch eine Minute länger hätte warten können.
Und der Inhalt war wirklich mehr als interessant.
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D’Artagnan bereute es ernsthaft, sich auf Porthos‘ Schnapsidee eingelassen zu haben, als dieser ihm zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit den Degen aus der Hand schlug. „Porthos, als du gesagt hast, Übungskampf machte ich mich ehrlich gesagt auf einen gemütlichen Kampf unter Freunden gefasst, nicht darauf, dass du mich wie ein Wilder auseinander nimmst!“, murrte d’Artagnan, als er seinen Degen aufhob.
Porthos sah wirklich zum Fürchten aus. Der Regen liess sein Hemd an seiner gebräunten Haut kleben und rann in kleinen Bächen über sein ohnehin schweissüberströmtes Gesicht. Sein Mund, der sich sonst so leicht zu einem Lächeln formte, war nur eine schmale, strenge Linie und die dunklen Augen leuchteten von einer Wildheit, wie sie es sonst nur im Kampf zu tun pflegten. Langsam glaubte d’Artagnan, sein Freund wolle ihn umbringen, mit einer solchen Kraft führte dieser seine Waffe.
Mit einem zerknirschten Lächeln senkte Porthos seine Klinge. „Vergib mir, mein Freund. Ich bin nur so unruhig.“
D’Artagnan fragte nicht, wieso. Zwar hatte Tréville ihnen die frohe Kunde überbracht, dass es Aramis und Constance gelungen war zu fliehen, aber wo die beiden gerade steckten, blieb weiterhin ein Rätsel. Constance hatte ihnen versprochen, sofort Nachricht zu schicken, wenn sie in Sicherheit waren, aber bis jetzt war diese erlösende Botschaft ausgeblieben. Und mit jeder Stunde die verstrich, wuchs die Angst um die beiden. Constance war eine mutige Frau und Aramis konnte sich bei Gott mehr als gut selbst verteidigen, dennoch würden sie im Falle eines Kampfes gegen die Rote Garde eindeutig den Kürzeren ziehen.
D’Artagnan beschloss, Porthos etwas aufzumuntern und sich gleich auch selbst abzulenken. In einer nachlässig herausfordernden Geste schwang er seinen Degen prüfend durch die Luft. „Nun mach mal nicht so ein Gesicht, Porthos! Du bekommst schon Falten und davon hast du ja wirklich wahrlich schon genug!“
Porthos zu provozieren war glücklicherweise mehr als einfach. Bei Aramis musste man genau wissen, wo seine wunden Punkte waren und wenn man ihn an diesen traf, musste man damit rechnen, dass er ernsthaft böse wurde. Und Athos liess sich nie provozieren. Zumindest nicht von d’Artagnan. Aber Porthos brauste schnell auf, beruhigte sich aber genauso schnell wieder.
Tatsächlich blitzte es gefährlich in Porthos‘ Augen. „Du findest also, ich habe Falten?“, knurrte er und hob bereits angriffslustig seinen Degen.
„Nein“, D’Artagnan machte eine dramatische Pause, „ich finde, du bist alt!“
Porthos‘ Ausfall kam schnell, aber nicht unerwartet. D’Artagnan wich geschmeidig aus. „Mit dir werde ich schon noch fertig, Grünschnabel!“, rief Porthos und drang erneut auf d’Artagnan ein.
Er war kein so geschickter und eleganter Kämpfer wie Athos, aber Porthos‘ ungestüme Kraft brachte d’Artagnan erneut in Bedrängnis. Er musste einigen Zoll an Boden abgeben, wich aber der Klinge mit Leichtigkeit aus und brachte sich in eine bessere Stellung. „Zu langsam alter Mann“, lachte d’Artagnan, der stolz war auf seine schnellen Bewegungen, die selbst Athos‘ schon ein anerkennendes Nicken abgerungen hatten.
Er musste sich allerdings schnell in Sicherheit bringen, den Porthos‘ Antwort kam in Form eines neuen Ausfalls. Geschickt sprang er auf den Tisch. Serge, der alte Mann, der für ihr leibliches Wohl verantwortlich war, hasste es zwar, wenn sie das Mobiliar für ihre „Soldatenspiele“ missbrauchten, aber d’Artagnan war sein kleiner Liebling und ihm liess er fast alles durchgehen.
Porthos setzte ihm nach und so fochten sie unverdrossen auf dem Tisch weiter, was ihre Bewegungsfreiheit zwar erheblich einschränkte, dem Feuer ihres Kampfes jedoch keinerlei Abbruch tat. Der Regen fiel inzwischen stärker und durchnässte sie von Kopf bis Fuss, aber d’Artagnan spürte die Kälte der Tropfen gar nicht. Er und Porthos kämpften unverdrossen und immer, wenn d’Artagnan glaubte, die Gedanken seines Freundes wanderten zu ihren verschollenen Kameraden, triezte er ihn wieder, um ihn abzulenken.
Als d’Artagnan erneut versuchte auszuweichen, glitt er jedoch auf dem nassen Holz aus. Er versuchte noch, sich am Porthos Ärmel festzuhalten, was sich als keine so gute Idee herausstellte. Denn dieser hatte selbst nicht gerade den festesten Stand und statt, dass er d’Artagnans Sturz bremste, fiel er einfach gleich mit. D’Artagnan landete hart auf seinem Rücken. Er blinzelte noch verwirrt in den Himmel, als sich auch schon ein dunkles Gewicht über ihn senkte und Porthos‘ gesamtes Gewicht ihn in den aufgeweichten Boden drückte, was ihm eine ungewollte Einsicht in das Leben einer Flunder gab.
„Porthos, du bist schwer“, stöhnte d’Artagnan.
Sein Freund schien sich noch nicht ganz von seinem Schock erholt zu haben und blieb einfach liegen. „Und du ziemlich knochig. Es gäbe bessere Polster für mich.“
Ein spöttischer Applaus liess sie beide den Kopf drehen. Athos lehnte mit verschränkten Armen an einer der Holzbalken, ein ironisches Grinsen im Gesicht. „Ihr solltet euch in ein Zimmer zurückziehen. Ihr wisst, Tréville mag es nicht sonderlich, wenn man Zärtlichkeiten so offen zur Schau stellt.“
Tatsächlich waren Porthos und d’Artagnan so miteinander verknotet, dass man es, wenn sie Mann und Frau gewesen wären, tatsächlich als komprimierende Situation hätte auffassen können. Knallrot lösten sich die beiden voneinander und standen auf. In dem verzweifelten Versuch sich ein Rest von Würde zu bewahren, strich sich d’Artagnan den Staub von der Kleidung und meinte: „Wir haben uns nur etwas der Leibesertüchtigung gewidmet.“
Demonstrativ sah Athos in den Himmel. „Ja, es ist ja auch das perfekte Wetter dafür.“
Bevor d’Artagnan diese sarkastische Bemerkung kontern konnte, hörte er das Donnern von Hufen. In Erwartung zurückkehrende Musketiere zu sehen, drehten die drei Freunde mit mässigen Interesse den Kopf in Richtung Tor. Aber es waren keine Kameraden, die von einer Mission zurückkamen, sondern zwei reiterlose Pferde, die auf den Hof stürmten.
D’Artagnan spürte einen eisigen Schreck in den Gliedern, als er sein eigenes Pferd erkannte, das auch sogleich vergnügt auf ihn zutrabte und spielerisch den Kopf an seiner Schulter rieb. Constance, dachte er mit bebendem Herzen, o Gott, lass es ihr gut gehen! Wenn ihr etwas geschehen war, dann war es seine Schuld!
Das andere Pferd war die treue Stute von Aramis, die sich in Ermangelung ihres Herrn an Porthos wandte, der mit bleichem Gesicht ihren Hals tätschelte. „Warum kommen die Pferde ohne ihre Reiter zurück? Heisst das, dass sie…“ Er sprach den Satz nicht weiter, aber d’Artagnan verstand. Was wenn sie tot waren? Nein, das durfte er nicht denken. Aramis zu verlieren, wäre eine Katastrophe, aber Constances Tod und die damit verbundene Schuld würde er nicht ertragen.
„Es muss gar nichts heissen. Wir wussten, dass die Flucht gefährlich werden kann. Wahrscheinlich waren sie aus irgendeinen Grund gezwungen zu Fuss weiterzugehen.“ Athos klang ruhig und vernünftig, die blinde Panik, die sich auf Porthos‘ und d’Artagnans Gesicht so deutlich abzeichnete, war bei ihm überhaupt nicht zu sehen. Aber d’Artagnan entging die Besorgnis in Athos‘ stahlblauen Augen nicht und das war es, was seine Furcht noch steigerte.
Stumm blickten die drei Musketiere aus dem Tor und dachten mit pochenden Herzen an ihre Freunde, für die sie nichts tun konnten, ausser zu beten.
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Louis hatte Tréville zu einem abendlichen Schachspiel eingeladen und er hatte mit Freuden angenommen. Nicht nur weil die Freundschaftsbeweise von Louis merklich nachgelassen hatten, sondern auch weil der König seinen besten Wein aufzutischen pflegte, wenn er spielte. Unter dem Einfluss des Weins war Louis sehr fröhlich und freimütig geworden, die alte Vertrautheit war wieder aufgekommen und der Abend war in der Tat sehr vergnüglich gewesen. Jetzt ging Tréville mit nicht mehr ganz so sicheren Schritten durch den Louvre, wobei er das Gefühl genoss, sich wieder ganz mit dem Monarch angefreundet zu haben; ein Gefühl das sofort einer drängenden Neugierde wich, als er einen roten Kardinalsmantel um die Ecke wischen sah.
Schlagartig war Tréville wieder ganz nüchtern. Richelieu hatte es sich verbeten, dass die Musketiere seine Gemächer auch nachts bewachten und Tréville hatte zugeben müssen, dass es widersinnig gewesen wäre, im gut geschützten Palast auf eine weitere Garde zu bestehen. Das war schade, denn er war sich sicher, dass die meisten Geheimnisse seines Lieblingsfeindes, sich in der Nacht offenbaren würden.
Deshalb war es für ihn eine zu günstige Gelegenheit um sie verstreichen zu lassen. Tréville setzte Richelieu nach, vorsichtig und mit den leisen Sohlen einer Katze. Richelieu ging rasch, schien aber bewusst die Wachposten zu meiden, als läge ihm viel daran, nicht gesehen zu werden. Und schliesslich huschte er, nach einem verstohlenen Blick über die Schulter, direkt in eine der verborgenen Geheimtüren, die auch Tréville kannte. Das wunderte ihn, denn er wusste auch, wohin dieser Geheimgang führte. In die Bibliothek der Königin.
Aber was wollte der Kardinal so spät am Abend in der Bibliothek seiner erklärten Feindin?
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Während Tréville und Richelieu durch den nächtlichen Louvre streiften, machte sich Robert Dupont auf den Weg zur Kirche Sankt Martin. Den Regen, der auf ihn niederprasselte, nahm er nicht einmal wahr, ja er trug nicht einmal einen Hut oder eine Kapuze um sich zu schützen. Sein Gewissen quälte ihn. Seit seiner Aussage vor Gericht fühlte er sich so schlecht, dass er keine ruhige Minute mehr hatte. Stets sah er Aramis‘ bleiches und entsetztes Gesicht vor sich.
Er hatte sich gegen seinen Freund versündigt. Und er hatte gegen Gott gesündigt.
Seine Gedanken waren ein trübes Knäuel, das er nicht zu entwirren vermochte. Er hoffte, zumindest in der Kirche Ruhe zu finden und er fühlte das überwältigende Bedürfnis zu beichten. Er musste zumindest vor seinem Herrn die Wahrheit sagen und vielleicht fand er danach die Kraft und den Mut es auch vor den weltlichen Richtern zu tun.
Schon als er die stille Kirche betrat, wurde er merklich ruhiger. Seine Schritte hallten gespenstisch auf dem Boden als er mit langen Schritten die Kirche durchquerte und sich in die erste Bank kniete. Sein Blick heftete sich auf das hölzerne Kreuz. Konnte Jesus ihn vergeben? Konnte Aramis ihn vergeben? Konnte er selbst sich je vergeben. Er hatte gelogen, um seines Ehrgeizes willen. Was gab es Schlimmeres als ein Judas zu sein?
Die Verzweiflung drohte ihn zu übermannen. Er faltete die Hände und begann zu beten, innbrünstig und lange. Vor Gott hielt Robert nichts zurück und die Worte kamen leise und flehend über seine Lippen, während er seine Stirn gegen die ineinander verschlungenen Hände presste. Er fand Trost in seinen hastigen Gebeten und sein Herz wurde leichter. Noch war nichts verloren, noch konnte er alles gut machen. Gott vergab jeden Sünder.
Robert war so versunken in sein Zwiegespräch mit dem Herrn, dass er nicht bemerkte, wie eine Gestalt die Kirche betrat und sich ihm nährte. Er bemerkte es erst, als sich das Seil schon um seinen Hals legte und ihm die Luft abschnürte.
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Richelieu war eigentlich kein Mann, der sich leicht aus der Ruhe bringen liess. Dafür hatte er zu viel gesehen und zu viel erlebt. Aber als er die Bibliothek der Königin betrat, schlug sein Herz spürbar schneller. Er spürte, dass er der Lösung einer Verschwörung auf die Spur kam, einer Verschwörung, von deren Bestehung er nicht einmal gewusst hatte.
Die Bibliothek war ein prachtvoller Ort. Anna zog sich öfters hierher zurück und Richelieu konnte verstehen wieso. Die Königin hatte einen erlesenen Geschmack und so war ihre persönliche Bibliothek ein Fundort an grossen Dichtern und kostbar ausgestatten Büchern. Jetzt in der Nacht lag ein geheimnisvoller Schimmer über den staubigen Regalen und verlieh dem Raum zusätzliche Erhabenheit. Rasch entzündete Richelieu ein paar Kerzen, um in dem warmen Schein der Flammen zu finden, wo nach er suchte.
Richelieus scharfe Augen glitten schnell über die Buchrücken. Anna schien kein besonderes Ordnungssystem zu haben, die Bücher standen kreuz und quer durcheinander, was Richelieus Vorhaben erheblich erschwerte. Es verging einige Zeit bis er endlich fand, was er gesucht hatte. Die spanische Bibel.
Mit bebenden Fingern zog er es heraus, als die Kerzen jäh erloschen. Verwirrt drehte er sich um, da prallte etwas Schweres, Lebendiges, Atmendes gegen ihn. Ein Körper. Richelieu, völlig überrumpelt fiel zu Boden, wobei er die Bibel immer noch fest umklammert hielt. Fremde Hände griffen danach und versuchten es aus seinem Griff zu winden, doch instinktiv klammerte der Kardinal sich nur umso fester an seine Beute.
Richelieu versuchte auszumachen, wer da so erbittert gegen ihn focht, aber in der Finsternis der Bibliothek konnte er ihn nur schemenhaft ausmachen und das Gesicht schien nur eine dunkle Masse zu sein, weshalb Richelieu vermutete, dass er eine Maske trug. Doch als er versuchte, sie mit seiner freien Hand runterzureissen, wurde sein Handgelenk grob gepackt und umgedreht. Er stöhnte vor Schmerz, begann jedoch umso erbitterter Widerstand zu leisen.
Aber seine Kardinalsrobe taugte nur bedingt für einem Kampf und als er versuchte, den Angreifer mit seinen Beinen abzuwehren, verhedderte er sich hoffnungslos in dem Stoff und verrenkte sich die Glieder. Dennoch gelang es ihm irgendwie den Unbekannten von sich zu stossen und sich aufzurappeln.
Weit kam er jedoch nicht. Er war kaum ein paar Schritte gestolpert, da schlang sich ein Arm um seinen Hals und drückte ihm die Luft ab. Röchelnd rang der Kardinal um Atem, während dunkle Punkte anfingen vor seinen Augen zu tanzen. Panik stieg in ihm hoch. In was für eine Geschichte war er da geraten? Würde ihm nach all den langen gefahrvollen Jahren der Hofintrigen ein Abstecher in die Bibliothek das Leben kosten? Die Kräfte schwanden ihm und das vermaledeite Buch entglitt seinen Händen.
„Kardinal!“, schrie auf einmal eine Stimme, eine Stimme, die ihm mehr als bekannt vorkam. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er jetzt die Augen verdreht. Warum musste er als Letztes ausgerechnet die laute Stimme von Captain Tréville hören? Warum nicht einen Chor singender Engel?
Letztendlich war Tréville aber doch die bessere Variante, denn ein Engel hätte es wohl kaum geschafft den Angreifer von ihm zu zerren. Kaum löste sich der Klammergriff von seinem Hals, schnappte er nach Luft und versuchte sich so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen.
Tréville hatte den Maskierten gepackt, doch dieser wehrte sich wie ein wilder Tier und warf den Kopf in einer so heftigen Bewegung zurück, dass die Nase des Hauptmanns ein hässliches, knackendes Geräusch von sich gab. Vor Schmerz liess Tréville los und der Unbekannte stürzte sich so gleich auf die Bibel, die noch immer auf dem Boden lag. Richelieu tat jedoch im selben Moment dasselbe, mit dem Resultat dass sie die Köpfe zusammenstiessen.
Wieder sah Richelieu Sterne. Sein Kontrahent erholte sich schneller, schnappte sich das Buch und sprang auf. „Tréville! Haltet ihn auf!“, brüllte Richelieu. Der Hauptmann setzte dem Flüchtenden nach, doch dieser drehte sich jäh um und warf – wenn Richelieu es richtig sah- einen Kerzenständer nach dem Captain. Dieser tauchte zu wenig schnell ab. Besinnungslos sackte er zusammen, nachdem er hart am Kopf getroffen wurde.
Richelieu versuchte sich aufzurappeln, da spürte er auf einmal einen stechenden Schmerz am Hinterkopf. Und diesmal vermochte auch sein harter Schädel nicht zu widerstehen. Er folgte Tréville in das Reich der Träume.
Der Unbekannte drehte sich noch einmal um, wie um sich an den ungewöhnlichen Anblick zu weiden. Der Hauptmann der Musketiere und der Kardinal Richelieu lagen inmitten der Bibliothek der Königin und wären nicht ihre Kopfwunden gewesen, hätte man meinen können, sie würden friedlich schlafen. Ein ungewöhnliches Paar.
Dann verschwand der Angreifer so schnell, wie er gekommen war.
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Constance stiess einen erleichterten Seufzer aus, als sie endlich in ihr Landhaus traten. Die letzten Stunden waren sie mehr durch den Wald gestolpert als gegangen und sie hatten immer wieder anhalten müssen, um Aramis Zeit zu geben Atem zu schöpfen. Dann war noch dieser verfluchte Regen gekommen und hatte ihnen die Rückkehr zusätzlich erschwert. Doch nun hatten sie es mit Glück oder Gottes Hilfe endlich ihr Ziel erreicht.
Aramis hatte fast den ganzen Weg lang geschwiegen. Hin und wieder hatten ihn furchtbare Hustenkrämpfe geschüttelt und das verzweifelte Ringen nach Atmen hatte ihm noch den letzten Rest an Kraft geraubt. Jetzt stand er stumm neben Constance. Er schien völlig lethargisch, mit fiebrig glänzenden Augen und bleichem Gesicht sah er sie nur müde an, als sei er unfähig, eigene Entscheidungen zu fällen. Sie fasste ihn sanft am Arm und führte ihn in das Schlafzimmer ihres Mannes, wo sie ihn auf das Bett drückte.
„Erst musst du aus diesen Kleidern raus“, sagte sie mit einer Munterkeit, die sie nicht im Geringsten verspürte.
Zu ihrer Freude glitt ein flegelhaftes Grinsen über sein Gesicht. „Du willst mich also ausziehen?“
Sie schlug ihm spielerisch gegen den Oberarm. „Das hättest du wohl gern. Ich gebe dir die Kleider meines Mannes, aber umziehen wirst du dich gefälligst selbst.“
Wäre Aramis gesund gewesen, hätte er sicher noch einige schlüpfrige Bemerkungen losgelassen. Jetzt konnte man sehen wie ihn mit jedem Wort die Kraft verliess und so schwieg er erneut. Er blieb sitzen, während Constance einige Kleider von Bonacieux hervorkramte, die sie ihm auf den Schoss legte.
Während er sich umzog, ging Constance in ihr eigenes Zimmer, um sich ebenfalls trockene Sachen anzuziehen. Es fühlte sich gut an, sich aus den nassen Hüllen zu schälen und als sie ihre nassen Haare durchgekämmt hatte, fühlte sie sich wieder wie ein ganzer Mensch.
Als sie wieder in Aramis‘ Zimmer trat, lag dieser bereits im tiefen Schlaf. Unwillkürlich musste Constance lächeln. Die Erschöpfung hatte ihn wohl übermannt. Zwar hatte er es geschafft Stiefel und Hose auszuziehen, weiter war er aber nicht gekommen. Nur im Hemd lag er seitlich auf dem Bett, den Mund leicht geöffnet, die nassen Locken ein einziges Durcheinander.
„Du bekommst irgendwie immer was du willst, nicht?“, murrte Constance, als sie widerwillig die Aufgabe übernahm, für die viele der Hofdamen gestorben wären. Dennoch war es alles andere als romantisch einen Halbtoten zu entkleiden. Mit viel Mühe schaffte sie es das Hemd über seinen Kopf zu ziehen, wobei sie ihm beinahe den Arm brach. Ihm die neue Hose über die Beine zu ziehen, das brachte sie schliesslich nicht über sich. Stattdessen deckte sie ihn einfach zu und weil er so furchtbar zitterte, holte sie noch eine zweite Wolldecke, die sie über ihn ausbreitete. Er gab einige schläfrige, protestierende Laute von sich, schlug die Augen allerdings kein einziges Mal auf.
Besorgt fühlte Constance seine Stirn. Heiss, viel zu heiss. Sie musste dieses Fieber runterbringen. Musketiere waren zäh, wer wusste das besser als sie, aber auch der stärkste Mann konnte von einer Krankheit dahingerafft werden. Sanft strich sie ihm über die Wange. „Du musst wieder gesund werden. Deine Freunde werden mich ansonsten mit ihren Degen durch die ganze Stadt jagen. Und ich möchte nicht enden wie ein aufgespiesster Schmetterling.“
Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber sie glaubte ein Lächeln auf Aramis‘ blassem Gesicht zu sehen und das liess sie Hoffnung schöpfen.
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Kapitel Verliebt, Verlobt, Verstorben
Kapitel 13
Verliebt, Verlobt, Verstorben
Richelieu erwachte mit einem Stöhnen. Mit der linken Hand fasste er sich an den Hinterkopf. Kein Blut, aber definitiv eine saftige Beule. Jetzt sah er auch, was ihn niedergeschlagen hatte. Ein Buch. Le morte d'arthur hatte ihn in das Reich der Träume geschickt. Er hatte diese Artussagen ohnehin nie ausstehen können.
Vorsichtig richtete er sich auf. Sein Hals fühlte sich etwas wund an und sein Kopf schmerzte, aber ansonsten ging es ihm gut. Etwas was man von Tréville nicht behaupten konnte. Er lag noch immer bewusstlos auf dem Teppich und als sich Richelieu über ihn beugte, sah er eine hässliche blutende Wunde direkt über Trévilles Augenbraue und eine bläuliche Prellung auf seiner Wange. Andenken an den Kerzenständer. But floss still und leise aus der lädierten Nase des Bewusstlosen.
Er rüttelte, nicht gerade zartfühlend an Trévilles Schultern. Keine Reaktion. „Ich werde Euch bestimmt nicht küssen um Euch zu wecken“, knurrte Richelieu. Ein Hauch von Besorgnis stieg in ihm auf. Wenn Tréville jetzt starb, würde es schwierig werden zu erklären warum er in der Bibliothek der Königin und ausgerechnet mit ihm als Gesellschaft sein Leben ausgehaucht hatte. Er fühlte den Puls und fand ihn zu seiner Erleichterung kräftig und regelmässig.
„Tréville!“ Wieder schüttelte er den Bewusstlosen und wieder erhielt er keine Reaktion. Nun, er würde ihm später nicht vorwerfen können, er hätte nichts anderes versucht. Mit einem diabolischen Grinsen holte Richelieu mit der flachen Hand aus, doch bevor er dazu kam dem Hauptmann die Ohrfeige seines Lebens zu verpassen, öffnete dieser die Augen und riss sie sogleich weit auf, als er die eindeutige Geste des Kardinals sah. Beinahe gleichzeitig schlang er seine Finger um Richelieus Handgelenk. „Wagt es ja nicht!“
Der Kardinal riss sich los. „Ich wollte Euch nur wecken nachdem Ihr eine so ausgezeichnete Figur im Kampf gegen den Kerzenständer abgegeben hat.“
Tréville setzte sich auf. „Ihr habt Euch auch nicht gerade von Eurer besten Seite gezeigt. Als ich dazukam, wart Ihr gerade dabei erwürgt zu werden.“ Er hielt sich die Hand unter die Nase um den Blutstrom zu stoppen. Widerwillig reichte Richelieu ihm eines seiner seidenbestickten Taschentücher, das Tréville dankend annahm und sich gegen die Nase presste. Grossartig. Erst sein Teppich und jetzt auch noch das Taschentuch.
Richelieu musterte Tréville mit einem misstrauischen Blick. „Das würde mich ohnehin interessieren: Was habt Ihr hier eigentlich gesucht? So spät in der Nacht?“
Tréville Stimme klang durch das Tuch etwas gedämpft. „Der König hat mich darum gebeten für Euren Schutz zu sorgen und ich nehme diese Aufgabe sehr ernst. Aber was wolltet Ihr so spät in der Bibliothek der Königin?“ Ein lauernder Ausdruck war in Trévilles graue Augen getreten. So erinnerte er Richelieu an eine Katze, die ihre Beute genau dort hatte, wo sie sie haben wollte.
„Ich wollte noch etwas lesen“, erwiderte er steif.
„Natürlich und unser unbekannter Angreifer hatte dieselbe Idee und wollte genau das Buch, das Ihr in der Hand hattet. Und als Ihr es ihm nicht geben wolltet, hat er beschlossen Euch ein wenig zu würgen.“ Trévilles Stimme troff förmlich vor Sarkasmus und es war unschwer herauszuhören, dass er ihm kein Wort glaubte.
Richelieu seufzte. „Gut, ich sage Euch was mich hiergebracht hat: Eurer toter Musketier.“
Es verschaffte ihm eine gewisse Befriedigung zu sehen wie Trévilles Gesichtsausdruck entgleiste. „Francis? Wie meint Ihr das?“ Er versuchte auf die Füsse zu kommen, schwankte aber so bedrohlich, dass Richelieu ihm schliesslich widerwillig seinen Arm lieh, um sich daran hochzuziehen. Immerhin hatte dieser Mann ihm das Leben gerettet. Tréville dankte ihm diese ungewöhnliche Hilfsbereitschaft mit einem knappen Nicken.
„Heute Abend kam eine gewisse Marie zu mir. Sie ist Zofe hier im Palast und Francis‘ Nichte. Sie hatte eine Nachricht von Francis für mich. Offenbar hat er sie ihr, kurz vor seinem Tod, gegeben, mit der Auflage, sie im Falle seines Todes mir zu übergeben.“
„Und was war das für eine Nachricht?“
Richelieu griff in seine Tasche und überreichte ihm den geöffneten Brief. Tréville las ihn laut: „Monsieur le Cardinal, ich habe etwas Entsetzliches erfahren. Ich wage es nicht, Euch das Geheimnis in diesem Brief mitzuteilen, aber Ihr werdet die Antworten finden, wenn Ihr in der Bibliothek der Königin die spanische Bibel aufschlagt…“, Tréville sah hoch, „was hat das zu bedeuten?“
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer. Ich wurde unterbrochen bevor ich die Spanische Bibel aufschlagen konnte. Und jetzt ist sie weg.“ Richelieu liess sich mit einem entkräfteten Seufzen in einen der Sessel fallen. Tréville folgte seinem Beispiel und setzte sich ihm gegenüber. Mit gerunzelter Stirn las er den Brief noch einmal. „Wieso hat er die Nachricht Euch zukommen lassen? Ohne mir jetzt etwas einzubilden, aber ich denke meine Musketiere haben ein grösseres Vertrauen zu mir als zu Euch.“
Das hatte Richelieu am meisten an der ganzen Geschichte erstaunt, aber er hatte sich inzwischen eine Theorie zurechtgelegt. „Weil er wahrscheinlich dachte, dass ich in der Sache eher helfen kann. Weil es vielleicht nichts mit den Musketieren, sondern mit dem Hof zu tun hat. Oder gar mit dem König und der Königin.“
Tréville beugte sich vor. „Die Nachricht ist ein Beweis dafür, dass Francis in mehr verwickelt war, als nur in eine Eifersuchtsgeschichte. Die Angreiferin war bereit, Euch zu töten. Es muss ein wichtiges Geheimnis sein, wenn jemand so weit geht, den Minister von Frankreich dafür zu töten.“
Unbewusst fuhr Richelieu sich mit der Hand an den Hals. Es war wirklich knapp gewesen. Wegen dieses elenden Briefes hatte er beinahe sein Leben verloren. „Woher wisst Ihr, dass es eine Frau war?“
„Als ich sie im Klammergriff hatte spürte ich gewisse körperliche Eigenheiten.“
Grossartig. Eine Frau hatte ihn überwältigt. Gott meinte es wirklich nicht gut mit ihm. Andererseits hatte sie auch Tréville niedergestreckt. „Es muss eine Frau vom Hof sein. Sonst hätte sie nicht von der Nachricht erfahren. Und sie hätte nichts von dem Geheimgang gewusst.“
„Vielleicht eine andere Zofe. Mädchen klatschen gerne. Marie hat vielleicht geplaudert und den Brief einer Freundin gezeigt.“ Trévilles Nase hatte endlich aufgehört zu bluten. Mit einem hinterlistigen Lächeln reichte er das blutgesprenkelte Tuch Richelieu, der es mit spitzen Fingern ergriff. Er würde es verbrennen.
„Francis muss etwas gewusst haben. Und weil er es wusste, musste er getötet werden. Wir wissen nicht, was das Geheimnis ist, aber wir wissen, dass es gefährlich genug ist um dafür über Leichen zu gehen.“
„Auf jeden Fall sind wir uns jetzt wohl einig, dass Francis nicht wegen einer albernen Eifersuchtsgeschichte das Leben lassen musste. Womit wir Aramis wohl ausschliessen können.“
Richelieu hasste es, wenn Tréville diesen selbstgefälligen Gesichtsausdruck aufsetzte und so erwiderte er mit allergrössten Vergnügen: „Oh, ich denke keineswegs, dass wir ihn ausschliessen können. Es ist noch immer eine unumstössliche Tatsache, dass wir ihn neben der Leiche von Francis gefunden haben. Und es besteht die Möglichkeit, dass er in die Verschwörung verwickelt ist.“
Tréville schlug hart mit der Faust auf die Armstützen seines Sessels. „Ich verbiete mir diese Verdächtigungen! Aramis ist ein Musketier, der dem König seit vielen Jahren treu und verlässlich dient. Er würde nichts tun, was der französischen Krone schadet!“
Es war geradezu lächerlich, wie Tréville sich echauffierte und es war zu verführerisch, das Feuer noch weiter anzufachen. „Wenn ich mich nicht irre, hat Aramis spanisches Blut?“, fragte er mit betont sanfter Stimme.
„Was hat jetzt das mit der Verschwörung zu tun?“
„Spanien ist nicht gerade ein Freund von Frankreich.“
Tréville sah aus, als wolle er ihn jetzt am liebsten gleich selbst erwürgen. „Aramis‘ Mutter war Spanierin, aber Aramis ist in Frankreich aufgewachsen. Und wenn wir gerade davon reden, Königin Anna ist ebenfalls Spanierin. Wollt Ihr ihr ebenfalls unterstellen, sie würde gegen den König intrigieren und seine Musketiere umbringen?“
Richelieu massierte sich die Schläfen. Trévilles laute, donnernde Stimme half seinen Kopfschmerzen nicht gerade. Deshalb hob er begütigend die Hand. „Friede, Tréville. Ich schliesse nach wie vor nicht aus, dass es Aramis gewesen sein könnte, aber ich werde die Sache auf jeden Fall gründlicher untersuchen, als ich es bis jetzt getan habe. Darauf habt Ihr mein Wort.“ Er streckte Tréville die Hand hin. Das fiel ihm keineswegs leicht, denn sein Hass auf diesen Mann und seine elende Truppe sass tief. Aber er nahm Mordversuche auf sich nun einmal sehr persönlich und es war besser, den Hauptmann in dieser Sache zum Verbündeten zu haben, statt als Feind.
Nach kurzem Zögern schlug Tréville ein, wobei er ein Gesicht machte, als weide er gerade einen Fisch aus. Es war ein Zweckbündnis nicht mehr. „Wir müssen den König, aber vor allem auch die Königin und ihr ungeborenes Kind schützen.“
Richelieu nickte und stemmte sich aus dem Sessel. Er war hundemüde. „Wenn Ihr mich jetzt entschuldigt. Ich werde mich jetzt hinlegen, bevor ich morgen den König davon in Kenntnis setzen kann, dass in seinem Palast irgendetwas Unheimliches vorgeht, wir aber leider nicht so genau wissen, was es ist.“ Er freute sich jetzt schon darauf.
Er war schon bei der Tür, als Tréville plötzlich sagte: „Kann es sein, dass sie die Finger im Spiel hat? Milady?“
Ihr Name trieb einen leichten Schauer über Richelieus Rücken. Er hatte diese Mörderin geschaffen und sie war ihm nützlich gewesen. Und es waren Trévilles Musketiere gewesen, die ihn gezwungen hatten, auf seine nützlichste Waffe zu verzichten. Eine schöne Frau, eine gefährliche Frau, eine Frau, die für Geld vieles tat. Und dennoch war seine Stimme vollkommen sicher als er sagte: „Nein, das halte ich für ausgeschlossen.“
„Wie könnt Ihr das so bestimmt sagen?“
Richelieu lachte bitter. „Weil wir ansonsten jetzt nicht so gemütlich miteinander reden würden. Sie hätte uns ohne zu zögern die Kehlen durchgeschnitten.“
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D’Artagnan hatte schlecht geschlafen. Träume von Constance hatten ihn heimgesucht und es waren keine angenehmen Träume gewesen. Bilder einer gefangenen Constance, einer verletzten Constance, einer toten Constance hatten ihn gequält und selbst jetzt, als er in das helle Morgenlicht des Frühlingstages trat, steckten sie ihm noch in den Knochen. Er fuhr sich mit einer zitternden Hand durch die Haare. Wenn ihr etwas geschehen war, war es seine Schuld. Er zog sie immer mit in den grössten Schlamassel und war dann doch nicht in der Lage sie zu beschützen.
Der Hof der Garnison lag noch ruhig und leer da, von der üblichen Geschäftigkeit fehlte jede Spur. Die Musketiere schliefen alle noch; es gab kein Waffenklirren, kein Lachen, keine geschrienen Unterhalten und keine gebrüllten Flüche. Es war seltsam, aber die Stille tat d’Artagnans aufgewühlten Wesen gut. Die panische Angst verebbte.
Er zuckte zusammen, als eine schwere Hand auf seine Schulter fiel. „Du bist früh wach Grünschnabel.“ Porthos‘ Stimme klang noch kratzig vom Schlaf, aber er war schon vollständig angezogen und setzte sich gerade den Hut auf.
D’Artagnan hob die Brauen. „Du willst weggehen? So früh?“
Porthos gähnte und machte sich nicht die Mühe, die Hand vor den Mund zu nehmen. „Ich habe mich wieder mit Floh vor der Kirche verabredet. Vielleicht hat sie schon etwas über Ellen rausbekommen.“ Er klang gutgelaunt, als sei das ein ganz normaler Morgen, der ein weiteres Abenteuer für sie verhiess, aber d’Artagnan sah die dunklen Schatten unter seinen Augen und wusste, er war nicht der Einzige, der eine schlaflose Nacht hinter sich hatte. Er streckte die Hand aus und legte sie, in einer stummen Geste der Verbundenheit auf den Arm seines Freundes. Für einen kurzen Moment sahen sie sich in die Augen und wussten, dass sie in ihren Sorgen um die geliebten Menschen zumindest nicht alleine waren.
Lautes Hufgetrappel riss sie aus ihren Grübeleien. Beide Musketiere wandten den Kopf und sahen einen jungen Mann, gekleidet wie ein einfacher Bauer, der in einem mörderischen Tempo in den Hof preschte. Instinktiv wusste er, dass dies der langersehnte Bote war und er war in den Hof geeilt, bevor die Füsse des Reiters den Boden berührten.
„Ich nehme an, Ihr seid entweder Athos, Porthos oder d’Artagnan“, meinte der Bote mit einem halben Lächeln.
„Ich bin d’Artagnan, das ist Porthos. Athos schläft noch.“ Seinen Rausch aus, ergänzte er in Gedanken. Athos hatte immer seinen ganz eigenen Weg mit Problemen umzugehen.
„Dann ist die Nachricht für Euch.“ Der Junge reichte d’Artagnan den Brief, doch Porthos, der ebenfalls heruntergerannt war, riss ihn ungeduldig an sich und öffnete ihn mit einer Hast, als seien es die Zeilen seiner lang vermissten Geliebten. D’Artagnan brauchte ihn nicht zu fragen, ob es gute oder schlechte Nachrichten waren Das jäh erblühende Lächeln auf Porthos‘ Gesicht und das Strahlen seiner Augen, sagte ihm alles.
„Ihr gebt uns das Leben wieder“, sagte Porthos mit vor Erleichterung bebender Stimme und umarmte den völlig verblüfften Boten mit einer solchen Heftigkeit, dass d’Artagnan glaubte, die Knochen knacken zu hören. Er nutzte die Gelegenheit um den Brief aus Porthos‘ zitternder Hand zu nehmen und ihn ebenfalls zu lesen.
Meine Herren,
Die Vögel haben den Käfig verlassen und sind sicher in ihr Nest zurückgekehrt.
Sie hatte nicht unterschrieben, wahrscheinlich aus Furcht die Nachricht könnte abgefangen werden. Aber er erkannte Constances schwungvolle und kräftige Handschrift. Der Knoten, der sich um sein Herz gelegt hatte, löste sich. Sie lebten. Und sie hatten Aramis, zumindest für den Moment, vor einem grauenhaften Schicksal bewahrt.
Alles war gut.
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„Nichts ist gut, Aramis! Ich habe etwas Grauenhaftes getan!“
„Francis, beruhige dich und sage mir endlich, was dich dermassen aufregt.“
Das schöne, ebenmässige Gesicht seines Freundes verdunkelte sich. Die rauen Soldatenhände packten seine Schultern so hart, dass er einen überraschten Laut des Schmerzes von sich gab. Es erschreckte ihn. Von Porthos war er sich diese Grobheiten gewöhnt, denn er neigte dazu seine Kräfte zu überschätzen und suchte oft den körperlichen Kontakt. Francis jedoch war ein sehr beherrschter Charakter, oft sogar sehr kühl. Jetzt war er aufgewühlt…Nein, erkannte Aramis, er war ausser sich.
„Ich bin es nicht länger wert den Rock eines Musketiers zu tragen!“
„Jetzt hör endlich auf mit deinen kryptischen Andeutungen und sag es, bevor du daran erstickst!“
Francis Gesicht verzerrte sie jäh, wurde zu den hämischen Zügen des Kardinals. „Du hast ihn umgebracht, Aramis. Dafür wirst du hängen!“
Er wollte sich verteidigen, er wollte sagen, dass es nicht wahr ist, dass er Francis nie etwas angetan hätte, dass Francis sein Freund gewesen war, aber er konnte nichts sagen, weil seine Lunge so fürchterlich schmerzte und sein Kopf so weh tat.
„Wie war es, als du ihm das Leben genommen hast? Hast du dich mächtig gefühlt? Hat es dir gefallen? Du magst es doch, Macht zu haben oder?“ Das war nicht Richelieus Stimme, das war die von d’Artagnan, aber sie war kalt und herzlos, völlig das Gegenteil von dem sonst so lebhaften Gascogner. Wieder wollte Aramis sich verteidigen und wieder war er zu schwach dafür.
„Du denkst immer nur an dich selbst. Deine Ehre, deine Liebe, dein Glück. Francis war dir genauso egal, wie wir dir egal sind.“ Das war Athos‘ Stimme. Hart, streng, unerbittlich. Wie konnte Athos so etwas von ihm denken? Weil es wahr ist, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf, weil Athos die Menschen durchschaute und auch deine guten Manieren und dein fröhliches Lächeln durchschaut hat!
„Wirst du auch mich töten, wenn ich zwischen dir und einer Frau stehe“ Porthos‘ Stimme, war nicht wütend oder anklagend, sondern einfach nur enttäuscht. Es schmerzte ihn mehr, als wenn er geschrien hätte. Und es war dieser Schmerz, der sein Herz zerfrass, der ihn dazu brachte den Mund zu öffnen. Aber er konnte keine Worte formen. Also schrie er seine Unschuld in die Welt.
Und erwachte, nach Atem ringend, aus seinen Alpträumen. Er presste die geballte Faust gegen seine Brust, als er sich keuchend nach vorne beugte. Sein Röcheln ging in ein heftiges Husten über, das ihm die Tränen in die Augen trieb und ihn beinahe wünschen liess, er schwelge immer noch in seinen dunklen Träumen, statt im wachen Zustand ersticken zu müssen.
Jemand strich ihm tröstend über den Rücken und hielt ihn fest, bis der krampfartige Husten endlich verebbte. Constance. Ihre Berührungen waren inzwischen schon vertraut, so oft hatte sie ihn inzwischen schon gehalten und versucht ihm irgendwie Linderung zu verschaffen. Er war dankbar, dass sie hier war und weil ihm die Worte fehlten, um ihr seine Gefühle auszudrücken, nahm er ihre Hand und drückte sie. Er wusste, dass sie ihn verstand.
„Leg dich wieder hin, Aramis“, befahl sie sanft und drückte ihn zurück in die Kissen. Er gehorchte, liess die Augen aber geöffnet. Die Bilder seine Träume hatten ihn zutiefst erschreckt. Seine Freunde, die ihn anklagten und ihm seine schlimmsten Charaktereigenschaften vorhielten, das war bitter gewesen, selbst in der Welt der Illusionen. Dennoch der erste Teil seines Traumes war Erinnerung gewesen, da war er sich sicher. Es waren Fetzen eines Gespräches gewesen, das er tatsächlich geführt hatte. Nur brachte er die einzelnen Teile immer noch nicht recht zusammen.
„Du musst was essen.“ Constance reichte ihm eine Schüssel, bis zum Rand gefüllt mit Suppe.
Sie duftete köstlich, aber Aramis verzog das Gesicht und machte keine Anstalten sie entgegen zu nehmen. „Ich habe keinen Hunger“, murrte er.
Constance seufzte. „Ich musste dich schon ausziehen. Ich werde dich bestimmt jetzt auch noch füttern.“
„Ich mag nichts essen.“
Ihr Gesicht wurde weicher. Sie stellte die Schüssel weg und legte ihre Hand auf Aramis‘ Wange. Unwillkürlich schmiegte er sich in ihre Handfläche. „Wir müssen dieses Fieber runterbringen. Ich schlage dir ein Geschäft vor: Du musst die Suppe nicht essen, aber dafür meinen berühmten Kräuteraufguss trinken. Einverstanden?“
Ihre gute Laune mochte nur gespielt sein, dennoch tat sie ihm gut. Also ging er auf ihren scherzhaften Ton ein. „Wenn er nur halb so ekelhaft ist, wie d’Artagnan ihn beschreibt, ist die Suppe vielleicht die bessere Variante.“
„Er redet also über mich?“ Sie sagte es beiläufig, während sie aufstand und ihm die Kissen zurechtrückte, als sei er ihr alter Opa. Doch er liess sich nicht davon täuschen. So krampfhaft sie und d’Artagnan es auch vermieden über ihre missglückte Liebesgeschichte zu sprechen, so klar war es auch, dass die beiden nicht voneinander loskamen.
Aramis umfasste ihr Handgelenk, um sie dazu zu bringen ihn anzusehen. „Constance, du musst eines wissen: Was auch immer zwischen euch geschehen ist, er liebt dich sehr.“
„Woher weisst du das? Hat er das gesagt?“, hakte sie hastig nach.
„Nein. Ich sehe es in seinen Augen, diesen Ausdruck, den ein Mann nur dann hat, wenn er die Frau, die er von ganzen Herzen liebt, nicht haben kann“, erklärte Aramis und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme bebte. Er dachte an Anna, die für ihn niemals Anna sein würde, sondern immer die Königin, immer unerreichbar, immer in der Ferne.
„Und woher kennst du diesen Blick?“
„Ich sehe ihn jeden Tag im Spiegel.“
Sie sahen sich an, verbunden in ihrem Schmerz über eine verlorene Liebe, aber vor allem verbunden in ihrem Schmerz über eine Liebe, die nie hatte richtig erblühen können. Dann straffte sie die Schultern. „Du solltest jetzt noch ein wenig schlafen, während ich deinen Tee koche und Wadenwickel vorbereite.“
Er seufzte schicksalsergeben. „Ich kann es kaum erwarten.“
„Du solltest dich geehrt fühlen. Nicht jeder kommt in den Genuss meiner Pflege“, lachte sie.
„Ich hoffe, deine Patienten haben bis jetzt alle überlebt.“
„Beschwert hat sich bis jetzt noch keiner.“ Sie zog fürsorglich die Decke über ihn und er schloss die Augen. Er war zu Tode erschöpft und glitt trotz seiner Ängste und seiner noch immer schmerzenden Brust schliesslich in einen gnädigen Schlaf, der frei war von Alpträumen und Schatten.
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Athos hatte kaum den Fuss aus seinem Quartier gesetzt, als sich eine Gestalt um seinen Hals hängte und ihn so stürmisch an sich drückte, dass es ihm die Luft abschnürte. Fieberhaft überlegte er, ob er sich in letzter Zeit vielleicht etwas zu intensiv mit irgendeiner Dame beschäftigt hatte, kam dann aber zu dem Schluss, dass er keine Liebeleien gehabt hatte, zumal sich die Person auch eine Spur zu kräftig in seinen Armen anfühlte und er schwören konnte, einen Bart zu fühlen, der sich gegen seine Wange presste.
„Constance geht es gut!“, jubilierte es dicht an seinem Ohr und Athos identifizierte die Klette als d’Artagnan. Er verzog das Gesicht. Sein Kopf schmerzte noch ziemlich von dem mehr als reichlich konsumierten Wein und d’Artagnans überdrehtes Getue half ihm nicht gerade und auch, dass er ihn an sich drückte wie seine lang verschollene Lieblingspuppe half nicht gerade.
„Aber mir geht es bald nicht mehr gut, wenn du mich weiterhin im Würgegriff hältst!“, ächzte Athos und zerrte ungeduldig an d’Artagnans Arm, der sich wie eine Schlinge um seinen Hals gelegt hatte.
„Oh. Entschuldigung.“ D’Artagnan liess ihn los. Er strahlte übers ganze Gesicht. Fröhlichkeit gehörte zu d’Artagnans Wesen, wie sein unstillbarer Durst nach Abenteuer und seine Verwegenheit, aber eigentlich war er morgens immer ein wenig grantig. Davon war jetzt nichts zu spüren. Er grinste, als hätte er sich mit Wein zugeschüttet.
as die Liebe alles mit dem Herz eines Mannes anzustellen vermochte. „Also hat sie Nachricht gegeben?“
D’Artagnan nickte. „Die vereinbarte Verschlüsselung. Sie ist in Sicherheit. Und Aramis natürlich auch“, fügte er hastig hinzu und errötete leicht, als ihm klar wurde, dass er nur an seine Liebste gedacht und seinen Freund zur Nebensächlichkeit degradiert hatte. Athos lächelte nachsichtig. D’Artagnan und Constance, das war ein Thema für sich.
„Weiss es Porthos schon?“ Eigentlich ein Wunder, dass Porthos sich ihm nicht auch gleich um den Hals geworfen hatte. Wenn er sich allerdings das Gewicht seines Freundes vor Augen führte, war er zutiefst dankbar.
„Ja, weiss er. Er ist aber gleich los. Wollte sich noch mit Floh treffen.“
Athos wollte gerade eine anzügliche Bemerkung über Porthos und Floh fallen lassen, da kam Tréville um die Ecke gebogen. Er sah mindestens so müde aus wie Athos sich fühlte und machte ein Gesicht, als habe der König gerade von ihm verlangt den Kardinal zu heiraten. Ohne Zeit mit einem Morgengruss zu verschwenden, knurrte er die beiden an: „In mein Arbeitszimmer. Jetzt. Lagebesprechung.“
Athos und d’Artagnan wechselten einen besorgten Blick. Das klang nicht gut. Das klang gar nicht gut. Nun, dachte Athos, als er Tréville schweigend folgte, es ist wohl einfach nicht unsere Woche.
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„Wir sollten aufhören uns hier zu treffen. Die Leute werde noch denken, wir würden irgendeine Verschwörung planen, wie zum Beispiel den Kardinal zu überfallen oder unschuldige Frauen zu verfolgen“, begrüsste Floh ihn, als er den Friedhof betrat. Sie lehnte, völlig respektlos, an einem verwitterten Grabstein und wirkte äusserst zufrieden mit sich selbst. Sie hatte also wohl tatsächlich etwas über Ellen herausgefunden.
„Hier stört uns niemand“, entgegnete Porthos, warf aber gleichzeitig einen Blick über die Schulter. Er hatte die geisteskranke Madame Lilith keineswegs vergessen. Ein wenig ärgerte es ihn, dass er sich von ihr dermassen hatte verrückt machen lassen. Jetzt in der Morgensonne und in der Gewissheit, dass Aramis in Sicherheit war, verstand er nicht mehr, wieso er auf ihre rätselhafte Prophezeiung eingegangen war. Sie hatte einfach Glück gehabt und richtig geraten.
Floh entging seine Unbehaglichkeit natürlich nicht. „Was ist? Hast du Angst, die Toten könnten aus ihren Gräbern steigen und uns für unsere Ungezogenheiten bestrafen? Das pflegen sie nur nachts zu tun.“
Er mochte es nicht, wenn sie so spöttisch überlegen tat, liess es aber sein, sie zurechtzuweisen. Stattdessen verschränkte er die Arme und sah sie herausfordernd an. „Deiner guten Laune entnehme ich, dass du wahrscheinlich eine wichtige Information für mich hast. Raus mit der Sprache!“
„Du könntest ruhig etwas freundlicher zu mir sein.“
Sie genoss es ihn zu reizen und hinzuhalten. Das hatte sie immer schon gemacht, ihn so lange getriezt, bis es aus ihn herausgebrochen war. Meistens hatte es damit geendet, dass er sie auf das Bett geworfen und sie sich leidenschaftlich geliebt hatten. Er erinnerte sich noch genau an ihre wilden, brennenden Küsse auf seiner Haut, an ihre Fingernägel, die sich über seinen Rücken zogen, als sei sie keine Frau, sondern eine Katze. Ein Teil von ihm, der Teil, der immer noch der Junge vom Hof der Wunder war, wollte sie immer noch und er musste sich davon abhalten, sie mit derselben Leidenschaft zu nehmen, die sie als Liebespaar ausgezeichnet hatte. Aber erstens war es wohl mehr als pietätlos es auf einem Friedhof zu tun und zweitens gehörte der wesentlich grössere Teil seines Herzens Adelina. Also beherrschte er sich.
„Floh. Bitte. Wir haben keine Zeit für deine Spielchen.“
Sie zog einen Schmollmund. „Schade. Aber wenn du darauf bestehst: Unsere kleine Mademoiselle Ellen ist verlobt.“
Porthos begriff nicht. „Ja. Mit Francis. Das wissen wir bereits.“
Über Flohs Gesicht glitt ein listiges Lächeln. „Alain de Crécey Nein. Sie ist immer noch verlobt. Mit einem reichen Gutsbesitzer namens. Er ist zwar mindestens doppelt so alt wie sie, aber ist märchenhaft reich. Er hat riesige Ländereien ausserhalb von Paris. Dort wohnt sie jetzt und in ein paar Monaten wird eine grosse Hochzeit gefeiert.“
In Porthos‘ Kopf fügte sich alles zusammen. Ellen, dieses kleine Luder, war mit zwei Männern gleichzeitig verlobt gewesen. Ihr Vater hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, sie sei bei ihrem Verlobten, sie war tatsächlich dort gewesen. Und deshalb waren die Eltern auch nicht zur Beerdigung erschienen, weil sie wahrscheinlich gar nicht gewusst hatten, in welcher Beziehung der verstorbene Musketier zu ihrer Tochter gestanden hatte.
„Wieso hat sie sich mit beiden Männern verlobt? Sie konnte ja schlecht beide heiraten!“
„Wahrscheinlich konnte sie sich nicht entscheiden. Soll sie den reichen aber steinalten Alain heiraten oder doch den gutaussehenden aber mittellosen Francis? Das arme Ding hatte wirklich eine schwere Wahl.“
Porthos Herz schwoll bereits zum zweiten Mal an diesem Tag vor Freude an. In seinem jähen, frohen Taumel ergriff er Flohs Hände. „Weisst du, was das bedeutet? Wir haben den Mord wahrscheinlich aufgeklärt! Francis muss dahinter gekommen sein, dass Ellen noch einen anderen Verlobten hatte und er hat ihr vielleicht gedroht, es auch Alain zu erzählen. Sie war wütend, weil er ihre Zukunft zerstören wollte. Auf dem Hinterhof wollte sie ihn bitten, es noch einmal zu überdenken. Sie stritten sich, sie zog das Messer und erstach ihn. Und weil Aramis alles gesehen hatte, schlug sie ihn nieder, um ihm dann den Mord anzuhängen.“
Ja, so musste es gewesen sein. So gab alles einen Sinn. Ihr von Anfang an feindseliges Verhalten, ihre Lügen, ihre heftigen Anschuldigungen gegen Aramis. Alles nur, um von sich selbst abzulenken. Das Einzige was nicht ins Bild passte, war Robert Dupont, aber was machte das schon. Vielleicht war dieser einfach vom Kardinal bestochen worden und es steckte gar nicht mehr dahinter.
Floh befreite ihre Hand aus der seinen. „Das musst du ihr erst alles beweisen, Porthos. Es ist gewiss nicht gerade edel, zwei Liebhaber gleichzeitig zu haben, aber es ist noch lange kein Beweis für ihre Schuld.“
Sie machte ja beinahe Athos Konkurrenz mit ihren pessimistischen Äusserungen. Und er war gar nicht in Stimmung für solche Feinheiten. Lässig winkte er ab. „Wir werden das Geständnis schon aus ihr rauskitzeln, keine Sorge. Danke, Floh. Das werde ich dir nie vergessen.“
„Stets zu Diensten.“
„Wenn ich einmal irgendwas für dich tun….“, begann Porthos, doch sie hob die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. Ihre Augen, sonst voller Kälte, die das Leben sie gelehrt hatte, hatten auf einmal einen warmen Schimmer und sie klang ehrlich, als sie sagte: „Porthos, du weisst, ich würde noch weit mehr für dich tun, als einer dummen Frau zu folgen und ein paar Bedienstete auszuquetschen. Aber das heisst natürlich nicht, dass ich auf meine Bezahlung verzichten werde!“
Porthos lachte. „Du kleine, geldgierige Gaunerin!“, zog er sie auf und konnte trotz aller guten Vorsätze nicht widerstehen, sie um die Hüfte zu fassen und näher an sich zu ziehen.
Sie öffnete den Mund, aber Porthos sollte nie erfahren, welche Keckheit sie ihn an den Kopf werfen wollten. Denn in diesen Moment hallte ein Schrei aus der Kirche, ein grauenhafter, spitzer Schrei, der durch Mark und Bein drang. Abrupt liess er Floh los, riss den Degen aus der Scheide und stürmte in die Kirche, Floh dicht auf den Fersen.
Als er die schweren Flügeltüren aufstiess, sah er Madame Lilith, die ihre Hand vor dem Mund geschlagen hatte und nach oben starrte. Und dort, von der Empore herunter, baumelte, mit weit aufgerissenen, glasigen Augen und einer Schlinge um den Hals, der Verräter Robert Dupont.
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Kapitel Was wahr ist und was wahr scheint
Kapitel 14
Was wahr ist und wahr scheint
Behutsam löste Porthos das Seil und fing den toten Körper in seinen Armen auf. Er hatte Dupont von dem Moment an gehasst, als er Aramis so feige verraten hatte, dennoch bettete er ihn mit grosser Umsicht auf den kalten Steinboden und schloss die blicklos starrenden Augen. So wirkten Roberts Züge friedlich, beinahe, als würde er nur schlafen und nicht, als habe er sich gerade selbst erhängt. Selbstmord war eine fürchterliche Sünde, aber Porthos fühlte nur Mitleid für diesen Mann, dessen Verzweiflung gross genug gewesen war, dass er sein Schicksal nicht mehr hatte ertragen wollen.
„Die Geister haben sich ihn geholt!“ Madame Liliths Stimme war ein hysterisches Kreischen, das fürchterlich in der leeren Kirchen widerhallte. Sie klammerte sich mit vor Entsetzen geweiteten Augen an Floh, die ein Gesicht machte, als sei die Wahrsagerin kein Mensch, sondern ein äusserst hässlicher und anhänglicher Hund.
Bevor Porthos eine unwirsche Antwort geben konnte, erklang eine samtene Stimme direkt hinter ihnen. „Aber, aber meine liebe Madame Lilith! Wir wollen doch nicht schon wieder von Geistern sprechen und schon gar nicht auf dem geweihten Boden einer Kirche!“
Alle drei wirbelten herum. Aus der Sakristei war ein Mann getreten, der Soutane nach zu schliessen handelte es sich um den Priester. Er kam mit federnden Schritten auf sie zu, wurde aber deutlich langsamer, als er den am Boden liegenden Mann erkannte. „Robert!“, hauchte er und kniete sich, mit sichtlicher Fassungslosigkeit, neben die Leiche.
Porthos musterte den Priester argwöhnisch. Es war ein hübscher Mann, wahrscheinlich in seinen frühen Dreissigern. Der dunkle Bart zeigte schon einige silberne Strähnen, was ihm aber ausnehmend gut kleidete. Sein Haar war ebenso dunkel und er trug es überraschend lang, bis zum Kragen. Es verlieh ihm etwas Wildes, Unberechenbares, das so gar nicht zu seinem Priestergewand passen wollte. Seine Züge waren durchaus schön zu nennen, auch wenn sie etwas Spitzes an sich hatten, wie bei einem Fuchs, und zusammen mit seinen schwarzen Augen, gab das ein durchaus angenehmes Gesicht, dass Porthos aus irgendeinem Grund wage bekannt vorkam.
Dennoch wich er unwillkürlich einen Schritt zurück. Jeder der vier Musketiere hatte eine ganz eigene Gabe, auf die er zurückgreifen konnte. Bei d’Artagnan war es sein verwegener Scharfsinn, bei Athos sein entschlossener, oft verzweifelter Mut und bei Aramis sein unwiderstehlicher Charme. Und bei ihm selbst war es sein Instinkt. Porthos war aufgewachsen an einem Ort, an dem Vertrauen in die falschen Leute tödlich sein konnte und deshalb verspürte er manchmal eine instinktive Abneigung gegen manche Menschen, die er sich selbst nicht so recht erklären konnte. Aber genau dieser Instinkt, hatte ihm schon oft den Hintern gerettet.
Bei dem Priester schlug genau dieser siebte Sinn aus.
Madame Lilith schien seine Abneigung zu teilen. Sie riss sich mit einem Ruck von Floh los und trat einen drohenden Schritt auf den Priester zu. „Diese Kirche ist verflucht, seitdem Ihr einen Fuss reingesetzt habt, Pater Jacques! Die Geister folgen Eurem dunklen Pfad und jetzt haben sie diesen unschuldigen Mann getötet!“
„Ich habe Euch schon einmal gesagt: Hört mit diesem unseligen Gerede aus! In der Kirche ist kein Platz für Euren heidnischen Glauben!“, zischte der Priester, der jetzt keineswegs mehr charmant wirkte, sondern eher wie eine Schlange kurz vor dem Angriff.
„Heidnisch? Ihr schimpft mich eine Heidin? Was seid denn Ihr? Teufelsgezücht! Höllenbrut!“ Bei jeder Beleidigung kam Madame Lilith einen Schritt näher. Ihre dürren Hände waren so verkrampft, dass es beinahe aussah als habe sie Krallen und ihr Blick war wild, geradezu irr. In der Befürchtung, sie wolle den Priester gleich an Ort und Stelle das Gesicht zerkratzen, streckte Porthos den Arm aus und hielt sie zurück. „Ich unterbreche diesen reizenden, religiösen Disput nur ungern, aber wenn ich die Anwesenden daran erinnern darf: Hier liegt ein Toter!“
Pater Jacques riss sich zusammen. „Verzeiht. Ich habe mich hinreissen lassen.“ Er warf Madame Lilith einen bitterbösen Blick zu, bevor er das Kreuzzeichen über dem Toten schlug und ein leises Gebet murmelte.
Madame Lilith stemmte sich gegen Porthos‘ Arm und für eine so zierliche Person hatte sie erstaunlich viel Kraft. „Die Geister! Sie sind überall und in der Nacht kommen sie aus ihren Löchern und greifen sich die unschuldigen Seelen!“
Dieses Gerede von Geistern riss an Porthos‘ ohnehin schon mehr als angespannten Nerven. „Floh, schaff sie bitte raus!“, befahl er. Die Diebin schien ohnehin froh zu sein, dem unheimlichen Schauplatz verlassen können. Sie schnappte Madame Liliths Arm und zerrte sie ohne grosses Federlesens aus der Kirche. Das Gezeter der Wahrsagerin war allerdings selbst durch die geschlossene Flügeltüre noch zu hören.
„Ihr kanntet den Mann?“, wandte sich Porthos an Jacques, der noch immer neben dem Toten kniete.
„Ja. Robert Dupont war eines meiner Schäfchen. Er hat oft bei mir gebeichtet“, seine Stimme brach, „oh, es ist meine Schuld!“ Er ergriff Roberts Hand und drückte sie an sein Herz, eine Geste, die rührend hätte sein wollen, Porthos jedoch eine Spur zu künstlich war.
„Und wieso ist es Eure Schuld? Habt Ihr ihn von der Empore gestossen oder was?“ Seine Stimme klang ärgerlicher, als gewollt. Robert Dupont hatte irgendetwas gewusst, irgendetwas, dass Aramis hätte vor der Verurteilung retten können. Und irgendwie hätte Porthos die Wahrheit schon aus ihm rausgeprügelt. Jetzt lag genau dieser Mann tot vor ihm und hatte sein Geheimnis mit in sein Grab genommen; hatte sich davongestohlen wie ein Feigling.
„Nein, natürlich nicht. Aber er hat sich schon lange mit dem Gedanken getragen, diese furchtbare Sünde zu begehen. Er hat es mir gebeichtet, dass er immer daran denken müsse. Aber ich dachte, es sei mir gelungen ihm auszureden, ihm klar zu machen, dass dies der falsche Weg ist.“ Jacques faltete Roberts Hände über seiner Brust, bevor er sich schliesslich erhob.
„Wieso? Wieso sollte ein Mann, ein tiefgläubiger Mann zudem, sich das Leben zu nehmen?“, fragte Porthos. Er verstand es nicht. Das Leben war es wert, das man darum kämpfte. Wie konnte es jemand einfach wegwerfen wie eine nutzlos gewordene Puppe?
Jacques zögerte. „Robert wollte Priester werden aber… nun ja, er hatte…nun, er hatte Neigungen, die nicht den Werten unseres Herren entsprechen.“
Seine salbungsvolle Sprechweise fing Porthos an auf die Nerven zu gehen. Er hatte es bedeutend lieber, wenn seine Gesprächspartner klar und deutlich sagten, was sie wollten, ohne dass man irgendwelche Orakelsprüche enträtseln musste. Diese Andeutung glaubte Porthos jedoch zu verstehen. Er kannte den mehr als skurrilen Wirt der „Fröhlichen Gans“ und er ahnte, was Roberts sündige Neigungen waren. Ein Priester, der Männer liebte. Das konnte in der Tat ein gefährliches Geheimnis sein.
„Und Ihr denkt, deshalb hat er sich umgebracht?“
„Ich fürchte es, ja. Auch wenn ich mir wünschte, dass es anders wäre. Denn wenn er es getan hat, leidet er nun in der Hölle.“
Porthos verzog unwillig den Mund. Nein, er mochte diesen Priester wirklich nicht. Er war ihm eine Spur zu fromm, zu glatt, zu freundlich. Und auf einmal glaubte Porthos es nicht mehr auszuhalten in der düsteren Kirche, mit diesem unsympathischen Mann und der Leiche zu seinen Füssen. „Ich werde den Leichenbeschauer schicken, damit er die Leiche so schnell wie möglich abholt. Bringt ihn an einen würdigeren Ort.“
Der Priester schob erstaunt die Augenbrauen zusammen. „Wieso soll der Leichenbeschauer ihn abholen?“ Seine Stimme war merklich schärfer geworden.
„Weil ich wissen will, ob es wirklich Selbsttötung war“, erwiderte Porthos energisch.
Sofort wurden die Gesichtszüge des Priesters wieder weicher. „Natürlich“, sagte er mit lammfrommen Augenaufschlag. Porthos verabschiedete sich mit einem kurzen Tippen an seinen Hutrand und verliess die Kirche dann mit schnellen, grossen Schritten. Als er in das Sonnenlicht trat, fühlte er sich gleich besser. Ohne einen Toten zu seinen Füssen fühlte er sich wesentlich besser.
Zumindest bis sich Madame Lilith sich ihm förmlich an den Hals schmiss. „Ihr müsst diesen Teufel einsperren! Ihn zurück in seine Hölle schicken!“ Porthos zuckte zusammen. Ihre schrille Stimme war sonst schon schwer zu ertragen, aber wenn sie ihm so direkt ins Ohr kreischte, war es, als wolle sein Gehirn zerplatzen.
Ärgerlich schob er sie von sich. „Madame, das ist kein Teufel, sondern ein Priester. Auch wenn ich zugeben muss, dass der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen manchmal gering ist.“
Madame Lilith hielt seine Schultern noch immer mit ihren Klauenhänden umfasst. „Glaubt mir, er ist ein Mörder! Ein Dämon in Menschengestalt“, beschwor sie ihn und ging dazu über ihn leicht zu schütteln. Porthos packte mit einem gequälten Blick Richtung Floh, welche die Szene grinsend beobachtete, Madame Liliths Hände.
„Beruhigt Euch doch! Was auch immer hier geschehen ist, seid versichert, wir werden es rausfinden.“ Auch wenn ich bezweifle, dass da ein Dämon im Spiel gewesen ist, ergänzte er in Gedanken. Aber wenn Roberts Selbstmord nichts mit Francis Tod zu tun hatte, würde er einen Besen mitsamt Stil verschlingen.
Seine Worte schienen Madame Lilith zu beruhigen. „Ihr wollt den Kampf gegen diesen Dämon aufnehmen?“
Porthos konnte sich gerade noch davon abhalten, den Kopf gegen die Kirchenmauer zu schlagen. Schon wieder dieses Gefasel von Dämonen! Mit dieser verrückten Alten liess sich einfach nicht vernünftig reden. „Wenn Ihr es so sehen wollt, ja.“
Madame Lilith nestelte nervös an ihrem Schal. „Gut, gut.. Und ich werde die Geister des Schicksals befragen, um ebenfalls meinen Teil im Kampf gegen das Böse beizutragen“, versprach sie mit strahlender Miene. Floh nickte bestätigend. „Und am besten befragt Ihr die Geister in Eurem Heim, Madame Lilith. Hier ist es vielleicht zu laut, um sie zu hören“, schlug Floh vor und in ihrer Stimme war nicht die geringste Spur von Spott zu hören.
„Da habt Ihr Recht, meine Gute“, Madame Lilith tätschelte Flohs Arm, bevor sie sich endlich anschickte, zu gehen. Porthos unterdrückte einen erleichterten Seufzer. Diese Frau am frühen Morgen auf so gut wie nüchternen Magen, war einfach zu viel für ihn.
Plötzlich drehte sich die Wahrsagerin noch einmal um. Ihr Blick richtete sich eindringlich auf Porthos und auf einmal wirkte sie nicht mehr hysterisch, sondern klar und gefasst. „Ihr solltet Euren Freund so schnell wie möglich aufsuchen. Ihr wisst schon, der welcher sich im Verborgenen halten muss. Er ist an der Grenze zwischen Tod und Leben.“ Und damit verschwand sie in der Menschenmenge.
Es war, als falle ein schwerer Stein in Porthos‘ Magen. Aramis. Woher wusste sie nur, dass er sich verstecken musste? Das konnte sie doch gar nicht wissen! Und wenn sie das weiss, dachte Porthos mit fiebrig klopfendem Herzen, dann hat sie vielleicht auch Recht mit seiner Krankheit. Sie hat mich schon einmal gewarnt! Es ging ihm schon während der Verhandlung schlecht. Was wenn er…wenn er….
Floh legte ihm eine federleichte Hand auf den Arm. „Porthos! Komm zu dir! Du zitterst ja wie Espenlaub!“
„Aramis! Ich muss zu ihm, es geht im schlecht, er braucht mich jetzt!“, stiess Porthos hervor und er wusste, er klang genauso wirr wie Madame Lilith. Aber er konnte keine klaren Worte denken, er sah nur das blasse Gesicht Aramis‘, die fiebrig geröteten Wangen und seine zitternden Hände. Mit einer jähen, schrecklichen Gewissheit wusste er, dass Madame Lilith die Wahrheit sprach. Sein bester Freund war schwer erkrankt.
Floh nahm sein Gesicht in ihre kühlen Hände. „Porthos, hör mir zu: Niemand kann ihn die Zukunft sehen. Diese Frau ist verrückt, völlig von Sinnen. Sie kann gar nicht wissen, wie es Aramis geht.“
„Aber…sie weiss, dass er auf der Flucht ist…“
Sie verdrehte die Augen. „Sei doch kein Schaf! Sie wird aufgeschnappt haben, dass ein Musketier entflohen ist und sich gedacht haben, dass du ihn kennst. Und es ist nun wahrlich nichts Neues, dass manche im Kerker krank werden. Diese Schwindlerinnen haben ihre Ohren überall und reimen sich dann irgendwelche Geschichten zusammen. Und manchmal landen sie eben einen Glückstreffer! Da ist kein Grund sich verrückt zu machen.“
Floh hatte Recht, sie hatte vollkommen Recht. Die Vernunft sagte ihm, dass sie Recht haben musste. Aber sein Herz sprach etwas anderes. Aramis brauchte ihn. Das spürte er mit einer Sicherheit, die wehtat. „Ich muss zu ihm“, beharrte Porthos, „ich sollte schon bei ihm sein. Ich wusste, dass er krank ist und trotzdem habe ich ihn allein gelassen und…“
„Du hast ihn nicht allein gelassen“, unterbrach Floh ihn ungehalten, „er ist bei Constance. Und es hat einen Grund, warum du nicht zu ihm gehen solltest. Wir wissen nicht, ob der Kardinal vielleicht Spione auf dich angesetzt hat. Was wenn sie dir folgen und du sie direkt zu Aramis führst? Diesmal würde der Kardinal keine Zeit verlieren und ihm noch vom Krankenbett aufs Schafott zerren! Und dich gleich mit! Ich beschwöre dich, Porthos: Mach jetzt keine Dummheiten!“
Langsam beruhigte sich Porthos‘ Herzschlag. Floh sprach vernünftig. Das war sie immer schon gewesen. Wagemutig genug, um Seite an Seite mit ihm zu kämpfen, aber klug genug, um zu wissen, wann es Zeit zum Flüchten war. Sie war immer die bessere Strategin gewesen als er, der nur mit seinem Herzen dachte und auch danach handelte.
Er fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Locken. „Verzeih. Ich bin manchmal ein Dummkopf. Ich mache mir einfach nur solche Sorgen um ihn.“
Sie strich ihm tröstend über die Wange. „Du hast Angst. Und Angst ist der schlechteste aller Ratgeber, Porthos. Wobei, es gibt noch einen schlechteren.“
„Und der wäre?“
„Durchgeknallte Wahrsagerinnen.“
Porthos konnte nicht anders, als zu lächeln. Floh verstand es immer, ihn aufzumuntern. Und dennoch, dachte er, irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich nicht da bin, wo ich sein sollte.
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Er war mit seinen Freunden auf einer Waldlichtung. Die Stimmung war ausgelassen, der Wein floss in Strömen, selbst Athos lachte aus ganzen Herzen. Porthos sass neben ihm und hatte den Arm um seine Schultern gelegt. „Alles ist gut“, flüsterte er ihm ins Ohr, „alles ist gut, Aramis!“ Und er glaubte ihm. Zum ersten Mal seit Tagen war er richtig glücklich.
Constance und d’Artagnan tanzten eng umschlungen, als gebe es keinen eifersüchtigen Ehemann, keine gesellschaftlichen Regeln, kein Hindernis mehr. Nur noch ihre Liebe. Constance löste sich anmutig aus d’Artagnans Armen und drehte sich, drehte sich so schnell, dass ihr Rock sich aufblähte und ihre Locken im Wind tanzten.
Auf einmal hörte Aramis ein Geräusch und zu seinem Entsetzen sah er Wildschweine, die sich aus dem Geäst schälten. Ihre glühenden Augen richteten sich begehrlich auf Constance, welche so in ihre Gedanken versunken war, dass sie die geifernden Viecher nicht bemerkte.
„Constance, pass auf!“, schrie er, doch sie hörte nicht auf ihn. Und auf einmal wurde die sonnenbeschienene Waldlichtung zu einer dunklen Gasse, seine Freunde verschwanden und er war alleine mit Constance und den Wildschweinen. Hilflos musste er mitansehen, wie sich die Hauer eines riesigen Wildschweines in ihren Rücken bohrten. Sie formte mit ihrem Mund ein erstauntes ‚O‘ bevor sie blutüberströmt zu Boden sank.
„Constance!“ Blind vor Tränen stolperte er auf sie zu, sank neben ihr auf die Knie und drehte sie um. Aber es war nicht mehr Constance, die in seinen Armen lag, sondern Anna, die ihn mit leeren Augen anblickte. Und nicht ihr Rücken war verletzt, das Blut rann ihren Schenkeln entlang, eine nicht enden wollender roter Strom. Ihm drehte sich der Magen um. Das Kind, sie verlor das Kind, den Erben des Königreichs…sein Kind!
Ihre schönen Lippen öffneten sich. „Aramis“, hauchte sie, „Aramis, du musst es Porthos sagen!“
Und dann wandelten sich Annas Züge. Francis sah ihn an, mit Augen, aus denen langsam das Leben wich. Die kalte Hand tastete nach seiner. „Porthos…“, sagte er mit ersterbender Stimme.
„Porthos!“
„Aramis! Aramis, wach auf! Um Himmels willen, wach auf!“
Er schlug die Augen auf. Constance hatte ihn fest bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn so heftig, dass ein gequältes Keuchen seiner Lunge entwich. Sofort liess sie ihn los und griff stattdessen nach der Tasse, die sie neben das Bett gestellt hatte. Unwillig verzog er den Mund. Sie weckte ihn immer wieder, um ihm das grässliche Zeug einzuflössen und auch wenn er dadurch seinen immer wilder werdenden Träumen entkam, fiel es ihm zunehmend schwer, den bitteren Tee zu schlucken.
Constance war jedoch unnachgiebig. Sie blieb auf der Bettkante sitzen und beobachtete mit Argusaugen, wie er die Tasse an seine Lippen führte. Als sie sah, wie seine Hand zitterte, umschloss sie wortlos seine Finger mit den ihren, während ihre andere Hand seinen Kopf stützte. Er schämte sich, dass er ihre Hilfe in Anspruch nehmen musste, aber er fühlte sich durch das Fieber und die Alpträume geschwächt. Er schaffte einige Schlucke, bevor er den Kopf zurück in die Kissen sinken liess. „Danke“, murmelte er.
Sie stellte die Tasse weg. „Du hast furchtbar geschrien.“
„Ich hab nur geträumt“, erwiderte er ausweichend. Er wollte nicht darüber reden und sie drang auch nicht weiter in ihn. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie heiss ihm immer noch war. „Mir ist heiss“, stöhnte er, „wieso ist es hier so heiss?“
„Das ist das Fieber“, erklärte sie ihm geduldig, als sei er ein nörgeliges Kind.
Stimmt, er hatte ja Fieber. Das erklärte, warum sich sein Körper anfühlte, als würde er brennen. Und warum er sich so schlapp fühlte, wie ein ausgewrungener Waschlappen. Wieso habe ich Fieber, überlegte er, während Constance seine Bettdecke hob und mit flinken Fingern, seine Wadenwickel erneuerte. Dann kam es ihm wieder in Sinn. Der Kerker, die Verhandlung, seine schmerzende Lunge, die Flucht, das Wildschwein.
„Was wohl aus ihm geworden ist“, überlegte Aramis laut.
„Aus wem geworden ist?“
„Aus dem Wildschein. Ob es jetzt tot ist?“ Das arme Tier. Ermordet. Erstochen. Ach ja, deswegen war er doch im Gefängnis gelandet. Weil Richelieu behauptet hatte, er habe das Wildschwein erstochen und es war sein Lieblingswildschwein gewesen. Nein, das war Blödsinn. Irgendjemand anders war erstochen worden.
Constance schnaubte. „Mein Mitleid mit dem Vieh hält sich ehrlich gesagt in Grenzen.“
Aramis wollte etwas erwidern, aber ein neuer Hustenanfall liess ihn sich aufbäumen. Er keuchte, hustete, rang nach Luft, während er seine Hand auf die schmerzende Brust presste. Gott, er fühlte sich, als sei er ein alter Mann. Constance wartete bis der Husten verebbt war, dann half sie ihm sich wieder hinzulegen.
Da kam es ihn in den Sinn. „Er ist tot.“
Sie strich ihm fürsorglich die schweissverklebten Locken aus der Stirn. „Wer ist tot.“
„Francis.“
Erschüttertes Schweigen folgte. Ohne ein Wort tauchte Constance einen weiteren Lappen in die Wasserschüssel und begann, sein Gesicht zu waschen. Das kühle Nass fühlte sich himmlisch an und er schloss mit einem erleichterten Seufzen die Augen. Constance war ein nettes Mädchen, schade, dass sie eine mörderische Agentin des Kardinals war. Nein, das war anders gewesen, das war nicht Constance gewesen, sondern eine andere Frau, eine gefährliche Frau mit grünen Katzenaugen. Frauen mit grünen Augen waren sowieso gefährlich.
„Aramis?“
„Hm?“
„Ich denke, ich werde einen Arzt rufen müssen. Dein Husten klingt schlimm und dein Fieber steigt. Du brennst förmlich.“ Constances Stimme klang ruhig und entschlossen, aber Aramis riss erschrocken die Augen auf und griff hastig ihre Hand.
„Bitte nicht“, flehte er und ärgerte sich, wie schwach und kindlich er sich anhörte, „bitte, ruf keinen Arzt!“
Sie drückte seine Hand. „Sei doch vernünftig, Aramis. Du glühst inzwischen so, dass ich Eier auf dir braten könnte.“
Aber Aramis schüttelte den Kopf. Er wollte keinen Arzt und er hatte gute Gründe dafür. Als Athos einmal schlimm angeschossen worden war, hatten sie ihm den Händen eines Arztes anvertraut und es hatte ihnen beinahe Athos‘ Leben gekostet. Der Quacksalber hatte Athos so oft zur Ader gelassen, dass dieser fast blutleer gewesen war, als Aramis endlich den Arzt mit einen Tritt zur Tür hinaus befördert hatte, um Athos selbst zu pflegen. Das Bild des totenbleichen, nur noch schwach atmenden Athos, verfolgte ihn noch immer in seinen Träumen.
„Bitte nicht“, wiederholte er leise.
„Du braucht einen Arzt. Du bist fiebrig und verwirrt.“
„Ich bin nicht verwirrt“, widersprach er trotzig. Mit einem begütigenden Lächeln legte sie seine Hand zurück in seinen Schoss und legte ihm ein kühlendes Tuch auf seine Stirn.
„Du bringst schon einiges durcheinander. Und deine Fieberträume werden auch immer heftiger.“
„Da kann mir der Arzt auch nicht helfen.“
„Und abgesehen davon verwandelst du dich immer mehr in ein kleines Kind. Hör auf mit mir zu streiten, Aramis. Deine Freunde haben dich mir anvertraut und ich würde ihnen ungern mitteilen, dass du mir unter den Händen weggestorben bist, nur weil du zu stur warst, um einen Arzt an dich ranzulassen!“
Ihre Stimme war keineswegs mehr sanft, sondern hatte einen stählernen Klang. Ihre braunen Augen blitzen und als er Anstalten machte, sich aufzurichten, um zumindest den letzten kläglichen Rest seiner Würde wiederzuerlangen, legte sie die Hände unerbittlich auf seine Schultern und drückte ihn zurück auf das Bett. „Schlaf jetzt!“
„Du kommandierst schlimmer als Tréville!“
„Und du bist ein noch schlechterer Patient als d’Artagnan!“
Er hätte ihr gerne widersprochen, aber die Erschöpfung brach in Wellen über ihm zusammen. Widerstandslos sank er in den Schlaf. Nur noch ganz entfernt spürte er wie Constance fürsorglich die Decke über ihn zog und ihm über die schweissnassen Haare strich, als sei er ein krankes Kind und kein erwachsener Musketier.
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„Der Kardinal wurde überfallen? In der Bibliothek?“ d’Artagnan mochte es kaum glauben, was Tréville ihnen da erzählt hatte. Die Geschichte kam ihm abenteuerlich, ja gar bizarr vor. Auch wenn die Vorstellung eines sich am Boden wälzenden Kardinals durchaus seine Reize hatte.
Tréville stützte sich schwer auf seinem Schreibtisch, immer ein Zeichen dafür, dass ihm etwas quer im Magen lag. Das Sonnenlicht, das in schrägen Strahlen durch das Fenster fiel, enthüllte die Sorgenfalten auf seinem Gesicht. Die letzten Tage hatten auch ihre Spuren an dem unverwüstlichen Captain hinterlassen. „Es war eine Frau. Mehr kann ich zu dem Angreifer nicht sagen. Sie ist uns entwischt.“ Man sah ihm an, wie sehr ihn das grämte.
„Eine Frau?“, wiederholte d’Artagnan verblüfft.
Tréville wirkte mit einem Mal genervt. „d’Artagnan, du brauchst nicht alles zu wiederholen, was ich sage. Das macht die ganze Sache nicht unbedingt besser.“
Athos war d’Artagnans Retter aus der Not. „Ihr sagtet, der Kardinal habe einen Brief von Francis bekommen. Wie konnte die Angreiferin davon wissen? Beziehungsweise: Wie konnte sie wissen, was in dem Brief stand?“
Die Frage schien den Captain allerdings noch mehr zu reizen. „Wenn ich das wüsste, wäre ich jetzt wohl kaum hier, sondern gerade dabei die Angreiferin in Ketten zu legen! Alles was ich weiss ist, dass diese Zofe Marie, Francis‘ Nichte, den Brief zum Kardinal gebracht hat. Angeblich ohne ihn zu öffnen.“
Der Name Marie berührte etwas in d’Artagnans Gedächtnis. Irgendwo hatte er ihn in den letzten Tagen aufgeschnappt. Allerdings war Marie nicht gerade ein seltener Name. Nun, es würde ihm schon wieder einfallen, wenn es wichtig gewesen war.
„Immerhin schränkt das den Kreis enorm an. Wir wissen, dass eine Frau involviert ist, die sich frei am Hof bewegen kann.“ Athos zog wie üblich schnell seine Schlüsse.
„Du denkst, es sind mehrere?“, fragte d’Artagnan und vor seinem geistigen Auge tauchten gleich mehrere in dunkle Mäntel gehüllte Frauengestalten auf, die sich in den Ecken des Palastes rumdrückten.
„Ich denke“, sagte Athos langsam, als müsse er jedes Wort einzeln abwägen, „dass die Sache grösser ist, als wir angenommen haben. Geheimnisvolle Botschaften, die hinterlegt werden, ein Palastbewohner, der seine Finger im Spiel hat…Das klingt sogar nicht nach einem einfachen Mord aus Leidenschaft.“
„Der Kardinal und ich sind zum selben Schluss gekommen. Francis hatte ein schwerwiegendes Geheimnis, das ihn am Ende, das Leben gekostet hat. Wir müssen nur noch rausfinden, was für ein Geheimnis das gewesen ist.“ Es klang seltsam, wenn Tréville die Wendung der Kardinal und ich gebrauchte. Aber gemeinsam gegen eine Frau den Kürzeren zu ziehen, schweisste offenbar zusammen.
„Also schliessen wir Ellen aus dem Kreis der Verdächtigen aus?“, erkundigte sich d’Artagnan und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme enttäuscht klang. Diese Frau hatte mit ihren Lügen so viel angerichtet, dass er sie nur zu gerne als Mörderin entlarvt hätte.
Athos saugte nachdenklich an seiner Unterlippe, was ihn für einen Moment aussehen liess wie eine traurige Kuh. „Nein, ich würde sie noch nicht als Täterin ausschliessen. Sie lügt. Das würde sie nicht tun, wenn sie nichts zu verbergen hätte.“
Wie aufs Stichwort polterte Porthos in den Raum hinein. Das war ungewöhnlich. Niemand wagte es, ohne sich anzumelden oder gar ohne zu klopfen, Trévilles heilige Hallen zu betreten. Der Captain öffnete auch schon den Mund zu einer strengen Ermahnung, doch die blieb ihm im Halse stecken, als er sah, wie bleich der Musketier war. „Porthos! Ist etwas geschehen?“
Athos ergriff mit einem besorgten Blick Porthos‘ Ellbogen und führte ihn zu einem Stuhl. „Setz dich“, befahl er, „du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenbrechen!“
Porthos winkte die besorgten Avancen seiner Freunde ab, nahm den Becher Wasser, den d’Artagnan ihm reichte mit einem dankbaren Lächeln an. „Robert Dupont ist tot“, sagte er schliesslich, nachdem er einen kräftigen Schluck getrunken hatte.
Langsam schwindelte es d’Artagnan von dem Tempo, mit dem sich die Ereignisse überschlagen. Nächtliche Überfälle in der königlichen Bibliothek, Tréville und der Kardinal ein Herz und eine Seele, Aramis und Constance gemeinsam im Exil und jetzt noch ein Toter. „Ja, hört das denn gar nicht mehr auf?“, entfuhr es ihm, bereute es aber gleich. Das war wohl kaum die angemessene Art auf eine Todesnachricht zu reagieren.
Athos verschwendete allerdings auch keine Zeit mit Beileidsbekundungen. „Ermordet?“, fragte er nur.
„Ich habe ihn gefunden. Baumelte an einem Seil von der Empore der Kirche Sankt Martin.“ Porthos‘ Stimme klang rau, ein Zeichen dafür, wie nah ihm das alles ging. Porthos hatte ein gutmütiges Herz, obwohl seine riesige Gestalt viele glauben liessen er sei grob und roh. D’Artagnan berührte tröstend seine Hand und Porthos rang sich ein Lächeln für ihn ab. Wohl zum tausendsten Mal wünschte d’Artagnan, Aramis wäre hier. Er hätte irgendeinen blöden, unpassenden Witz gerissen um Porthos zum Lachen zu bringen und es wäre ihm zweifellos gelungen.
„Denkst du, er hat sich selbst gerichtet?“ Noch immer klang Athos kühl und zurückhaltend, als würden sie gerade über die neueste Garderobe des Königs plaudern. Seine Hand lag jedoch noch immer fest auf Porthos‘ Schulter. Manchmal konnte seine Gefühlskälte einem rasend machen, doch wenn man ihn wirklich brauchte, war er da, eine stille und tröstende Präsenz im Hintergrund.
„Der Priester meint, er habe schon lange mit dem Gedanken gespielt. Hat angeblich in der Beichte darüber gesprochen.“
Der Zweifel in seiner Stimme war für alle deutlich zu hören. „Aber das glaubst du nicht?“, erkundigte sich d’Artagnan.
„Ich weiss nicht…wenn Robert so gläubig war und sogar Priester werden wollte, wieso sollte er dann so eine Todsünde begehen, wie sich selbst umzubringen? Das macht doch keinen Sinn. Und dieser Pfaffe! Also irgendwie ist der…seltsam.“ Porthos hob ratlos die Schultern.
„Irgendjemand hat Robert unter Druck gesetzt, so dass dieser seine Aussage geändert hat. Aber jeder Trottel konnte sehen, dass ihm unwohl dabei war. Vielleicht hatte derjenige, der ihn bedroht hat, Angst, dass er ihn verrät. Und hat ihn schliesslich gleich selbst kaltgemacht!“
D’Artagnan war ziemlich stolz auf seine Theorie, aber Tréville sah ihn mit einem so ungläubigen Gesichtsausdruck an, dass er schon glaubte, sich gleich wieder einen Vortrag über seine blühende Fantasie anzuhören. Wider Erwarten nickte der Hauptmann und belohnte ihn mit einem Lächeln. „d’Artagnan, manchmal denke ich, du bist ein verkanntes Genie! Genau so, könnte es gewesen sein!“
Athos, der alte Miesmacher, war jedoch nicht so beeindruckt. „Meine Herren, wir verwenden entschieden zu oft die Worte könnte, hätte und vielleicht. Wir brauchen endlich Gewissheit!“
„Du hast Recht, Athos“, seufzte Tréville, „mir sind da inzwischen zu viele Figuren auf dem Spielbrett: Aramis, Francis, der Kardinal, die geheimnisvolle Unbekannte, Robert Dupont, Ellen, Marie…alle scheinen miteinander verwoben zu sein. Wir müssen versuchen zumindest eine Seite des Netzes aufzutrennen.“
„Ich bin dafür, dass wir Ellen endlich richtig in die Mangel nehmen. Sie muss uns sagen, was sie weiss“, sagte Athos in diesem entschiedenen Tonfall, der klar machte, dass er es sich gewohnt war, dass man seinen Befehlen Folge leistete.
„Oh“, sagte Porthos da plötzlich, „das hätte ich vor lauter Toten beinahe vergessen: Ich habe ganz nebenbei Ellens süsses Geheimnis entdeckt…“
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Kapitel "Wir können doch über alles reden!"
Kapitel 15
„Wir können doch über alles reden!“
„Wieso verlobt man sich mit zwei Männern?“, fragte d’Artagnan, der immer noch wie betäubt wirkte, von all den Enthüllungen, die in den letzten paar Stunden gemacht worden waren. Athos selbst hatte sich noch nicht ganz erholt. Wenn das alles hier ausgestanden war, würde er sich von Tréville ein paar freie Tage erbeten. Er wurde langsam zu alt für diese Intrigen und ihre kleine Gemeinschaft schien ständig in solche zu stolpern.
„d’Artagnan, das habe ich dir schon erklärt: Alain de Crécey hat Geld wie Heu, ist aber wahrscheinlich, an seinem Alter gemessen kein so angenehmer Liebhaber, wie es der schöne Francis gewesen ist. Ellen wollte eben einfach beides haben“, erklärte Porthos ungeduldig. Die Art, wie Porthos die Zügel hielt und auf seinem Sattel rumrutschte, zeigte Athos deutlich, dass er nervös war. Das war ungewöhnlich für den sonst so unerschrockenen Musketier, aber seit er den toten Dupont gefunden hatte, schien er ganz aufgelöst.
Wieder bewies d’Artagnan seine Naivität, als er in der reinsten Unschuld den Schluss zog: „Aber dann hat sie Francis ja gar nicht geliebt!“
In scherzhafter Dramatik stiess Athos einen schweren Seufzer aus und schüttelte den Kopf, als sei d’Artagnan ein Schuljunge, der gerade eine amüsante, allerdings falsche Feststellung gemacht hatte. „Ich sage es dir ungern, aber es gibt tatsächlich Menschen, die aus Motiven wie Gier handeln. Weisst du, nicht jede Prinzessin gibt ihren Stand auf um den armen Bauern zu heiraten. Die meisten Prinzessinnen wollen Prinzessinnen bleiben oder gar Königin werden.“
„Ellen ist aber keine Prinzessin.“ D’Artagnan hatte wohl heute wirklich seinen begriffsstutzigen Tag.
„Das war sinnbildlich gesprochen, mein Junge.“
„Bei deinen Sinnbildern kommen Frauen immer schlecht weg.“
Athos setzte ein gespielt nachdenkliches Gesicht auf. „Woran das wohl liegen könnte…“
„Vielleicht daran, dass deine Frau ständig versucht dich zu ermorden?“, schlug d’Artagnan grinsend vor.
Es war schon merkwürdig. Noch vor einem Jahr hatte allein die Erinnerung an Milady gereicht um ihn in eine schwere Krise zu stürzen und jetzt scherzte er mit d’Artagnan über die schlimmste Zeit in seinem Leben. Der Bauernjunge aus der Gascogne war wie ein Sturm in sein Leben geweht und hatte ihm die Sonne gleich mitgebracht.
„Lasst doch dieses Gerede“, brummte Porthos übellaunig. Wenn er nicht einmal zu Witzen aufgelegt war, stand es wahrlich schlecht um seinen Seelenzustand.
D’Artagnan schien ähnlich zu denken. Er trieb sei Pferd direkt neben das von Porthos und stiess ihm spielerisch den Ellbogen in die Rippen. „Du warst lange nicht mehr bei der schönen Engländerin, nicht wahr Porthos? Vermisst du sie schon?“
„Ich hatte in den letzten Tagen anderes zu tun als ein Schäferstündchen zu halten. Ich weiss nicht ob’s euch aufgefallen ist, aber unser Freund steht unter Mordverdacht!“
„Porthos, jetzt sei nicht so grantig! Wir tun alles um Aramis‘ Unschuld zu beweisen und keiner von uns hat irgendwelche Mühen gescheut um ihn aus dem Gefängnis zu holen!“, wies Athos seinen Freund zurecht. Ihm gefiel der harte Zug um Porthos‘ Mund ebenso wenig, wie die immer noch herrschende Blässe in seinem Gesicht.
Porthos schien einer scharfen Entgegnung ansetzen zu wollen, überlegte es sich dann aber scheinbar und sagte stattdessen mit etwas sanfterer Stimme. „Verzeiht. Es ist nur…“ Er liess den Satz unbeendet und seine dunklen Augen blieben nachdenklich am Himmel hängen, als könnten sie dort die Worte finden, die ihm jetzt fehlten.
D’Artagnans Übermut schwand sichtlich und er klang vollkommen ernst, als er meinte: „Du bist eben ein guter Freund, Porthos. Wenn es einem von uns schlecht geht, leidest du aus purer Loyalität mit. Aber Aramis ist jetzt in Sicherheit. Du brauchst nicht mehr mit dieser Leichenbittermiene herumzurennen.“
„Leichenbitter? Wo hast du denn das Wort aufgeschnappt“, fragte Porthos spöttisch, aber nicht halb so bissig wie vorher.
„Ich bin eben ein gebildeter Mann“, prahlte d’Artagnan und warf sich stolz in die Brust, eine Geste, die vielleicht überzeugend gewirkt hätte, wenn ihm nicht in diesen Moment ein Ast über das Gesicht gewischt wäre. Sein Schwall an Fluchworten zeugte allerdings tatsächlich von einem sehr reichhaltigen Vokabular.
„Bildung und Einbildung sind zwei verschiedene Dinge“, frotzelte Athos.
„Sagt der Mann, der ständig Lateinisch spricht einfach um zu beweisen, dass er es fehlerfrei kann“, schoss d’Artagnan gleich zurück.
„Aus dir spricht nur der pure Neid.“
„Wenn ich wählen könnte zwischen meinem jugendlich guten Aussehen und deinen Lateinkünsten, fällt mir die Wahl nicht schwer.“ D’Artagnans Schlagfertigkeit stand seiner eigenen in nichts nach, das musste er ihm lassen. Und seine Dreistigkeit war inzwischen sowohl am Hof als auch in der Garnison legendär.
„Wenn du ihn weiterhin so beleidigst, wirst du bald kein jugendlich gutes Aussehen mehr haben, weil er dir nämlich die Faust in dein hübsches Gesicht rammen wird“, warnte ihn Porthos mit einem halbherzigen Lachen. Athos freute sich, dass ihre Kabbeleien nun doch endlich ihren Zweck erfüllten. Porthos wachte langsam aus seinen trübsinnigen Gedanken auf.
„Ich nehme an, das Alter wird langsam auch Auswirkung auf die Härte seiner Schläge haben“, triezte d’Artagnan unbeirrt weiter.
„So alt ist Athos nun auch wieder nicht“, lachte Porthos.
Doch das Lachen verging ihm schnell, als d’Artagnan ihn hochmütig von oben bis unten musterte und dann, in demselben bissigen Ton, den Porthos vorher angeschlagen hatte sagte: „Du bist sogar ein paar Jährchen jünger als Athos und deine Faustschläge sind bei Gott auch nicht mehr das, was sie mal waren!“
„Du kleine Kröte!“, rief Porthos aus und wollte d’Artagnan einen Hieb gegen die Schulter versetzen, doch dieser hatte seinem Pferd schon die Sporen gegeben und jagte in einem Höllentempo davon. Porthos setzte ihm nach, fluchend und lachend zugleich; ein Bild von Freiheit und Wildheit. Athos dachte einen Moment noch wie kindisch das alles sei, dann ritt er seinen beiden Freunden nach; genoss den Wind, der durch seine Haare fuhr und dachte, dass nur ein Musketier wissen konnte, wie es sich anfühlte wahrlich frei zu sein.
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„Eigentlich ist es nur ein feiner, oberflächlicher Schnitt, der ohne grössere Probleme heilen sollte. Aber man sollte immer vorsichtig sein! Auch kleine Wunden können sich entzünden und das kann zu hohem Fieber führen, was wiederum…“
„Danke, Bruder Mathias. Ich brauche keine weiteren Schauergeschichten. Ich habe mich an einem Papier geschnitten und bin ziemlich sicher, dass ich es überleben werde“, unterbrach der Abt Guillaume ihn ungeduldig und wedelte ungeduldig mit der Hand, eine Geste, die Mathias schon schmerzhaft vertraut war.
Mathias biss sich auf die Lippen und senkte den Blick. Es war wirklich zu schade, dass niemand seine Sorgen ernst nahm. Alle hier gingen so schrecklich sorglos mit ihrem Körper und ihrer Gesundheit um, dass es nicht immer leicht war seinen Aufgaben als Heiler nachzugehen. Ihre Schmerzen liessen sie gerne von ihm behandeln, aber seine guten Ratschläge wehrten sie mit eben diesem nachlässigen Winken ab.
„Auch der grösste Held kann von einer kleinen Wunde sterben. Denkt an Achilles und seine Ferse!“, mahnte Mathias besorgt, während er einen Verband um den Finger legte. Er zog ihn kräftig an und übertrieb es wohl etwas mit den Umdrehungen, denn am Ende war Guillaumes Finger etwa dreimal so dick. Aber Mathias war zufrieden mit seinem Werk. Manchmal bluteten solche Schnitte sehr stark, mochten sie auch noch so klein sein. Jetzt würde sein Abt zumindest nicht mehr verbluten.
Guillaume jedoch stiess einen schweren Seufzer aus, als er seinen riesigen verbundenen Finger sah. „Mathias, Ihr geht Euren Pflichten mit bewundernswerter Eile nach, aber manchmal wünschte ich mir, Ihr wärt eine Spur weniger ängstlich.“
„Wenn es um die Gesundheit geht, kann man nicht vorsichtig genug sein“, beharrte Mathias trotzig.
Es schien ihm, als wollte Guillaume antworten, doch in dem Moment klopfte es an die Tür. „Herein“, rief der Abt mit seiner wohlklingenden, väterlich anmutenden Stimme. Ein schmutziger Junge, in dem Mathias den Taugenichts Felix erkannte, der sich sein Geld damit verdiente Botengänge zu machen und Ställe auszumisten. Mathis rückte zur Sicherheit noch etwas mehr von ihm ab. Der Kerl war ein Dreckspatz und wer wusste schon so genau, wo er schon überall herumgekrochen war und gerade Pferde hatten etwas so furchtbar Schmutziges an sich.
Guillaume schien solche Bedenken nicht zu kennen. Er reichte Felix mit einem freundlichen Lächeln die Hand. „Grüss dich Gott, mein Junge. Was führt dich diesmal in unser Kloster?“
Felix grinste und zeigte dabei überraschend weisse Zähne in seinem schmutzigen Gesicht. „Grüss Gott, Vater. Ich komme in Auftrag von Madame Bonacieux! Sie bittet um Eure Hilfe.“
Madame Bonacieux…ach ja, das war dieses reizende Persönchen mit diesem entsetzlich groben Mann. Der hatte sich einst eine lästige Erkältung zugezogen, die Mathias kuriert hatte. Leider war er kein besonders geduldiger Patient gewesen und sich beharrlich geweigert, gute Ratschläge anzunehmen. Dabei hatte er ihm so ausführlich erklärt, dass eine Erkältung oft der Vorbote einer ernsteren Erkrankung war und dass auch ein Schnupfen tödlich enden konnte. Doch dieser Banause von Schneider hatte ihn nicht einmal ernst genommen! Aber Madame Bonacieux war freundlich gewesen und hatte ihm sogar Geld angeboten, was er natürlich nicht angenommen hatte. Die beiden hatten ein heruntergekommenes Landhaus hier im Dorf und kamen manchmal in diese stillere Gegend, wenn ihnen Paris zu laut wurde.
„Und wie können wir Madame Bonacieux behilflich sein?“, fragte Guillaume mit freundlichem Lächeln, während er gleichzeitig einen Becher mit Wasser füllte und ihn Felix reichte. Mathias schürzte die Lippen. Er würde den Becher danach gründlich ausspülen, nicht das am Rand noch irgendwelche krankmachenden Pferdeflöhe hängen bleiben würden.
Felix trank das Wasser in einen Zug aus und stellte den Becher geräuschvoll zurück auf den Tisch. Dieser Flegel, dachte Mathias, während er sich das Trinkgefäss mit spitzen Fingern schnappte und es an seine Brust drückte, damit niemand auf die Idee kam, es ihm wegzunehmen, bevor er es gesäubert hatte. Guillaume warf ihm einen strafenden Blick zu, sagte aber nichts. „Also eigentlich bittet sie darum, dass Bruder Mathias zu ihr kommt. Und sie sagt, er solle sich beeilen, es gehe um Leben und Tod. Ein Freund von ihr ist schwer erkrankt.“
Mathias fühlte eine leise Panik. Schwere Erkrankung, das klang gar nicht gut! In letzter Zeit hatte es keine Epidemien in Frankreich gegeben, aber was wenn das der Anfang war? Und wenn er es nicht eindämmen konnte, wäre er schuld daran, wenn das Land von einer furchtbaren Seuche dahingerafft werden würde! Was für eine Verantwortung. „Was fehlt ihm denn?“, fragte er und konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vor Aufregung ganz hoch wurde.
Felix zuckte unbestimmt mit den Schultern. „Weiss nicht. Ich glaube Fieber, wenn ich das richtig verstanden habe.“
Fieber. Das war wahrlich eine bedenkliche Sache. Mathias hatte schon oft erlebt, wie das Herz von Fieberkranken versagt hatte und er wusste, wie schnell der Körper von dieser tödlichen Hitze versengt werden konnte. Aber Fieber war auch hoch ansteckend. Er musste sich auf jeden Fall nach diesem Krankenbesuch erst einmal in Quarantäne begeben um seine Mitbrüder vor einer Ansteckung zu schützen.
Guillaume wandte sich an Mathias. „Ich verzichte ungern auf meinen tatkräftigen Heiler“, er wackelte demonstrativ mit seinem eingewickelten Finger, „aber wenn eines unserer Schäfchen um unsere Hilfe bittet, werden wir sie ihm selbstverständlich gewährleisten. Ich erwarte, dass Ihr alles tut was in Euren Kräften steht!“
Mathias nickte. Natürlich würde er das tun! Hoffentlich hatte sich diese reizende Constance nicht schon angesteckt. Frauen zu pflegen fiel ihm immer noch schwer. „Natürlich. Ich breche sofort auf!“ Er überlegte bereits eifrig, welche Kräuter er mitnehmen sollte. Er hatte einen kleinen Vorrat an getrockneten Heilkräutern auf seinem Zimmer, falls jemand im Kloster jäh erkranken würde und die Zeit fehlen würde, neue zu sammeln.
Er war schon halb aus der Tür, als Guillaume ihm lachend nachrief: „Den Becher könnt Ihr hier lassen, Bruder Mathias.“
Puterrot drehte er sich noch einmal um. „Natürlich. Verzeihung, Vater.“
Als er den Becher auf den Tisch stellte, ergriff Guillaume sein Handgelenk und blickte ihn ernst an: „Und Bruder Mathias: Erstickt den armen Mann nicht gleich mit Eurer Fürsorglichkeit.“ Mit diesem rätselhaften Rat und einem letzten Segen, entliess der Abt Mathias.
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D’Artagnan hatte noch nie Männer so bewundert wie er Athos, Porthos und Aramis bewunderte. Am Anfang ihrer Bekanntschaft hatte er sie förmlich angebetet. Dann hatte er sie näher kennengelernt, hatte ihre Fehler und Schwächen entdeckt und langsam hatte sich das göttliche Bild, das er sich von den dreien gemacht hatte, verflüchtigt. Seiner Liebe zu ihnen hatte das keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Einen Gott konnte man nur anbeten, einen Menschen dagegen spüren, fühlen und sprechen. Das war besser als jedes Götzenbild.
Aber es gab immer noch Momente, in denen ihm diese drei Männer wie wahre Helden erschienen. Das war wieder einer dieser Momente. Als Athos und Porthos in ihren Uniformen auf das Tor zuschritten, hochaufgerichtet und stolzen, forschen Schrittes, ihre prächtigen Pferde am Zügel haltend; da schlug d’Artagnans Herz schneller bei den Gedanken, dass er diese Männer zu seinen Freunden zählen konnte. Sie hatten diesen Blick aufgesetzt, den er nur zu gut kannte. Wenn sie diesen Ausdruck in den Augen hatten, waren sie entschlossen ihr Ziel zu erreichen, koste es, was es wolle.
D’Artagnan folgte ihnen, etwas gemesseneren Schrittes. Das Anwesen war wirklich atemberaubend. Er war beinahe täglich im Louvre, der bei Gott auch nicht gerade eine bescheidene Hütte zu nennen war, aber diese prunkvolle Villa mit dem ausladenden Park war wahrlich auch eine Augenweide. Und der Diener, der ans Tor geeilt kam, hatte denselben blasierten Gesichtsausdruck, den auch die Bediensteten des Palastes zu zeigen pflegten.
„Was wünschen die Herren?“, frage er mit nasaler Stimme.
„Die Herren wünschen mit Mademoiselle Ellen zu sprechen“, verlangte Athos mit brüsker Stimme.
Der Diener hüstelte geziert. „Nun, wie stellt Ihr Euch das vor? Dass Ihr einfach so ans Tor kommen könnt und ich Euch dann einfach so einlasse, damit Ihr Euch einfach so mit dem gnädigen Fräulein unterhalten könnt?“
„Ehrlich gesagt: Genau so stellen wir uns das vor!“, antwortete Porthos und man hörte bereits das drohende Grollen in seiner Stimme.
„Und ich soll Euch jetzt einfach so das Tor öffnen, damit Ihr einfach so meine Herrschaften bei der Teestunde stören könnt?“, sagte der Diener und wahrscheinlich bildete er sich ein, sehr einschüchternd zu wirken. Allerdings war er mit seinen grauen Löckchen und seinen mädchenhaft geröteten Wangen nun wahrlich kein sonderlich beeindruckender Anblick. Sein extrem langsames Sprechtempo tat noch sein Übriges.
„Wir müssen dringend mit Ellen sprechen“, beharrte Athos unbeirrt.
Der Diener kniff misstrauisch die Augen zu. „In welcher Angelegenheit?“
„Och, einfach so“, rutschte es d’Artagnan heraus.
Der Diener warf ihm einen tödlichen Blick zu. „Ich werde den Herrschaften melden, dass Ihr hier wartet und dann werden der gnädige Herr und seine Verlobte mir sagen, wann die Herren wieder vorbei kommen können. Einfach so kann man bei dem gnädigen Herrn nämlich nicht vorsprechen!“
D’Artagnan glaubte förmlich zu hören, wie Porthos‘ Geduldsfaden riss. Der Hüne warf d’Artagnan mit einer beiläufigen Bewegung die Zügel zu. Dann trat er ganz dicht an das Tor heran und legte langsam seine behandschuhten Finger um die Gitterstäbe. Sein Gesicht war dem des Dieners so nah, als wollten sich die beiden küssen, aber davon konnte nicht die Rede sein. Porthos‘ dunkle Augen schienen förmlich zu glühen, als er den Diener fixierte und seine Stimme war zwar leise, aber aus jeder Silbe tropfte der Zorn, als er sagte: „Ich werde Euch jetzt sagen, wie das läuft: Wenn Ihr uns das Tor nicht aufmacht, werten wir das als Widerstand gegen die Musketiere des Königs und verschaffen uns gewaltsam Zutritt. Und dann schleppen wir das gnädige Fräulein an den Haaren nach Paris, wo wir sie in die Bastille werfen lassen, damit sie uns die Antworten gibt, die wir von ihr verlangen. Glaubt nicht, dass ich mit solchen Dingen einfach so scherze!“
Der Diener war bleich geworden. „Aber…mein Herr…“, stammelte er fassungslos.
Athos erbarmte sich seiner und sprach im deutlich freundlicheren Ton: „Ihr tut Eure Pflicht, das respektieren wir. Aber auch wir haben unsere Pflicht und müssen sie erfüllen.“
Ob es nun die Angst vor Porthos war oder der Respekt vor Athos, der so verbindlich und ehrenhaft wirkte, auf jeden Fall bewog es den Diener doch das Tor öffnen zu lassen. Und als d’Artagnan hinter seinen Freunden durchschritt, dachte er voller Stolz, dass sich diese zwei Männer wahrscheinlich sogar Zutritt der Hölle bekämen, wenn sie ihren Sinn darauf richten würden.
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Constance legte zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Tag die Hand auf Aramis‘ Stirn. Noch immer war das Fieber hoch, aber was ihr fast noch mehr Sorgen machte, war der röchelnde Atem und die furchtbaren Hustenanfälle, die den immer schwächer werdenden Körper schüttelten. Wenn er wach war – und es kam zunehmend seltener vor, dass es ihr gelang ihn aus seinem Delirium zu reissen – klagte er über Brustschmerzen. Er mochte nichts essen und als sie ihm das letzte Mal Tee eingeflösst hatte, hatte er sich heftig erbrochen.
Sie nahm seine fieberheisse Hand in ihre. Es war schlimm zuzusehen wie Aramis, der sonst vor Gesundheit nur so strotzte, so rasend schnell vor ihren Augen verging. Sie hatte geglaubt, er habe sich im Kerker etwas unterkühlt und sich deshalb eine kräftige Erkältung eingefangen, die in Kombination mit seiner Kopfwunde für seinen schlechten Zustand verantwortlich war. Aber jetzt wurde ihr klar, dass sie sich die ganze Zeit selbst belogen hatte. Diese Krankheit sass tiefer.
Aramis bewegte unruhig den Kopf und schlug dann die Augen auf. Sie waren glasig, aber zumindest schien er sie zu erkennen, denn er sagte mit leiser, rauer Stimme: „Constance, ich fühl mich nicht so besonders.“
„Ich weiss, Aramis. Ich habe schon einen Arzt rufen lassen. Er wird sicher bald hier sein“, tröstete sie ihn.
Er verzog das Gesicht. „Ich will keinen Arzt“, jammerte er und klang wie ein kleines Kind. Das hohe Fieber schien ihm alles zu nehmen, selbst seinen Stolz.
„Aber du brauchst einen. Keine Sorge, ich habe nach Bruder Mathias schicken lassen. Er ist kein Quacksalber, sondern ein heilkundiger Mönch. Er wird sich gut um dich kümmern.“ Auch wenn er bei deinem Anblick vermutlich erstmal einen hysterischen Anfall bekommt, fügte sie in Gedanken hinzu. Mathias war ein guter Heiler, aber der wohl am negativsten eingestellte Mensch, dem sie je begegnet war.
Sie hätte allerdings genauso gut der Wand von Bruder Mathias erzählen können. Die Worte schienen gar nicht erst zu Aramis durchzudringen. Sein fieberverhangener Blick heftete sich auf das Fenster und wurde sehnsüchtig. „Ich wünschte, ich könnte nach draussen.“
Dann kannst du dich auch gleich ins Grab legen, dachte Constance in einem Anflug von Galgenhumor. „Du weisst, dass das nicht möglich ist“, erklärte sie geduldig. Sie löste ihre Finger von den seinen, griff nach dem bereits wieder warmen Tuch auf seiner Stirn und tauschte es aus.
„Ich will aber“, entgegnete Aramis trotzig und versuchte sich aufzurichten. Doch ein heftiger Hustenanfall liess ihn sich jäh zusammenkrümmen und erschöpft sank er zugleich wieder in die durchschwitzten Laken. Constance wusste nicht recht, ob sie erleichtert oder besorgt sein soll, dass ihm die Kraft fehlte sich ihr zu widersetzen.
„Mach es mir nicht noch schwerer, als es ist“, bat sie ihn leise und für einen Moment glaubte sie so etwas wie Verstehen in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Sein verwirrter Geist schien sich tatsächlich etwas zu lichten, denn er wisperte: „Glaub mir, ich bin nicht halb so schlimm wie dein Angebeteter. Als er das letzte Mal krank war, habe ich ernsthaft mit dem Gedanken gespielt ihn ans Bett zu binden“
„Führe mich nicht in Versuchung“, lachte Constance und schob ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Wenn er bei Kräften gewesen wäre, hätte er garantiert einen blöden Witz gerissen, jetzt erschlafften seine Gesichtszüge und er sank wieder zurück in seine Fieberträume.
Constance sass neben ihm, sprach beruhigend auf ihn ein, wenn er sich im Schlaf herumwarf, kühlte seinen brennend heissen Körper und betete, dass Bruder Mathias bald kommen würde.
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Der Schreck stand Ellen förmlich ins Gesicht geschrieben, als die drei Musketiere in ihren Uniformen in den Garten traten. Sie sass in einem kostbaren Kleid an einem reichlich gedeckten Tisch und führte gerade einen zierlichen, silbernen Löffel zum Mund, als sie in der Bewegung erstarrte und die Männer mit vor Angst geweiteten Augen anstarrte. Ihr gegenüber sass ein älterer, gepflegt aussehender Herr, mit schwarzen Haaren, die stellenweise schon mit weissen Strähnen durchzogen waren. Als er sich umdrehte, um zu sehen, was den Blick seines Gegenübers so fesselte, sah Athos ein freundliches, gutmütiges Gesicht mit warmen, braunen Augen. Er vermutete sofort Alain de Crécey in diesem Mann, dessen gepflegte Hände und kostbar bestickte Kleidung sowohl von Reichtum als auch von gutem Geschmack zeugten.
Athos wollte schon den Mund zu einer freundlichen Begrüssung aufmachen, da sprang Alain auch schon auf, als sei er von einer Biene gestochen worden und fuhr die Männer an: „Wie könnt Ihr es wagen hierher zu kommen?“
Athos blinzelte verwirrt. Gut, zugegebenermassen sahen sie mit ihrem Degen und ihren Pistolen vielleicht ein wenig kriegerisch aus, mal abgesehen davon, dass Porthos so grimmig aussah, als habe er gerade mehrere Kinder verspeist. Aber das war auf keinen Fall ein Grund, dermassen aggressiv aufzutreten, zumal sie immerhin das Wappen des Königs auf der Schulter trugen.
„Wir müssen mit Ihrer reizenden Verlobten sprechen“, sagte d’Artagnan und vielleicht übertrieb er es dabei etwas mit seinem Sarkasmus, denn Alain lief krebsrot an und brüllte: „Verschwindet, bevor ich Euch mit Schimpf und Schande davonjage!“
Da kam er bei Porthos an den Falschen. Der Riese straffte die Schultern und trat Alain entgegen, der vor dieser hünenhaften Gestalt wie ein kleines Kind wirkte. „Sehen wir aus wie Männer, die sich von einem herausgeputzten Pudel davonjagen lassen?“, brüllte er zurück, wobei sein Stimmvolumen das von Alain noch um einiges übertraf.
„Das mit dem Pudel hat er nicht so gemeint“, warf Athos rasch dazwischen, da Alain inzwischen die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte und er nicht wollte, dass die Situation noch mehr ausuferte.
Porthos machte seine redlichen Bemühungen jedoch gleich zunichte. „Ich habe auch noch ganz andere Schimpfworte als Pudel für diesen kleinen Wurm!“
„Wen nennt Ihr hier Wurm! Ihr stellt meiner Verlobten nach, zieht die Ehre dieses schutzlosen Geschöpfes in den Dreck…“
Ach, diese Geschichte! Stimmt, Ellen hatte ja erzählt, sie werde von Musketieren bedrängt. Athos warf dem schutzlosen Geschöpf, das ebenfalls aufgestanden war und sich sicherheitshalber hinter ihren Verlobten geflüchtet war, einen scharfen Blick zu. Der Schreck war inzwischen aus ihren Zügen gewichen. Jetzt hatten sich ihre Augen in Dolche verwandelt und sie hatte den Mund trotzig verzogen.
Alain war noch immer mit seiner Schimpftriade beschäftigt. „…dass ein solcher Abschaum wie Ihr unter dem Banner des Königs kämpft ist eine Schande für ganz Frankreich! Wie Ellen unter Euch hat leiden müssen…“
Weiter kam er nicht. Ob es nun war, weil er sie als Abschaum betitelt hatte oder weil er diese fiese, intrigante Schlange Ellen als Unschuld vom Land hinstellte, auf jeden Fall verlor Porthos den letzten, kläglichen Rest seiner Selbstbeherrschung. Er packte den tobenden Alain am Kragen, hob ihn hoch als wiege er nicht mehr als ein Kind und warf ihn auf den gedeckten Tisch. Rücklings stürzte Alain über die Tischplatte, riss dabei Tischtuch und Geschirr mit sich. Es schepperte und krachte furchtbar, als sich die Leckereien und der brühend heisse Tee über den Gutsherren ergossen.
„Porthos!“, schrie d’Artagnan entsetzt, während Ellen sich mit ausgefahrenen Krallen auf Porthos stürzte und Athos zu Alain trat, um ihm aufzuhelfen. Doch der Mann hatte sich schon wieder erholt. Er spuckte auf Athos‘ ausgestreckte Hand. „Das werdet Ihr bereuen, Musketier!“, kreischte er, rappelte sich auf und griff nach der erstbesten Waffe, die ihn im die Finger kam. Einem Teelöffel.
Athos wusste aus Erfahrung, dass selbst harmlose Alltagsgegenstände in den Händen eines wütenden Berserkers zu tödlichen Waffen werden konnten, aber einen Edelmann mit ausgestrecktem Teelöffel konnte er nun wahrlich nicht ernst nehmen. Als sich aber besagter Edelmann sich ihm entgegenwarf und ihn mit seinem Gewicht umriss, wusste er, dass er sich getäuscht hatte. Alain kniete auf ihn und richtete den Teelöffel mit stierendem Blick auf seinen Hals, als wolle er ihm ernsthaft damit die Kehle durchbohren.
„Ihr werdet meine Verlobte nicht anrühren.“
Athos verdrehte die Augen. „Also erstens braucht Ihr nicht mehr so zu brüllen, ich verstehe Euch ganz ausgezeichnet. Zweitens wollen wir Eure Verlobte keineswegs anrühren, sondern nur mit ihr reden. Und drittens solltet Ihr niemals einen Musketier am Boden festhalten!“ Bei den letzten Worten hatte Athos die Knie angezogen und stiess Alain damit heftig in den Bauch. Keuchend liess dieser von ihm ab und bevor er sich erholen konnte, kniete Athos sich auf ihm, wand den Teelöffel aus seinen Fingern und drückte seine Arme auf den Boden, so dass er sich nicht mehr wehren konnte.
Athos sah hoch. Porthos hatte Ellen im festen Griff, obwohl sie sich gebärdete wie eine wildgewordene Katze. D’Artagnan unterdessen hielt den Diener davon ab seinen Herrschaften zur Hilfe zu eilen, indem er ihn einfach am Kragen festhielt. Sie hatten also alles unter Kontrolle.
Er schenkte den Anwesenden ein sonniges Lächeln. „Nun. Ich schätze, jetzt können wir reden!“
Kapitel Ellens Geheimnis
Kapitel 16
Ellens Geheimnis
„Über was sollen wir reden?“, presste Alain zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und wand sich in Athos‘ festem Griff.
„Was auch immer sie sagen, es ist gelogen!“, kreischte Ellen und versuchte Porthos ins Schienbein zu treten. Eine falsche Entscheidung. Ohnehin schlecht auf sie zu sprechen drehte er ihr rücksichtslos die Arme auf den Rücken, was ihr einen Schmerzensschrei entlockte.
„Pass auf, wen du hier der Lüge bezichtigst, Püppchen“, knurrte Porthos und hätte er nicht so eine böse Grimasse gezogen, wäre es zum Lachen gewesen. Manchmal unterstrich Porthos seine wechselhafte Vergangenheit als Meisterdieb und Gauner etwas zu sehr, für Athos‘ Geschmack. Fast so, als wolle er krankhaft jedes Klischee erfüllen.
„Hört auf Ihr wehzutun, Grobian!“, verteidigte Alain seine Verlobte. Langsam war Athos beeindruckt von der Vehemenz, mit der der Gutsherr für Ellen stritt. Es tat ihm beinahe Leid, ihm seine Illusionen nehmen zu müssen, aber früher oder später machte nun einmal jeder Mann seine Erfahrung mit verräterischen Frauen. Davon konnte er wahrlich ein Lied singen.
„Ich würde ja eine bequemere Stellung vorziehen um miteinander zu plaudern“, warf d’Artagnan ein, der immer noch den Diener am Nacken hielt, als handle es sich um ein äusserst aggressives Kaninchen, „aber die Herrschaften wirken ein wenig echauffiert. Vielleicht sollten wir es kurz machen.“
„Ich stimme dir zu, mein junger Freund. Machen wir es also kurz: Unser Freund Aramis wurde zum Tode verurteilt, weil er angeblich seinen guten Bekannten Francis umgebracht haben soll. Zu verdanken hat er dieses voreilige Urteil dieser reizenden Dame hier.“ Athos nickte mit den Kopf Richtung Ellen, die gerade auf reizende Art und Weise ein scharfes Fauchen hören liess.
„Diese Dame hat nämlich behauptet, sie sei die Geliebte von Aramis gewesen“, fuhr d’Artagnan mit Unschuldsmiene fort.
Alain hörte auf sich gegen Athos zu sträuben. Er warf Ellen einen verwirrten Blick zu. „Aramis? Francis? Kennst du diese Menschen etwa, Liebling?“
In scheinbarer Verblüffung riss Porthos die Augen auf. „Er weiss es gar nicht?“
„Was weiss ich nicht? Ellen, erklär mir das!“, verlangte Alain mit bebender Stimme. Armer Mann. Seine ganze heile Welt brach gerade in sich zusammen.
Ellen war totenbleich geworden und feine Schweissperlen standen auf ihrer Stirn. „Glaub ihnen nicht, Alain!“, flehte sie und es wäre rührend gewesen, wenn nicht jedes Wort aus ihrem Mund eine dicke Lüge gewesen wäre. Obwohl sie mit dem Rücken zur Wand stand, weigerte sie sich noch immer, die Wahrheit zu sagen. Aber vielleicht hätte Athos dasselbe getan, wenn er kurz davor gestanden hätte, sein privilegiertes Leben zu verlieren. Wenn er denn noch ein privilegiertes Leben gehabt hätte, natürlich.
„Halt den Mund“, fuhr Porthos sie an, bevor er sich wieder an Alain wandte: „Wir kennen Ellen schon eine ganze Weile. Allerdings nicht als reiche Gutsherrin, sondern als Verlobte unseres Freundes Francis.“
„Was?“, riefen Alain und sein Diener gleichzeitig aus, während Ellen nur ein leises Wimmern hören liess.
„Und in dieser Position hat sie Aramis vor Gericht des Mordes beschuldigt. Er sei eifersüchtig auf Francis geworden und habe ihn deshalb erstochen. Eine nette, glaubwürdige Geschichte mit nur einem Haken: Aramis hat sie nie angerührt“, erzählte Athos ungerührt ohne auf Ellens verzweifeltes Jammern zu achten.
„Also haben wir ein bisschen nachgeforscht wieso Ellen so etwas einfach behauptet. Und dann haben wir zu unserem Erstaunen festgestellt, dass Ellen noch einen Verlobten hat: Euch.“ Porthos deutete auf Alain, der aufgehört hatte sich zu sträuben und stattdessen mit offenem Mund seine Verlobte anstarrte.
„Ist das wahr? Du bist…du warst verlobt mit einem Musketier?“, stammelte Alain.
War es sein verletzter Gesichtsausdruck, seine gebrochene Stimme oder schlicht die Erkenntnis, dass sie sich aus dieser Situation nicht mehr würde herauswinden können: Auf jeden Fall brach Ellens Widerstand endlich ein. Sie schluchzte herzzerreissend. „Es tut mir so leid! Ich war dumm, einfach nur dumm. Ich habe ihn nie geliebt. Ich habe nur dich geliebt!“
Dich und dein Geld, dachte Athos aber er war doch nicht herzlos genug es laut auszusprechen. Dass Ellen sich zweimal verlobt hatte, war gewiss nicht recht gewesen, aber letztendlich eine Privatsache zwischen ihr und Alain. Das Einzige, was ihn interessierte war, ob Ellen Francis erstochen hatte oder nicht.
„Francis hat es herausgefunden oder? Hat dich zur Rede gestellt, wollte Alain die Wahrheit sagen, wollte dein Leben als reiche Gutsherrin beenden, bevor es überhaupt angefangen hat. Und da hast du beschlossen ihn umzubringen oder?“, donnerte Porthos sie an und schüttelte sie leicht.
„Nein! Nein, ich habe ihn nicht umgebracht“, entgegnete Ellen heftig.
„Natürlich. Und du hast vor Gericht auch nur die Wahrheit gesagt“, meinte d’Artagnan sarkastisch. Der Gascogner hatte den Diener inzwischen losgelassen, da dieser so entsetzt von all diesen mörderischen Geschichten war, dass er wie zur Salzsäule erstarrt dastand und an Widerstand gar nicht mehr zu denken schien. Stattdessen hatte der Gascogner sich neben Porthos positioniert, vermutlich um rechtzeitig eingreifen zu können, wenn dieser anfing Ellen ernsthaft Schaden zuzufügen.
Ellens Gesicht war inzwischen tränenverschmiert. „Ich gebe ja zu, ich habe gelogen vor Gericht. Ich hatte solche Angst, dass mein Geheimnis rauskommt und ich alles verliere!“
„Da dachtest du, ich schieb jetzt mal alles Aramis in die Schuhe, damit er hängen kann?“ Athos konnte seine Stimme nun auch nicht mehr beherrschen. Wie hatte sie das nur tun können? Sie hatte Aramis dem Tode geweiht, nur um ihre eigene Haut zu retten. Da fiel es ihm wahrlich schwer Mitleid zu haben.
„Ich weiss, es war schändlich. Aber ihr müsst mir glauben: Ich habe Francis nicht getötet“, wiederholte Ellen. Aber obwohl sie weinte und wahrlich ein Bild des Jammers bot, las Athos in ihren Augen nur eines. Selbstmitleid. Sie hatte kein Erbarmen mit Aramis, den sie so leichtsinnig dem Tod preisgegeben hatte, sie fürchtete nur um ihre gesellschaftliche Stellung.
Es war diese Erkenntnis, die Athos dazu brachte nichts zu sagen, als Porthos Ellen jäh zu sich umdrehte und die Hand hob, um ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Doch zu der Überraschung aller Anwesenden, liess er sie kopfschüttelnd sinken. „Du bist es nicht wert“, sagte er schlicht und liess sie los. All dieser überschäumende Zorn, der die ganzen Tage in ihm geschlummert hatte, schien verpufft zu sein. Jetzt wirkte er einfach nur erschöpft und enttäuscht, als könne er die menschlichen Abgründe, die sich ihm so jäh offenbarten gar nicht recht fassen.
Athos griff in seine Tasche und zog einen Gegenstand hervor, den er schon lange mit sich rumschleppte. Es war das Medaillon, das er damals im Leichenkeller von Duval bekommen hatte. „Das war bei Francis persönlichen Sachen. Ich nehme an, es ist deine.“
Er erwartete eigentlich so etwas wie ein erschrockenes Erkennen in Ellens Gesicht, aber er sah nur ehrliche Verwirrung. „Das ist nicht meine“, erwiderte sie, „ich habe nie ein solches Schmuckstück besessen.“
„Wann wurde dieser Francis getötet?“, mischte sich da jäh Alain ins Gespräch. Athos hatte ihn losgelassen und der ramponiert aussehende Gutsherr hatte sich aufgerappelt. Er war ebenso bleich wie Ellen, wirkte aber ansonsten ziemlich gefasst, angesichts der Tatsache, dass seine Verlobte ihn nach Strich und Faden belogen hatte.
D’Artagnan nannte ihm das genaue Datum und den vermuteten Todeszeitpunkt. Daraufhin schwieg Alain und sah Ellen lange an, als müsse er seine Gedanken ordnen. Dann sagte er mit leiser, kaum hörbarer Stimme: „Dann kann sie es nicht gewesen sein. Sie war bei mir. Die ganze Nacht. Und glaubt mir, ich würde augenblicklich gerne etwas anderes behaupten. Aber es ist die Wahrheit!“
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Constance strich Aramis über das schweissnasse Haar. Die letzten Stunden waren grauenhaft gewesen. Furchtbare Hustenanfälle hatten ihn gequält und ein paarmal hatte Constance befürchtet, er würde ersticken. Als sie endlich abgeklungen waren, war Aramis zu Tode erschöpft eingeschlafen und seitdem nicht mehr aufgewacht. Seine Brust hob und senkte sich viel zu schnell und wenn Constance die Finger um sein Handgelenk legte, konnte sie den rasenden Puls fühlen.
Als es an der Tür klopfte, seufzte sie vor Erleichterung. Bruder Mathias war endlich gekommen. „Ich bin gleich wieder da“, flüsterte sie Aramis ins Ohr, bevor sie sich erhob um den Mönch in Empfang zu nehmen.
Als sie die Tür öffnete, sah sie sich einem wahren Ungetüm gegenüber und für einen winzigen Moment glaubte Constance einen Bären gegenüberzustehen, bis ihr Verstand sich meldete. Ein Bär würde wohl kaum höflich an die Tür klopfen und würde wohl auch nicht mit artiger Stimme sagen: „Guten Abend, Madame Bonacieux.“
„Bruder Mathias?“, fragte Constance ungläubig und konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verbeissen. Sie hatte die Eigenarten des jungen Mönches schon letztes Jahr kennengelernt, aber er überraschte sie immer wieder mit seinen verrückten Einfällen. Jetzt hatte er sich aus irgendeinem Grund mehrere Satteldecken umgehängt und sich zusätzlich einen Schal um den Mund gewickelt, so dass man nur die Augen sah. Seine Hände steckten in Wollhandschuhen und um sein Hinterteil hatte er sich gar ein Kissen geschnallt.
„Oh, ich sehe mein Aufzug verwirrt Euch etwas. Wisst Ihr, man erkältet sich bei einem nächtlichen Ritt so schnell und dem wollte ich vorbeugen“, erklärte Mathias eifrig.
Natürlich. Mathias neigte ja dazu überbesorgt zu sein, was die Gesundheit anging. „Und das Kissen? Ist das eine Art Geheimwaffe?“, erkundigte sie sich, wobei sie darauf achtete ernsthaft interessiert zu klingen und nicht allzu belustigt. Sie wollte den guten Bruder schliesslich nicht kränken.
„Nein, nein, aber ich vertrage den Sattel immer so schlecht. Mit den Kissen ist es zumindest etwas bequemer und wenn ich runterfalle, bin ich zudem besser geschützt.“
Über die Schulter von Bruder Mathias sah Constance sein friedlich grasendes Reittier, wobei es sich allerdings keineswegs um ein stolzes Ross, sondern um ein gutmütiges, klappriges Maultier handelte, das auf den Namen Bartholomäus hörte. Es war schwierig sich vorzustellen, dass dieses brave Tier jemals auf die kühne Idee verfiele, seinen Reiter abzuwerfen.
„Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid“, sagte Constance mit warmen Lächeln, als sie den Mönch in ihr Haus geleitete und ihm dabei half sich aus den Decken zu schälen. Der Mönch war unter den vielen Schichten natürlich schweissgebadet, aber hoffentlich war er zumindest der gefürchteten Erkältung entronnen.
„Wenn ein Kranker mich braucht bin ich immer da“, sagte Mathias eine Spur zu grossartig, aber Constance wusste, dass er es ehrlich meinte.
Aramis nutzte gerade diesen Moment um sich bemerkbar zu machen. Sein lautes, keuchendes Husten klang furchtbar laut und obwohl dieses verhasste Geräusch ihr inzwischen schmerzhaft vertraut war, schloss Constance in stummer Verzweiflung die Augen. „Bitte. Ihr müsst ihm helfen.“
Ein äusserst besorgter Ausdruck glitt über Mathias‘ Gesicht, sofern man das bei seiner immer sorgenumwölkten Miene überhaupt sagen konnte. „Das klingt allerdings gar nicht gut“, murmelte er abwesend, bevor er sich an Constance wandte, „aber ich werde ihn mir jetzt erst einmal ansehen, bevor ich mir ein Urteil bilde.“
Constance führte ihn ins Schlafzimmer. Aramis war aufgewacht und wirkte sogar einigermassen klar, wenn auch unendlich erschöpft. Sein Gesicht war abgesehen von den glühend roten Wangen leichenblass, seine Lippen rissig und aufgesprungen. Und doch sah man einen Anflug von Humor in Aramis‘ glänzenden Augen, als er den Mönch an Constances Seite erkannte. „Findest du es nicht ein wenig verfrüht einen Mönch zu holen? Noch liege ich nicht im Sterben.“
„Du sollst über so etwas keine Scherze machen“, rügte Constance ihn, „Bruder Mathias ist ein grosser Heiler!“
Das hätte sie lieber nicht sagen sollen. Bruder Mathias hob abwehrend die Hände. „Madame Bonacieux, Ihr dürft mich nicht überschätzen! Es gibt so viele Krankheiten gegen die kein Kraut gewachsen ist, egal wie sehr man sich bemüht! Und dann gibt es Blutungen, die man nicht stoppen kann, Wunden, die sich tödlich entzünden können, Brüche, die nicht mehr richtig zusammenwachen…Wisst Ihr, je weiter die Medizin ist, desto mehr haben die Menschen das Gefühl, man könne alles wieder zusammenflicken und dann werden sie unvorsichtig und setzen sich allen möglichen, lächerlichen Gefahren aus. Erst vor zwei Wochen ist mir Bruder Michael quasi unter den Händen weggestorben. Innere Blutungen. Konnte nichts machen.“
Aramis starrte Mathias an, als habe er sich vor seinen Augen in einen Schmetterling verwandelt. „Danke, Bruder. Dann bin ich wohl in den besten Händen.“ Selbst Fieber konnte seine Spottlust offenbar nicht dämmen.
Mathias war zu gutmütig um Sarkasmus zu bemerken. „Ich werde tun, was ich kann. Ich werde Euch gleich mal gründlich untersuchen“, versprach er eifrig.
Aramis warf Constance einen halb besorgten, halb belustigen Blick zu. „Und er soll mich also wieder gesund machen?“, fragte er zweifelnd und klang wie ein ängstliches Kind, nicht wie ein gestandener Musketier.
Sie hauchte ihm einen Kuss auf den Scheitel. „Er ist ein guter Arzt“, sagte sie leise.
„Constance…“
„Ja, Aramis?“
„Ich mag Fieber haben. Aber selbst ich sehe, dass dieser Kerl sich ein Kissen um den Hintern geschnallt hat.“
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„Ich verstehe das nicht. Wenn sie die ganze Zeit ein Alibi hatte, wieso hat sie dann all die Lügen erzählt?“, fragte Porthos, noch immer fassungslos über so viel Bosheit.
„Dann wäre doch aufgeflogen, dass sie mit zwei Männern gleichzeitig verlobt war. Und dann dachte sie wohl, wieso ihr eigenes Leben ruinieren, wenn sie auch ein anderes in den Abgrund stürzen kann.“ Athos schwang sich in den Sattel und warf noch einen letzten angeekelten Blick auf das herrliche Anwesen.
Porthos umfasste die Zügel so fest, dass seine Fingerknöchel weiss hervortraten. „Und nur weil sie ihr schmutziges Geheimnis bewahren wollte, hat sie Aramis dem Tod geweiht.“
D’Artagnan fühlte wie Porthos und hatte sich nur schwer davon abhalten können, Ellen windelweich zu prügeln. Aber auf eine Art bekam sie ihre Strafe. Alain war alles andere als erbaut über die Enthüllungen gewesen. Er hatte die Musketiere um Verzeihung gebeten, sie persönlich hinausbegleitet und ihnen versichert, dass Ellen nicht so einfach davonkommen würde. Dennoch wäre es bei weitem befriedigender gewesen, ihr selbst das Fell über die Ohren zu ziehen.
„Etwas Gutes hat es immerhin: Wenn Ellen zugibt, dass sie gelogen, ist Aramis entlastet. Dann können wir zumindest dieses Versteckspiel sein lassen“, meinte d’Artagnan.
Doch Athos, der alte Miesepeter, schüttelte den Kopf. „Es bleibt die Tatsache, dass er neben der Leiche gefunden wurde. Daraus kann man ihm immer noch einen Strick drehen. Mal ganz abgesehen davon, dass er aus dem Gefängnis geflohen ist. Es ist auf jeden Fall besser, er und Constance bleiben vorläufig noch verborgen.“
Porthos stiess einen schweren Seufzer aus. „Also können wir jetzt wieder von vorne anfangen. Ellen scheidet als Täterin aus.“
Es war wirklich wie verhext. D’Artagnan war so überzeugt gewesen, dass Ellen irgendwie in die Sache verwickelt war. Jetzt konnte sie es gar nicht gewesen sein und Dupont, ihr anderer Verdächtiger, war tot. Man könnte meinen, einen kleinen Mordfall zu lösen, wäre nicht sonderlich schwer für Männer, die sich harte Kämpfe gewöhnt waren. Aber es war schwieriger, jemanden zu entlarven, der sich in den Schatten hielt, als jemanden zu erstechen, der einem mit gezogenen Schwert offen gegenübertrat.
Plötzlich sah d’Artagnan wie ein feines Lächeln über Athos‘ düsteres Gesicht glitt. „Einen Hinweis hat Ellen uns allerdings gegeben. Sogar einen sehr wichtigen Hinweis.“
„Und welchen?“, fragten Porthos und d’Artagnan gleichzeitig.
Athos zog das Medaillon aus der Tasche, das er schon Ellen präsentiert hatte. „Diese Kette gehört nicht ihr. Da stellt sich doch für mich die Frage. Wem gehört sie dann? Mit Gewissheit keinem Mann!“
D’Artagnan begriff schnell. „Du denkst, auch Francis hatte noch eine Geliebte?“
„Ja. Und ich denke, dass diese geheimnisvolle Geliebte der Schlüssel zur Lösung dieses Mordfalles ist!“
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Damals, als Constance Bruder Mathias das erste Mal hatte holen lassen, um ihren Mann von einer schlimmen Erkältung zu heilen, hatte sie den Mönch erst für eine Witzfigur gehalten. Er hatte ihr einen äusserst seltsamen und beängstigenden Vortrag über Erkältungen gehalten, danach hatte er sie gezwungen ein eiskaltes Bad zu nehmen, um der Gefahr einer Ansteckung vorzubeugen, wie er sagte. Er selbst hatte sich etwa zehnmal die Hände gewaschen, bevor er sich überhaupt ihrem Mann genährt hatte. Constance war kurz davor gewesen ihn aus dem Haus zu werfen. Dann hatte sie gesehen, wie liebevoll und kundig er sich um den Kranken gekümmert hatte und ihr war klar geworden, dass er trotz seiner Ängstlichkeit – oder vielleicht auch wegen – ein guter Arzt war.
Dasselbe dachte sie, als sie zusah, wie er sich um Aramis kümmerte. Bevor er überhaupt angefangen hatte ihn zu untersuchen, hatte er sich auf die Bettkante gesetzt und leise mit dem Musketier gesprochen. Bereitwillig – was wohl auf seinen geschwächten Zustand zu schieben war – hatte dieser Auskunft gegeben und seine Beschwerden geschildert. Mathias‘ Gesichtsausdruck verriet nichts über seine Gedanken, auch nicht als er Aramis‘ Stirn fühlte und nach dem Puls tastete. Das alles tat er mit grosser Sanftheit, so dass sich der Musketier unter seinen geschickten Handgriffen sichtlich entspannte.
Schliesslich schob Mathias Aramis‘ Hemd nach oben und legte das Ohr auf seine entblösste Brust. Aramis gab einen überraschten, keuchenden Laut von sich, liess es aber geschehen. Mathias lauschte, verzog unwillig das Gesicht und richtete sich wieder auf. „Monsieur, ich lass Euch jetzt wieder etwas ruhen, während ich Madame Bonacieux das Rezept meines berühmten Fiebertees verrate.“
Er deckte Aramis wieder zu und wollte aufstehen, doch Aramis hielt ihn zurück. „Ihr braucht nicht so zu tun, als sei das eine gewöhnliche Fiebererkrankung. Ich weiss, der Teufel sitzt in meiner Brust.“
Mathias wirkte verblüfft. Wahrscheinlich hatte er einfach nicht erwartet, dass Aramis über medizinische Kenntnisse verfügte. Behutsam legte er die Hand auf die schwarzen Locken. „Wo auch immer der Teufel sitzt: Gott wacht über Euch.“ Und Aramis schlief mit einem friedlichen Lächeln auf dem Gesicht ein.
„Dieses Fieber muss unbedingt runter“, sagte Mathias später zu Constance, als sie gemeinsam in der Küche standen.
Sie schluckte schwer. „Ich weiss. Glaubt mir, ich habe alles versucht, aber es will einfach nicht sinken.“
„Immerhin scheint er klar im Kopf zu sein.“
Wie sehr wünschte sich Constance diese Aussage bejahen zu können. Doch wie sollte Mathias Aramis helfen, wenn sie ihm etwas vormachte? „Nicht immer. Er hat Alpträume und wenn er aufwacht, ist er verwirrt und bringt alles durcheinander. Und wenn er ganz bei sich ist, ist er einfach erschöpft.“
„Hm.“
Constance fasste sich ans Herz. Auch wenn sie die Wahrheit fürchtete, sie musste das jetzt wissen. „Bruder Mathias, sagt es mir: Was fehlt ihm?“
Bruder Mathias sah aus, als wäre er am liebsten überall nur nicht hier bei ihr. Aber er wagte es nicht, wieder auszuweichen und sagte einfach: „Ich denke, Monsieur Aramis hat eine schwere Lungenentzündung.“
Lungenentzündung. Constance schloss langsam die Augen, als könne sie damit die Tatsache aussperren. Lungenerkrankungen waren immer schlimm und bei Aramis schien sie schon weit fortgeschritten zu sein. Die Verzweiflung klammerte sich um ihr Herz. Das durfte nicht sein. Er durfte nicht sterben, nicht wegen einer solchen dummen Krankheit. Aramis war ein Mann, der im Kampf fallen musste, Seite an Seite mit seinen Brüdern. Dahinzusiechen in einem Krankenbett, das konnte nicht sein Schicksal sein.
„Aber er wird doch wieder gesund? Ihr könnt ihn wieder gesund machen? Ich meine, an einer Lungenentzündung stirbt man doch nicht gleich!“ Sie hörte selbst, wie kläglich das klang.
Unglücklicherweise war Bruder Mathias nicht gerade die hoffnungsvollste Person. „Oh, leider sterben viele Menschen an einer Lungenentzündung! Es ist eine äusserst tückische Krankheit. Vor ein paar Monaten ist einer unserer Brüder daran erkrankt“, erzählte er eifrig, „und ich habe einige neue Behandlungsmethoden ausprobiert, um ihn zu retten.“¨
„Und er hat überlebt?“
„Nein, er ist gestorben. Ging am Ende ziemlich schnell.“
Constance brach in Tränen aus. Bruder Mathias sah sie erstaunt an, bis es ihm zu dämmern schien, dass diese Geschichte keineswegs eine beruhigende Wirkung hatte. Sichtlich überfordert mit ihr, tätschelte er ihr hilflos die Schulter. Die schüchterne Geste hatte so etwas Rührendes, dass Constance trotz ihrer Tränen lächeln musste.
„So war das nicht gemeint, Madame Bonacieux! Das war ungeschickt ausgedrückt, ich wollte damit nur sagen, dass ich durchaus Erfahrung habe, was Lungenentzündungen betrifft. Wisst Ihr, der erkranke Bruder war alt und schwach, Aramis dagegen ist ein junger, kräftiger Soldat, der sich Entbehrungen gewöhnt ist. Ich denke wirklich, dass wir eine gute Chance haben, diesen Kampf zu gewinnen!“
Sie schenkte ihm ein tränenverschmiertes Lächeln. „Ich darf also hoffen?“
„Hoffen dürft Ihr immer, Madame Bonacieux. Denn so lange es einen Gott gibt, wird es immer Hoffnung geben.“
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Anmerkung: Ich bin ja nicht gerade ein Genie was die Lebensumstände dieser Zeit betrifft, aber ich habe nachgeschlagen und offenbar haben die Menschen sehr früh geschnallt, was eine Lungenentzündung ist und ihr auch ziemlich schnell diesen Namen gegeben. Also dachte ich, dass Bruder Mathias getrost die ominöse Krankheit benennen darf.
Kapitel Was der Tote verbarg
Kapitel 17
Was der Tote verbarg
Porthos hatte ein schlechtes Gewissen. Seit Aramis im Gefängnis gelandet war, hatte er Adelina kaum gesehen, geschweige denn gesprochen. Sie musste sich vernachlässigt fühlen. Gewiss war sie sich von ihren früheren Liebhabern ganz etwas anderes gewöhnt. Sie war schön, sie war reich, sie war exotisch. Und was war er? Ein Musketier, der von der Hand im Mund lebte und sich noch dazu ständig in irgendwelche Intrigen verwickelte. Und in den letzten Tagen sogar recht viel Zeit mit seiner Jugendliebe verbracht hatte.
Adelina wirkte allerdings keineswegs wütend, als sie auf ihn zukam. Im Gegenteil. Sie raffte ihre Röcke, rannte auf ihn zu und warf ihm jubelnd die Arme um den Hals. Verblüfft, aber erfreut drückte er sie an sich und hob sie hoch. Erst jetzt, als er das Gesicht in ihren Locken vergrub und ihren Duft einsog, wurde ihm bewusst, wie sehr er sie vermisst hatte.
Sie lösten sich schweratmend voneinander. „Lange nicht gesehen, Fremder.“
„Es tut mir leid, ich…“ begann Porthos, aber Adelina legte ihm den Zeigefinger auf die Lippen und hakte sich bei ihm unter.
„Lass uns ein Stück gehen. Dann kannst du mir alles erzählen.“
Es war ein schönes Gefühl nach all den Toten, Verschwörungen und der ständig nagenden Sorge um Aramis, mit Adelina am Arm durch den prächtig angelegten Garten des Palastes zu spazieren. Sie hörte ihm geduldig und mit angehaltenen Atem zu. Als er ihr von Ellens dreisten Lügen erzählte, schüttelte sie fassungslos den Kopf und sagte verächtlich. „Wie konnte sie nur! Und den armen Aramis wollte sie opfern, nur damit sie reich heiraten konnte? Was für ein Miststück!“
„Eine Dame von hoher Geburt sollte nicht solche Wörter in den Mund nehmen“, zog er sie auf. Aber sein Herz lachte, bei dem Gedanken, dass sich Adelina so empörte, obwohl sie Aramis nicht kannte und ihm ihr Schicksal eigentlich egal sein konnte. Sie litt mit Aramis, weil sie mit Porthos fühle. Es schien, als habe er wirklich einen Goldschatz gefunden und so schnell würde er ihn nicht mehr loslassen.
Adelina knuffte ihm spielerisch in die Seite. „Aramis‘ Flucht hat sich allerdings schon herumgesprochen. Der Kardinal ist das Ziel des ganzen Hofspottes. Wo habt ihr Aramis eigentlich hingebracht?“
„In Sicherheit“, antwortete Porthos knapp. Er wollte es nicht riskieren, hier so nahe am Palast den Aufenthaltsort seines Freundes preiszugeben. Der Kardinal hatte seine Ohren und Spione überall, selbst draussen im Garten. Und auch wenn Tréville mit Richelieu so etwas wie eine Übereinkunft getroffen hatte, traute Porthos dem roten Herzog nicht über den Weg.
Adelina bedachte ihn mit einem prüfenden Blick. „Du machst dir Sorgen.“
„Und woran erkennst du das?“
Sie blieb abrupt stehen und hob sich auf die Zehnspitzen. „An der Falte. Hier direkt über deiner Stirn.“ Sie fuhr mit dem Finger darüber und Porthos spürte ein leises Erschauern. Er fing ihre Hand behutsam ein und hielt sie fest umklammert, als er sie küsste. Schnell zog sie ihn hinter einen Baum, um etwas besser geschützt vor den neugierigen Blicken zu sein. Ihre feurigen Lippen auf den seinen verjagten für einen Moment jeden Gedanken an Aramis, Ellen und Francis. Er drängte sie an den Baum, schob gleichzeitig ihre Röcke hoch, um über die weiche Haut ihrer Schenkel zu streichen. Sie erbebte unter seinen Berührungen, schob dann aber seine Hände weg und umschlang stattdessen mit beiden Beinen seine Hüfte, als sei sie eine Katze und keine ausgewachsene Frau. Obwohl sie keineswegs schwer war, gab Porthos ein dramatisches Stöhnen von sich und liess sich mit ihr ins Gras fallen. Sie gab ein empörtes Kreischen von sich, hörte aber nicht auf ihn zu küssen.
Zu gerne hätte er sie hier und jetzt ausgezogen. Sie war so schön, wie sie da auf ihn kniete mit ihrem roten Haar, das sich aus der sorgfältig hochgesteckten Frisur löste und ihren blitzenden Augen. Sie fühlte sich so gut an, ein warmer, bebender Körper, der sich so perfekt an ihn schmiegte, als gehöre sie ganz dahin. Sie roch so gut, nach Asche und Rosenblättern, eine Geruchsmischung, die er so noch nie bemerkt hatte. Doch jetzt war nicht die Zeit dazu. Jederzeit konnte jemand vorbeikommen und auch wenn Louis nicht gerade ein sittenstrenger König war, ein Musketier, der sich am helllichten Tag im königlichen Garten mit einer Hofdame vergnügte, würde ihm wohl kaum gefallen.
Und Aramis brauchte ihn.
Also löste Porthos behutsam den Kuss. Adelina rollte sich mit in einem enttäuschten Seufzer von ihm und blieb ausgestreckt im Gras liegen. Ihr rotes Haar lag da wie ein Fächer und Porthos strich bewundernd und zugleich entschuldigend über die seidige Pracht. „Es ist nicht fair, wenn du aufhörst, sobald es richtig Spass macht“, schmollte sie.
Er wickelte sich eine ihrer Locken um den Finger. „Ich muss dich etwas fragen, Adelina.“
Sie hob die Brauen. „Mach mir jetzt bitte keinen Heiratsantrag. Du weisst, mein Vater würde mich umbringen, wenn ich einen Franzosen heiraten würde.“
Porthos lachte. „Nein. Es ist leider etwas viel weniger Romantisches. Kennst du diese Kette?“ Er kramte in seiner Tasche nach der Kette, die Athos ihm übergeben hatte. Sie waren sich einig gewesen, dass Francis‘ Geliebte wahrscheinlich dieselbe geheimnisvolle Person war, die den Kardinal und Tréville überfallen hatte. Und weil diese wahrscheinlich bei Hof lebte, bestand die Möglichkeit, dass Adelina das Schmuckstück erkannte.
Eine geringe Möglichkeit. Aber sie war immerhin da.
Und tatsächlich. Als Porthos Adelina die Kostbarkeit zeigte, schnappte sie hörbar nach Luft und griff danach. „Woher hast du die?“, fragte sie, während sie sich aufrichtete und die Kette nachdenklich durch ihre Finger gleiten liess.
„Die fanden wir am Tatort. Du weisst schon. Dort wo Francis getötet worden ist. Wir dachten erst sie sei von Ellen aber…“
„Nein, das ist nicht von Ellen“, unterbrach ihn Adelina, „ich kenne diese Kette. Sie gehört einer meiner Zofen und zwar Fleur Delacroix.“
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„Wisst Ihr, wenn Ihr mögt, könnt Ihr auch gerne hier übernachten. Ihr scheint ja einen Narren an meinen Leichen gefressen haben“, begrüsste der Leichenfledderer Duval sie und sein dreckiges Grinsen machte seinen geschmacklosen Scherz noch eine Spur widerlich. In einem stimmte Athos ihm allerdings zu. Sie verbrachten wirklich zu viel Zeit mit Leichen.
„Wir sind hier um Robert Dupont zu sehen“, verlangte d’Artagnan mit jenem Selbstbewusstsein, das ihn so auszeichnete. Athos war froh, dass der Gascogner bei ihm war. Ihm selbst war bei all den vermodernden Leibern um ihn herum furchtbar übel und es machte die Atmosphäre auch nicht gerade angenehmer, dass irgendjemand im Hintergrund schrecklich weinte. Vermutlich ein armer Tropf, der gerade den Verlust eines Angehörigen betrauerte.
Duval kratzte sich am Kopf und Athos verzog angewidert das Gesicht, bei dem Gedanken was wohl alles an diesen schmutzigen Fingernägeln haftete. „Robert Dupont, ein ganz neuer Freund von mir, heute Morgen erst eingetroffen. Noch ganz frisch. Scheint sich aber grosser Beliebtheit zu erfreuen. Ist schon jemand bei ihm.“ Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter in eine der hinteren Kammern.
Als Athos hinter d’Artagnan eintrat, entdeckte er auch den Ursprung der verzweifelten Schluchzer, die im ganzen Keller widerhallten. An der Seite des aufgebahrten Duponts sass ein zusammengesunkener Mann, der sich die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Der Anblick war herzzerreissend, auch wenn Athos nicht recht nachvollziehen konnte, wie sich ein erwachsener Mann dermassen von seinen Gefühlen mitreissen lassen konnte. Es war ihm peinlich, jemanden in einem solchen Zustand sehen zu müssen.
D’Artagnan kannte eine solche Scham jedoch nicht. Mitfühlend legte er dem Mann die Hand auf die Schulter. Dieser fuhr erschrocken herum, als hätte ihn eine Tarantel gestochen. Und im tanzenden Schein der Fackeln erkannte Athos das Gesicht von Monsieur Lefèvre, dem Wirten der „Fröhlichen Gans.“ Ohne seine schrille Kleidung wirkte er ungewöhnlich blass und auch die Tränenspuren, die sich auf seinen Wangen abzeichneten passten nicht zu dem sonst so lebensfrohen Mann.
Athos öffnete den Mund zur Begrüssung, da stand Monsieur Lefèvre auch schon auf und drängte sich beinahe grob an ihnen vorbei. Verwundert blickte Athos ihm nach. Er kannte Lefèvre als geschwätzigen, gar überdrehten Wirten, der ihn auf der Strasse sonst immer mit lautem Hallo begrüsste, auch wenn Athos es meist nach Kräften vermied sein Lokal aufzusuchen. Dass er jetzt so fluchtartig das Weite suchte, kam ihm mehr als seltsam vor.
„War das nicht der Wirt von Aramis‘ Lieblingslokal?“, fragte d’Artagnan und starrte dem Mann hinterher.
„Doch“, bestätigte ihm Athos, „scheint sehr zu trauern.“
D’Artagnan saugte nachdenklich an seiner Unterlippe. „Hm. Fast ein bisschen zu sehr.“
Athos blickte ihn überrascht an. Das klang, als habe der Gascogner einen seiner berühmten Geistesblitze. „Was willst du damit sagen?“
Sein Freund zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Ach, eigentlich nichts Bestimmtes. Aber wenn ich überraschend das Zeitliche segnen würde, würde der Wirt meiner Lieblingskneipe nicht weinend an meiner Totenbahre sitzen.“
„Doch. Aber wahrscheinlich würde er all den Rechnungen nachweinen, die dann niemals beglichen werden würden“, lächelte Athos. Dennoch hatte d’Artagnan Recht. Robert und Lefèvre schienen ein weitaus engeres Verhältnis zueinander gehabt zu haben, als bisher angenommen. Jetzt gab es aber anderes, um das sie sich kümmern musste.
„Duval! Kommt doch mal her“, sagte Athos mit jener Autorität in der Stimme, die sein Vater ihm als Kind eingebläut hatte.
Der Leichenbeschauer schlurfte zu ihnen. „Womit kann ich Euch dienen?“
„Erzählt doch mal etwas über Euren Gast.“ Athos deutete mit dem Kinn auf Roberts toten Leib.
Duval grinste wie eine sattgefressen Katze. Er liebte es über Leichen zu erzählen. Beinahe zärtlich sah er auf den starren Körper hinab, der bereits so erkaltet war, dass er nichts mehr Menschliches an sich hatte. Beinahe zärtlich strich Duval über den dunklen Haarschopf, fuhr dann mit dem Finger über die Wange und landete schliesslich beim Hals. Athos wurde mit einem Mal so flau im Magen, dass er sich an d’Artagnans Arm klammern musste, um nicht einzuknicken.
Duvals Hand streichelte die Würgemale. „Nun, der Mann wurde eindeutig erwürgt. So viel kann ich Euch sagen.“
„Ach ja? Das ist uns gar nicht aufgefallen“, sagte d’Artagnan sarkastisch.
Duval ignoriere seinen Einwand. „Abgesehen davon, dass er nicht mehr sehr lebendig ist“, er kicherte albern über seinen eigenen Witz, „ist dieser Mann in einem körperlich sehr guten Zustand. Allerdings ist etwas merkwürdig. Ich habe mir das Seil angesehen, dass er um seinen Hals hatte. Es war ein breiter, grob gearbeiteter Strick, nicht wahr?“
Jetzt hoben d’Artagnan und Athos gleichzeitig die Schultern. „Wir haben den Strick nicht gesehen“, räumte Athos ein. Zum Glück. Auch wenn er es Porthos wahrlich nicht gönnte, dass er diesen grausigen Fund hatte machen müssen, war er doch froh, dass ihm selbst dieser Anblick erspart geblieben war.
„Dann werde ich ihn Euch mal zeigen.“ Duval verschwand und tauchte kurz darauf mit einem geflochtenen Strick in der Hand wieder auf. Er legte es dem Toten um den Hals. „Fällt den Herren irgendetwas auf?“
D’Artagnan und Athos beugten sich vor. Erst verstand Athos nicht, was Duval meinte, doch dann sah er es. Die Wundmale an Roberts Hals passten nicht zu dem Strick. Sie waren schmal, der Strick jedoch war sehr breit. Auch d’Artagnan kam zu dieser Schlussfolgerung. „Was auch immer Robert umgebracht hat. Es war nicht dieses Seil.“
Athos richtete sich auf. „Nein. Und ich wette, er hat sich auch nicht selbst das Leben genommen. Wir haben es mit einem weiteren Mord zu tun.“
Duval liess ein unpassendes Lachen hören. „Nun, wem wohl als nächstes die Stunde schlägt?“, unkte er.
Das fragte Athos sich allerdings auch. Und er konnte nur beten, dass es keinen seiner Freunde treffen würde.
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Constance erwachte jäh aus ihrem Schlummer. Erschrocken hob sie den Kopf. Eigentlich hatte sie sich nur kurz setzen wollen, aber die Erschöpfung war übermächtig gewesen. Sie war am Küchentisch eingeschlafen. Seufzend rieb sie sich den schmerzenden Nacken und stand auf. Der harte Stuhl war nur bedingt als Schlafplatz geeignet und sie fühlte sich noch ausgewrungener als vor ihrem kurzen Nickerchen.
Ein gellender Schrei aus Aramis‘ Schlafzimmer riss sie aus ihrer Lethargie. Voller Angst raffte sie ihre Röcke und eilte aus der Küche. Sie hatte den kranken Musketier in der Obhut von Bruder Mathias gelassen, in dem Wissen, dass er bei dem überbesorgten Mönch in besten Händen war. Jetzt war sie sich da allerdings nicht mehr sicher.
Ausser Atem stürzte sie in das Zimmer. Bruder Mathias hatte beide Hände auf Aramis‘ heftig zitternde Schultern gelegt und sprach beruhigend auf ihn ein. „Alles ist gut, Monsieur. Ihr seid in Sicherheit. Wir kümmern uns um Euch.“ Seine Stimme klang sanft und einlullend, dennoch stiess Aramis ihn von sich. „Wo bin ich? Was wollt Ihr von mir?“, fragte er hustend, während er schützend den Arm um sich legte.
Ganz offensichtlich war er im Delirium und Constance brauchte erst gar nicht seine Temperatur zu prüfen um zu wissen, dass das Fieber noch gestiegen war.
„Ihr seid bei Madame Bonacieux. Ihr seid krank, Aramis. Ihr solltet versuchen zu schlafen“, erklärte Mathias freundlich.
Aramis wirkte noch verwirrter. „Madame Bonacieux?“ Seine Stimme war verwaschen vom Fieber und vom vielen Husten.
Constance trat zu ihm. „Ich bin es, Aramis. Constance. Wir sind zusammen geflohen. Aus dem Gefängnis. Weisst du nicht mehr?“ Sie legte ihm die Hand auf dem Arm. Aramis starrte sie lange an, seine Brust hob und senkte sich so heftig, dass sie fürchtete er könnte ersticken. Dann jedoch flackerte Erkennen in seinen fiebrigen Blick auf. „Constance. Wo ist Porthos?“
In seiner Stimme klang ein so flehender Unterton mit, dass es Constance schier das Herz zerreissen wollte. Und wie sehr wünschte sie sich, Aramis‘ Freunde wären hier um ihn beistehen zu können. Athos wäre eine sichere Präsenz am Krankenbett und selbst im Fieber würde Aramis auf ihn hören. D’Artagnan würde mit seiner unerschütterlichen Fröhlichkeit die Hoffnungslosigkeit, die sich mit jeder Stunde mehr in das Krankenzimmer einschlich, vertreiben. Und Porthos wäre die Stütze, die Aramis in seiner Verwirrung so dringend gebraucht hätte. Aber sie waren nicht hier. Sie war alleine.
„Porthos ist in Paris. Mit d’Artagnan und Athos. Sie versuchen den wahren Mörder von Francis zu finden. Damit du schnell nachhause kannst.“
Das hätte sie lieber nicht gesagt. Aramis stiess einen Schrei aus und riss sich von Mathias, dessen Hände noch immer auf seinen Schultern ruhten, los. „Nein! Er muss da weg, Paris ist gefährlich für ihn! Paris hat Francis umgebracht“, stammelte er und packte Constance am Handgelenk.
„Niemand wird Porthos etwas tun, Aramis. Du kennst ihn doch, unser guter Porthos ist wie ein Fels in der Brandung: unerschütterlich. Ausserdem sind d’Artagnan und Athos bei ihm. Sie werden ihn beschützen!“ Sie redete mit Engelszungen, aber sie begriff schnell, dass Aramis kein einziges Wort von dem verstand, was sie von sich gab. Das Fieber hatte ihn zu fest im Griff.
„Porthos“, murmelte Aramis hektisch, „ich muss zu Porthos!“ Mit plötzlich aufflammender Energie warf er die Decke von sich und schwang seine Beine aus dem Bett.
„Das würde ich lieber lassen“, rief Bruder Mathias alarmiert, „in Eurem Zustand ist das unverantwortlich und…“
Bruder Mathias kam nicht mehr dazu, Aramis über die Gefahren des zu frühen Aufstehens aufzuklären. Der Musketier knickte ein, kaum hatten seine Füsse den Boden berührt. Constance und Mathias griffen zwar noch nach ihm, aber es gelang ihnen nur den Sturz etwas abzumildern. Aramis sackte zusammen, wie eine Puppe deren Fäden man durchtrennt hatte.
„Dummer Junge“, tadelte Mathias ärgerlich, als sie sich gemeinsam abmühten ihn wieder ins Bett zu hieven. Als sie ihn wieder unter die Decke gepackt hatten, strich Constance ihm über die fiebrig gerötete Wange. Aramis wandte stöhnend den Kopf auf die andere Seite. „Porthos“, wimmerte er.
Sie lehnte ihre kühle Stirn gegen seine brennend heisse. „Alles wird gut“, flüsterte sie, wie sie es ihm wohl schon tausendmal versprochen hatte. Diesmal glaubte sie aber selbst nicht mehr so recht daran. Aramis war ein Kämpfer. Diesen Kampf jedoch, den Kampf gegen diese tückische Krankheit drohte er zu verlieren. Und sie war dazu verdammt, ihm dabei zuzusehen.
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„Und jetzt soll dieser brave gute Mann tot sein!“
D’Artagnan trat unruhig von einem Fuss auf den anderen. Duponts Vermieterin, eine freundliche alte Dame, die auf den klangvollen Namen Madame Fioretti redete ununterbrochen seit sie ihr die Todesnachricht gebracht hatten. Sie beschrieb ihnen Roberts Charakter in glühenden Farben und nach ihrer Schilderung war Dupont so etwas wie ein zweiter Jesus.
Athos wurde jetzt ebenfalls ungeduldig. „Madame Fioretti, wir würden uns gerne die Wohnung von Robert ansehen. Vielleicht finden wir Hinweise auf seinen Mörder.“
Madame Fioretti riss die Augen auf. „O mein Gott! Was wenn der Mörder hierherkommt?! Möglicherweise bin ich in Gefahr!“
„Das wage ich zu bezweifeln“, entgegnete Athos trocken, „ich denke, Ihr habt nichts zu befürchten.“
Madame Fioretti schien jedoch nicht überzeugt zu sein. Sie klammerte sich an Aramis‘ Ärmel, als sei er ihre Rettungsleine. „Wenn diese Mörder selbst vor einem so lieben Mann wie Robert Dupont nicht Halt machen, sind sie auch imstande eine alte Dame zu ermorden!“, ereiferte sie sich und zerrte so heftig an dem Ärmel, dass Athos beinahe vornüber kippte.
Auch wenn es durchaus amüsant war, zuzusehen wie die resolute Dame Athos partout nicht aus ihren Klauen lassen wollte, erbarmte sich d’Artagnan schliesslich. Immerhin waren sie hier um nachzuforschen, nicht um alte Damen ihre übertriebenen Ängste zu nehmen. Also beschloss d’Artagnan die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. „Madame Fioretti, glaubt mir, wir werden persönlich für Euren Schutz sorgen. Unser Athos wird sich gerne Nacht für Nacht unter Euer Fenster stellen um die bösen Buben daran zu hindern, in Euer Haus zu dringen.“
„Wird er?“, fragte Madame Fioretti begeistert.
„Werde ich?“, echote Athos ungläubig.
D’Artagnan schlang ihm gönnerhaft den Arm um die Schulter. „Unser Athos macht nicht gerne viel Aufhebens, aber er ist ein wahrer Held! Sie werden ihn gar nicht bemerken, so unauffällig wird er Wache halten.“
Bei Athos fiel endlich der Groschen. Galant lüftete er seinen Hut. „Madame, ich versichere Euch meines ewigen Schutzes. Ihr könnt Euch also ganz beruhigt zurückziehen“, säuselte er und setzte seiner Darstellung noch die Krone auf, indem er ihre Hand küsste. Sie errötete wie ein junges Mädchen und dankte ihnen überschwänglich. Erst dann gab sie endlich die Tür zu Duponts Wohnung frei.
„Du hast eine unglaubliche Wirkung auf Frauen, mein Freund“, grinste d’Artagnan, während sich Athos damit abmühte die Tür aufzuschliessen.
„Ich habe schliesslich vom Besten gelernt“, knurrte Athos, „verflucht, diese Tür klemmt. Offenbar will das Schicksal uns hindern diese Wohnung zu betreten!“
„Von mir?“, erkundigte sich d’Artagnan unschuldig und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür, die allerdings noch immer keinen Wank tat.
Athos bedachte ihn mit einem fast schon mitleidigen Blick. „Du bist ein gelehriger Schüler, aber es wird wohl eine Weile dauern bist du unserem Aramis in dieser Kunst das Wasser reichen kannst. Warum geht denn dieses blöde Ding nicht auf?“ Athos rüttelte ungeduldig an der Klinke.
„Ich werde fleissig weiterüben“, versprach d’Artagnan, „und jetzt werde ich dir helfen diese Tür zu öffnen, alter Mann.“ Und er trat ohne viel Federlesen die Tür ein. Jetzt verstand er auch, warum seine Freunde immer gerne zu diesem Mittel griffen um sich unerlaubt Zutritt zu verschaffen. Es machte richtig Spass.
„Und wie erklären wir der guten Madame Fioretti, dass ihre Tür jetzt nicht mehr ganz funktionsfähig ist?“, fragte Athos mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Schieb es auf die bösen Männer vor denen du sie beschützen sollst“, stichelte d’Artagnan, als sie Seite an Seite endlich die Wohnung betraten.
Zuerst fiel d’Artagnan die Peitsche auf, die an der gegenüberliegenden Wand hing, direkt neben einem grossen Kreuz. Athos und d’Artagnan tauschten einen bedeutungsvollen Blick. Offenbar hatte Robert in seiner Religiosität durchaus auch mal zu Selbstbestrafung gegriffen. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln, machten sich die beiden Freunde daran die Wohnung zu durchsuchen. Erst fühlte d’Artagnan sich unwohl dabei in fremden Sachen zu wühlen, aber dann schob er seine Bedenken beiseite. Robert würde es wohl kaum mehr stören.
Dupont schien penibel auf Ordnung geachtet zu haben. Das Geschirr stand fein säuberlich gestapelt in den Schränken, die Bücher im Regal waren nach Grösse geordnet, das Bett war so ordentlich gemacht, wie es d’Artagnans noch nie gewesen war. D’Artagnan durchsuchte Roberts Kleiderschrank, fand aber nichts Aussergewöhnliches. Dann sah er sich die Bücher durch. Viel Interessantes war nicht dabei. Theologische Schriften, mehrere Fassungen der Bibel…der Mann schien ganz für seinen Glauben zu leben.
„d’Artagnan?“ Athos trat in das Zimmer, ein Bündel Briefe in der Hand.
„Hast du was gefunden?“
Athos entfaltete einen der Briefe. „Sogar etwas sehr Interessantes. Hör dir das mal an: Jeden Moment, den ich getrennt von dir verbringen muss, ist ein verlorener Moment. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander, statt nur diese flüchtigen, gestohlenen Augenblicke. Ich wünsche, ich könnte dich einfach küssen, ohne das Gefühl zu haben einen Verrat zu begehen. Manche begehren Juwelen oder Gold, für mich ist jedoch ein einziger Blick aus deinen schönen Augen mehr wert, als alle Schätze der Welt zusammen.“
Das klang wie etwas, das eine ziemlich romantisch veranlagte Dame geschrieben hatte. Vermutlich waren die Briefe sogar noch parfümiert. „Ein Liebesbrief. Ein ziemlich schmalziger Brief, nebenbei gesagt. Was ist daran so interessant?“
„Du musst es dir schon zu Ende anhören: Wäre ich nur eine Frau und du ein Mann, die Welt würde uns gehören. In ewiger Liebe, dein Pierre.“
„Robert liebte also einen Mann.“ Bei näherer Betrachtung war das nicht so überraschend, Andeutungen hatte es ja genug gegeben. Dennoch war es etwas anderes es so deutlich in einen Brief zu lesen. D’Artagnan konnte nicht recht nachvollziehen, wie man eine Beziehung mit einem Mann haben konnte und ein Teil von ihm, verurteilte dies auch. Gott hatte schliesslich Mann und Frau geschaffen. Alles andere erschien ihm unnatürlich. Was d’Artagnan jedoch sehr wohl nachvollziehen konnte, war der Schmerz einer unerfüllten Liebe. Unwillkürlich empfand er Mitleid, als er diese in Verzweiflung geschriebenen Zeilen hörte.
Athos nickte langsam. „Es scheint so. Was seiner priesterlichen Karriere eher hinderlich gewesen wäre. Doch es gibt noch etwas Interessantes: Du weisst es vielleicht nicht aber der Vorname des Wirtes Lefèvre lautet Pierre.“
D’Artagnan stiess einen Pfiff aus. „Dann war Dupont also…“
„Ja. Robert Dupont war der Geliebte von Pierre Lefèvre.“
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Kapitel Die verschollene Maid
Kapitel 18
Die verschollene Maid
Dass Adelina klug, leidenschaftlich und verrucht war, hatte Porthos schon gewusst. Es war ihm auch immer klar gewesen, dass sie dickköpfig, stur und unnachgiebig sein konnte. Und jetzt lernte er gerade, dass seine englische Lady eine begeisterte Ermittlerin war. Seit er ihr das verräterische Schmuckstück gezeigt hatte, ging sie erregt auf und ab, wobei ihre Röcke eine Spur im Gras hinterliessen. Die Kette hielt sie fest umklammert, als helfe sie ihr beim Nachdenken.
„Ich verstehe das nicht“, murmelte sie, „Fleur und Francis. Davon habe ich nichts bemerkt.“
„Du wirst wohl kaum über jede Liebelei deiner Zofen Bescheid wissen.“
Ein listiges Lächeln glitt über ihr hübsches Gesicht. „Ich unterhalte eine sehr enge Beziehung zu meinen Bediensteten, Porthos. Vor allem zu den Mädchen. Es gibt kein besseres Spionagenetz am Hofe als die Zofen.“
Da war bestimmt etwas Wahres dran. Frauen redeten nun mal untereinander und Zofen hatten zwangsläufig ein sehr enges Verhältnis zu ihren Herrinnen. Sie bekamen mit wer die Gemächer der Hohen Damen betrat und wer sie in welchem Zustand wieder verliess. Es war daher clever, sich ihrer Zuneigung und Treue zu versichern. „Aber von Fleurs Beziehung zu Francis hast du nichts gewusst?“
Adelina blieb stehen und legte in koketter Weise den Kopf schräg. „Möglicherweise war ich abgelenkt von meinem eigenen Musketier“, sagte sie augenzwinkernd.
„Nun ja, du hast ja auch ein besonders gutaussehendes Exemplar erwischt“, ging Porthos auf ihre Neckerei ein. Er wusste, er sollte sich nicht ablenken lassen, aber das war nicht gerade einfach. Adelina vermochte es immer wieder, ihn in seinen Bann zu schlagen und seine Gedanken zu verwirren. Ein Blick in ihr ausladendes Dekolleté reichte, um ihn an ganz andere Sachen denken zu lassen, als an Leichen.
Sie warf ihm eine Kusshand zu, setzte ihre rastlose Wanderung aber fort. „Fleur ist eigentlich eine sehr zuverlässige Zofe. Aber sie ist sehr hübsch und sie liebt es, ihre Reize einzusetzen. Ihr wurde schon manche Affäre nachgesagt. Von daher, sollte es mich eigentlich nicht wundern, dass sie auch mit Francis intim wurde.“
„Nun, das allein ist noch kein Verbrechen. Nur weil sie mit ihm zärtlich verbunden war, heisst das nicht, dass sie ihn umgebracht hat.“
Adelina wirbelte zu ihm herum. „Schon. Aber warum hat sie es niemanden erzählt? Sie wäre vielleicht eine wichtige Zeugin! Seit Tagen redet der Hof über nichts anderes, als über den Mord an Francis. Und ihr ist es nicht in den Sinn gekommen, zu enthüllen, dass sie seine Geliebte gewesen ist? Also, wenn du mich fragst ist das sehr verdächtig.“ Sie sah ihn herausfordernd an, als erwarte sie Widerspruch.
Ihre Argumentation war schlüssig. Zudem wäre es Fleur, die bei Hofe lebte, möglich gewesen, nachts in die Bibliothek zu schleichen und sich mit dem Kardinal um die Bibel zu prügeln. Aber noch fehlte etwas: Das Motiv. Wieso sollte Fleur so etwas tun? Eifersucht? Ein Streit unter Liebenden? „Woher kommt Fleur eigentlich? Ich meine, wer sind ihre Eltern? Und wie lange arbeitet sie schon im Palast.“
„Ich weiss wenig von ihrem Hintergrund“, gab Adelina zu, „aber sie diente vor mir Madame de Chevreuse und die legte sie mir sehr ans Herz. Mir reichte die Empfehlung einer solch ehrenwerten Dame um Fleur bei mir aufzunehmen.“
Dass diese ehrenwerte Dame mehr Skandale verbuchte als alle anderen adeligen Frauen zusammen und zudem als die Königin der Intrigen galt, schien Adelina nicht zu wissen. Allerdings konnte Porthos nicht recht glauben, dass die Chevreuse eine Gaunerin an den Hof schleuste. Immerhin war sie Anna freundschaftlich verbunden und würde sie wohl kaum einer solchen Gefahr aussetzen. „Und dir ist nie etwas Ungewöhnliches an ihr aufgefallen?“
Adelina wollte den Kopf schütteln, hielt aber jäh in der Bewegung inne. „Doch, da gibt es etwas. Manchmal, wenn sie sehr müde oder erschöpft ist, wird ihre Sprache irgendwie…seltsam.“
„Seltsam? Was meinst du mit seltsam? Spricht sie auf einmal griechisch oder sagt sie die Sätze rückwärts?“
Sie rammte ihre kleine Faust gegen seine Schulter. „Sei nicht albern. Sie spricht dann irgendwie…grob. Wie ein…Nun ja, wie ein Gossenmädchen.“
Die herablassende Art wie sie ‚Gossenmädchen‘ betonte, schmerzte Porthos. Immerhin stammte er selbst aus dem Verbrecherviertel von Paris. Doch trotz all ihrer Vorzüge, war Adelina durch und durch Aristokratin, die nur wenige Gedanken an das einfache Volk verschwendete. Er schob seine Empfindlichkeiten weg und sagte: „Zofen geniessen nun einmal nicht dieselbe hohe Erziehung wie blaublütige Damen.“
„Nein, aber sie fluchen normalerweise auch nicht wie Bierkutscher“ entgegnete Adelina.
„Aber denkst du wirklich, sie hat etwas mit dem Mord an Francis zu tun?“
Sie nahm ihn bei dir Hand. „Warum stehen wir eigentlich hier und reden über sie, wo wir doch genauso gut mit ihr reden könnten? Ich lasse sie in meine Gemächer rufen und dann soll sie uns sagen, in welchem Verhältnis sie zu Francis stand!“
Das war eigentlich ein guter Plan. Doch später, in Adelinas kostbar ausgestatteten Gemächern, warteten die beiden vergeblich darauf, dass Fleur dem Ruf ihrer Herrin folgte. Je länger sie ausblieb, desto wütender wurde Adelinas Gesicht, bis sie schliesslich gefährliche Ähnlichkeit mit einem Drachen hatte. Wenn sie Feuer gespuckt hätte, wäre Porthos nicht verwundert gewesen.
„Wo bleibt sie?“, fauchte Adelina und wieder wurde Porthos bewusst, wie sehr sie Aristokratin war. Sie war es nicht gewohnt, dass jemand ihren direkten Befehl ignorierte und sie warten musste.
Gerade wollte er sagen, dass sie schon noch kommen würde, da ging die Tür auf und ein Mädchen huschte in das Zimmer, wo sie gleich einen tiefen Knicks vollführte. „Womit kann ich Euch dienen?“
Porthos fand an dieser Frage nichts auszusetzen, doch Adelina starrte die Zofe an, als sei sie ein lilafarbenes Wildschwein. „Marie, was soll das? Ich habe ausdrücklich nach Fleur verlangt!“
Die arme Marie wirkte völlig verstört. „Aber Madame, Fleur ist nicht mehr im Palast“, stotterte sie. Die Kleine tat Porthos so leid, dass er ihr ein aufmunterndes Lächeln schenkte, doch diese war zu sehr auf die sturmumwölkte Miene Adelina konzentriert, um es überhaupt zu bemerken.
Adelinas grüne Katzenaugen wurden schmal. „Und wo ist sie dann?“, fragte sie, so schneidend und kalt, dass Porthos ihre Stimme kaum wiedererkannte.
„Sie hat gesagt, dass Ihr ihr Urlaub gegeben habt, weil doch ihre Tante plötzlich so schwer krank geworden ist“, stiess Marie so schnell hervor, als fürchte sie, die Worte sonst wieder zu vergessen.
Adelina wurde schlagartig bleich. „Ich habe ihr keinen Urlaub gegeben, Marie. Sie ist ohne meine Erlaubnis fortgegangen.“
Porthos unterdrückte ein Stöhnen. Das war ja klar gewesen. „Grossartig. Wieso können die Verdächtigen nicht einfach an Ort und Stelle bleiben, bis sie ordentlich vernommen worden sind? Ist das denn zu viel verlangt?“ Doch die beiden Damen blieben ihm eine Antwort schuldig.
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„Du musst es ihm sagen, Aramis!“
Diese Stimme! Diese verfluchte Stimme, die ihn nicht schlafen liess, die ihn quälte, ihm Vorwürfe machte und ihn immer wieder in den dunklen Abgrund seiner Fieberträume stiess. Francis‘ Stimme, die er nicht mehr loswurde, die wie ein Echo in ihm widerhallte. Stöhnend drehte er sich auf die andere Seite. Warum konnte Francis nicht schweigen?
„Er ist in Gefahr, Aramis. Dein bester Freund könnte sterben!“
Aramis‘ Finger krallten sich in die Laken. Eine Warnung. Francis wollte ihn warnen. Das hatte er schon einmal gemacht. Eine warme Frühlingsnacht, ein Becher Gewürzwein, ein Freund, der nicht so war, wie sonst. Ein blasses Gesicht, ein Flehen, eine Warnung und am Ende ein scharfer Schmerz, der durch seinen Kopf schoss. Das Fieber spielte mit seinen Erinnerungen und durchmischte sie, er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
„Sag es ihm!“
Wem sollte er es sagen? Wer war in Gefahr? Er könnte sich besser konzentrieren, wenn ihm nicht mehr so heiss wäre. Er wollte die Decke wegstrampeln, die sich schwer und feucht um seinen Körper gelegt hatte, aber seine Beine fühlten sich so schwer und nutzlos an, dass er nicht mehr die Kraft dazu fand.
„Sag es Porthos!“
„Porthos!“ Mit einem Schrei fuhr Aramis hoch. Wo war Porthos? Und wo waren Athos und d’Artagnan? Das Zimmer kam ihm fremd vor, es war nicht sein Raum in der Garnison. Wo war er? Panik stieg in ihm hoch. Er wollte nachhause, er wollte zu seinen Freunden und er wollte nicht länger in diesem Bett liegen, in diesem Bett, das ihn krank machte. Aber er konnte nicht aufstehen. Er schaffte es einfach nicht.
Der Husten überfiel ihn gemeinsam mit dieser Erkenntnis. Er krümmte sich, weil seine Brust so fürchterlich brannte. Seine Hand umfasste den Bettpfosten. Die Angst, die ihn packte, war schlimmer als das Fieber. Er würde ersticken. Er war alleine, weit weg von seinen Freunden und würde hier sterben, ohne Porthos warnen zu können.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Ganz ruhig, Monsieur. Atmet mit mir. Ein und Aus. Schön langsam. Ihr macht es nur schlimmer, wenn Ihr Euch so aufregt.“ Die Stimme klang ruhig und warm. Für einen Moment war Aramis sicher, dass Porthos da war. Hier. Neben ihm. Doch dann sah er die Mönchskutte und so etwas würde sein Freund niemals anziehen. Sein Herz wurde schwer.
„Porthos“, stiess er zwischen zwei Hustern hervor.
„Shhh. Konzentriert Euch auf das Atmen. Nicht sprechen, nur atmen. So ist es gut. Seht Ihr, es ist doch ganz einfach.“
Es half tatsächlich. Der Schmerz in seiner Brust verschwand nicht, aber das Gefühl zu ersticken ebbte langsam ab. Zurück blieb diese verfluchte Schwäche. Er schloss die Augen und fiel zurück in die Kissen. Eigentlich wollte er nicht schlafen, wollte nicht zurück in seine wirren Träume und in seine Erinnerungen. Aber er begriff langsam, dass ihm die Kontrolle über seinen Körper längst entglitten war. Und er fragte sich, ob sich Sterben so anfühlte.
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„Und wie sollen wir vorgehen?“, erkundigte sich d’Artagnan, als er gemeinsam mit Athos den Weg zur „Fröhlichen Gans“ einschlug, wobei er sich bemühen musste, mit seinen Freund Schritt zu halten, der so schnell ging, als wolle er in einem Tag die Welt umrunden.
„Nun, wir gehen da rein, sagen ‚Guten Tag‘ fragen ihn, warum er uns nicht erzählt hat, wie seine Beziehung zu Robert wirklich aussah und ob er ihn vielleicht zufällig getötet hat “, erklärte Athos knapp.
D’Artagnan wusste, dass Athos nicht gerade ein Meister in Sensibilität war, aber das war selbst für seine Verhältnisse sehr kaltherzig. Er zog ihn am Ellbogen zurück. „Athos, das kannst du nicht so machen!“
Blaue Augen blitzten ihn zornig an. „Was kann ich nicht so machen?“
D’Artagnan seufzte. Milady hatte viel bei Athos zerstört. Unter anderem seine Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen. Nein, korrigierte sich d’Artagnan, Eigentlich hatte Athos sie noch, aber er trug so viel Schmerz mit sich herum, dass er den von anderen nur ungern mitschulterte. „Also erstens hatte Monsieur Lefèvre allen Grund uns nicht zu gestehen, dass er eine romantische Beziehung zu Robert unterhielt. Wenn das die falschen Ohren vernehmen, hat er schneller eine Verabredung mit dem Henker als er ‚Gans‘ sagen kann. Und zweitens kannst du da nicht einfach reinmarschieren und ihn beschuldigen, nachdem er gerade die Leiche seines Liebhabers gesehen hat!“
„Wir haben jetzt keine Zeit für Empfindsamkeiten!“, knurrte Athos.
„Wir werden uns die Zeit nehmen müssen. Denn wenn du ihn vor dem Kopf stösst oder ihm gar drohst, wird er uns gar nichts erzählen!“
Für einen Moment glaubte d’Artagnan, Athos wolle ihm den Kopf abreissen. Doch schliesslich schüttelte der Älteste resigniert den Kopf. „Wann bist du eigentlich so verflucht vernünftig geworden?“
Das Lob freute d’Artagnan, zumal es aus Athos‘ Mund kam. „Einer muss es ja sein“, erwiderte er bescheiden.
Inzwischen waren sie vor der „Fröhlichen Gans“ angekommen. D’Artagnan entging nicht, dass ein höchst widerwilliger Ausdruck über das strenge Gesicht von Athos glitt. Aramis liebte das Gasthaus, weil sie seiner Auffassung von einem zügellosen und freien Leben entsprach. Porthos begleitete Arams öfters hierher, weil er ein grosses Herz hatte und sich nicht an Dingen störte, die anders und fremd erschienen. Und er selbst…nun, sein Motiv war wohl die Neugier und sein Verlangen, alles selbst zu erleben.
Bei Athos lagen die Dinge anders. Er kam nur dann mit, wenn er Aramis eine Freude machen wollte und selbst dann machte er deutlich, was er vom Wirtshaus hielt. Es stiess ihn ab. Die erotisch aufgeladene Atmosphäre, die Freizügigkeit, das wilde Leben, das sich hinter bürgerlichen Fassaden abspielte, das alles erfreute Athos nicht, sondern erschreckte ihn höchstens. Dass Robert Dupont und Monsieur Lefèvre mehr als nur Freunde waren, das entzog sich seinem Verständnis. Er mochte die Uniform seines Musketiers tragen, aber ein Teil von Athos würde immer ein Graf sein, der nach den uralten Werten seiner Familie lebte.
Bevor Athos die Flucht ergreifen konnte, nahm d’Artagnan ihn am Arm. „Überlass am besten mir das Reden. Und versuch um Himmels Willen, nicht ganz so grimmig dreinzuschauen!“ Athos brummelte irgendetwas, was d’Artagnan nicht verstehen konnte, aber er nahm nicht an, dass es Freundlichkeiten waren.
Er kannte das Wirtshaus eigentlich nur laut und belebt. Jetzt wirkten die Räume still und verlassen ohne die bunte Schar an Gästen und die grell bemalten Mädchen. Und Monsieur Lefèvre, sonst ein Bild des blühenden Lebens, sass zusammengesunken an einem der Tische und starrte betrübt in einen Bierkrug. Auf dem Stuhl neben ihm lag ein zerknüllter roter Stoff.
Als die Tür hinter den Musketieren geräuschvoll zufiel, schreckte er hoch. „Heute ist geschlossen“, sagte er mit vom Wein schwerer Stimme.
„Wir kommen nicht als Gäste, sondern als Musketiere. Wir müssen reden, Monsieur Lefèvre“, sagte d’Artagnan und versuchte zugleich warmherzig und würdevoll zu sprechen.
„Ich will jetzt nicht reden“, antwortete Monsieur Lefèvre und hob nicht einmal den Blick.
„Nur interessiert uns leider herzlich wenig was Ihr wollt!“, entgegnete Athos kühl.
„Athos, erinnerst du dich noch worüber wir eben noch gesprochen haben?“, zischte d’Artagnan in Athos‘ Ohr, ärgerlich darüber, dass sein Freund ihre ganze Strategie einfach mal so über den Haufen warf.
Léfevre mass sie mit einem langen, abschätzigen Blick. „Verschwindet“, sagte er dumpf und nahm einen tiefen Schluck.
Athos fuhr allerdings fröhlich damit fort weiter auf Lefèvres Gefühlen rumzutrampeln. „Wie war Euer Verhältnis zu Robert Dupont?“, bellte er den Wirt an, so dass dieser zusammenzuckte und vor Schreck das Bier verschüttete.
Er fing sich aber schnell wieder. „Ich denke nicht, dass Euch das irgendetwas angeht.“ Seine schneidende, kalte Stimme passte so gar nicht zu dem sonst so freundlichen Lefèvre und auch der bösartige Ausdruck in den Augen, kam d’Artagnan ganz fremd vor. Die Hand, die sich um den Krug geschlungen hatte, zitterte stark. Er war nervös und gereizt, eine eindeutig gefährliche Mischung.
Er zupfte Athos am Ärmel. „Wir sollten ein anderes Mal wiederkommen“, flüsterte er ihm zu. Allerdings schien sein Freund beschlossen zu haben, heute jeden Rat von ihm zu ignorieren. Statt den Rückzug anzutreten, trat er noch näher an Lefèvres Tisch heran und blickte so drohend auf ihn hinunter, als sei er ein äusserst bösartiges Exemplar einer Hausspinne. Dann beugte er sich zu ihm runter und brachte seinen Mund ganz nah an Lefèvres Ohr. „Manche begehren Juwelen oder Gold, für mich ist jedoch ein einziger Blick aus deinen schönen Augen mehr wert, als alle Schätze der Welt zusammen“, zitierte er aus dem verräterischen Liebesbrief.
Die Reaktion war heftig. Lefèvre brüllte wie ein verwundeter Stier, sprang auf und stiess Athos so heftig von sich, dass dieser über einen Stuhl gestürzt wäre, hätte d’Artagnan ihn nicht rechtzeitig am Ellbogen gepackt (wobei Athos es für diesen Auftritt wahrlich verdient hätte auf seinem Hintern zu landen). „RAUS! Auf der Stelle!“, schrie Lefèvre.
Athos jedoch schien heute von Selbstmordgedanken beseelt zu sein. Statt den Rückzug anzutreten, sagte er mit geschäftsmässiger Stimme: „Ihr wisst, dass das ein Angriff auf einen Musketier des Königs war und dass Ihr mit Konsequenzen zu rechnen habt?“
Als Antwort schleuderte Lefèvre seinen Bierkrug nach den beiden Musketieren. D’Artagnan hatte es seinem ausgezeichneten Instinkt zu verdanken, dass es ihm gelang sich rechtzeitig zur Seite zu werfen, denn der Krug flog genau dort durch, wo eben noch sein Kopf gewesen war und zerschellte an der Wand hinter ihm.
„Raus! Und wenn Ihr nicht sofort verschwindet, prügle ich Euch mit dem Besen hinaus, Musketier hin oder her!“, kreischte Lefèvre, wobei ihm Speichel über das Kinn floss.
Bevor Athos noch mehr Schaden anrichten konnte, schob d’Artagnan ihn auf die Strasse, wobei er nicht sonderlich zärtlich vorging. „Trotzdem noch einen schönen Tag!“, rief d’Artagnan über die Schulter, bevor die Tür mit solcher Wucht zugeschlagen wurde, dass er sich für einen Moment einbildete, das ganze Gebäude erzittere.
Schäumend vor Wut wandte d’Artagnan sich an Athos. „Bist du eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Was sollte das eben? Haben wir uns nicht darauf geeinigt, dass wir behutsam vorgehen und nicht wie eine Horde Berserker?“ Einige Leute auf der Strasse drehten sich neugierig zu ihnen herum, aber das war d’Artagnan egal.
Athos jedoch schien sich keiner Schuld bewusst zu sein. „Ich finde, es hat ganz gut geklappt.“
D’Artagnan traute seinen Ohren kaum. „Ganz gut geklappt? Athos, wir wurden eben um ein Haar von einem herumschwirrenden Bierkrug erschlagen!“
„Und haben dabei ganz nebenbei herausgefunden, dass die beiden wirklich eine geheime Beziehung zueinander unterhielten, dass Lefèvre nicht darüber sprechen will und dass er Damenbesuch hatte!“
D’Artagnan hatte schon den Mund aufgeklappt um Athos noch einige Nettigkeiten an den Kopf zu werfen. Jetzt stutzte er. „Damenbesuch? Wie kommst du darauf?“
Sein Mentor lächelte. „Auf dem Stuhl neben ihm lag ein roter Damenmantel. Monsieur Lefèvre mag einen ausgefallen Kleidungsstil pflegen, aber ich denke nicht, dass das zu seiner Garderobe gehört.“
Jetzt erinnerte sich d’Artagnan an das rote Knäuel. Er hatte es nicht als Kleidungsstück identifiziert, aber Athos‘ scharfe Augen offenbar schon. „Das kann auch ein Gast liegen gelassen haben.“
„Und warum hat er es dann nicht weggeräumt? Abgesehen davon, konnte er uns nicht schnell genug loswerden!“
„Weil du ihn provoziert hast! Ausserdem war er betrunken.“
Wieder zeigte Athos dieses hinterlistige Lächeln. „Nein. Wir sollten nur glauben, dass er betrunken ist. Er war vollkommen klar im Kopf. Oder warum glaubst du, konnte er so gut zielen und hätte dich beinahe mit dem Krug getroffen?“
D’Artagnan mochte es nicht sonderlich, dass Athos jetzt den Überlegenen spielte. Er wusste, dass Athos klug war und auf Dinge achtete, die sonst keiner sah, aber das kam ihm jetzt etwas arg zusammengeschustert vor. „Und nur weil er mich beinahe erwischt hätte, bist du dir sicher, dass er nicht betrunken war?“
In Athos‘ Augen trat dieser altbekannte traurig wissende Ausdruck. „Glaub mir: Ich kann erkennen ob jemand betrunken ist oder ob er nur so tut.“
Da war etwas Wahres dran. Athos hatte da ja einschlägige Erfahrung. „Angenommen du hast Rech und es war eine Frau bei ihm, von der er nicht wollte, dass wir sie sehen: Wer war die Frau?“
„Das ist die grosse Frage, d’Artagnan. Das ist die Frage.“
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Von seinem Beobachtungsposten aus sah Pierre Lefèvre wie die beiden Musketiere auf der Strasse heftig diskutierten, bis sie endlich weitergingen. Er stiess erleichtert die Luft aus. Die zwei waren wirklich im dümmsten Augenblick aufgetaucht und hätte er nicht zufällig aus dem Fenster gesehen, hätten sie ihn und Fleur erwischt.
„Du kannst rauskommen“, rief er.
Fleur Delacroix trat aus dem Nebenraum. Sie sah ganz anders aus in ihrer schlichten Kleidung mit ihren hochgesteckten Locken und den blasierten Gesichtsausdruck, den sie wohl im Palastdienst angenommen hatte. Damals war sie sinnlicher gewesen, wilder. Offenbar hatten sie ihr einige Manieren eingebläut.
„Denkst du, sie können uns gefährlich werden?“, fragte sie und in ihrer Stimme vernahm er den Hauch von Furcht.
Er hob müde die Schultern. „Ich weiss es nicht. Das Einzige, was ich weiss ist, dass wir unsere Geheimnisse bewahren müssen. Um jeden Preis.“
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Bruder Mathias zog fürsorglich die Decke über seinen Patienten, der endlich in einen unruhigen Schlaf gefallen war. Seine Atemzüge kamen zu schnell und klangen zu angestrengt. Zudem wollte das Fieber einfach nicht runtergehen. Dieser Mann kämpfte, aber Mathias hatte immer stärker das Gefühl, dass er verlor. In den letzten Stunden hatte sich sein Zustand nicht gebessert und egal was er tat, nichts wollte fruchten. Er starrte in dieses totenbleiche mit den geröteten Wangen. Wenn er ihm nur helfen könnte.
„Ich weiss nicht was mir mehr Angst macht: Wenn er daliegt als wäre er tot oder wenn er um sich schlägt und wirres Zeug stammelt.“ Unbemerkt war Madame Bonacieux wieder ins Zimmer getreten. In den Händen hielt sie eine Schüssel mit frischem Wasser, die sie behutsam auf den Nachttisch stellte. Sie nahm den zusammengefalteten Lappen von Aramis‘ Stirn und befeuchtete ihn von neuem, bevor sie ihn wieder zurücklegte.
Als er die Kühle spürte, regte Aramis sich. „Porthos“, wimmerte er.
Voller Kummer strich Constance mit dem Finger über Aramis‘ Wange. „Er ist nicht hier, Aramis.“
„Wer ist dieser Porthos? Sein Bruder?“, fragte Mathias. Immer wieder sprach der Musketier von diesem Porthos. Er schien ihm nahe zu stehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass Kranke sich danach sehnten dass ihre Liebsten bei ihnen waren. Und Aramis verlangte ganz offensichtlich nach diesem Porthos.
Constance lächelte traurig. „Sein Waffenbruder. Sie dienen zusammen im Korps der Musketiere.“
Sie fuhr abwesend mit der Hand durch Aramis‘ Locken. Dann, ganz unvermittelt, sagte sie leise: „Es steht nicht gut um ihn oder?“
Mathias wurde es schwer ums Herz. Ein Teil von ihm wollte ihr genau beschreiben was das hohe Fieber im Körper anrichten konnte, wie die Krankheit Aramis den Atem stehlen und ihm schliesslich den Tod bringen würde. Er wollte sie nicht anlügen und er wollte sie vorbereiten. Aber er entschied sich für einen anderen Weg. „Madame Bonacieux, ich denke, dass Ihr, Nachricht an diesen Monsieur Porthos schicken solltet. Sie stehen sich offenbar sehr nahe. Er sollte hierhergekommen.“
Sie blickte ihn voller Unverständnis an. „Wieso soll Porthos hierhergekommen?“
Er zwang sich den Satz auszusprechen, den er hatte vermeiden wollen. „Damit er Abschied nehmen kann. Madame Bonacieux, es tut mir Leid, aber ich fürchte, dieser Mann hier liegt im Sterben.“
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Kapitel Das Ende eines Tages
Kapitel 19
Das Ende eines Tages
„Madame Bonacieux, passt um Himmels Willen auf!“ Bruder Mathias sah so besorgt aus, als wäre Constance gerade dabei einen feuerspuckenden Drachen zu besteigen und nicht, als schwänge sie sich gerade äusserst elegant auf ein brav dastehendes Pferd.
„Bruder Mathias, ich schätze Eure Besorgnis, aber ich reite heute nicht zum ersten Mal.“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich ein ungeduldiger Ton in ihre Stimme schlich. So sehr sie den guten Mönch schätzte, sie hatte jetzt wahrlich keine Zeit für einen Vortrag über die Gefahren des Reitens. Sie musste nach Paris. Zumindest das war sie den Freunden schuldig, wenn sie schon nicht fähig gewesen war, sich um Aramis zu kümmern. Noch immer brannten heisse Tränen in ihre Augen, aber sie weigerte sich, sie fliessen zu lassen. Was nützte es zu weinen? Das würde niemanden helfen.
Bruder Mathias sah sie flehend an. „Wieso schickt Ihr nicht Felix?“, fragte er und der weinerliche Klang seiner Stimme riss an Constances arg lädierten Nerven. Aber sie mahnte sich selbst, nicht ungerecht zu ihm sein. Es war nicht seine Schuld, dass er so war, wie er nun einmal war. Und es war gewiss nicht seine Schuld, dass Aramis fiebernd und hustend in diesem verdammten Bett lag, nach Atem rang und dabei war den wichtigsten Kampf seines Lebens zu verlieren.
Sie zwang sich zur Ruhe. „Das kann ich nicht! Bruder Mathias, ich muss diesen Männern beibringen, dass ihr Freund schwer erkrankt ist und möglicherweise sterben wird. Da kann ich nicht einen Botenjungen vorbeischicken. Er würde nicht die richtigen Worte finden.“ Ich weiss nicht einmal, ob ich selbst die richtigen Worte finden kann fügte sie in Gedanken hinzu. Sie fürchtete sich so sehr vor den Augenblick. Wie sollte sie Porthos beibringen, dass sein bester Freund vielleicht bald nicht mehr da war? Was würde Athos sagen, wenn sie ihm gestehen musste, dass Aramis unter ihren Händen immer kränker, statt gesünder geworden war? Was würde d’Artagnan sagen, wenn er erfuhr, dass sein Vertrauen in sie falsch gewesen war?
Der Mönch wirkte immer noch nicht überzeugt. „Madame, ich verstehe Euch, aber es wäre mir doch wohler, wenn Ihr hier bleiben könntet.“ Das Ende des Satzes nuschelte er, so schnell stiess er ihn hervor.
Plötzlich begriff Constance um was es ihm ging. Er fürchtete, das Unaussprechliche könnte geschehen, während Aramis in seiner Obhut war. Und diese Angst konnte sie ihm nicht einmal völlig nehmen, denn er würde wissen, dass es eine Lüge war. Wahrscheinlich wusste Bruder Mathias noch viel besser als sie, wie schlecht es dem Musketier ging. Aber sie vertraute ihm. Er würde Aramis nicht aufgeben und so lange er kämpfen konnte, würde er es mit der ihm eigenen Verbissenheit tun.
Sie beugte sich zu ihm herunter und umfasste seinen Arm mit ihrer Hand. „Bruder Mathias, es gebe niemanden, dem ich Aramis‘ Leben lieber anvertrauen würde, als Euch!“
Er errötete bis zu den Haarwurzeln. Das Kompliment freute ihn. Wahrscheinlich hörte er solche Sachen nicht oft, weil ihn alle für etwas verrückt hielten. „Ich werde mein Bestes geben“, versprach er, „aber Madame, er ist bereits sehr geschwächt. Beeilt Euch.“
„Das braucht Ihr mir nicht zu sagen“, sagte sie mit grimmiger Entschlossenheit und nach einem letzten Gruss, gab sie ihrem Pferd die Sporen, um die Nachricht nach Paris zu bringen, die wie Blei auf ihrem Herzen lag. Und sie konnte nur noch beten, dass Aramis durchhalten würde. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine Freunde, die ihn so sehr liebten.
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„Es tut mir Leid. Ich hätte dir gern mehr geholfen.“ Adelina schlang die Arme um Porthos und legte mit einem schweren Seufzen ihren Kopf an seine Schulter. Sie wirkte zerknirschter, als Porthos sich fühlte. Gewiss, es ärgerte ihn, dass ihnen Fleur, die offenbar sehr gut die Täterin sein konnte, entwischt war, aber es war gewiss nicht Adelinas Schuld. Ohne sie wüsste er nicht einmal, dass es Fleur überhaupt gab.
„Du hast mir schon sehr geholfen. Du kanntest ja nicht wissen, dass sie schon die Flucht ergriffen hat.“ Was ja schon fast einem Schuldbekenntnis gleichkam, wie er insgeheim fand. Dass Fleur den Palast so plötzlich verlassen hatte, war entweder ein dummer Zufall oder aber ihr war der Boden zu heiss geworden.
Adelina schmiegte ihren Kopf in die Kuhle zwischen seinem Kopf und seiner Schulter. „Ich hoffe nur, Marie erholt sich wieder“, murmelte sie und ihr Atem strich verführerisch über Porthos’ Hals, dessen Griff um ihre Hüfte unwillkürlich fester wurde.
Marie hatte die Nachricht, dass ihre beste Freundin möglicherweise in den Tod ihres Onkels verwickelt war, nicht sonderlich gut aufgenommen, wobei Porthos sich eingestehen musste, dass er dabei wohl auch nicht sonderlich sensibel vorgegangen war. Er war so erpicht darauf gewesen, möglichst schnell alles von dieser Fleur zu erfahren, dass er sie förmlich bedrängt hatte, ihm alles zu erzählen und dabei war er durchaus etwas lauter geworden. Marie hatte so heftig angefangen zu weinen, dass Adelina sie schliesslich in ihre Kammer hatte führen müssen, wo sich das verstörte Mädchen niederlegen konnte.
Porthos liess sein Kinn auf Adelinas Lockenkopf ruhen. „Ich habe sie zu hart angefasst. Aber ich kann nicht so mit zartbesaiteten Frauen. Aramis hat da eher ein Gespür dafür“, fügte er mit feinem Lächeln hinzu. Niemand konnte so gut mit in Ohnmacht sinkenden Jungfrauen umgehen, wie sein Freund, der es darin zu einer regelrechten Meisterschaft gebracht hatte.
Adelina warf den Kopf in den Nacken, um ihn ansehen zu können. „Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?“
„Er war immer da. Schon als ich ins Regiment kam, war er da. Hatte nie ein Problem damit, dass ich eine Spur dunkler bin, als es ein Franzose sein sollte.“ Porthos erinnerte sich noch gut daran, dass es Aramis gewesen war, der ihm als Erstes bei den Musketieren willkommen geheissen hatte und das auf seine einfache, freundliche Art, die nichts von Aufdringlichkeit hatte. Und als er die ihm dargebotene Hand ergriffen hatte, hatte er gespürt, dass hier jemand Besonderes in sein Leben getreten war.
„Es geht ihm doch gut oder?“
„So gut wie es einem eben gehen kann, wenn ein guter Freund erstochen wird, man unschuldig ins Gefängnis geworfen wird, sich an die Tatnacht nicht erinnern kann und man sich verstecken muss“, antwortete Porthos und versuchte, leichtherzig zu klingen, auch wenn sein Herz sich immer zusammenzog, wenn Aramis erwähnt wurde.
„Mit ein bisschen Glück, können wir bald seine Unschuld beweisen.“
Es gefiel ihm, wie sie ‚wir‘ sagte, so selbstverständlich, als seien sie schon Jahre ein Paar, das gemeinsam alle Hürden und Schwierigkeiten nahm. Es war wie ein Beweis, dass sie tatsächlich zusammengehörten. „Ich werde morgen wiederkommen, um mit Marie zu sprechen. Wenn sie bis dahin wieder einen Satz kann, ohne in Tränen auszubrechen.“
„Ich hoffe du kommst nicht nur wegen ihr“, grinste Adelina verschmitzt.
Er zog, scheinbar nachdenklich, die Stirn in Falten. „Welchen Grund sollte ich denn sonst haben?“
Ein paar Augenblicke später rannte ein lachender Musketier vor einer kreischenden Edeldame davon, die einen hochhakigen Schuh in der erhobenen Hand hielt, um ihn denselben über den Kopf zu ziehen. Und während sie durch den Palast stürmten, als seien sie kleine Kinder, war es Porthos völlig egal, dass alle sehen konnten, dass er und Adelina mehr waren, als nur flüchtige Bekannte. Während er zusah, wie sie ihn mit blitzenden Augen, geröteten Wangen und aufgelöster Frisur verfolgte, wobei sie aussah wie eine schöne Piratenprinzessin, da verstand er auf einmal, warum alle immer sagten, dass nur die Liebe wahrhaftes Glück erringen konnte.
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„Ihr denkt also, der Wirt hat etwas mit der Sache zu tun?“ Tréville hatte d’Artagnans farbig geschilderten Bericht aufmerksam gelauscht und lehnte sich jetzt in seinem Stuhl zurück.
D’Artagnan hob unschlüssig die Schultern. „Er scheint auf jeden Fall etwas zu verbergen?“, meinte er mit einem Seufzen und liess sich auf einen von Trévilles gemütlichen Sesseln plumpsen. Der Captain hob zwar mahnend die Augenbrauen, sagte aber nichts. Er liess dem Gascogner solche Flegelhaftigkeiten durchaus einmal durchgehen. Athos, der sonst eher darauf achtete, dass der Junge Disziplin lernte, liess es ebenfalls auf sich beruhen. Zu gerne wäre er d’Artagnans Beispiel gefolgt. Die letzten Tage hatten sie damit verbracht von Haus zu Haus zu rennen und in den Angelegenheiten anderer Leute herumzustochern. Er war müde von den Gesprächen, aber noch müder wurde er bei dem Gedanken, dass auch seine zukünftigen Tage auch so aussehen würden.
Tréville sah sinnend zur Decke, als stünden die Antworten dort geschrieben. „Haltet ihr es für möglich, dass es doch um ein Eifersuchtsdrama geht? Dass Robert Lefèvre vielleicht wegen Francis verlassen hat?“
Das hatte sich Athos auch schon überlegt, den Gedanken aber schnell wieder verworfen. „Dagegen sprechen mehrere Dinge. Erstens hatte Francis eindeutig keinen Hang zu Männern. Und das Schmuckstück gehörte sicherlich einer Frau. Zweitens passt der nächtliche Angriff auf Euch und den Kardinal nach wie vor nicht in ein Eifersuchtsdrama. Und drittens wirkt Lefèvres Trauer auf mich echt. Ich denke nicht, dass er Robert etwas angetan hat.“
Tréville rieb sich über die Stirn. „Du hast Recht. Aber warum lügt der Wirt uns dann an? Und wenn wirklich eine Frau bei ihm war: Wer ist sie?“
D’Artagnan breitete in dramatischer Geste die Arme aus. „Es scheint, als stecke hinter all diesen merkwürdigen Vorkommnissen eine geheimnisvolle Frau. Ich hoffe, sie sieht wenigstens gut aus, damit sich diese Sucherei wenigstens lohnt.“
Athos wollte schon dem Mund aufmachen, um auf das Geplänkel einzugehen, da vernahm er Porthos‘ polterndem Schritt. Nach einem kurzen Klopfen, trat der Hüne in das Zimmer. Athos bemerkte sofort, dass sich seine Laune gebessert hatte. Das Strahlen in seinen Augen und die geröteten Wangen verrieten deutlich, dass er sein Treffen mit Adelina wohl sehr genossen hatte.
„Ich habe Neuigkeiten“, verkündete er und klang für Athos‘ Geschmack eine Spur zu überdreht.
„Mein Gott, du wirst Vater“, entfuhr es d’Artagnan.
Porthos schlug ihm spielerisch gegen den Hinterkopf. „Erzähl nicht so einen Blödsinn. Ich denke, ich habe herausgefunden, wem die geheimnisvolle Kette gehört.“ Er machte eine Pause, um die erwartungsvollen Blicke, die auf ihn gerichtet waren, richtig auszukosten. Athos hatte jedoch keine Lust auf solche Kunstpausen und fragte ungeduldig: „Und wem gehört sie?“
„Einer Zofe von Adelina. Fleur Delacroix.“
Athos sagte der Name nichts, allerdings kannte er sich mit dem Palastpersonal auch nicht sonderlich gut aus. D’Artagnan jedoch reagierte unerwartet heftig. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Jetzt fällt es mir wieder ein! Ich bin so ein Idiot!“
„Ich stimme dir zwar zu, dass du ein Idiot bist, würde aber gerne wissen, wie du zu der Erkenntnis gekommen bist“, erwiderte Porthos trocken.
D’Artagnan ging grossmütig über diese freche Bemerkung hinweg. „Damals auf dem Friedhof, als wir Francis begraben haben, da habe ich das Gespräch zweier Mädchen belauscht. Die eine hiess Marie und die andere Fleur.“
Moment mal. Marie? „Ist das nicht die Nichte von Francis?“, fragte Athos.
„Doch“, antwortete Tréville an d’Artagnans Stelle, „das ist sie. Aber warum hast du uns das nicht schon gesagt, als ich von ihr erzählt habe?“
D’Artagnan wirkte ehrlich zerknirscht. „Ich konnte den Namen nicht einordnen und ich habe bis jetzt auch nicht mehr an dieses Gespräch gedacht. Aber jetzt fällt es mir wieder ein. Die beiden Mädchen waren auf dem Friedhof und haben gestritten. Marie wollte jemanden etwas sagen und Fleur wollte sie daran hindern.“
In Athos‘ Kopf fügte sich einiges zusammen. „Marie muss ihr von dem Brief erzählt haben und Fleur wollte sie daran hindern, dass sie ihn dem Kardinal zustellt, denn sie fürchtete, dass der Inhalt ihr gefährlich werden könnte.“
„Und als Marie nicht tat, was sie ihr geraten hatte“, fuhr Tréville fort, „wurde sie panisch und hat uns in der Bibliothek überfallen, um den Brief doch noch in die Finger zu bekommen. Das würde zusammenpassen.“
„Aber wieso denn so umständlich? Wäre es nicht einfacher gewesen, Marie zu töten um den Brief an sich zu bringen?“, zweifelte Porthos.
Da hatte er nicht ganz Unrecht. Und wenn tatsächlich Fleur die ominöse Täterin war, hatte sie schon bewiesen, dass sie kein Problem damit hatte zu töten. „Es könnte zwei Gründe dafür geben: Erstens, sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenken und wenn sie eine Zofe getötet hätte, hätte sie die sicher gehabt. Und zweitens ist Marie vielleicht wirklich ihre Freundin. Es ist immer schwieriger, jemanden zu töten, den man kennt und vielleicht sogar mag“, sagte er schliesslich nach kurzer Überlegung.
Tréville fuhr sich durch die Haare. „Diese Frage könnte uns jemand ganz leicht beantworten: Fleur. Hast du schon mit ihr gesprochen, Porthos?“
Porthos sah verlegen aus. „Das stellte sich als etwas schwierig heraus. Sie ist aus dem Palast verschwunden.“
Ein kollektives Stöhnen ging durch den Raum. Sie hatten wirklich kein Händchen für die Aufklärung von Morden. Obwohl sie zu den richtigen Schlüssen kamen, waren sie einfach zu langsam.
D’Artagnan sog die Lippen ein, was ihn aussehen liess, wie ein hohlwangiger Geist. „Denkst du, sie ist die Frau, die Lefèvre vor uns versteckt hat?“
Manchmal tat der Junge ja wirklich so, als sei er allwissend. Das war schmeichelhaft, entsprach jedoch nicht der Wahrheit. „Da ich von der besagten Frau nur einen Mantel und von Fleur noch nie etwas gesehen habe, kann ich das wohl kaum sagen.“
Porthos blickte verwirrt. „Moment, Ihr wart bei Lefèvre? Wieso?“
„Eine lange Geschichte. Die Kurzfassung ist: Robert hatte es eher mit Männern als mit Frauen und hatte eine romantische Beziehung zu Pierre Lefèvre, auch bekannt als Wirt der Fröhlichen Gans. Wir waren bei ihm, Athos hat sich benommen wie ein Berserker, der Wirt ist ausgerastet und hat uns rausgeschmissen. Aber Athos meint, eine Frau sei bei ihm gewesen“, ratterte d’Artagnan in einer solchen Geschwindigkeit herunter, dass Porthos sichtlich Mühe hatte, die Worte zu verdauen.
„Athos meint nicht, Athos weiss, dass da eine Frau war“, korrigierte er seinen Schützling.
Porthos setzte sich auf die Lehne von d’Artagnans Sessel. „Wenn Fleur die Mörderin ist, wieso hat sie das getan? Weil sie mit der Bezahlung als Zofe nicht zufrieden war?“
„Das gilt es herauszufinden. Wir müssen den Wirten noch mehr auf den Zahn fühlen. Und wir müssen unbedingt mit Marie reden. Vielleicht weiss sie mehr, als wir bisher angenommen haben.“ Athos setzte sich seinen Hut auf, in Gedanken schon bei Lefèvre. Dieses Mal würden sie sich nicht von ein paar Bierkrügen ins Bockshorn jagen lassen. Wenn sie ihn mit dem Namen Fleur konfrontierten, würde er vielleicht einknicken oder sich zumindest verplappern. Und wenn sie die verräterische Zofe fanden, würde sie ihnen einiges erklären müssen.
Porthos und d’Artagnan erhoben sich wie ein Mann, da räusperte sich Tréville vernehmlich. „Meine Herren, ihr geht heute nirgends mehr hin. Es ist bald Abend und ihr habt heute wahrlich genug getan. Es nützt nichts, die Dinge zu sehr voranzutreiben. Müde Menschen machen Fehler. Morgen ist auch noch ein Tag.“ Trévilles Stimme liess keinen Widerspruch zu und so fügten sie sich seiner Anweisung.
Wobei der Captain schon schlimmere Befehle gegeben hatte, wie Athos fand, als sie kurze Zeit später gemeinsam am Tisch im Innenhof sassen und sich einen Bierkrug brüderlich teilten. Zur Abwechslung redeten sie dabei nicht über den Mord an Francis und mögliche Verdächtige, sondern über amüsantere Dinge, vergangene Erinnerungen und Alltagsgeschichten, gemischt mit dem neuesten Klatsch aus Paris.
D’Artagnan war gerade dabei eine äusserst amüsante Geschichte von seinem Vater und einem Stier zum Besten zu geben, als Constance in einem Höllentempo durch das Tor geritten kam. Athos stand auf und wusste instinktiv schon, dass es wieder eine Katastrophe gegeben hatte. Als Constance abstieg und er ihre Miene sah, die nicht nur traurig, sondern geradezu bestürzt war und als er erkannte, wie vergeblich sie versuchte ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen, drückte er ihr sofort einen Becher in die Hand. „Trink. Du siehst aus, als könntest du es brauchen.“
Doch sie nahm keinen einzigen Schluck, stattdessen sah sie ihn aus grossen Augen an. „Athos…Aramis…ich…ich glaube, er stirbt.“
Und die Welt stand schlagartig still.
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Kapitel Und immer wieder geht die Sonne auf
Kapitel 20
Und immer wieder geht die Sonne auf
Für einen Moment hatte Mathias mit den Gedanken gespielt, Aramis die letzte Ölung zu geben, hatte sich dann aber eines anderen besonnen. Wenn er das tat, hiess das, die Hoffnung aufzugeben und dazu war er noch nicht bereit. Sein Stolz und sein freundschaftliches Gefühl für Madame Bonacieux liessen das nicht zu, auch wenn er wusste, dass die Erfolgsaussichten verschwindend gering waren.
Man konnte eine Lungenentzündung überstehen. Allerdings war das Fieber schon viel zu hoch gewesen, als Mathias mit der Behandlung angefangen hatte und es schwächte Aramis immer mehr. Er hatte kaum noch die Kraft zu husten und konnte kaum etwas zu sich nehmen, ohne sich zu erbrechen. Gerade das wäre allerdings wichtig gewesen. Aramis brauchte Flüssigkeit.
Mathias setzte sich auf die Bettkante „Ich wünschte, ich könnte mehr für Euch tun“, seufzte er, während er behutsam mit dem Lappen über die Stirn und die Wangen des Kranken strich. Als hätte er die leisen Worte gehört, stiess Aramis einen Seufzer aus und schlug die Augen auf. „Porthos, du musst auf dich aufpassen“, murmelte er. Seine Hand tastete nach der von Mathias. Offenbar war er der Meinung, Porthos sässe an seinem Bett.
Mathias drückte die Hand, die sich so vertrauensvoll in seine gelegt hatte. Die Finger fühlten sich zerbrechlich an, kaum zu glauben, dass hier ein gestandener Soldat lag. Aber Krankheiten konnten jeden noch so starken Mann dahinraffen und wie oft hatte er erlebt, dass kräftige Menschen vergangen waren wie Herbstblätter in einem Sturmwind? „Porthos kommt bald. Haltet noch ein wenig durch.“
Aramis bewegte sich unruhig. „Francis…er hat uns verraten“, stöhnte er und die fiebrig glänzenden Augen weiteten sich, „er hat es nicht absichtlich gemacht. Sei nicht böse auf ihn, er wollte nicht, dass er stirbt, wirklich nicht, sei nicht böse…“
Es war das Gerede eines Fieberkranken, man konnte es nicht ernstnehmen, aber es regte Aramis zu sehr auf. Ruhelos wand er sich von der einen Seite auf die andere, während er unablässig wirres Zeug sprach, wobei sich immer mehr auch spanische Worte darunter mischten. Und dann fing er wieder an zu husten, ein furchtbarer Laut, der klang, als kämpfe Aramis gegen seine eigene Lunge an.
Wimmernd drehte Aramis sich auf den Bauch und vergrub den Kopf in die Kissen, als könne er damit das Husten ersticken. Mathias liess ihn jedoch nicht. Behutsam drehte er den Musketier auf den Rücken und brachte ihn in eine halbwegs sitzende Position. Aramis sträubte sich, in seinem geschwächten Zustand, hätte allerdings selbst ein Kind ihn überwinden können. Mathias schob sich hinter ihm auf das Bett, kniete sich hin und klopfte Aramis kräftig auf den Rücken. Er war sich nicht sicher, ob es funktionierte, aber sie waren inzwischen an einem Punkt angelangt, wo man eigentlich nichts mehr schlimmer, sondern alles nur noch besser machen konnte.
Erst veränderte sich gar nichts, dann wurde der Husten kräftiger. Flink griff Mathias nach der Schüssel, die noch immer auf dem Nachtisch stand und hielt sie unter Aramis‘ Kinn. Er stiess ein furchtbares Würgen aus, dann spuckte er Schleim, was kein sonderlich angenehmer Anblick war. Mathias nahm sich vor, sich nach der ganzen Prozedur gründlich die Hände zu waschen.
Die Behandlung zeigte Wirkung. Der Husten verebbte und Aramis‘ Atem wurde ruhiger. Mathias stelle die Schüssel weg und wollte aufstehen, doch Aramis verhinderte dies, indem er den Kopf schwer auf Mathias‘ Schulter fallen liess. Zu seinem Beschämen war Mathias‘ erster Instinkt, aufzuspringen und ihn wegzuschieben. Immerhin war dieser Mann krank und er hatte wenig Lust, sich ebenfalls die Lunge aus dem Leib zu husten.
Abgesehen davon, wäre es ein Fräulein gewesen, das da in seinem Armen lag, wäre die Beichte fällig gewesen, dachte er errötend. Aramis‘ schwerer Atem strich warm über seinen Hals und sein Körper drängte sich so eng an den seinen, dass er die sengende Fieberhitze spürte. Mathias wusste nicht recht, was er mit dieser Anhänglichkeit tun sollte. Er selbst mied es normalerweise schon, anderen die Hände zu schütteln, geschweige denn sie zu umarmen. Aber Aramis war wie ein krankes Kind, das sich nach der Nähe seiner Mutter sehnte und er hatte einfach nicht das Herz, ihn von sich wegzuschieben.
So tätschelte er Aramis unbeholfen die Schulter, während er leise Gebete in sein Ohr flüsterte. Constance hatte erwähnt, dass Aramis ein sehr gläubiger Mann war und vielleicht wurde der Klang der vertrauten Worte ihn in seinen dunklen Träumen erreichen. Tatsächlich entspannte Aramis sich in seinen Armen und für einen Moment senkte sich eine tiefe Ruhe über den Mönch und den Musketier.
Allerdings war ihnen diese nicht lange vergönnt. Mathias schrak auf, als er das Krachen der Tür vernahm, gefolgt von einem aufgeregten Wirrwarr aus Stimmen, dem Poltern von Stiefeln und den Klirren von Degen. Mathias‘ Herz schlug mit einem Mal so schnell, als wolle es zerspringen. Wer war das? Eigentlich wusste er doch nichts über den Mann, der sich jetzt so vertrauensvoll in seine Arme schmiegte. Er war ein Musketier, aber was war wenn Madame Bonacieux ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte? Möglicherweise war Aramis ein Deserteur und jetzt kamen seine ehemaligen Kameraden um ihn in den Kerker zu werfen!
Aramis runzelte die Stirn und riss die Augen auf. „Sie kommen“, flüsterte er und Mathias wusste nicht recht, ob es die Verzweiflung oder die Erschöpfung war, die seine Stimme brechen liess, „sie kommen mich holen.“ Tränen rannen ihm über die Wangen. Aus Trauer? Oder aus Wut darüber, dass sein Körper ihn im Stich liess und ihn so hilflos seinen Feinden auslieferte, als sei er ein neugeborenes Kätzchen?
Als Aramis sich zusammenrollte wie ein hilfloser Igel, fasste Mathias einen Entschluss. Ganz egal was Aramis getan hatte, jetzt war er ein armer, kranker Mann und verdiente es, seinen Frieden zu haben. Er würde nicht zulassen, dass man ihn einfach fortschleppte. Er würde ihn beschützen!
Die Stimmen und Schritte wurden lauter. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit. Also glitt er rasch vom Bett und sah sich suchend nach einer möglichen Waffe um. Dummerweise war das hier das Schlafzimmer eines Krämers und nicht das eines bis an die Zähne bewaffneten Hauptmannes. Es gab hier weder einen Degen noch eine Pistole.
Zu seinem Entsetzen hörte Mathias wie jemand die Treppe hinaufstieg. Ihm blieb keine Zeit mehr. Beherzt griff er nach dem erstbesten Gegenstand, dem er habhaft werden konnte. Mit angehaltenem Atem lauschte er den schweren Schritten und als er sah, wie die Türklinke sich bewegte hob er den Gegenstand über seinen Kopf.
Und als der fremde, hünenhafte Mann in das Zimmer trat, schleuderte Mathias ihn mit einem lauten Schrei nichts Geringeres als den Nachttopf entgegen.
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Porthos war ja in seinem Leben schon mit vielen Waffen konfrontiert worden, aber es war das erste Mal, dass ein Nachttopf auf ihn zugeflogen kam. Doch trotz kurzer Irritation funktionierten seine Reaktionen und er warf sich blitzschnell zu Boden. D’Artagnan, der hinter ihm stand, hatte weniger Glück. Ihm streifte das Geschoss an der Stirn und er fiel mit einem überraschten Laut rückwärts in Athos‘ Arme.
Der Übeltäter war ein kleines, zitterndes Mönchlein, das sich wie ein Racheengel vor dem Bett aufgebaut hatte und Porthos anstarrte, als sei er der Satan persönlich. „Was soll das?“, fragte Porthos, mehr erstaunt als wütend. Constance hatte ihnen von dem ängstlichen, heilkundigen Bruder Mathias erzählt und er konnte sich keinen Reim darauf machen, warum dieser sich aufführte wie ein Verrückter und mit Nachttöpfen um sich warf.
Bruder Mathias breitete die Arme aus. „Lasst diesen Mann in Frieden! Er ist krank und braucht Ruhe, keine Soldaten, die ihn fortschleifen“, sagte er, und obwohl seine Beine zitterten, klang seine Stimme erstaunlich fest. Trotz des rüden Empfangs, flog Porthos‘ Herz diesem Mönch entgegen, der sich so tapfer für Aramis einsetzte. Zum ersten Mal, seit Constance ihnen die niederschmetternden Nachrichten von dem sich rapide verschlechternden Gesundheitszustand ihres Freundes gebracht hatte, breitete sich ein ehrliches Lächeln auf seinen Zügen aus.
„Was ist denn hier los?“ Constance drängte sich an den Männern vorbei ins Zimmer, wobei ein besorgter Blick d’Artagnan streifte, der zwar inzwischen wieder auf eigenen Beinen stand, allerdings noch bedrohlich wankte.
Constances Anblick beruhigte Mathias sichtlich. „Madame Bonacieux! Verzeiht, ich dachte…wer sind diese Männer?“ stammelte er.
„Das sind Porthos, Athos und d’Artagnan. Aramis‘ Freunde und Musketiere des Königs“, erklärte Constance mit einem fast schon feierlichen Unterton.
Mathias lief dunkelrot an und spielte verlegen mit den Ärmeln seiner Mönchsrobe. „Es tut mir leid, ich hielt Euch für Feinde“, murmelte er mit gesenktem Kopf.
D’Artagnan beruhigte mit einem leisen Ächzen die Schürfung. „Für was tragen wir eigentlich Uniformen?“, maulte er.
Athos‘ Mitleid mit seinem lädierten Freund hielt sich in Grenzen. „Vielleicht solltest du Tréville um auffälligere Modelle bitten. Himmelblau würde dir gut stehen.“
Porthos ignorierte das Geplänkel seiner Freunde. Er umrundete Mathias, um endlich zu Aramis zu gelangen. Schmal und ausgezehrt wirkte er zwischen den zerwühlten Laken. Die sonst so sorgfältig gepflegten Locken hingen ihm schweissverklebt in die bleiche Stirn und die eingefallenen Wangen waren so gerötet, dass Porthos ihn nicht zu berühren brauchte, um zu wissen, dass er Fieber hatte. Aber das Schlimmste war der Atem, der in schnellen, keuchenden Stössen kam, ein rasselndes und qualvolles Geräusch, das ihm bis in die Seele schmerzte.
Er griff nach der Hand, die sich furchtbar klein und zerbrechlich in seiner eigenen anfühlte. Er rieb mit den Finger über die heisse Haut und rief leise: „Aramis? Ich bin hier, Aramis! Hörst du mich?“ Er spürte, wie die Finger in seiner Hand zuckten. Doch Aramis‘ Augen blieben geschlossen und diese ungewöhnliche Leblosigkeit, die von dem sonst so sprunghaften Freund ausging, verstörte Porthos zutiefst. „Ist er jetzt immer so?“ fragte er ängstlich.
„Nein. Es gibt Momente, da ist er wach und auch einigermassen klar. Aber sie werden seltener. Meistens ist er im Delirium und spricht wirres Zeug“, fasste Constance zusammen und obwohl sie kühle Worte wählte, sah er deutlich die Betroffenheit, die sich in ihrem Gesicht spiegelte.
„Er war manchmal richtig ausser sich. Rief ständig nach Euch. Es fiel uns immer schwerer ihn zu beruhigen“, führte Mathias weiter aus.
Athos und d’Artagnan traten ebenfalls an das Bett. Während der Ältere wie versteinert stehen blieb und mit fassungsloser Miene auf seinen kranken Freund hinabsah, setzte sich d’Artagnan auf die Bettkante und legte die Hand auf Aramis‘ Brust, als müsste er sich selbst davon überzeugen, dass er noch atmete. Constance zog Mathias am Ärmel und deutete auf die Tür. Diskret zogen sich die beiden zurück und liessen die Freunde allein.
Eine Weile schwiegen sie, überwältigt vom Anblick ihres Waffenbruders, der weder von Klinge noch Muskete niedergestreckt worden war, sondern von seinem eigenen Körper. Porthos presste Aramis‘ Hand an seine Brust. Ihm schien es, als könne er allein durch seinen starken Griff verhindern, dass er ihnen davonglitt.
Schliesslich begann Aramis sich zu regen. Er hustete schwach und versuchte, mit den Beinen die Decke wegzutreten. Seine Lider flatterten und schliesslich schlug er die Augen ganz auf. „Aramis! Wie schön von dir, dass du uns jetzt doch noch beachtest“, witzelte Porthos und beugte sich über ihn, um ihm eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen, erleichtert und glücklich, dass Aramis aufgewacht war.
Aramis starrte ihn lange an, sein glasiger Blick liess Porthos zweifeln, ob er sie wirklich erkannte. Doch dann erschien der Schatten eines Lächelns auf seinen Zügen. „Porthos“, hauchte er und der Name klang wie ein Gebet.
„Ich bin hier“, sagte Porthos und es fiel ihm schwer die Tränen zurückzuhalten, als sich Aramis unter Aufbietung seiner verbliebenen Kräfte aufrichtete und die Arme um ihn warf. Es war gewiss nicht das erste Mal, dass sich die beiden Freunde umarmten, aber noch nie hatte Aramis sich so schmal angefühlt. Behutsam drückte Porthos ihn an sich. Wie kleine Schluchzer klang Aramis‘ Atem, der in schnellen, stockenden Zügen kam, eine ständige Erinnerung an die furchtbare Krankheit, die ihn befallen hatte.
„Wir alle sind hier“, bekräftigte d’Artagnan, kletterte kurzerhand auf das Bett und schlang ebenfalls die Arme um Aramis. Endlich löste sich auch Athos aus seiner Starre, trat näher und legte die Hand auf Aramis‘ dunklen Schopf. Beinahe zärtlich fuhr er durch die schweissverklebten Locken. Er sagte nichts, das wäre auch nicht seine Art gewesen, aber seine ruhige Präsenz und die väterliche Geste schien Aramis zu helfen. Porthos konnte fühlen, wie sich sein rasender Herzschlag etwas beruhigte.
Der Friede war ihnen nicht lange vergönnt. Aramis begann auf einmal zu husten. Erst waren es kleine Huster, die er zu unterdrücken versuchte, in dem er stöhnend das Gesicht tiefer in Porthos‘ Schulter vergrub. Doch dann wurde der Husten schlimmer. Verstört mussten die drei Freunde mitansehen wie Aramis nach Atem rang und sein ganzer Leib förmlich durchgerüttelt wurde. Er krümmte und wand sich in Porthos‘ Armen, dem Hustenanfall hilflos ausgeliefert.
Erst waren die drei Musketiere gelähmt vor Schreck. Dann sprang d’Artagnan vom Bett und rannte zur Tür, wahrscheinlich um den Arzt zu holen. Athos nahm seinen Platz ein, kniete sich hinter Aramis und klopfte ihm hart auf den Rücken. Erst dachte Porthos er sei verrückt geworden und befürchtete, er würde Aramis zu allem Übel noch einige Knochen brechen. Doch diese unsanfte Behandlung zeigte Wirkung. Der Husten klang ab und als Mathias mit gerafftem Priesterrock an Porthos‘ Seite eilte, lag Aramis wieder ruhig in seinen Armen, völlig ermattet von den Anstrengungen.
Bruder Mathias half Porthos, Aramis wieder hinzulegen. „Ihr habt richtig gehandelt, Monsieur“, wandte sich der Priester dann an Athos, während Porthos noch damit beschäftigt war, die Decke vorsichtig um Aramis‘ Schultern festzustecken.
Athos war so bleich, wie Porthos ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte und starrte wie in Trance auf Aramis, der mit geschlossenen Augen in den Laken lag und vor sich hinmurmelte. Das Fieber hatte ihn wieder mitgerissen. Als Porthos seine Stirn fühlte, war sie zwar heiss, aber trocken.
„Mein Bruder hatte einmal die Lungenentzündung. Als er noch klein war.“
Die Erschütterung stand deutlich in Athos‘ blauen Augen geschrieben. Er sprach selten über seinen Bruder, der auf so grausame Art und Weise gestorben war, ermordet von der Frau, die Athos über alles geliebt hatte. Es war immer schwierig, wenn Erinnerungen an Thomas hochkamen, egal wie weit entfernt sie inzwischen waren. Nur selten sprach er von ihm und wenn, dann nur, wenn er schon arg betrunken war.
D’Artagnan und Porthos tauschten einen besorgten Blick. Das Letzte was sie jetzt brauchten war, dass Athos in Melancholie versank. Zum Glück schien Athos sich wieder zu fassen und straffte sich. „Er hat es überstanden. Er war gerade mal sieben Jahre alt und hat überlebt. Aramis ist stark, kräftig und ein Kämpfer. Ich sehe keinen Grund, wieso er es nicht schaffen sollte.“ Athos sprach, als seien seine Worte Gesetz.
Bruder Mathias seufzte schwer „Ich wünschte es wäre so. Monsieur Aramis ist geschwächt. Der schlimme Husten verbraucht seine letzten Kraftreserven und das hohe Fieber belastet sein Herz. Er hat zu lange nichts mehr gegessen und auch nichts mehr getrunken. Es steht nicht gut um ihn.“
Porthos brauchte das nicht um zu wissen, dass Aramis an der Schwelle zum Tod stand. Diese abgemagerte, hustende und fiebernde Personen, die sich im Bett zusammengerollt hatte wie eine kleine Strassenkatze hatte wenig gemeinsam mit seinem sonst so strahlenden, lebenslustigen Freund. Sollte es so enden? Nicht mit Tod und Glorie auf dem Schlachtfeld, sondern todkrank in einer Matratzengruft? Konnte Gott, dieser Gott, den Aramis so bedingungslos liebte, wirklich so grausam sein?
Athos war aschgrau im Gesicht und starrte wie hypnotisiert auf Aramis‘ Brust, die sich unregelmässig hob und senkte, jeder Atemzug eine sichtbare Qual. „Nein!“, stiess er dann mit einer Heftigkeit hervor, die man nur selten an ihm beobachten konnte und dann drehte er sich um und floh aus dem Raum, als könne er damit auch vor der Wahrheit fliehen. D’Artagnan zögerte, folgte ihm jedoch auf Porthos‘ nachdrückliches Nicken nach draussen. Wenn jemand Athos jetzt beistehen konnte, dann war es d’Artagnan.
Er selbst schluckte schwer, nahm dann erneut die feingliedrige Hand seines Freundes in die seine und presste die Lippen gegen den fieberheissen Handrücken. „Ich lasse nicht zu, dass er stirbt!“
„Es gibt Dinge, die liegen nicht in unserer Hand…“ begann Bruder Mathias, verstummte aber eingeschüchtert als Porthos ihn scharf ansah. Er wollte das nicht hören und Aramis sollte das auch nicht hören. Er war ja bei Gott kein Arzt, alles Medizinische überliess er klügeren Menschen, dennoch glaubte er daran, dass ein guter Schuss Optimismus und eine Portion Fröhlichkeit oft besser wirken konnte als manche bittere Medizin. Das Letzte was Aramis jetzt brauchte, waren Menschen, die mit Leichenbittermienen auf ihn herabsahen und ihn totsagten.
„Ich lass ihn nicht sterben“, wiederholte er nachdrücklich. Er war sich nicht sicher ob es Einbildung war oder nicht, aber ihm schien es, als ob Aramis den Druck seiner Hand, schwach erwiderte. Und das gab Porthos Hoffnung.
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Athos stürzte an der verblüfften Constance vorbei, hinaus ins Freie. Die kühle Nachtluft strich über sein Gesicht und hatte etwas merkwürdig Tröstliches. Er schlang die Arme um sich, nicht weil ihm kalt war, sondern um sich selbst Halt zu geben. Irgendwie hatte er das Gefühl, das die Erde wankte. Aber das war natürlich Unsinn, nicht die Welt wankte, nur er selbst hatte jeglichen Halt verloren. Einer seiner Stützen war weggebrochen und er fühlte sich beinahe so verlassen wie damals, als er an einem Tag Frau und Bruder verloren hatte.
Es war merkwürdig, aber Athos hatte nie geglaubt, dass Aramis ihn verlassen könnte. Dass er sterben könnte. Wenn er sah, mit welcher Kopflosigkeit sich Porthos in jeden Kampf stürzte und wie leicht er sich provozieren liess, dann war ihm klar, dass Porthos nicht als alter Mann im Bett sterben würde. Und wenn er d’Artagnan sah, der mehr Heldenhaftigkeit in sich trug, als gut für ihn war, dann fürchtete er jeden Tag um dieses junge Leben.
Bei Aramis lagen die Dinge anders. Zum einen hatte der das Glück des Teufels. Er schrammte oft haarscharf an der Katastrophe vorbei, irgendwie entging er ihr jedoch immer wieder. Und zum anderen konnte Aramis sehr gut auf sich selbst aufpassen. Sein Selbsterhaltungstrieb und sein Überlebenswillen waren unerschütterlich. Aramis, der kluge und gerissene Aramis, würde sie alle überleben, das war für ihn immer klar gewesen.
Gott schien das nicht so klar zu sein, denn jetzt lag Aramis todkrank darnieder.
„Das ist nicht fair“, schrie er in die Dunkelheit und dann, vom plötzlichen heissem Zorn erfüllt, rammte er die Faust gegen den Türpfosten. Es brachte nichts, abgesehen davon das jetzt seine Knöchel bluteten. Er starrte auf das Blut, dass seine Haut hinabrann, seltsame Muster hinterliess. Es faszinierte ihn auf eine abstossende Art und Weise, lenkte ihn ab von den Gedanken, die wirr und dunkel in seinem Kopf tanzten.
Er war so versunken in den Anblick, dass er d’Artagnan erst bemerkte, als dieser die Hand auf seine Schulter legte. Die Berührung war federleicht, dennoch fuhr Athos herum, als hätte ihn d’Artagnan geschlagen. Als er in das bekümmerte und traurige Gesicht seines Schülers sah, beschämte ihn dies. D’Artagnan versuchte, stark zu sein, versuchte die Haltung zu bewahren. Und er? Er konnte es einfach nicht.
„Ich kann ihm nicht beim Sterben zusehen“, flüsterte Athos erstickt, „das übersteigt meine Kräfte. Er war immer so gesund, so unverwüstlich. Ich kann das nicht ertragen ihn so zu sehen.“
D’Artagnan sagte nichts, sprach nicht dagegen, machte ihm keine Vorwürfe. Stattdessen öffnete er einfach die Arme und zog Athos in eine innige Umarmung. Erst wollte er sich dagegen sträuben. Dann jedoch spürte er d’Artagnans Wange an der seinen und sie war nass vor Tränen, die er bis jetzt nicht bemerkte hatte. Mit einem Mal begriff Athos, dass er nicht alleine war in seinem Schmerz.
Und er begriff noch etwas. Er alleine konnte es nicht durchstehen. Aber mit d’Artagnan an seiner Seite konnte er es.
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„Wie können wir ihm helfen?“, fragte Porthos. Er sass nicht mehr auf der Bettkante, sondern hatte sich wie Athos vorher hinter Aramis gekniet und dessen Kopf auf seinen Schoss gebetet. Aramis war in einen unruhigen Fieberschlaf gesunken, war der wirklichen Welt und damit auch Porthos entglitten. Manchmal schreckte er zwar auf und öffnete die Augen, allerdings waren sie glasig und nahmen seine Umgebung kaum mehr wahr. In Porthos brannte der Wunsch, ihn zu retten. Aber er war nun mal ein Krieger und kein Heiler.
„Das Wichtigste wäre, das Fieber zu senken. Aber was wir auch versuchten, es wollte nicht weichen. Er verglüht förmlich“, schloss Bruder Mathias traurig.
„Aber wir müssen doch etwas tun können! Wir können doch nicht einfach zusehen, wie er stirbt“, rief Porthos verzweifelt. Seine Hand ruhte auf Aramis‘ Stirn, aber die Hitze brannte nicht nur dort, sondern im ganzen Körper. Bleib bei mir, flehte er in Gedanken, verlass mich nicht. Wenn er doch nur früher gekommen wäre! Hatte er nicht gespürt, dass es Aramis nicht gut ging? Hatte die Wahrsagerin ihn nicht sogar gewarnt, dass Aramis schwer erkrankt war? Jetzt konnte er nichts mehr tun.
Bruder Mathias betrachtete ihn versonnen, dann sagte er zögernd: „Nun, manchmal hilft bei so hohem Fieber ein kaltes Bad…“
„Warum sagt Ihr das erst jetzt? Holt Wasser und füllt so eine verdammte Wanne“, verlangte Porthos, wohlmöglich eine Spur zu harsch, denn Mathias fuhr zusammen wie ein Kaninchen nach einem Pistolenschuss, widersprach aber tapfer: „Das ist nicht ohne Risiko. Es könnte sein, dass Monsieur Aramis‘ Herz diesen Kälteeinbruch nicht mitmacht und stehen bleibt. Einer meiner Mitbrüder fand es mal eine ausgezeichnete Idee mitten im tiefsten Winter ein Bad in einem eiskalten Bach zu nehmen. Er wollte damit seine Sünden büssen. Ich habe ihm natürlich von dieser blödsinnigen Idee abgeraten, aber er zog es vor sein lebensgefährliches Unterfangen durchzuführen. Am Ende zogen wir seine Leiche aus dem Wasser.“
Porthos starrte ihn an. Sollte ihn diese irre Geschichte von dem toten Mönch jetzt aufmuntern? Er entschied sich, nicht näher darauf einzugehen. Offenbar gehörte es zu Mathias‘ Schrullen, gruselige Begebenheiten zu erzählen, die absolut nichts Tröstendes an sich hatten. „Ihr meint also, Aramis könnte sterben wenn wir versuchen seine Temperatur zu senken. Aber Ihr sagt auch, dass das Fieber ihn bestimmt töten wird.“
Der Musketier sah das Zögern und die Angst in Mathias‘ Blick, er las jedoch auch den verzweifelten Wunsch zu helfen aus der bleichen Miene. Dann sah der Mönch auf Aramis, der sich wie ein Häufchen Elend zusammengerollt hatte und dessen Brust sich in ständigen heftigen Hustenanfällen hektisch hob und senkte. Ein sichtbarer Ruck ging durch den guten Bruder, dann nickte er entschlossen. „Tun wir‘s!“
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Es war ein seltsames Gefühl, Athos im Arm zu halten. Athos, das war ihr Fels in der Brandung, das war der schweigsame Ritter, der immer da war um ihm rechten Augenblick die schimmernde Rüstung anzulegen und sie alle aus dem Dreck zu ziehen, egal wie tief sie darin steckten. Doch jetzt schien ihn alle Kraft verlassen zu haben und jetzt war er es, der nach Halt suchte.
D’Artagnan wünschte, er könnte ihm mehr geben, als diese Umarmung. Er wünschte sich so sehr, dass er Athos das geben könnte, was dieser ihm immer so selbstverständlich offeriert hatte: Mut im Angesicht der Aussichtslosigkeit, Hoffnung, wo es keine mehr gab, Stärke, wo die anderen nur noch Schwäche zeigen konnten. Aber er selbst fühlte sich so verdammt hilflos, wenn er an Aramis dachte, der gerade dabei war seinen wichtigsten Kampf zu verlieren.
Doch das Wenige an Wärme und Sicherheit, dass er Athos bieten konnte, schien zu reichen. Er spürte, wie der Ältere tief Luft holte und sich langsam von ihm löste. „Danke“, murmelte er und fuhr sich verlegen mit der Hand durch die Haare, „geh wieder rein. Ich…Ich hätte jetzt gerne noch ein wenig Zeit für mich.“
Das war schon wieder der alte Athos. Dramen machte er lieber mit sich selber aus, statt seine Freunde damit zu belasten. Allerdings, das letzte Mal als d’Artagnan einen aufgelösten Athos allein gelassen hatte, hatte er es beinahe geschafft, sich sturzbetrunken von seiner wütenden Ehefrau verbrennen zu lassen, von daher war es vielleicht keine gute Idee, seinen Wünschen nachzukommen.
Athos gluckste leise. „Keine Angst. Ich werde mich nicht in die Heugabel stürzen, sobald du mir den Rücken zudrehst.
D’Artagnan zuckte unwillkürlich zusammen. Manchmal hätte er schwören können, dass Athos Gedanken lesen konnte. Ein Blick in Athos‘ Gesicht überzeugte ihn, dass sein Freund keinerlei Selbstmordgedanken hegte. Er wirkte noch immer betroffen, aber gefasst und der kühle Blick aus den stahlblauen Augen zeugte von der gewohnten Schärfe.
Also nickte er Athos noch einmal zu, bevor er zurück ins Haus ging. Er war kaum über die Schwelle getreten, da stiess er mit Constance zusammen, die aus irgendwelchen unbekannten Gründen einen schweren Zuber gefüllt mit Wasser durch die Gegend schleppte. Sie schrie erschrocken auf und schüttete vor Schreck einen kleinen Teil über d’Artagnans Hose.
„Pass doch auf!“, fuhr sie ihn heftig an.
D’Artagnan war nicht minder ärgerlich. Mit seiner Laune stand es ohnehin nicht zum Besten und jetzt kam zu seiner Angst um Aramis auch noch das äusserst unangenehme Gefühl einer feuchten Hose. „Warum zum Teufel trägst du denn Wasser spazieren?“
„Das ist für ein Bad“, schnappte sie.
D’Artagnan fiel aus allen Wolken. Aramis lag im Todeskampf darnieder und Constance dachte an ihre Schönheitspflege. „Dir fällt nichts Besseres ein, als jetzt zu baden?“
In ihren dunklen Augen blitzte es gefährlich. „Glaubst du wirklich, mir steht jetzt der Sinn nach einem Bad? Glaubst du, es ist mir egal, dass Aramis gerade dabei ist im Bett meines Mannes zu sterben?“ Jedes ihrer Worte war begleitet von einem drohenden Zischen.
D’Artagnan wusste, er war zu weit gegangen. Innerlich schalt er sich einen Narren. Aber immer wenn er Constance sah, wurde er so wütend. Wütend darüber, dass sie einfach alles, was sie gehabt hatten, weggeworfen hatte für ein bürgerliches Leben mit ihrem Mann. Wütend darüber, dass sie jetzt so tat, als sei das zwischen ihnen ein Ausrutscher gewesen, etwas, wofür man sich schämen musste. Aber es war mehr zwischen ihnen. Es war nicht einfach nur Begehren oder körperliche Anziehung. Sie war einfach die Frau, die zu ihm gehörte. Auch wenn sie mit einem anderen verheiratet war, sie gehörte zu ihm. Was kümmerte es ihn, was die bürgerliche Gesellschaft sagte, wenn sein Herz so sehr nach ihr schrie, dass es wehtat?
„Constance…verzeih. Das war dumm von mir.“
Doch sie schien nicht in nachsichtiger Stimmung zu sein. „Ich kann nicht glauben, dass du in dieses Haus kommst um mir Vorwürfe zu machen, nachdem ich die letzten Tage damit verbracht habe, an Aramis‘ Bettkante zu sitzen und ihm zu erklären, warum ihr nicht da seid.“
Der Vorwurf in ihrer Stimme war unüberhörbar, aber d’Artagnan beschloss, nicht darauf einzugehen, ansonsten würden sie anfangen zu streiten. Und d’Artagnan hatte ernsthaft Zweifel daran, ob seine Freunde es gutheissen würde, wenn er in diesen schwierigen Stunden auch noch seine Liebesnöte ausbreitete. Deshalb beschloss er, seinen Schmerz beiseite zu schieben und griff nach dem Zuber. „Komm. Der ist doch viel zu schwer für dich.“
Constance war jedoch nicht gewillt ihren Zuber loszulassen. Sie verstärkte den Griff noch. „Ich kann das selbst. Ich brauch keine Held, der mich rettet.“ Die Zweideutigkeit in ihrem Satz war beabsichtigt. Im Gegensatz zu ihm wollte sie sich offensichtlich streiten. Nun gut, das konnte sie haben.
„Willst du noch jemanden das Wasser über die Hose schütten?“, fragte er spöttisch.
„Das ist mir nur passiert, weil du in mich reingerannt bist!“
„Die Hose ist auf jeden Fall ruiniert.“
„Schade habe ich nicht das, was in der Hose ist, ruiniert!“
„Sagt mal, worüber sprecht ihr beiden da eigentlich?“
Erschrocken fuhren die beiden zornesroten Köpfe herum. Lässig an den Türrahmen gelehnt stand Athos und betrachtete die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen. D’Artagnan verbiss sich einen Fluch. Wieso musste Athos sich gerade diesen Moment aussuchen um aus seiner Melancholie aufzutauchen?
Sein Erscheinen brachte Constance aber wieder zur Vernunft. Sie drückte den Zuber in d’Artagnans Hände. „Bring das nach oben. Aramis nimmt ein Bad“, sagte sie im geschäftsmässigen Ton und rauschte dann an ihm vorbei. Jetzt war d’Artagnan noch verblüffter. Aramis nahm ein Bad? Vorhin hatte es nicht so ausgesehen, als würde Aramis je wieder das Bett verlassen und jetzt wollte er baden?
„Sag mal d’Artagnan…“ Athos‘ gedehnter Tonfall verhiess nichts Gutes, „wie war das noch einmal mit der Hose? Ich habe da nicht alles ganz verstanden…“
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Ihm war so entsetzlich heiss, dass er glaubte in Flammen zu stehen. War das schon die Hölle? Brannte er schon im Fegefeuer für seine Sünden? Verdient hätte er es gewiss. Er hatte mit der Königin geschlafen und er konnte es nicht einmal aufrichtig bereuen, weil er es jederzeit wieder tun würde. Er hatte Francis nicht retten können. Und er hatte Porthos nicht warnen können. Was war er für ein Freund? Was war er für ein Musketier? Er war keines von beiden, er war nur ein armer Sünder und wenn er jetzt auf ewig in der Hölle schmoren würde, so hatte er das verdient.
Er glaubte Stimmen zu vernehmen, leise, aufgeregte Stimmen. Sie schienen weit weg zu sein, aber sie hatten etwas wunderbar Tröstendes. War er gar noch nicht tot? Er versuchte die Augen zu öffnen, aber seine Lider fühlten sich bleischwer an. Wäre er doch nur nicht so entsetzlich müde. Ihm entglitt die Wirklichkeit, er driftete davon und er war viel zu ausgelaugt um sich dagegen zu wehren.
Jemand rüttelte an seiner Schulter. „Aramis, komm schon, mach die Augen auf. Wir haben auch ein schönes Bad für dich vorbereitet.“
Porthos, dachte Aramis, mein guter Porthos. Richtig, er war ja gekommen. Zu ihm. Aber er hatte ihm nicht sagen können das….ja, was hatte er ihm eigentlich sagen wollen? Er wusste es nicht mehr. War es wichtig gewesen? War überhaupt noch etwas wichtig? Gleichgültigkeit kroch in seine Glieder. Er wollte nur schlafen. Wenn es nicht so heiss wäre, könnte er endlich einschlafen.
Doch sie schienen andere Pläne mit ihm zu haben. Er spürte, wie er aufgerichtet wurde. Der Hustenreiz wurde wieder übermächtig, aber nur ein ersticktes Keuchen entfloh seinen Lippen. Teufel noch mal, wie konnte man nur so schwach sein. Wann war er das letzte Mal so krank gewesen?
Jemand hielt seine Arme hoch, während andere Hände ihm das Hemd über den Kopf streiften. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, hätte er gelacht. Nutzten sie seine Wehrlosigkeit jetzt aus, um ihn zu entkleiden? Zu kümmern brauchte es ihn ja nicht. Er war ja schon nicht mehr Teil dieser Welt.
Als er die so vertrauten Arme von Porthos spüre, die ihn so leicht hochhoben, als sei er ein Kind, glaubte er, zu wissen was sie vorhatten. Er war schon tot und jetzt würden sie ihn begraben. Nackt. Das war schon in Ordnung so. Vor Gott brauchte er keine Kleider. Wenn er überhaupt jemals bei diesem ankam. Es war nur schade, dass er gar nicht hatte richtig Abschied nehmen können. Dafür lag er jetzt in Porthos‘ sicheren, warmen Armen. Gab es eine schönere Art zu Grabe getragen zu werden?
Sogar auf seinem letzten Weg, liess sein treuer Freund ihn nicht im Stich.
Das Gefühl der Geborgenheit verliess ihn jedoch, als kühles Wasser über seine Brust geschüttet wurde. Vor wenigen Augenblicke hatte er sich noch nach Kälte gesehnt, jetzt fröstelte er und begann zu zittern. Was taten sie nur mit ihm? Porthos‘ Griff lockerte sich auf einmal und für einen Moment glaubte er, sein Freund liesse ihn einfach so ins Grab fallen wie eine heisse Kartoffel.
„Alles ist gut, ich halte dich fest. Ich lass dich nicht fallen.“
„Es wird jetzt richtig kalt, aber danach wird es dir bestimmt besser gehen.“
Auf einmal begriff Aramis, dass er nicht in ein Grab gelegt wurde, sondern in Wasser. Es wanderte seine Beine hinauf, schwappte dann über seinen Unterleib und kam ihm schliesslich bis zur Brust. Wollten sie sein Leiden abkürzen und ihn ertränken wie einen überflüssigen, schwächlichen Welpen?
Porthos hielt jedoch sein Versprechen. Er liess ihn nicht los, hielt seinen Kopf über Wasser, während sein restlicher Körper vom kühlen Nass überschwappt wurde. Er strich ihm beruhigend über die Stirn, als er anfing sich zu verkrampfen, weil die plötzliche Kälte ihn quälte, auch wenn sie die Hitze aus seinen Gliedern vertrieb. Er flüsterte Worte in sein Ohr, Worte, die er nicht recht begreifen konnte, aber alleine der Klang seiner Stimme vermittelte ihm Geborgenheit. Und er verstand, dass Porthos gerade um sein Leben kämpfte.
Er fühlte sich noch immer schwach und krank. Aber die Gleichgültigkeit war weg.
Er wollte leben.
Er musste leben.
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Mathias beobachtete mit einem warmen Gefühl in Bauch, wie sich der der riesenhafte Hüne – Porthos nannten sie ihn – über seinen Freund beugte und mit überraschend viel Zartheit über die feucht gewordenen Locken strich. Das Bad war besser gegangen als erwartet. Auch wenn Aramis sich erst gesträubt und dann sogar gekrampft hatte, hatte sein Herz durchgehalten. Das war zum grossen Teil Porthos zu verdanken, der ihn nicht nur unerbittlich über Wasser gehalten, sondern ihm auch seelisch beigestanden hatte. Das Band dieser zwei Männer war stark, das konnte Mathias spüren. Jetzt verstand er auch, wieso Aramis so verzweifelt nach Porthos verlangt hatte.
„Er ist immer noch warm.“ Porthos‘ besorgte Stimme riss Mathias aus seinen stillen Betrachtungen. Seine dunkle und kräftige Hand ruhte auf der kalkweissen Stirn und der Kontrast liess Aramis noch zerbrechlicher wirken.
„So schnell geht das nicht. Das Fieber ist noch da, aber es ist nicht mehr so hoch.“ Vielleicht steigt es aber wieder, fügte er hinzu, aber er brachte es nicht über sich, es laut auszusprechen und die Hoffnung in Porthos‘ Blick wieder zu zerstören.
Aramis begann wieder zu husten, dieses furchtbar rasselnde Geräusch, das Mathias zu hassen begonnen hatte. Porthos rieb ihm heftig über den Rücken und liess die Hand dann im Nacken seines Freundes ruhen, als sei Aramis ein Kätzchen, das es zu kraulen galt. „Was können wir noch tun?“
Mathias spürte, wie sich der alte Kampfgeist in ihm regte. „Ich werde Wadenwickel vorbereiten. Es scheint zu helfen, wenn wir ihn bei einem Hustenanfall aufrichten, also werden wir auch das tun. Und ich werde Madame Bonacieux bitten, noch mehr Tee zu kochen…“
Porthos bedachte ihn mit einem langen, prüfenden Blick. „Das wird wohl eine lange Nacht.“ Und nur Gott weiss, wie er enden wird, dachte Mathias. Auch wenn Aramis offenbar beschlossen hatte, doch nicht so schnell kleinbeizugeben, war die Lage noch immer ernst, die Lungenentzündung noch immer gefährlich.
„Lange und dunkel“, prophezeite er düster.
Ein plötzliches Lächeln erhellte Porthos‘ Gesicht. „Aber eines ist sicher.“
„Und was?“, fragte Mathias.
„Irgendwann geht immer die Sonne auf.“
Kapitel Die Unzertrennlichen
Kapitel 21
Die Unzertrennlichen
Porthos musste allerdings zugeben, dass sich die Sonne ziemlich Zeit liess. Es wurde eine fürchterliche Nacht. Mal wand sich Aramis in wirren Fieberträumen auf seinem Krankenlager und hustete sich die Seele aus dem Leib. Aber beinahe schlimmer war es, wenn er wie tot dalag, wenn seine sich unregelmässig senkende Brust das einzige Zeichen dafür war, dass er noch lebte. Mehrmals griff Porthos in wilder Panik nach Aramis‘ Handgelenk um den Herzschlag zu fühlen, einfach um sich zu versichern, dass er noch lebte.
Mathias und er kämpften mit wilder Entschlossenheit gegen den Feind. Sie umwickelten Aramis‘ Brust mit einer Kräutermischung, wechselten in rasender Eile die nassen Tücher, die sie um seine Beine und um seine Achseln geschlungen hatte. Sie zwangen ihn, Tee und Wasser zu sich nehmen, was kein leichtes Unterfangen war, denn der fiebrige Aramis schien zu glauben, sie wollten ihn vergiften und schlug wild um sich. D’Artagnan und Athos mussten ihn festhalten, während Porthos ihm die Flüssigkeit zuführte.
Als der Morgen kam, waren Porthos und Mathias völlig erschöpft. Aramis dagegen war endlich in einen friedlichen Schlaf gesunken, frei von Husten und schlimmen Träumen. Als Porthos die Hand auf die Stirn legte, hätte er vor Erleichterung am liebsten geschrien. Sein Freund fühlte sich noch immer zu warm an, aber es war bei Weitem nicht die brennende Hitze, die vor ein paar Stunden noch in seinem Körper getobt hatte. „Das Fieber ist gesunken.
„Endlich ein Schritt in die richtige Richtung“, seufzte Mathias und liess sich erschöpft auf einen Stuhl sinken. Porthos rechnete es ihm hoch an, dass er gemeinsam mit ihm die ganze Nacht bei Aramis gewacht hatte. Athos und d’Artagnan waren ebenfalls an der Seite des Bettlägerigen geblieben, aber schliesslich hatte die Müdigkeit gesiegt. D’Artagnan lag, zusammengerollt wie eine Katze im Sessel, während Athos sich einfach auf den Boden ausgestreckt hatte. Constance dagegen hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen.
Porthos musterte Aramis‘ bleiches, aber friedliches Gesicht. „Wird er es schaffen?“
„Ihr wisst, dass ich das nicht versprechen kann. Wenn wir das Fieber im Griff behalten und wir seiner Atmung helfen können, hat er zumindest eine Chance. Eine grössere Chance, als ich je zu hoffen wagte“, fügte Mathias hinzu. Seine Worte gingen in ein herzhaftes Gähnen über und er blinzelte heftig, als versuche er verzweifelt, die Schläfrigkeit zu vertreiben.
Porthos legte ihm die Hand auf die Schulter. „Geht, legt Euch hin. Ich werde bei ihm bleiben.“
„Ich kann doch jetzt nicht schlafen! Wir dürfen uns nicht in falsche Sicherheit wiegen lassen, er ist noch lange nicht über den Berg. Ich kannte mal einen Bauern…“
„Ihr nützt niemanden etwas wenn Ihr aus dem Latschen kippt“, unterbrach ihn Porthos, bevor Mathias zu einer weiteren langatmigen Erzählung über eine tödlich verlaufene Krankheit ausholen konnte, „geht, ruht Euch aus. Ich hole Euch, wenn sich etwas verändert.“
Mathias willigte schliesslich ein, ging aber nicht ohne Porthos zu erklären, bei welchen Symptomen er ihn unbedingt wecken müsste (offenbar war bereits ein Zucken des linken Zehs sehr gefährlich). Dann liess der gute Mathias Porthos allein mit seinen schlafenden Waffenbrüdern.
Obwohl er sich zerschlagen fühlte, war an Schlaf nicht zu denken. Was wenn Aramis sich davonschlich, während er ein Nickerchen machte? Die Angst war stärker, als das Bedürfnis sich hinzulegen. So beobachtete er mit Argusaugen jeden Atemzug, registrierte jeden Huster und fühlte immer wieder die Temperatur. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass die lange Nacht ihren Tribut forderte. Er nickte ein, den Kopf neben Aramis‘ Arm gebettet, wobei dessen Atem beruhigend über seine Haut strich.
Ein geflüstertes Porthos weckte ihn aus seinem Schlummer. Als er die Augen öffnete, sah er direkt in die dunklen Tiefen von Aramis. Und zum ersten Mal in diesen dunklen Stunden, sah Aramis ihn wirklich an, mit müden, verhangenen Augen, aber mit einem feinen Lächeln auf dem Gesicht. Er war nicht mehr im Delirium gefangen.
„Schön dich zu sehen“, grüsste ihn Porthos, als käme Aramis von einer langen Mission zurück und nicht, als tauche er aus Fieberträumen auf.
Aramis setzte sich auf. Seine Bewegungen waren langsam und entbehrten der üblichen katzenhaften Anmut, aber immerhin schaffte er es allein. Als er aufrecht im Bett sass, stopfte Porthos ein Kissen in seinem Rücken, was Aramis mit einem dankbaren Lächeln quittierte. „Ich bin wohl gerade nicht die beste Gesellschaft.“ Seine Stimme klang leise und atemlos.
„Du bist immer gute Gesellschaft, Aramis.“
„Lügner.“
Aramis streckte die Hand nach Porthos aus und die Finger der beiden verflochten sich. Einen Moment blieb es still, dann hustete Aramis schwach. „Ich habe mich noch nie so schwach gefühlt“, murmelte er und kuschelte sich in die Decken, als suche er Schutz.
„Du wirst wieder gesund. Ganz bestimmt.“
Sein Freund nickte, starrte dann aber schweigend zur Decke, verloren in zweifellos dunklen Gedanken. Porthos liess seine Hand los, stand auf und beugte sich über den Liegenden, wobei er sich mit den Armen rechts und links auf der Bettstatt abstützte. So konnte er Aramis direkt ins Gesicht sehen. „Du musst bei uns bleiben. Versprichst du mir das?“
Aramis sah ihn lange an, wobei der Ausdruck der dunklen Augen schwer zu lesen war. „Was in meiner Macht steht, werde ich tun“, sagte er endlich, „aber es gibt Dinge, die können wir nun mal nicht beeinflussen.“
Für Porthos klang das alles eine Spur zu melancholisch. „Nicht einmal Gott sollte es mit Porthos und Aramis aufnehmen“, witzelte er und zu seiner Erleichterung verzogen sich Aramis‘ Lippen zu dem vertrauten schelmischen Lächeln, das Porthos so vermisst hatte.
„Ich gebe nicht auf, Porthos“, versprach Aramis, während seine Augen schon wieder zufielen.
Porthos nahm seinen Kopf behutsam in beide Hände und drückte die Lippen gegen die immer noch warme Stirn. „Das ist mehr als ich gestern noch hoffen konnte, mein Freund. Weitaus mehr.“
„Sollen wir rausgehen und euch alleine lassen?“ d’Artagnan war unbemerkt von den beiden aufgewacht und hatte ein anzügliches Lächeln auf dem Gesicht platziert.
„D’Artagnan, es gibt Dinge, für die bist du einfach noch zu jung“, kam eine grollende Stimme vom Boden und Athos‘ zerzauster Schopf tauchte am Bettende auf.
„Ihr zerstört gerade einen sehr innigen Augenblick, ihr Trampel“, murrte Porthos und half Aramis sich wieder gegen die Kissen zu lehnen.
„Verzeihung, wenn wir euch mit unserer groben Anwesenheit belästigen“, frotzelte d’Artagnan und streckte sich ausgiebig, während Athos sich neben Porthos setzte. Seine durchdringenden blauen Augen huschten besorgt über Aramis‘ Körper, registrierte wahrscheinlich die krankhafte Blässe, die sich hektisch hebende Brust und das hohlwangig gewordene Gesicht und kam zu denselben Schluss wie Porthos: Ihr Freund war noch nicht über den Berg.
Dennoch rang sich Athos ein Lächeln ab. „Dir scheint es besser zu gehen.“
Aramis hob die Schultern. „Ich bin…auf jeden Fall mehr bei Sinnen und…“ Der Rest ging in ein schmerzhaft klingendes Husten über, der zum Glück schnell abklang. Dennoch sah Porthos wie Athos eine Spur bleicher wurde und die Hände zu Fäuste ballte, als wolle er die Krankheit aus dem Leib seines Freundes prügeln.
„Mein Grossvater hat besser geklungen als du. Und der hat sich morgens noch vor dem Frühstück eine Pfeife angesteckt und ist abends sogar mit dem Ding ins Bett“, bemerkte d’Artagnan.
Der aufgeräumte Plauderton schien Aramis aufzuheitern. Er lachte, ein kurzer und rauer Klang zwar, aber dennoch war es ein Lachen. „Und? Ist er am Husten gestorben?“
„Tatsächlich ist er verbrannt. Ist eingeschlafen mit der Pfeife im Mund.“
Jetzt lachten alle drei. „Eine bezaubernde Geschichte. Du und Bruder Mathias solltet euch mal austauschen“, japste Porthos, der vor Lachen kaum Luft bekam und sich schon die Rippen hielt. Eigentlich war es gar nicht so witzig, sondern eher tragisch, aber er war so müde, dass er am Rande der Hysterie war.
Als das Lachen verstummt war, meinte Aramis plötzlich: „Ihr solltet nach Paris zurückkehren.“
Das kam mehr als überraschend und Porthos‘ musste nicht lange über eine Antwort nachdenken. „Kommt gar nicht in Frage!“ Er kannte Aramis zu gut. Er neigte dazu, sich heimlich davonstehlen zu wollen, wenn es ihm zu viel wurde, er neigte dazu, seine Freunde von sich zu stossen, wenn er glaubte, er sei eine Last. Das war Aramis‘ gefährlicher Hang zur Dramatik.
„Ich meine es ernst, Porthos. Es nützt nichts, wenn ihr euch alle um mein Krankenbett drängt. Ihr müsst den Mörder von Francis finden!“ Porthos hörte den flehenden Unterton in Aramis‘ Stimme und es brach ihm beinahe den Herz. Tatsächlich hatte er selbst in den letzten Stunden kaum an den grausamen Mord gedacht.
„Kannst du dich denn inzwischen wieder an etwas erinnern?“
Porthos wünschte sich, Athos hätte sich diese Frage verklemmt. Er glaubte nicht, dass die Lungenentzündung seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hatte und es war gewiss schmerzhaft für ihn, sich an die furchtbaren letzten Tage zu erinnern, die er entweder im Gefängnis oder im Bett verbracht hat. Tatsächlich stiess Aramis ein leises Stöhnen aus, zog die Beine an und legte den Kopf auf die Knie, wie ein Kind, das sich vor der Wirklichkeit verstecken will. „Ich weiss nicht mehr“, flüstere er kaum hörbar, „ich weiss es einfach nicht mehr.“
Seine Finger verkrampften sich um die Bettlaken, als wolle er sie in seiner Anstrengung sich zu erinnern zerreissen. Porthos löste sie behutsam von dem weichen Stoff. „Du darfst dich nicht so aufregen. Es ist nicht weiter schlimm, wir finden auch ohne deine Erinnerungen raus, was geschehen ist. Mach dir keine Sorgen!“
„Ich…Ich habe mich an etwas erinnert…Aber ich bringe es nicht mehr zusammen…Das Fieber“, presste Aramis zwischen hektischem Husten hervor. Seine Rippen schienen zu schmerzen, denn er schlang den Arm um seinen Oberkörper und wiegte sich vor und zurück. Porthos verbiss sich einen Fluch. Er hatte ja gewusst, dass es keine gute Idee war, wieder über Francis zu sprechen.
Glücklicherweise schien d’Artagnan der gleichen Meinung zu sein. Er streifte Athos mit einem leicht vorwurfsvollen Blick, bevor er im bestimmten Ton zu Aramis sagte: „Du musst jetzt schlafen und gesund werden.“ Mit sanftem Druck legten sie ihren Freund wieder hin und Aramis schloss die Augen.
Sie glaubten schon, er sei wieder eingeschlafen, als sich seine Lieder wieder hoben und sich sein Blick erstaunlich klar und fest auf seine Freunde richtete. „Ihr müsst ihn finden. Den Mörder von Francis. Das ist wichtig. Nicht um meine Unschuld zu beweisen wie wir anfangs gedacht haben, sondern um ihn davon abzuhalten, es wieder zu tun. Denn er wird weiter morden. Und die einzige Frage die bleibt, ist die, wem die Stunde als Nächstes schlägt.“
Für jedes Wort schien er kämpfen zu müssen und er machte Anstalten, sich wieder aufzurichten. „Bleib jetzt endlich liegen, du Idiot“, grollte Porthos und drückte ihn unnachgiebig in die Kissen.
Aramis wehrte sich schwach. „Geht zurück nach Paris. Ihr müsst sie aufhalten!“
Es bereitete Porthos keine grosse Mühe, das zappelnde Bündel festzuhalten, auch wenn es ihm heftig widerstrebte, seine Kraft gegen seinen besten Freund einzusetzen. „Beruhige dich, Aramis. Ich verspreche dir, es wird alles gut. Wir kümmern uns um alles. Alles was du tun musst ist, wieder gesund zu werden!“
Mit einem lauten Seufzer erschlaffte der Körper in seinen Armen. Porthos betete ihn zurück in die Laken, breitete die Decken über ihn aus und fühlte sowohl Stirn als auch Puls. Der Herzschlag war ruhig und gleichmässig, aber Aramis fühlte sich wieder wärmer an. Das Fieber schien sich wieder aufzubäumen.
Während Porthos Aramis behutsam untersuchte, starrte Athos nachdenklich vor sich hin. „Sie“, sagte er gedankenverloren.
Porthos verstand nicht, ebenso wenig wie d’Artagnan, der verwirrt nachhakte: „Sie?“
„Er hat gesagt: Ihr müsst sie aufhalten! Nicht: Ihr müsst ihn aufhalten. Ich glaube, unbewusst hat Aramis sich doch an etwas erinnert. Nämlich, dass eine Frau hinter allem steckt!“
„Zum Teufel mit den Weibern“, murrte Porthos und Aramis stiess ein leises, zustimmendes Seufzen aus, als habe er jedes Wort verstanden.
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„Es ist mir völlig egal, was er sagt! Himmel, er hat im Augenblick das Urteilsvermögen einer betrunkenen Kuh, so fiebrig ist er immer noch. Ich bleibe bei ihm!“ Athos wusste, er würde eher einen Ochsen umstimmen als Porthos. Er hatte denselben Gesichtsausdruck wie damals, als Aramis nach einem Wettstreit mit der Roten Garde von eben jener überfallen worden war. Als Porthos die blauen Flecken gesehen hatte war er mit genau dieser Miene in das Lieblingsgasthaus der Rotröcke marschiert. Was genau im Innern vor sich gegangen war, hatte Athos nie erfahren, aber die Gardisten hatten eine Zeitlang einen grossen Bogen um jeden Musketier gemacht.
„Aber wir sind es Francis schuldig, dass wir herausfinden, warum er sterben musste“, wandte d’Artagnan ein und schob sich ein Stück Brot in den Mund.
Die Musketiere sassen zusammen mit Constance um den reich gedeckten Küchentisch. Die Dame des Hauses hatte ihnen ein wunderbares Frühstück zubereitet und sogar Athos, der sich eigentlich als sparsamen Esser kannte, langte tüchtig zu. Nach dieser schrecklichen Nacht in der er dazu verdammt gewesen war, den angestrengten Atemzügen seines Freundes zu lauschen, war es geradezu himmlisch, hier in der sonnendurchfluteten Küche zu sitzen und zu schmausen wie die Halbgötter.
„Francis ist tot und er bleibt es auch, egal wie schnell wir seinen Mörder finden!“, entgegnete Porthos mit einer stahlharten Stimme, die so gar nicht zu ihm passte.
„Die Gründe für Francis‘ Tod reichen tiefer als gedacht. Es ist unsere Pflicht dieser Verschwörung auf dem Grund zu gehen.“
Athos musste Porthos eigentlich nur selten an seine Pflichten erinnern, denn im Gegensatz zu d’Artagnan oder Aramis, die schon einmal ihr Privatleben über ihre Aufgabe stellten, stand der Dienst als Musketier für Porthos immer an oberster Stelle. Für die sanfte Ermahnung erntete er auch sofort einen bösen Blick. „Du kannst es kaum erwarten ihn zu verlassen oder? Wir wissen alle, dass du gerne davonrennst!“
Das tat weh, besonders weil der Vorwurf nicht ganz unberechtigt war. Athos liebte seine Freunde, sie waren seine Brüder, sie waren durch weitaus mehr verbunden, als durch das Blut. Ihr Leid mitanzusehen war für ihn schwerer zu ertragen, als selbst Qualen zu erdulden. Er konnte nicht bestreiten, dass es sehr verlockend war, Aramis den Rücken zuzukehren, nicht weil er Aramis nicht liebte, sondern eben weil er ihn liebte.
Bevor Athos sich eine passende Antwort überlegen konnte, griff Constance ein. „Jungs, streitet euch nicht. Damit helft ihr weder Aramis noch Francis. Die Lösung ist doch ganz einfach: Porthos bleibt zusammen mit mir und Mathias hier, während Athos mit d’Artagnan nach Paris zurückkehrt“, erklärte sie ruhig.
Das klang in der Tat vernünftig, auch wenn Athos die Gruppe ungern noch weiter splitterte. Sie hiessen nicht umsonst die Unzertrennlichen. Und Porthos war mit seiner Kraft und seinem direkten Verstand immer eine wichtige Stütze. Constance schien seine Zweifel zu spüren, denn sie fügte sanft hinzu: „Ich glaube, es wäre unklug, Porthos von Aramis‘ Seite zu reissen. Er braucht ihn. Und er hat immer wieder verzweifelt nach ihm verlangt!“
Porthos wirkte immer noch verstockt und schob den noch immer halbvollen Teller geräuschvoll von sich, wie um zu demonstrieren, dass ihm der Appetit vergangen war. „Meiner bescheidenen Meinung nach gehören wir jetzt an Aramis‘ Seite.“
D’Artagnan spielte nachdenklich mit der Gabel. „Ich denke, es ist auch wichtig, dass wir nach Paris zurückkehren. Schon um Tréville beizustehen. Immerhin ist er jetzt quasi alleine mit einem fuchsteufelswilden Kardinal, einer irren Mörderin und einem von Liebeskummer zerfressenen Wirt.“
„Tréville hat noch andere Musketiere in seinem Dienst. Nicht nur uns!“
Der heftige Ton liess alle zusammenzucken. Abgesehen von d’Artagnan, der mit einem mitfühlenden Lächeln seine Hand auf die seines Freundes legte. „Glaube nicht, dass es uns nicht ebenso schmerzt wie dich, Aramis so zu sehen. Aber wenn wir Francis‘ Mörder finden, dienen wir nicht nur Frankreich, wir entlasten auch ihn. Denks du nicht, es wäre für Aramis‘ Genesung förderlich, wenn er wüsste, dass er zurückkehren kann? In die Stadt, die er liebt, zu der Aufgabe, die er liebt?“
Manchmal beneidete Athos d’Artagnan um seine Fähigkeit immer das Beste aus einer Situation zu machen und auf seine ganz eigene pragmatische Weise die Dinge zu ordnen. Auf jeden Fall beschämten seine Worte Porthos, der betreten den Kopf senkte. „Verzeiht mir, es ist nur…ich hab so eine verfluchte Angst um ihn!“
Athos berührte ihn vorsichtig an der Schulter. „Ich auch Porthos, ich auch. Und du hast Recht. Ich ertrage es kaum. Ich glaube, Aramis braucht jetzt Stärke und Licht und nicht meine Angst und meinen Kummer.“
Porthos lächelte. Es war ein kurzes, grimmiges Lächeln, aber es zeigte Athos deutlich, dass der Streit – geboren aus der Angst um Aramis – wieder beigelegt war. „Dann ist es also beschlossen. Die Unzertrennlichen trennen sich.“
Constance verdrehte die Augen. „Das habe ich ja von Anfang an gesagt, aber ich weiss ja, dass Musketiere gerne alles noch einmal durchkauen und es hinterher als ihre Idee präsentieren!“
Ihr Kommentar brachte ihr einen freundschaftlichen Knuff von d’Artagnan ein. Es war eine spasshafte, nicht ganz ernstgemeinte Geste, dennoch erstarrte Constance und sah ihn mit grossen Augen an. Eine Weile konnte Athos förmlich sehen wie sich die alten Vorwürfe zwischen ihnen aufbauten; bittere Vorwürfe, jedoch getränkt von dieser sehnsüchtigen Liebe, welche die beiden noch immer verband. Dann war der zarte Moment vorbei, Constance sprang wie von einer Tarantel gestochen auf und begann hastig das Geschirr zusammenzustellen, wobei sie Porthos aus lauter Hast die noch volle Tasse aus der Hand riss.
Athos senkte den Blick auf die Tischplatte. Aramis liebte seine Königin, die seine Gefühle zwar erwiderte, jedoch gebunden war an ihren Mann, ihr Land und ihre Pflichten. D’Artagnan und Constance liebten sich von ganzem Herzen, scheiterten aber kläglich an den gesellschaftlichen Konventionen. Er selbst liebte eine Frau, die in ihrer Bosheit selbst dem Teufel Konkurrenz machte. Liebesglück und Musketiere passten offenbar nicht recht zusammen.
Abgesehen von Porthos. Athos streifte diesen mit einem flüchtigen Blick und überlegte, wann wohl auch dessen frühlingsfische Liebe zu Adelina in kalten Winter verwandeln würde.
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d’Artagnan trat hinaus in den Tag und atmete erst einmal tief. Ihm schien es, als fülle er seine Lungen nicht nur mit Luft, sondern auch mit Leben. Er lebte jetzt schon eine Weile in Paris und er liebte die laute, überfüllte Stadt mit ihren Geheimnissen und Intrigen. Ein Teil seines Herzens würde jedoch immer am Landleben hängen. Er war ein Bauernkind. Erde unter seinen Füssen, Wind in seinen Haaren, Stallgeruch, der an ihm haftete. Das war seine Welt.
„Es ist schön hier, nicht wahr?“
Constances Schritt war so leicht, dass d’Artagnan nicht bemerkt hatte, wie sie an seiner Seite aufgetaucht war. Gemessen an der Tatsache, dass ihre Gespräche in letzter Zeit ständig in einem Streit mündeten, spannte er sich unwillkürlich an, wie um sich für einen Kampf zu stählen. Doch Constance schien nicht mehr viel daran zu liegen, ihn anzufauchen. Sie stellte sich dicht neben ihn und zog das wollene Tuch, dass sie sich gegen die morgendliche Kühle umgehängt hatte, enger um die Schultern.
„Beinahe zu schön um es schon wieder zu verlassen.“
Eine Weile standen sie einfach Seite an Seite und sahen gemeinsam in die noch stille Landschaft, die sich wie ein endloser Teppich aus Bäumen und Gras vor ihnen erstrecke. So könnte es immer sein, sinnierte d’Artagnan in einem jähen Anfall von Melancholie, so könnte es in ein paar Jahren sein, wenn unsere Kinder noch schlafen und wir uns diese Zeit stehlen, die Zeit als Paar.
Constance riss ihn mit einem Räuspern aus seinen Träumereien. „Es ist unglaublich, wie gut es Aramis tut, dass Porthos bei ihm ist.“
„Wenn Aramis mal krank ist – und dem Herrn sei Dank ist er das selten – wird er ganz krank, verstehst du? Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. All seine Lebensfreude weicht dann von ihm. Und wenn jemand was von Lebenslust versteht, dann ist es Porthos.“
Das immer etwas spitzbübische Lächeln erhellte Constances hübsche Züge, doch ihr Ausdruck wurde gleich wieder ernst. „Es…sein Zustand war wirklich schlimm, d’Artagnan. Ich hatte immer mehr das Gefühl, ich sässe an einem Totenbett. Und er ist immer noch nicht über den Berg.“
„Wieso sagst du mir das? Constance, ich habe ihn auch gesehen. Ich weiss wie ein schwerkranker Mensch aussieht!“, sagte d’Artagnan und klang eine Spur schärfer als beabsichtigt. Aber ihm kam es langsam vor, als führe er heute immer wieder dasselbe Gespräch.
Zu seinem Entsetzen stiegen Constance die Tränen in die Augen. „Verzieh es ist nur…ich…dachte nur die ganze Zeit…dass wenn er stirbt…wenn ich ihn nicht retten kann…dass du mich dann hasst!“
Sie schluchzte so sehr, dass ihre schmalen Schultern bebten und es war ein herzzerreissender Anblick, die sonst so unerschütterliche Constance in einem so aufgelösten Zustand zu sehen. D’Artagnan hätte sie so gerne in den Arm genommen, sie an sich gerissen und schützend umschlungen. Er durfte es nicht und er glaubte auch nicht, dass sie es zugelassen hätte.
Deshalb tätschelte er ihr in Ermangelung einer Alternative hilflos die Schulter. „Constance…bitte weine nicht!“, flehte er.
Das Einzige was er erreichte war, dass ihr Tränenstrom sich noch verstärkte. Und weil er es einfach nicht mehr ertrug, weil er glaubte, an seinem eigenen Herzen zu ersticken, schlang er dann doch die Arme um sie und drückte sie an sich. Ihr vertrauter Körper schmiegte sich an ihn wie ein verlorenes Stück und das Glück, das in seiner Brust aufstieg fühlte sich so herrlich warm an.
„Ich könnte dich niemals hassen“, murmelte er in ihre herrlich duftenden Locken, „ich werde dich niemals hassen. Wenn ich es könnte, wäre mein Leben leichter. Es würde weniger wehtun als dich zu lieben.“
Sie sah ihn mit tränenverschleiertem Blick an. „Das darfst du nicht sagen, d’Artagnan. Um meiner Ehe willen. Auch um deiner selbst willen.“
„Ich muss es sagen. Ich kann nicht anders.“
Viel zu schnell löste sie sich von ihm und wischte sich mit einer ärgerlichen Armbewegung die Tränen aus dem Gesicht. Es gelang ihr nicht ganz, die Wimpern blieben silberverhangen und ihre Stimme klang noch immer gepresst als sie sagte: „Das ist alles nicht richtig. Diese armen, ermordeten Männer, Aramis‘ Krankheit, unsere verbotene Liebe…Das ist doch nicht fair!“
Nein, das war es nicht. Sie mussten kapitulieren vor der unumstösslichen Tatsache, dass doch immer jemand anderes die Regeln machte. Und so sehr sie sich auch dagegen sträubten, am Ende mussten sie die Waffen strecken, weil Gott ihre Wege zeichnete. Nur fragte er nicht vorher, ob einem dieser Weg auch gefiel.
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Als sich Athos und d’Artagnan ein paar Stunden später auf ihre Pferde schwangen um den Weg zurück nach Paris anzutreten, zeigte weder der junge Gascogner noch Constance, das sie einen zärtlichen Moment geteilt hatten. Im Gegenteil, sie verabschiedeten sich geradezu kühl voneinander, als schämten sie sich dafür, ihren Gefühlen nachgegeben zu haben.
Deutlich herzlicher fiel der Abschied zwischen Athos und Porthos aus. Porthos trat an das Pferd und legte eine Hand auf Athos‘ Bein. „Pass auf dich und den Jungspund auf!“
„Ach, du weisst ja wie ich und d’Artagnan sind. Wir kommen nie in grosse Schwierigkeiten, subtil wie wir immer vorgehen“, sagte Athos trocken. Dann beugte er sich hinunter und drückte Porthos‘ Hand. „Mach dir keine Sorgen. Dein Kampf ist der härtere als der unsere. Lass ihn nicht gehen, Porthos. Wir brauchen ihn.“
Porthos nickte, ein Ausdruck grimmiger Entschlossenheit auf seinen Zügen. Dann trat er zurück und hob die Hand zum Abschied, während seine beiden Freunde kurz an ihre Hüte tippten, bevor sie ihre Pferde wendeten. Constance und Porthos sahen ihnen lange nach, mit dem Gefühl verlassener Kinder, denen die Obhut des kleinen, kranken Bruder überlassen worden war.
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Kapitel Frühstück bei Richelieu
Kapitel 22
Frühstück bei Richelieu
Dass der Tag nichts werden würde, wusste Tréville spätestens in dem Moment, als ein Bote des Kardinals morgens an seine Tür klopfte und ihm ein Billet aushändigte. Kommt um zehn Uhr in mein Arbeitszimmer stand da in der ordentlich kleinen Schrift Richelieus. Von Bitte und Danke hatte er ja noch nie viel gehalten.
Also zog Tréville sich an, seinen Degen um und setzte sich seinen Hut auf, um sich in den Louvre zu begeben. Die Wachen liessen ihn mit einem kurzen Blick auf Richelieus Billet passieren. Wenn sie überrascht waren, dass Tréville beim Kardinal und nicht beim König eine Audienz hatte, so liessen sie es sich nicht anmerken, auch wenn es allgemein bekannt war, dass Tréville und Richelieu nur ungern Zeit miteinander verbrachten.
Als Tréville das Arbeitszimmer betrat, wäre er beinahe über eine von Richelieus vermaledeiten Katzen gestolpert. Er verbiss sich einen Fluch. Dass der Kardinal eine dermassen innige Zuneigung zu Tieren fassen konnte, bewies immerhin, dass er so was wie ein Herz hatte, allerdings konnte sich Tréville nicht dem Verdacht erwehren, dass die Viecher in Wirklichkeit Spione des Kardinals waren. Allzu oft tauchten die Samtpfoten an allen möglichen Orten des Palastes auf und schienen mit ihren spitzen Ohren alles zu hören, was in den Gemächern geflüstert wurde.
Die Katze liess ein empörtes Fauchen hören und marschierte dann mit erhobenem Schwanz unter den Schreibtisch ihres Herrn, der sich runterbeugte, um den seidigen Kopf zu kraulen.
Richelieu war noch beim Frühstück, auf seinem Schreibtisch, sonst übersät von Papieren und Büchern, stand ein schweres Tablett gefüllt mit saftig aussehenden Früchten und Brot, alles herrlich angerichtet auf kostbaren Geschirr. Obwohl Tréville diese Art von demonstrierten Prunk verabscheute, lief ihm bei diesen Anblick das Wasser im Mund zusammen und er konnte nicht verhindern, dass sein Magen vernehmlich knurrte.
Richelieu lächelte spöttisch. „Tréville! Ich weiss Eure Pünktlichkeit zu schätzen. Selbst Euer Frühstück lasst Ihr dafür ausfallen. Aber das sind eben die Soldaten, die unser Land braucht!“
Tréville liess sich von dieser hämischen Begrüssung nicht aus der Ruhe bringen. Von Richelieu war er Herablassung gewohnt und obwohl sie eine Art Waffenstillstand geschlossen hatten, war ihre Beziehung zueinander nicht herzlicher geworden. Deswegen warf sich Tréville auch betont leger auf seinen Stuhl und schlug die Beine übereinander, nicht ohne seine schmutzigen Stiefel noch schnell am Tischbein abzureiben. Nichts brachte den Kardinal mehr in Rage, als wenn er sich auf diese provozierend flegelhafte Art benahm.
Es fruchtete auch diesmal. „Ist Euer Gehalt so niedrig, dass Ihr Euch keine zweite Uniform leisten könnt oder warum lauf Ihr immer in derselben, zerschlissenen Kleidung herum?“
„Ich hoffe, Ihr habt mich nicht rufen lassen, um über meine Erscheinungsbild zu diskutieren“, entgegnete Tréville und legte seinen Hut – in der Tat sein hässlichstes Exemplar – auf den ohnehin überfüllten Schreibtisch, direkt neben Richelieus Tasse. Der Kardinal zog pikiert die Augenbrauen hoch, enthielt sich aber eines Kommentars und sagte stattdessen: „Nein, natürlich nicht. Ich habe Euch rufen lassen, weil ich wissen wollte, ob Eure phänomenalen Musketiere schon etwas rausgefunden haben, was diese mysteriösen Todesfälle anbelangt. Mir ist zu Ohren gekommen, es hat einen weiteren Mord gegeben. Und der Unglückliche ist niemand Geringeres als der verehrte Robert Dupont, der famose Kronzeuge, der Euren Musketier ins Gefängnis gebracht hat.“
Hatte er es also schon wieder rausbekommen. Unwillkürlich warf Tréville der Katze, die sich jetzt elegant das Fell putzte, einen vorwurfsvollen Blick zu. Er misstraute dem Vieh einfach. „Robert Dupont wurde erhängt in einer Kirche gefunden.“
„Selbstmord?“, fragte der Kardinal, während er einen Apfel in kleine Stückchen schnitt.
Tréville ignorierte seinen Magen, der sich beim Anblick der saftenden Frucht, wieder zu Wort meldete. „Nein. Also wir gehen zumindest nicht davon aus. Dupont war ein gefährlicher Mitwisser für die Täterin. Wir nehmen an, sie hat sich ihm entledigt.“
Richelieu schob sich ein Apfelstückchen in den Mund und kaute bedächtig. „Warum hat er unserer grossen Unbekannten geholfen? Ich dachte, er und Euer Musketier seien befreundet?“
An diesem Punkt zögerte Tréville. Es war ihm unangenehm über Roberts und Lefèvres skandalöse Beziehung zu sprechen. Der Kardinal war zwar grosszügig was seine eigenen Sünden anbelangt, das galt allerdings nicht wirklich für seine Mitmenschen. Und die Kirche, verurteilte gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen. Allerdings, wenn sie den Fall lösen wollten, dann brauchen sie Richelieu. Ausserdem hatte sich Lefèvre den Ärger selbst zuzuschreiben. „Robert hatte ein dunkles Geheimnis. Er hat sein Bett mit einem Mann geteilt. Wahrscheinlich hat sie ihn mit diesem Wissen erpresst.“
Richelieu schien diese Enthüllung nicht gross zu beeindrucken. Wahrscheinlich hörten die scharfen Ohren des Kardinals am Hof noch weitaus skandalösere Dinge. „Sieh an, sieh an. Nun ja, stille Wasser sind tief. Und mit wem hat Dupont seine Schäferstündchen abgehalten? Etwa mit dem getöteten Musketier?“
Tréville sah wehmütig zu, wie Richelieu ein Stück Brot entzweibrach. Wenn der Kardinal bei jeder Mahlzeit einen so gesunden Appetit an Tag legte wie beim Frühstück, grenzte es an ein Wunder, dass er sich seine schlanke Figur bewahrt hatte. „Mit Pierre Lefèvre. Dem Wirt der ‚Fröhlichen Gans‘.“
Als Richelieu den Namen ‚Fröhliche Gans‘ hörte, sog er erschrocken die Luft ein und verschluckte sich an seinem Brot. Er hustete und würgte, während sein Gesicht rot wie eine Tomate wurde. Seine Katze stiess ein erschrockenes Fauchen aus und sauste unter einem Sessel. Nur noch die zwei gelben Augen leuchteten gespenstisch hervor. Tréville unterdessen unternahm zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage eine Rettungsaktion für den Kardinal, auch wenn sie diesmal weniger spektakulär ablief. Tréville klopfte Richelieu einfach einmal kräftig auf den Rücken und spuckte die Brotreste in eine Serviette.
„Erst schlucken, dann reden“, kommentierte Tréville trocken und gestatte sich ein amüsiertes Grinsen. Warum reagierte Richelieu so ungewohnt heftig auf die Erwähnung der ‚Fröhlichen Gans‘? Oder interpretierte er das falsch und Richelieu hatte sich einfach zufällig verschluckt?
Richelieu standen Tränen in den Augen und er griff hastig nach seinem Glas, um einen Schluck zu trinken. „Ich werde es mir merken“, knurrte er, „habe ich das richtig verstanden? Ist das nicht das Lokal, in dessen Hinterhof Francis ermordet wurde? Und Pierre Lefèvre ist der Wirt?“
Nun, offenbar gab es doch Dinge, die Richelieu entgingen. Das war nun doch einigermassen tröstlich. „Wusstet Ihr das nicht?“
„Meine Männer haben mir nur berichtet, dass Francis in diesem Hinterhof gefunden wurde. Sie haben mir nicht gesagt, dass Pierre Lefèvre der Wirt dieser Spelunke ist!“
Tréville betrachtete Richelieu prüfend. Lag da tatsächlich ein rötlicher Schimmer auf den bleichen Wangen? Was verband den strengen, unbarmherzigen Kardinal mit dem sprunghaften, lasterhaften Lefèvre? Tréville konnte sich nur schwer vorstellen, dass Richelieu in dem Lokal ein – und ausging. „Der Name scheint Euch wohlbekannt zu sein!“
„Und ob! Wo Monsieur Lefèvre auftaucht, ist der Ärger meist nicht weit. Wundert mich gar nicht, dass er in die Sache verwickelt ist. Er ist doch in die Sache verwickelt oder?“, fügte er mit Nachdruck hinzu, als wäre jede andere Antwort als „Ja“ völlig ausgeschlossen.
Tréville hob unschlüssig die Schultern. „Er ist auf jeden Fall mehr in die Sache verwickelt, als es anfangs schien.“ Und er erzählte dem Kardinal von Fleur Delacroix und Athos‘ Verdacht, dass sie bei Lefèvre Zuflucht gefunden hatte.
Richelieu hatte aufgehört zu essen und lauschte aufmerksam, wobei seine langen Finger unaufhörlich auf den Tisch trommelten. In seinen dunklen Augen glomm ein Funke, der Tréville geradezu unheimlich vertraut war. So sah Richelieu immer aus, wenn er entschlossen war, irgendetwas ans Tageslicht zu zerren, egal was es ihn und andere kostete. Normalerweise hatte er diesen Blick streng für Musketiere reserviert. Lefèvre musste ihm wahrlich etwas Schlimmes angetan haben.
Als Tréville geendet hatte, schlug Richelieu jäh mit der flachen Hand auf den Tisch, wobei das Geschirr ein vernehmliches Klirren von sich gab. „Verdammt, Tréville! Wieso habt Ihr nicht gleich den ganzen Gasthof räumen lassen und den Laden durchsucht?“
„Kardinal Richelieu, ich kann nicht einfach mal eben einen Gasthof auf den Kopf stellen, aufgrund einer vagen Vermutung. Es gibt keine Verbindung zwischen Fleur Delacroix und Pierre Lefèvre, ausser einem verdächtigen Kleidungsstück“, antwortete Tréville ruhig. Er hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu ärgern, dass Richelieu immer und überall seine Kompetenz in Frage stellte.
„Euer ständiges Zögern und Abwarten ist der Grund wieso der Mörder immer noch frei herumläuft!“, entgegnete Richelieu scharf.
„Musketiere tragen die Uniforme des Königs. Wir haben einen Ruf, den wir bewahren müssen. Wir können nicht einfach unbescholtene Bürger nach Lust und Laune festnehmen, während uns ganz Paris dabei zusieht!“
Richelieu schnaubte. „Pierre Lefèvre ist ganz gewiss kein unbescholtener Bürger. Aber wenn Ihr Euch so ziert, werden eben meine Männer den Laden auseinander nehmen. Und dann werde ich Monsieur Lefèvre zu einer gemütlichen Teestunde einladen und ein gemütliches Schwätzchen mit ihm halten.“
Das klang alles weniger nach einer Einladung als vielmehr nach einer Drohung. „Eure Eminenz, ich weiss, Ihr hört ohnehin nicht auf meinen Rat, aber ich gebe ihn Euch trotzdem: Wir sollten jetzt nichts überstürzen. Dass Monsieur Lefèvre ein mehr als fragwürdiges Geschäft unterhält, da sind wir uns einig. Aber wenn wir zu früh Schritte einleiten, schrecken wir die Rehe auf und sie entkommen uns wieder.“
„Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber Eure Ermittlungen haben bisher nichts gebracht, ausser noch mehr Fragen aufzuwerfen und eine weitere Leiche zu präsentieren. Eure Musketiere lassen nach, Tréville. Es wird Zeit, dass ich mich persönlich um diese unerfreuliche Angelegenheit kümmere.“
Der trotzige Tonfall passte gar nicht zu dem sonst so kühlen Kardinal. Tréville beschloss, ergeben zu nicken. Wenn Richelieu unbedingt mit Pauken und Trompeten die „Fröhliche Gans“ räumen lassen und damit die Aufmerksamkeit von ganz Paris auf sich ziehen wollte, sollte er es eben tun. „Wie Ihr wünscht, Eure Eminenz.“
Richelieu blinzelte, offensichtlich erstaunt, über den Mangel an Widerstand. „Mir ist zu Ohren gekommen, dass Euer Regiment sich ein wenig verkleinert hat. Ausgerechnet Eure besten Männer sind seit gestern Abend spurlos verschwunden.“ Wie aufs Stichwort nährte sich die Katze wieder ihren Meister und sprang in einer geschmeidigen Bewegung auf Richelieus Schoss. Ihre gelben Augen richteten sich auf Tréville und für einen Moment glaubte dieser sogar zu sehen, wie sich die pelzigen Züge zu einem hämischen Grinsen verzogen. Er nahm sich vor, in Zukunft jede Katze sofort aus der Garnison zu verbannen.
„Eine dringende Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete.“ Das war nicht einmal gelogen. Ein kranker Aramis war wirklich mehr als eine dringende Angelegenheit. Tréville verdrängte den Gedanken aber schnell wieder. Er musste vor Richelieu den Gelassenen spielen und durfte sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihm das Schicksal von Aramis beschäftigte. Auch wenn Richelieu seine Wut gerade auf jemand anderen lenkte, wenn er herausfand, dass sie Aramis versteckt hielten, würde er nicht zögern, den Musketier vom Krankenbett in die nächste Gefängniszelle zu zerren.
„Eine dringende Angelegenheit, soso“, Richelieus Finger kraulten behutsam durch das Fell, aber zum Glück, bohrte er nicht weiter, sondern sagte abschliessend: „Nun denn. Ich werde so handeln, wie ich es für richtig halte.“
„Alles andere hätte mich auch erstaunt. Aber ich wäre froh, wenn ich bei dieser Teestunde mit Lefèvre dabei sein könnte.“
„Und wieso?“
Weil ich nur zu gern wüsste, was zwischen Euch und Pierre vorgefallen ist, dachte Tréville. Laut sagte er: „Es geht immer noch um meinen toten Musketier und um einen anderen meiner Musketiere, der für genau dieses Verbrechen beschuldigt wird.“
Richelieu verdrehte die Augen. „Der gute Vater für seine Musketiere, jaja. Aber bitte. Ich lasse nach Euch schicken, sobald ich Lefèvre habe. Vielleicht werdet Ihr dann noch lernen, wie man mit Verdächtigen umgeht.“
„Ihr wisst ja: Eure Eminenz ist mein grösstes Vorbild.“ Tréville gab sich nicht einmal Mühe, den Spott zu verbergen. Die Lagebesprechung schien beendet zu sein, also stand Tréville auf, tippte kurz an seinem Hut und neigte als kurze Respektbezeugung den Kopf. Richelieu entliess ihn mit einem ungeduldigen Wedeln der Hand.
Morgenbesprechung mit dem Kardinal war nicht gerade ein idealer Tagesbeginn und das Magenknurren half nicht gerade beim Heben der Laune. Missmutig eilte Tréville durch die verschlungen Gänge der Louvre. Vielleicht sollte er noch kurz beim König vorbeischauen. Er war oft um diese Zeit beim Frühstück und freute sich immer über Gesellschaft. Er würde sich nicht den Bauch vollstopfen, während sein halbverhungerter Captain vor ihm im Stuhl hing.
Doch als Tréville den Weg zu den Gemächern des Königs einschlagen wollte, hörte er das leise Trippeln von Frauenfüssen und kurz darauf rief eine Stimme: „Monsieur Tréville! Bitte wartet!“
Als Tréville sich umdrehte, sah er niemand Geringeren als Adelina, von allen nur die schöne Lady aus England genannt, auf sich zueilen. Sie wurde ihrem Spitznahmen auch in den frühen Morgenstunden gerecht. Ihr grünes, ausladendes Kleid schmeichelte ihren Augen und der hohe Kragen betonte ihren schmalen Hals. Ihre wilden Locken fielen ihr jedoch ungezähmt über die Schultern, ein Zeichen dafür, dass sie nicht die übliche Sorgfalt auf ihre Morgentoilette verwendet hatte.
Eine Spur ausser Atem blieb sie vor Tréville stehen, der sich galant verbeugte und ihre schmale Hand küsste. Sie war auf jeden Fall ein weitaus erfreulicher Anblick als Richelieu und seine Katze. „Gräfin Adelina! Was verschafft mir diese hohe Ehre?“
Sie blickte ihn verschwörerisch an. „Monsieur Tréville, es tut mir Leid, wenn ich Euch so rüde anspreche und noch dazu in einer Angelegenheit, die ganz und gar privat ist.“
Tréville ahnte schon, was jetzt kommen würde. Offenbar war es sein Schicksal, immer auch in die Liebesbeziehungen seiner Musketiere gezogen zu werden, auch wenn er sich dies stets ausdrücklich verbot. Er unterdrückte einen Seufzer. „Ich freue mich immer, wenn ich edlen Damen helfen kann. Besonders wenn sie nicht nur schön sind, sondern auch noch ein freundliches Herz haben.“
„Von allen Franzosen, die ich bis jetzt kennengelernt hatte, seid Ihr bei weitem der Charmanteste.“
Er erwiderte ihr neckisches Lächeln. „Wenn Porthos das jetzt gehört hätte, würde er Euch das wahrscheinlich übelnehmen.“
Damit hatte er ihr eine goldene Brücke gebaut und sie verlor auch gar keine Zeit mehr mit weiteren Spielchen. Nachdem sie einen raschen Blick über die Schulter geworfen hatte, um sich zu versichern, dass sie allein waren, dann senkte sie die Stimme. „Ich habe heute Morgen nach Porthos geschickt. Aber man sagte mir, er sei nicht in der Garnison.“
Sie versuchte ihre Eifersucht zu verbergen, aber es gelang ihr nicht richtig. Dachte sie wirklich, Porthos hätte sich schon ein anderes Liebchen gesucht und wolle sie nun loswerden? Nachdem er die letzten Wochen rumgelaufen war, wie ein liebestrunkener Jüngling und sich für sie sogar in Frauenkleider geworfen hatte? Wie misstrauisch war doch so ein Frauenherz!
„Da hat man Euch richtig informiert. Porthos musste gestern Abend überstürzt aufbrechen.“
„Eine Mission? So plötzlich?“
„Ich würde es nicht gerade Mission nennen."
„Aber was ausser seine Pflichten…o mein Gott“, unterbrach sie sich selbst, „o mein Gott, es ist etwas mit Aramis oder? Er hat mir erzählt, sie hätten ihn in Sicherheit gebracht aber…“
Er bedeutete ihr, etwas leiser zu sprechen. Hier hatten ja bekanntlich die Wände Ohre und es gab wohl keinen unpassenderen Augenblick um Aramis‘ Aufenthaltsort zu enthüllen. „Es geht ihm sehr schlecht. Wir befürchten das Schlimmste.“ Ausgesprochen tat es noch mehr weh und für einen Moment hatte Tréville Schwierigkeiten, sich zurückzuhalten und nicht alle seine Ängste mit dieser Frau zu teilen, die offenbar sehr mit Porthos mitfühlte.
Federleicht legte sich ihre Hand auf seinen Arm. „Dann verstehe ich. Verzeiht, meine kindische Aufmerksamkeit. Wenn Ihr Porthos seht, sagt ihm, dass ich an seiner Seite bin. Was auch immer geschieht.“
„Ich bin sicher, dass weiss er schon.“
„Und bitte: Haltet mich auf dem Laufenden. Wenn Ihr Nachricht von ihm habt, gebt mir Bescheid. Auch über das Befinden von Aramis.“
Als Bestätigung küsste er ihr erneut die Fingerspitzen. „Euer ergebener Diener.“
Sie nickte ihm noch einmal zu, dann drehte sie sich um und verliess ihn mit raschen Schritten, ganz so, als sei sie eine Waldfee aus dem Märchen. Porthos war wirklich ein Glückspilz, auch wenn diese Liebe wohl kaum eine Zukunft haben würde. Adelina war eine adelige Engländerin, Porthos ein Kind von den Strassen. Wenigstens brauchte er sich darum nicht zu kümmern.
Das Treffen mit Adelina war trotz dieser bittersüssen Liebesgeschichten ein Lichtblick gewesen. Doch lange hielt die gute Laune nicht an, denn vor den Gemächern des Königs traf ihn Louis‘ Kammerdiener, der ihm förmlich mitteilte, dass Ihre Majestät das Frühstück schon beendet hatte und ausgeritten war.
Tréville konnte nur schwer dem Drang widerstehen, den Kammerdiener mit Haut und Haar aufzufressen.
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Es war ein seltsames Gefühl, ohne Porthos und ohne Aramis in den Hof der Garnison zu reiten. Fast so, als wäre er ein Stück verletzlicher, ungeschützter. Und dennoch, als Athos aus dem Sattel glitt und die Zügel seines Pferdes, dem Stallburschen zuwarf, war es wie nachhause kommen. Zumindest bis zu dem Moment, als plötzlich eine kreischende Furie auf ihn zuschoss.
„Wo ist Monsieur Porthos? Ich muss mit Monsieur Porthos sprechen!“
Es dauerte einen Moment bis Athos zwischen all den flatternden Tüchern eine Frauengestalt ausmachen konnte, ein kleines, ältlich aussehendes Persönchen mit einem Kopftuch ums Haar. Doch trotz ihres gebrechlich wirkenden Äusseren, fühlten sich ihre Fingernägel, die sich in seinen Arm bohrten, äusserst schmerzhaft an. Es war, als würde sich eine sehr aggressive Katze an seiner Uniform festkrallen.
Energisch schob er sie von sich. „Madame, vielleicht habt Ihr die Güte Euch erst vorzustellen. Dann stehen wir Euch selbstverständlich für jegliche Auskünfte bereit.“
Sie sah ihn aus grossen, geweiteten Augen an und ihre Hand klammerte sich noch immer um seinen Arm, als befürchte sie, er könnte sonst davonlaufen. „Ich bin Madame Lilith. Die Pfade meines Schicksals haben sich mit denen von Monsieur Porthos gekreuzt. Ich muss mit ihm sprechen!“
„So viel haben wir inzwischen verstanden“, bemerkte d’Artagnan, der sich neben Athos positioniert hatte, allerdings in sicherer Entfernung von Madame Liliths Fingernägel.
Madame Lilith…war das nicht die verrückte Wahrsagerin, von der ihnen Porthos grinsend erzählt hatte? Die Frau, die den toten Robert gefunden hatte? Athos musterte sie mit neu erwachtem Interesse. Dass sie ein wenig verdreht war, konnte man ihr ansehen, aber vielleicht lohnte es sich doch, sich einmal Zeit für sie zu nehmen. Immerhin war sie eine Zeugin. Und so fragte er, mit einem deutlich wärmeren Unterton: „Was wünscht Ihr denn von Porthos? Vielleicht können wir Euch weiterhelfen. Denn zu meinen Bedauern, muss ich Euch mitteilen, dass unser Freund nicht hier ist.“
Ein wissender Ausdruck glitt über Madame Liliths Gesicht. „Dann ist er wohl bei seinem Freund. Derjenige, der so schwer erkrankt ist.“
Athos und d’Artagnan tauschten einen beunruhigten Blick. Athos hielt sich selbst für einen äusserst vernunftbegabten und nüchternen Menschen, eine Tatsache, die schon manchen seiner Freunde – vor allem Aramis – beinahe in die Verzweiflung getrieben hatte. Sein Glaube an Gott war zu oft erschüttert worden, als dass er noch bedingungslos an himmlische Mächte hätte glauben können. Dennoch lief ihm ein Schauer über den Rücken. Wie konnte sie wissen, dass Aramis krank niederlag? Hatte Porthos es ihr erzählt?
„Das tut nichts zur Sache! Sagt jetzt endlich, was Ihr wollt!“ D’Artagnan war ungewöhnlich harsch, aber die vergangenen, emotionalen Stunden schienen sein sonst so freundliches Wesen arg malträtiert zu haben.
Madame Lilith beachtete ihn gar nicht. Sie hielt ihren unergründlichen Blick fest auf Athos gerichtet. „Der Teufel bekommt Besuch von der Hexe“, flüsterte sie.
Daraus wurde Athos nicht recht schlau. „Von welchem Teufel sprechen wir genau? In Paris gibt es ja einige!“
„Pater Jaques! Und bei Nacht empfängt er seine Schwester, die Hexe, und gemeinsam schmieden sie böse Pläne. Ihr müsst sie aufhalten! Denkt an meine Worte: Die Unschuldigen ruhen zu Füssen des Engels, die Sünder treiben ihr Unwesen selbst hinter den Mauern des Palastes!“
D’Artagnan stiess ein ungläubiges Schnauben aus, aber Athos begann langsam zu glauben, dass hinter all diesen wirren Worten ein Körnchen Wahrheit steckte. Von diesem Priester hatte schon Porthos berichtet und auch er hatte sein Misstrauen bekundet. Hatte Jacques nicht versucht, Porthos davon zu überzeugen, Dupont hätte Selbstmord begangen? Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte er: „Diese Hexe…Wie sah sie aus?“
Doch Madame Lilith hatte sich schon von ihnen abgewandt und schritt würdevoll davon, wobei ihre Tücher sich im Wind bauschten und ihr geheimnisvolles Auftreten noch einmal unterstrichen. Bevor sie ihren Blicken entschwand, drehte sie sich noch einmal um. „Habt keine Furcht, meine Herren. Euer Freund mag noch in der Nacht wandeln, aber er sieht schon die Dämmerung des Morgens.“
„Verrückte alte Schachtel“, murrte d’Artagnan.
„Es gibt ein Sprichwort: Nur Betrunkene, Kinder und Verrückte sprechen die Wahrheit“, erwiderte Athos. Madame Lilith hatte ihm einigen Stoff zum Nachdenken gegeben. Viellicht hatten sie sich zu sehr auf die ‚Fröhliche Gans‘ und auf Ellen konzentriert und dabei andere, ebenso verdächtige Dinge, ausser Acht gelassen.
Madame Lilith hatte kaum den Hof verlassen, da tauchte ein äusserst missgelaunt wirkender Tréville auf, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Als er seine beiden Musketiere erkannte, blieb er wie angewurzelt stehen und stiess einen schweren Seufzer. „Meine Herren, ich bin sicher, Ihr habt mir Wichtiges zu berichten, da Ihr schon wieder zurück seid. Und glaubt mir, ich brenne darauf zu erfahren, wie es Aramis geht. Aber ich muss jetzt etwas essen. Dringend!“
So sassen d’Artagnan und Athos kurze Zeit später in Trévilles Arbeitsstube. Während dieser mit fast schon unanständigem Appetit ein reichhaltiges, allerdings arg verspätetes Frühstück zu sich nahm, gab d’Artagnan einen kurzen Bericht über Aramis‘ Gesundheitszustand. Athos überliess seinem jüngeren Kameraden das Reden. Er hatte viel Stoff zum Nachdenken. Er hatte das Gefühl, dass Madame Lilith ihnen einen wichtigen Schlüssel zur Lösung des Rätsels in die Hand gegeben hatte, aber er kam nicht drauf, wie er ihn verwenden sollte.
Tréville lauschte aufmerksam. „Das klingt in der Tat alles andere als gut“, sagte er traurig, nach d’Artagnans ausführlicher Schilderung über Aramis‘ Gesundheitszustand, „andererseits habe ich Aramis schon manches Mal totgesagt und er ist immer wieder aufgestanden. Wir müssen in die Kraft Gottes vertrauen, so wie er es tun würde.“
Betrübtes Schweigen senkte sich über die Männer. Es war schwierig, das Bild des schweratmenden, fiebernden Aramis aus seinem Kopf zu verbannen. Auch Porthos, der unerschütterliche, geradlinige Porthos fehlte ihnen, auch wenn Athos wusste, dass Aramis seinen Freund jetzt dringender brauchte.
Tréville straffte energisch die Schultern. „Trotzdem, meine Herren, ich bin froh, dass ihr zurückgekommen seid. Der Kardinal scheint ein wenig die Nerven zu verlieren. Aufgrund unseren ermittelten Erkenntnisse, ist er fest entschlossen die ‚Fröhliche Gans‘ räumen zu lassen und den Wirt zu verhaften.“
„Ist das nicht ein wenig übereilt? Bisher haben wir ja nur Vermutungen“, wunderte sich d’Artagnan.
Ein seltsames Lächeln kräuselte Trévilles Lippen. „Nun ja, es scheint als habe unser Kardinal eine persönliche Rechnung mit dem lieben Pierre Lefèvre zu begleichen.“
Das war in der Tat eine sehr abstruse Vorstellung, allerdings hatte Athos früh die Erfahrung gemacht, dass der Kardinal überall in Paris seine Finger im Spiel hatte. Warum also auch nicht auch in der ‚Fröhlichen Gans‘? „Überlassen wir dem Kardinal doch seinen persönlichen Rachefeldzug. Ich denke, wir sollten uns einmal um diesen Priester Jacques kümmern.“
„Weil diese irre Alte sich irgendwelche Verschwörungstheorien zusammenreimt?“, fragte d’Artagnan ungläubig.
„Porthos hat ebenfalls sein Misstrauen gegenüber Jacques geäussert. Abgesehen davon ist die Kirche ein Tatort. Es kann nicht schaden, dort einmal vorbeizuschauen.“
„Ich denke nicht, dass wir Richelieu unbeaufsichtigt in der ‚Fröhlichen Gans‘ wüten lassen sollten“, bemerkte Tréville, während seine Finger unablässig Kreise auf seinen Tisch zeichneten, „ich werde das im Auge behalten!“
Athos und d’Artagnan standen zeitgleich auf, doch bevor sie sich verabschieden konnten, schüttelte Tréville energisch den Kopf. „Nein, ihr werdet jetzt nicht gleich in die Kirche rennen! Ihr geht jetzt erst einmal ins Bett. Ihr seid so bleich wie ein Laken und um die dunklen Ringe um eure Augen zu verdecken, würden alle Puderdosen der Königin nicht ausreichen. Schlaft euch erst einmal ordentlich aus!“
Athos und d’Artagnan wechselten einen zerknirschten Blick. Die letzten, unruhigen Nächte hatten tatsächlich ihre Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen. Schlaf war wirklich zu kurz gekommen. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fühlte er die Müdigkeit in jedem einzelnen Knochen. Der Rat ihres Captains war – wie so oft – der richtige.
Bevor sie ihm jedoch Folge leisten konnten, hielt sie Tréville noch einmal zurück. „Ach, und vielleicht solltet ihr bei der Gelegenheit auch gleich noch ein Bad nehmen. Euer Geruch ist eine Spur zu exotisch für den königlichen Hof. Oder um es weniger geschwollen auszudrücken: Ihr stinkt wie ein Schweinestall!“
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Anmerkung: Die Katzenleidenschaft von Richelieu ist historisch verbürgt, wie ich seit der Lektüre der Fanfiction „Zwischen den Fronten“ weiss. Mir hat lange der richtige Einstieg in das Kapitel gefehlt, da kamen mir die Katzen gerade recht.
Kapitel Der Kardinal und der Gastwirt
Kapitel 23
Der Kardinal und der Gastwirt
Trévilles Besuch hatte Richelieu in eine tiefe, innere Aufregung verursacht. Pierre Lefèvre! Nach so vielen Jahren lieferte das Schicksal ihm diese Ratte aus! Er wäre ein Dummkopf, wenn er diese Gelegenheit nicht nutzte und wenn er eines nicht war, dann dumm. Pierre hatte ihm eine der schlimmsten Demütigungen seines Lebens zugefügt und jetzt hatte er endlich die Gelegenheit sich dafür zu rächen.
Sein Kater strich ihm auffordernd um die Beine und er bückte sich, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. „Mein lieber Cäsar, das ist die Gelegenheit auf die wir so lange gewartet haben“, frohlockte er, erntete von seinem pelzigen Kameraden allerdings nur ein müdes Gähnen. Offensichtlich interessierten ihn die Rachegelüste seines Herrn nur wenig.
Richelieu erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung. Tréville hatte zur Umsicht gemahnt, aber er würde sich diese grossartige Chance nicht nehmen lassen. Der Hauptmann sollte lieber froh sein, dass er seine Anstrengungen auf einen anderen Verdächtigen richtete, als auf seinen geliebten Musketier Aramis, der noch immer wie vom Erdboden verschluckt war und dessen merkwürdiges Schicksal jetzt auch noch seine Freunde ereilt hatte. Tréville musste ihn schon für sehr dumm halten, wenn er glaubte, er könnte ihn irreführen. Natürlich waren Athos, Porthos und ihr Schosshündchen d’Artagnan bei Aramis, wo auch immer das sein mochte.
Allerdings kümmerte das Richelieu gerade einen feuchten Dreck. Es wäre nett gewesen, diesen scharfzüngigen Aramis hängen zu sehen, noch dazu für einen feigen Kameradenmord. Das hätte dem Regiment der Musketiere erheblich geschadet. Aber Richelieu war kein Narr. Seine Anklage stand nur noch auf wackligen Füssen, seit diese Ellen der Lüge überführt worden war und Tréville würde zweifellos nicht eher ruhen bis er Aramis von jeglichem Verdacht reingewaschen hatte. Und dann war da noch die Königin, die ihre schützende Hand über ihren Favoriten hielt. Nein, Richelieu wusste, wann er verloren hatte. Aramis würde sein Nervenkostüm wohl doch noch eine Weile strapazieren.
Pierre Lefèvre dagegen hatte weder die unerschütterliche Loyalität der Musketiere, noch den Schutz einer einflussreichen Gönnerin. Ihn konnte er zum Fall bringen. Zumal er Pierre durchaus zutraute, in diese mysteriösen Angelegenheiten verwickelt zu sein. Der Wirt mochte immer den Anschein eines harmlosen Zeitgenossen erwecken, aber in seinem Lokal wurden vermutlich mehr Intrigen angezettelt als Wein getrunken.
Richelieu griff nach der silbernen Glocke, die auf seinen Schreibtisch stand und läutete kräftig. Als sein Kammerdiener das Zimmer betrat, deutete er mit einer ungeduldigen Handbewegung auf das Geschirr. „Bringt das weg. Und dann holt mir Férardier her.“
Während der Kammerdiener noch eilig zusammenräumte, setzt Richelieu sich hin und griff nach Feder und Papier. Der Hauptmann hatte sich bei seinen letzten Aufträgen zwar wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert, aber man musste nun einmal mit dem arbeiten, was man hatte und wenn das Einzige, was man hatte, ein tumber aber loyaler Soldat war, war das ebenso. Wenn er Tréville etwas zugestehen musste, dann dass er eindeutig ein besseres Händchen für seine Rekruten hatte.
Férardier kam gerade, als Richelieu seine schwungvolle Unterschrift unter den Haftbefehl von Pierre Lefèvre setzte. Genau wie Tréville vor ihm übersah er Cäsar, nur konnte er das Gleichgewicht nicht so mühelos halten wie der erfahrene Soldat. Er stürzte, konnte sich mit knapper Not jedoch noch an der Schreibtischkante festklammern. „Eure Eminenz!“
„Férardier, ich schätze Ergebenheit, aber deswegen müsst Ihr Euch nicht gleich zu Boden werfen“, bemerkte Richelieu spitz und verzichtete darauf seine Hand zum Kuss zu bieten.
Im vergeblichen Bemühen sich zumindest einen Restbestand an Würde zu bewahren, strich Férardier sich über die Unform. „Wie kann ich Euch dienen?“
„Ich möchte, dass Ihr Eure Männer zusammenruft und die Fröhliche Gans räumen lasst.“
Férardier blinzelte verwirrt. „Die Fröhliche Gans? Auf welchen Befehl denn?“
Richelieu hasste es, wenn dumme Menschen in den falschen Momenten noch dümmere Fragen stellten. „Auf meinen Befehl, Férardier, der einzige Befehl, der für Euch zu gelten hat. Den Wirt der Gans lasst Ihr verhaften und ins Gefängnis bringen. Ich will, dass diesem sündigen Treiben ein Ende gesetzt wird!“ Mit diesen Worten drückte er Férardier den unterschriebenen Haftbefehl in die Hand, der ihn so erstaunt musterte, als habe Richelieu ihm gerade einen Beutel voll mit Cäsars Fäkalien übergeben.
„Aber ist das nicht ein gar drastischer Schritt? Ich kann Euch versichern, wir haben den Tatort gründlich durchsucht und das ganze Gasthaus auf dem Kopf gestellt.“
Musste der Tölpel gerade jetzt seinen eigenen Willen entdecken? „Oh, Verzeihung! Ich muss mich wohl geirrt haben, ich war bis eben der Meinung, ich sei Kardinal Richelieu, erster Minister von Frankreich und nach dem König, der mächtigste Mann im Land. Aber ich muss mich wohl getäuscht haben, denn wenn ich mich vor Hauptmann Férardier rechtfertigen muss, bin ich wohl ein gar niedriger Wurm.“
Férardier verstand die Warnung. „Eure Eminenz, ich werde tun, wie Ihr mir befiehlt.“
„So geht mit Gott.“ Richelieu schlug nachlässig das Kreuzzeichen über ihn und Férardier verabschiedete sich mit einem leichten Neigen seines Kopfes.
Cäsar sprang mit einem eleganten Satz auf den Schreibtisch. Er kraulte den Kater hinter den Ohren und stiess einen lauten Seufzer aus. „Manchmal denke ich, mein Leben wäre einfacher, wenn ich statt einfältige Männer, so kluge Katzen wie dich in meinem Regiment hätte.“
Cäsar liess ein zustimmendes Mauzen hören.
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„Ich kann mich doch auf Eure Diskretion verlassen?“ Pierre Lefèvre drückte dem Kutscher die Münzen in die Hand und sah ihm fest in die Augen. Dieser zählte umsichtig das Geld und steckte sie dann in die Tasche.
„Ihr könnt Euch auf mich verlassen, Monsieur.“
Bevor er wieder auf den Kutschbock steigen konnte, hielt Pierre ihn noch einmal zurück. „Wenn Euch jemand fragt: Ihr kennt mich nicht. Ihr habt diese junge Dame nie gesehen. Und…
„…ich weiss auch nichts über ihren Aufenthaltsort“, wiederholte der Kutscher augenverdrehend und fügte seufzend hinzu: „Wenn Ihr wüsstet, wie oft ich darum gebeten werde, die Gesichter meiner Fahrgäste zu vergessen.
Fleur steckte ihren Kopf durch das Wagenfenster. Ihr Mund zitterte. „Muss ich denn wirklich Paris verlassen?“ Ihre Stimme hatte nichts mehr von dem üblichen verruchten Selbstbewusstsein, sie hatte vielmehr einen weinerlichen, kindlichen Klang. Es zerriss ihm beinahe das Herz. Als kleines Mädchen war sie damals zu ihm gekommen, abgemagert und mit zerschlissenen Schuhen, dennoch fest entschlossen, ihr Glück zu machen. Und sie hatte dank ihres eisernen Willen und ihrer Schönheit wahrlich eine traumhafte Karriere bei Hof hingelegt.
„Es ist doch nicht für immer, Schätzchen.“ Er griff durch das Fenster nach ihrer Hand. Trotz der Handschuhe fühlte er, wie eiskalt ihre Finger waren.
„Ich fühle mich wie eine Verräterin. Ich lasse alle im Stich. Marie, Lady Adelina…“ Tränen stiegen in ihre schönen blauen Augen und sie kramte hektisch nach einem Taschentuch. Zuvorkommend reichte er ihr seines, das sie mit einem dankbaren Lächeln annahm.
„Fleur, wir haben das doch alles besprochen. Du musst fort, bevor sie dir auf die Schliche kommen. Oder willst du alles zerstören, was du dir aufgebaut hast? Was wir uns aufgebaut haben?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, natürlich nicht, aber Pierre: Was wenn meine Flucht alles noch schlimmer macht?“
Ihr Zögern kam zu einem schlechten Zeitpunkt. Der Kutscher hat sich bereits mehrmals bedeutsam geräuspert. Ausserdem wäre Pierre erst dann beruhigt, wenn Fleur endlich aus der Stadt war. Robert war tot, Fleur konnte er jedoch noch retten und er würde alles tun, um wenigstens sie, die er wie eine Tochter liebte, vor jeglichem Schaden zu schützen.
„Fleur, du musst jetzt gehen. Ich schicke dir Nachricht wenn…wenn alles wieder seine Ordnung hat.“ Sofern es nach Roberts Tod jemals wieder so etwas wie eine Ordnung geben konnte, dachte er bitter. Für einen Moment musste er selbst mit den Tränen kämpfen, als sich der Abschiedsschmerz mit der noch immer so frischen Trauer über Roberts Tod mischte.
Während er vor ihren Augen zerbrach, fasste Fleur sich wieder. Sie wischte sich die Tränen ab und setzt sich aufrecht hin. „Adieu Pierre! Möge unser Abschied nicht von allzu langer Dauer sein.“
Er hauchte einen Kuss auf ihren Handschuh. „Auf Wiedersehen, Fleur.“
Sie zog ihre Hand zurück, klopfte mit ihrem Fächer gegen die Innenwand der Kutsche und fuhr endlich los. Eine Weile flatterte noch das Taschentuch im Wind, dann zog sich der weisse Arm zurück und die Kutsche schoss um die Ecke. Fleur war fort. Und Pierre fühlte sich mit einem Mal furchtbar alleine.
Er blieb leider nicht allzu lange alleine. Kaum war die Kutsche verschwunden, bog ein ganzer Schwarm von Roten Gardisten in die Strasse ein. Pierre versteifte sich. Die Kerle hatten schon einmal sein ganzes Lokal auseinander genommen und sie waren dabei nicht gerade zimperlich vorgegangen. Nach Roberts und Francis‘ Tod blieben ohnehin schon viele Gäste fern. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war eine weitere Durchsuchung seines Gasthauses.
„Guten Tag“, grüsste der Hauptmann. Er sah ausnehmend gut aus, mit scharfen Gesichtszügen und einem kräftigen Körperbau. An einem anderen Tag in einer weniger traurigen Zeit hätte Pierre ihm vielleicht schöne Augen gemacht, mit ihm kokettiert und dabei genossen wie die Schamesröte dem anderen die Wange färbte.
Jetzt musterte er den Roten Gardist kühl und verschränkte die Arme. „Er war gut, bis Ihr hier aufgetaucht seid. Ich kann Euch versichern, egal wie oft ihr meinen Hinterhof noch absucht, es tauchen nicht plötzlich aus dem Nichts irgendwelche Beweise auf.“
„Es tut mir leid, Monsieur Lefèvre, aber es geht nicht um Euren Hinterhof. Ich habe Anweisung, Euren Gasthof räumen zu lassen.“
Pierre verstand nicht. „Wie bitte? Was soll das heissen, räumen lassen?“
Der Hauptmann warf sich wichtig in die Brust. „Das bedeutet, dass wir das Lokal schliessen lassen.“
„Und was gibt Euch das Recht dazu?“, fragte Pierre und die Erregung liess seine Stimme brechen. Nahm das Unglück denn gar kein Ende mehr? War Gott so grausam gegen jene, die liebten?
„Dieses Schreiben“, erwiderte sein Gegenüber stolz, zog ein versiegeltes Dokument hervor und übergab es Pierre feierlich. Als er das Siegel erbrochen hatte, tanzten die Buchstaben wild vor seinen Augen, so aufgeregt war er und er konnte den Sinn der Worte nicht fassen. Und als er den Inhalt endlich begriffen hatte, wurde er bleich. Ihm war, als werde alles Blut aus seinem Körper getrieben und die Erde schien auf einmal zu schwanken. „Aber, das beinhaltet auch einen Haftbefehl für mich“, hauchte er entsetzt.
„Bedauerlicherweise.“
Bedauerlicherweise war nach Pierres Empfinden eine gewaltige Untertreibung. Er hatte sich immer gefürchtet vor den kalten Gefängnismauern. Dass seine Neigung gefährlich war, hatte er immer gewusst, dass er mit seinem Gasthaus ein hohes Risiko einging auch. Aber er hatte immer an der Grenze des Erlaubten balanciert, hatte seine Geheimnisse behutsam bewahrt und niemanden zu nah an sich rangelassen. Bis auf Robert. Und es schien, als würde ihm genau dieses Vertrauen, geboren aus Liebe, nun in die Arme seines schlimmsten Alptraumes treiben.
Dann sah er die Unterschrift. „Kardinal Richelieu veranlasst meine Verhaftung?“, fragte er ungläubig, doch sprach er mehr zu sich selbst, als zu dem Hauptmann. Dass diese alte Nemesis aus ihrem Grab gestiegen war, verstörte ihn beinahe noch mehr, als der drohende Gefängnisaufenthalt.
„Ihr dürft Euch geehrt fühlen. Der Kardinal streckt nicht nach jedem seine Finger aus.“ Es klang nicht einmal bösartig, eher als sei es tatsächlich ernst gemeint.
Nein, das war keine Ehre, denn er war keineswegs ein gefährlicher, politischer Feind, den es aus dem Weg zu räumen gab. Das hier war nicht mehr als eine kleine, persönliche Rache. Pierre fühlte den Schlag und er wusste auch, warum er geführt wurde. Und der Grund liess ihn in hysterisches Lachen ausbrechen. Er lehnte sich an seine Tür und schüttete sich so sehr aus vor Lachen, dass ihm die Rippen wehtaten. „Der Kardinal lässt mich tatsächlich nach all diesen Jahren verhaften? Er muss wahrlich rachsüchtig sein, wenn er sogar einen harmlosen Scherz so grausam Vergeltung übt!“
Der Rote Gardist begriff nicht und flüchtete sich in Förmlichkeiten. „Monsieur Lefèvre, ich verhafte Euch im Namen des Königs und des Kardinals von Frankreich!“
Diese furchtbaren Worte, die ausgesprochen noch so viel schrecklicher und vor allem so endgültig klangen, liessen das Lachen auf seinen Lippen ersterben. Stattdessen regten sich der Kampfgeist und der alte Trotz in ihm, beides Eigenschaften, die ihn dazu gebracht hatten in Paris zu überleben.
„Dann müsst Ihr mich erst fangen!“, rief er, drehte sich blitzschnell auf dem Absatz um und rannte in das Gasthaus, wobei er aus voller Kehle brüllte: „Mädchen, Jungs, alle auf Gefechtsstation, der Feind ist über uns gekommen!“ Das war die vereinbarte Parole. Wenn man ein so gefährlich anrüchiges Gasthaus führte, bestand immer die Gefahr, dass ihnen jemand Böses wollte.
Das Haus erwachte. Leise Trippelschritte verrieten ihm, dass die Mädchen aus ihren Zimmern kamen. Als die Gardisten sich wie rote Ameisen in sein Gasthaus – in sein Zuhause – ergossen, griff er nach einem der Kerzenleuchter, die auf den Tischen standen und schlug sie dem Hauptmann mit Wucht um den Kopf. Dieser ging mit einem leisen, überraschten Laut zu Boden.
Pierre holte aus, um auch den zweiten auf diese Weise niederzustrecken, doch diesmal war der Soldat gewarnt, fing seinen Arm ab und drehte ihn schmerzhaft auf Pierres Rücken. Doch lange musste er nicht in dieser unbequemen Pose verharren, denn mit einem Schrei liess der Mann ihn wieder los. Pierre stolperte aus seiner Reichweite und wirbelte herum. Der Anblick, der sich ihm bot, war wirklich köstlich. Auf dem Kopf des ungläubig dreinblickenden Gardisten war eine Melone gelandet und thronte nun wie eine merkwürdig geformte Krone auf seinen Kopf.
„Ich hab noch mehr davon!“, brüllte Albert, Pierres treuer und beherzter Koch. Und tatsächlich segelten schon die nächsten Melonen durch die Luft, eine davon traf Férardier, der sich wieder so halbwegs aufgerichtet hatte, allerdings gleich wieder zu Boden sank, nachdem die Frucht auf unschöne Weise mit seinem Gesicht kollidiert war.
Auch auf seine Mädchen war Verlass. Parfümflaschen flogen wie schwere Regentropfen herunter, verströmten ihr betäubend schweren Duft und nässten den Boden, der sich innerhalb von kurzer Zeit in eine spiegelglatte Oberfläche verwandelte. Die so ehrenvolle und stolze Garde des Kardinals rutschte bald wie eine Horde unbeholfener Kinder durch das Gasthaus, während sie verzweifelt versuchten, sich durch gebrüllte Befehle Respekt zu verschaffen.
Einer der Soldaten machte den Fehler, nach einem der Mädchen zu grabschen und zu versuchen sie festzuhalten. Doch Louise war schon immer ein wehrhaftes, kleines Ding gewesen. Sie biss ihm erst kräftig in die Hand, drehte sich dann blitzschnell um und hob dann in einer geschmeidigen Bewegung das Knie. Als ihr Angreifer zusammenklappte, hieb sie ihm zusätzlich noch einen ihrer hohen Schuhe über den Kopf.
Es war wunderbar zu sehen, wie sich jene, die er immer als Familie betrachtet hatte, denen er Heim und einen Broterwerb gegeben hatte, sich nun so vehement und rigoros für ich einsetzten. Es trieb ihm die Tränen in die Augen, wie diese sanften und im Grunde gutmütigen Menschen, sich für ihn so von der Gewalt mitreissen liessen.
„Pierre, lauf weg“, schrie Louise und Pierre erwachte aus seiner Erstarrung. Er wandte sich um und floh durch den Hintereingang, durch jenen Hintereingang, der in diesen verfluchten Hof führte, der Francis und Robert das Leben gekostet hatte. Wenn er es schaffte, über die Mauer zu kommen, dann…
Eine eiserne Hand am Arm hielt ihn zurück und ehe er noch wusste, wie ihm geschah, lag er mit dem Gesicht nach vorne auf der Erde. Er stöhnte und versuchte sich aus dem unnachgiebigen Griff zu winden, aber ein schweres Knie bohrte sich in seinen Rücken und verhinderte, dass er sich aufrichten konnte. „Monsieur Lefèvre, Ihr hättet Euch und uns dieses Schmierentheater ersparen können!“, zischte eine erboste Stimme, dann wurde er grob hochgezogen.
Der Mann, der ihn gepackt hatte, war kein eleganter Lebemann wie Férardier, sondern ein grobschlächtiger Kerl, der wohl schon viele Jahre in einem anderen Regiment gedient hatte, jedenfalls zeugten die zahlreichen Narben in seinem Gesicht davon. Als er Pierre ein dreckiges Grinsen schenkte, entblösste er mehrere Zahnlücken. „Sieht aus, als hätte unser hübscher Paradiesvogel ausgeflattert.“
Dieser Hohn würde ihn auch im Gefängnis erwarten, das war Pierre klar. Aber er wollte verdammt sein, wenn er sich davon seinen Stolz nehmen liesse. Er hob das Kinn. „Monsieur, Ihr habt Melonenstücke im Haar!“, erwiderte er nur und als er mit gebundenen Händen abgeführt wurde, jubelten ihm die Menschen auf den Strassen zu, als sei er ein Kriegsheld.
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Richelieu starrte Férardier ungläubig an. Zum einen stank sein Hauptmann ganz fürchterlich, ungefähr so wie ein in Rosenwasser gebadetes Stinktier. Zum anderen war er sich ziemlich sicher, dass auf der sonst so sorgfältig gepflegten Uniform des Soldaten Stücke von irgendeiner Frucht klebten. Und das was aus den langen Haaren tropfte, schien kein Wasser zu sein, sondern Saft. Die Verbeugung wirkte deshalb eher lächerlich. „Eure Eminenz, wir haben Euren Auftrag ausgeführt!“
„Aha. Und seid unterwegs in einen Markstand voller Früchte gefallen?“
„Nein, aber leider hat sich der Beschuldige seinen Gefangennahme heftig widersetzt.“
Das konnte Richelieu sich bei Pierre lebhaft vorstellen, aber so wie er den Wirt kannte, war der Widerstand eher lächerlich gewesen, als bedrohlich. „Nur damit wir uns richtig verstehen: Dieser parfümierte Kobold hat meiner bestens ausgebildeten Garde Widerstand geleistet?“
Férardiers Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. „Er war nicht alleine…Das ganze verdammte Gasthaus war auf einmal auf den Beinen.“
Richelieu hob die Brauen. „Ja. Bitte vergebt mir, ich kann mir vorstellen, dass die zartgebauten Kurtisanen ein unüberwindbares Hindernis für einen tapferen Hauptmann darstellen.“
Einer von Férardiers wenigen Vorzügen war, dass er eine ernstgemeinte Aussage nicht von Spott unterscheiden konnte, weshalb man sich mühelos auf sarkastische Weis über ihn lustig machen konnte, ohne eine wütende Reaktion zu provozieren. So ging er über diese Spitze einfach mit einem dümmlichen Lächeln hinweg und meinte: „Ich habe den Gefangenen mitgebracht. Soll ich ihn reinbringen lassen?“
Nein, ich hab ihn hierherschleppen lassen, damit ich ihn als Statue vor meinem Arbeitszimmer aufstellen lassen kann, dachte Richelieu bissig. „Wenn ich bitten darf.“
Mit einem beflissenen Nicken trat Férardier aus dem Zimmer und kam kurze Zeit später zurück, mit dem derangiert wirkenden Pierre am Arm. Als sich ihre Blicke trafen, versteifte sich Lefèvre, während Richelieu nicht verhindern konnte, dass ein triumphierendes Lächeln sich über sein Gesicht zog. Es gab kaum etwas, das sein Herz so erwärmte wie eine schöne Rache.
„Lasst uns alleine. Und vergesst nicht, Eure Uniform zu putzen und das Haar zu waschen! Ich möchte nicht, dass mein Hauptmann aussieht, als sei er gerade aus einem Müllhaufen gekrochen!“
Als Férardier der Aufforderung Folge geleistet hatte, standen sich die beiden so ungleichen Männer gegenüber, Pierre Lefèvre ohne einen seiner auffälligen Hüte, dafür mit einem grell bestickten Hemd und farbigen Hose, Kardinal Richelieu in seiner beeindruckenden roten Robe. Sie waren schon immer unterschiedlich gewesen, selbst ihre Kleidung unterstrich das, ebenso wie die verschiedenen Lebenswege, die sie genommen hatten.
Schliesslich beschloss Richelieu das unheilschwangere Schweigen zu durchbrechen. „So sieht man sich also wieder.“
„Ich würde ja sagen, dass ich mich freue dich wiederzusehen, Armand. Aber das wäre glatt gelogen.“ Der vertraulich plumpe Ton den Pierre anschlug reizte ihn bis aufs Blut. Die gemeinsamen Jahren im Priesterseminar lagen lange zurück, Pierre war nur ein einfacher Gastwirt, er dagegen der mächtigste Mann in Frankreich.
„Deine Frechheit hat mir schon immer imponiert.“
Wenn Blicke hätten töten können, wären sie wohl jetzt beide tot umgefallen. Doch nach einer Weile wurde es Richelieu zu langweilig seinen Gegner anzustarren. Pierre hatte sich davon schon früher nicht einschüchtern lassen, er würde jetzt wohl kaum damit anfangen. Unerträglich stolz und hartnäckig, Eigenschaften, die er auch sich selbst zuschreiben könnte, die ihm aber an dem anderen ärgerte.
„Ich wusste ja schon früher, dass dein Weg dich früher oder später ins Gefängnis führen würde. Und wie so oft, habe ich mich nicht getäuscht“, sagte er. Er wählte bewusst einen süffisanten, herablassenden Ton, der dem erschöpft und ausgelaugt wirkenden Pierre zeigen sollte, wer hier in der stärkeren Position war.
Pierre verdrehte die Augen. „Armand, wir sind hier unter uns. Du kannst mir nicht weismachen, dass du ehrlich meinst, ich hätte etwas mit diesem Mord zu tun. Du willst mir einfach einen Strick drehen, weil du mir deine Schmach nie verziehen hast.“
„Du hast also nichts mit den Morden zu tun? Aber du hast beide Opfer gekannt, nicht wahr? Und beide waren regelmässig Gäste in deinem…Etablissement.“
Richelieu genoss es, zu sehen wie die Blässe in Pierres Gesicht zog und wie seine Hände anfingen zu zittern. Pierre mit seiner unbändigen Lebensfreude, seiner Schlagfertigkeit, seinen Extravaganzen war ihm schon immer ein Dorn im Auge gewesen und nach jener Nacht, hatte er ihn richtiggehend gehasst. Vielleicht hasste er ihn auch, weil Pierre sich dieses freie selbstbestimmte Leben einfach genommen hatte. Er selbst hatte die Macht gewählt und die damit einhergehende Verpflichtungen.
„Sie waren meine Freunde. Ich hätte ihnen nie etwas angetan. Aber das ist ja etwas, was du nie verstehen wirst oder? Freundschaft. Liebe. Verbundenheit.“ Es sollte wohl scharf klingen, aber es erinnerte Richelieu eher an das Gekläffe eines Schosshundes. Und es war Musik in seinen Ohren.
„Trévilles Männer haben Interessantes herausgefunden. Robert Dupont war offenbar ein bisschen mehr als nur ein Freund.“
Inzwischen hatte Richelieus Bettlaken mehr Farbe als Pierre. Für einen Moment glaubte er, der Gastwirt würde zusammenbrechen. Aber er riss sich zusammen. „Es gibt Dinge, die gehen nur mich etwas an und sonst Niemanden!“
„Oh, wie niedlich! Du denkst, es gebe bei Mord so etwas wie eine Privatsphäre“, höhnte Richelieu.
„Ich habe nichts mit den Morden zu tun und das weisst du auch!“
„So, weiss ich das? Und mit Fleur Delacroix? Hast du mit ihr auch nichts mehr zu tun?“
Diese beiläufig, spielerisch gestellte Frage brachte Pierre aus dem Konzept. Richelieu sah an dem Flackern in seinen Augen, dass er auf der richtigen Spur war. „Fleur?“, stammelte er.
„Ja. Fleur. Eine Hofdame. Sie ist spurlos verschwunden. Und ich frage mich, ob du vielleicht weisst, wo sie ist.“
Pierre presste trotzig die Lippen aufeinander, bevor er durch die Zähne zischte: „Ich kenne keine Fleur. Ich meide den Hof, so gut es geht. Ich habe immer viel zu viel Angst, dir über den Weg zu laufen und glaube mir, allein die Erinnerung an dein verkniffenes Gesicht reicht um mir gründlich den Tag zu vermiesen!“
„Du kennst also Fleur nicht. Du hast auch nichts mit den Morden zu tun und überhaupt bist du so unschuldig wie ein neugeborenes Kind?“
„Verglichen mit dir bin ich wirklich ein Sangeswunder!“
Sie funkelten sich an. Pierres Widerspenstigkeit war ärgerlich, aber zu erwarten gewesen. Zeit die letzte und schärfste Waffe zu ziehen. Richelieu schnalzte bedauernd mit der Zunge und schüttelte den Kopf. „Pierre, Pierre, du solltest dir deine Strategie wirklich noch einmal überlegen. Weisst du, die Kirche – meine Kirche – hat nicht viel Verständnis für das, was du so grossspurig, Liebe nennst.“
Pierre liess einen gequälten Laut hören und senkte den Blick. Wahrscheinlich ahnte er schon, worauf Richelieu hinauswolle. Oder aber es war die Erinnerung an den toten Robert, die ihn schmerzte. So oder so, er war auf der richtigen Fährte und er würde das nutzen. Er umrundete seinen Tisch, trat näher an den Kontrahenten und hob dessen Kinn mit zwei Fingern. Die Wut in den blauen Augen war köstlich mitanzusehen. „Liebe zwischen Männern. Das ist nicht nur unnatürlich, das ist Sünde. Eine der schlimmsten Sünden, wohlgemerkt. Ich könnte mir vorstellen, dass man dabei zu einigen althergebrachten Methoden greifen könnte.“
Richelieu spürte das Zittern, das Pierres Körper durchlief. Furcht. Das war reine, pure Furcht. Wie süss war es doch, diesen Mann endgültig in seiner Hand zu haben. Er strich ihm beinahe zärtlich mit dem Finger über die Wange. „Es wird nicht sehr appetitlich sein. Ist Folter ja selten, aber ich habe gehört, dass dies äusserst wirksam ist, um Männern solche Neigungen abzugewöhnen…“
„Streichle mir weiterhin über die Wange und ich lege meine Neigungen auch so ab!“
Richelieu zog seine Hand weg. Unbelehrbar stur. Wenn er Pierre nicht so verabscheut hätte, hätte es ihm Achtung abgerungen. „Ich würde mir gut überlegen, ob du nicht einfach den Mord an Francis und Robert gestehen solltest. Dann vergesse ich auch dein schmutziges Geheimnis. Ansonsten könnte ich noch auf die Idee kommen, ein schönes Ketzerfeuer für dich anzuzünden.“
Für einen Moment glaubte Richelieu, Pierre würde wanken. Tod durch Verbrennen war eine grauenhafte Vorstellung, die damit verbundenen Schmerzen kaum zu ertragen. Und dann noch als Ketzer angeklagt zu werden, jeglichen Trostes von Gott beraubt, öffentlich entehrt…Schon mancher standhafter Mann war bei dieser Drohung eingeknickt.
Unglücklicherweise gehörte Pierre nicht dazu. Er straffte die Schultern. „Fahr zur Hölle!“, spie er Richelieu ins Gesicht.
„Wahrscheinlich bist du schneller dort als ich“, entgegnete Richelieu kühl, „aber du kannst in Ruhe über deine Aussagen denken. Die Bastille ist ein ausgezeichneter Ort dafür!“ Macht war wirklich ein äusserst nützliches Gut.
Als Férardier kam, um Pierre abzuführen, drehte sich dieser an der Tür noch einmal um. Das altbekannte spottlustige Funkeln in seinen Augen war zurückgekehrt. „Irgendwie stinkt es hier. Hat dein Kater in die Ecke geschissen oder ist das einfach deine verfluchte Seele, die anfängt zu faulen?“ Und er ging so stolz, als sei er ein König und die Fesseln sein Schmuck.
Kapitel Pater Jacques
Kapitel 24
Pater Jacques
Während des ganzen Tages hatten sie geglaubt, es ginge Aramis besser. Er war nicht mehr im Delirium, sondern war bei klarem Verstand und sprach ganz vernünftig mit ihnen. Willig ass er, was Constance ihm vorsetzte und konnte es bei sich behalten. Sogar ihren Tee trank er, auch wenn er sich bitter über den sauren Geschmack beklagte. Aber selbst das war Constance willkommen. Wenn er schon wieder jammern konnte, ging es wohl aufwärts mit ihm, auch wenn ihm noch immer ein brennender Hustenreiz quälte.
Aber gegen Abend verschlechterte sich sein Zustand wieder. Der Husten hatte ihn sehr geschwächt, zu Tode erschöpft lag er im Bett und gab nur noch einsilbige Antworten. Als Constance die Hand auf seine Wange legte, zog er sie erschrocken wieder zurück. Aramis glühte wieder wie zuvor. Sie seufzte schwer. „Was machst du nur für Sachen?“
Aramis blinzelte schwach. Seine Augen glänzten so fiebrig, dass sie in dem blassen Gesicht förmlich zu leuchten schienen. „Mir ist so kalt“, murmelte er und tatsächlich zitterte er am ganzen Körper, obwohl sich seine Haut trocken und brennend heiss anfühlte.
Constance strich ihm behutsam über den bebenden Rücken. „Das scheint dir nur so. Du hast Fieber.“
Aramis verzog den Mund. Er sah aus wie ein schmollendes Kind und wenn ihr nicht so elend zumute gewesen wäre, hätte Constance über den Anblick gelacht. „Ich habe schon ziemlich lange Fieber oder?“
„Zu lange, mein Freund.“
Ein schwerer Seufzen kam über Aramis‘ Lippen. Er verwandelte sich in ein schmerzhaft klingendes Husten, das er im Kissen erstickte. Hastig griff Constance nach dem Becher, der auf dem Nachtisch stand. Behutsam schlang sie den Arm um seine Schultern, um ihn aufzurichten. „Komm. Trink noch etwas.“
Wie ein Kind liess er sich den Tee einflössen, dann fiel sein Kopf zurück aufs Kissen. „Ich bin nur immer so verflucht müde“, hauchte er.
„Dann solltest du mehr schlafen und weniger reden.“ Unbemerkt von den beiden war Porthos in das Zimmer getreten. Er hatte sich nur schwer überreden lassen, dass Krankenlager seines Freundes zu verlassen, aber der Hunger hatte schliesslich die Überhand gewonnen, auch wenn er sich bei weitem nicht so viel Zeit damit gelassen hatte wie sonst.
Es erstaunte Constance immer wieder aufs Neue welche Wirkung Porthos auf Aramis hatte. Dessen Lethargie schien auf einmal nachzulassen, er richtete sich sogar ein Stück auf. „Ich kann nicht schlafen, wenn du mich immer störst!“, murrte er, doch er griff voller Dankbarkeit nach Porthos‘ Hand als sich sein Freund auf den vertrauten Platz auf der Bettkante setzte.
„Ich weiss, dass Constances Gesellschaft dir lieber ist, du alter Schwerenöter“, frotzelte Porthos, „aber du wirst mit meiner vorlieb müssen. Sie muss nämlich noch mehr von diesem wunderbaren Tee brauen, den du so magst.“
Aramis stöhnte. „Und wenn ich diesen scheusslichen Tee nie mehr trinken müsste, wäre es immer noch zu früh!“
„Das war jetzt nicht sehr charmant der Dame des Hauses gegenüber“, tadelte Porthos sanft.
Charme schien Aramis jedoch gerade herzlich egal zu sein. Er grummelte noch etwas Unverständliches, rollte sich dann wie eine Katze zusammen und schlief ein, wobei seine Hand noch immer die von Porthos umklammerte, als sei sie sein Rettungsseil. Porthos sah mit so viel Liebe auf dieses schlafende Bündel Elend hinab, dass es Constance ganz warm ums Herz wurde. Wie gut, dass er bei ihnen geblieben war!
„Er kann von Glück sagen, dass er einen Freund wie dich hat, Porthos.“
Er hob resigniert die Schultern. „Ich kann nicht viel für ihn tun. Nur beten und hoffen und diesen schwierigen Weg mit ihm gehen. Ich kann gar nicht zählen, wie oft er schon an meinem und an Athos‘ Bett gesessen hat.“
Aramis bewegte sich unruhig im Schlaf und versuchte die Decke von sich zu streifen. Obwohl er vorhin über Kälte geklagt hatte, schien er die brennende Hitze seines Körpers nun auf einmal zu empfinden, er wand sich in den Laken und zerrte ungeduldig an seinem Hemd. „Lass das!“, mahnte Porthos nachsichtig, während er die Decken zurückschlug und ein frisches Tuch auf Aramis‘ Stirn legte, um ihm zumindest ein wenig Linderung von der tobenden Hitze zu verschaffen.
„Er ist euer Feldmediziner, nicht wahr?“
„Er ist unser Herz, unser Heiler und unser Priester. Viele sehen in ihm nur den notorischen Schwerenöter, den leichtsinnigen Lebemann, den Herzensbrecher, der ohne Rücksicht auf die anderen ganz nach seinen Gefühlen lebt. Aber er ist mehr, Constance. Er ist grosszügig, gütig und freundlich. Manchmal muss man ihn selbst daran erinnern, dass er ein guter Mensch ist“, schloss Porthos mit einem zweideutigen Grinsen.
Seine Worte berührten Constance. Das Band, das diese vier Männer miteinander teilten hatte sie schon immer ins Staunen versetzt. Wie unerschütterlich diese Freundschaft war, obwohl sie alle so unterschiedlich und solche Sturköpfe waren. „Du liebst ihn sehr“, stellte sie mit warmer Stimme fest.
Porthos betrachtete versonnen seinen schlafenden Freund. „Ja“, gestand er leise, dann sah er Constance mit einem entwaffnenden Blick aus seinen dunklen Augen an, „in meinem Leben sind die Menschen immer gekommen und dann wieder gegangen. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt, meine Mutter ist gestorben, meine Freunde habe ich zurückgelassen, um meinem König zu dienen. Als ich frisch zu den Musketieren kam, war ich sehr einsam. Ein dunkelhäutiger, ehemaliger Strassendieb. Das war für viele nicht leicht zu akzeptieren. Aber Aramis konnte es. Er setzte sich eines Tages einfach neben mich und begann mit mir zu reden. Als seien wir schon ewig Freunde. Und es hat sich auch so angefühlt, als würden uns schon seit unserer Geburt kennen.“
Nach dieser langen Rede kamen sie nicht mehr dazu viel zu reden. Es wurde eine weitere scheussliche Nacht. Aramis war unruhig, hustete sich die Seele aus dem Leib und litt unter einem weiteren heftigen Fieberschub, der ihm düstere Träume bescherte. Ihm fehlte die Kraft zu schreien, sein trockener Mund formte lautlos Worte, die sie nicht mehr verstehen konnten. Constance wechselte sich mit Bruder Mathias ab, doch Porthos blieb unerschütterlich an Aramis‘ Seite, hielt ihn während der quälenden Hustenkrämpfe, kühlte ihm die Stirn und sprach voller Liebe auf ihn ein, während sein Geist sich in Fieberträume verabschiedete.
Porthos kämpfte wie ein Löwe, doch Constance konnte sich des beklemmenden Gefühls nicht erwehren, dass der Kampf bereits verloren war.
Als die ersten zögerlichen Strahlen der Morgensonne sich in das Zimmer stahlen, war Porthos eingeschlafen, den Kopf neben Aramis‘ Arm gebettet. Constance blinzelte müde. Sie musste selbst kurz eingeschlafen sein, sie sass zusammengesunken auf ihren Stuhl, den Lappen für Aramis‘ Stirn noch in der Hand. Kopfschüttelnd erhob sie sich. Sie war ja eine schöne Krankenpflegerin!
Wenigstens auf Bruder Mathias war Verlass. Er stand neben dem Krankenlager und sah mit ernstem Gesicht auf den Schlafenden hinunter, den Finger am abgemagerten Handgelenk. Constance blieb beinahe das Herz stehen. War es tatsächlich geschehen? War Aramis wirklich gestorben, hatte sich einfach still und leise davongemacht? Sie alle zurückgelassen? Hatte nicht einmal Porthos‘ Freundschaft ihn zurückhalten können?
Tränen stiegen in ihre Augen. All die durchwachten Stunden, all ihr Bemühen um Aramis, all ihre Pflege, ihre Hingabe und ihre Liebe…umsonst, ein Tropfen auf heissem Stein, verlorene Zeit. Wie sollte sie Athos sagen? Wie sollte sie es d’Artagnan sagen? Er hatte ihr vertraut, hatte ihr das Wertvollste anvertraut, das Leben seines Bruders, und sie hatte es nicht bewahren können.
Zu ihrem Entsetzen sah sie in Mathias‘ Augen ebenfalls das verräterische Schimmern von Tränen. Es war also wahr, unausweichlich wahr, schmerzhaft wahr…Aramis war tot. Doch während noch ein heiseres, verzweifeltes Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg, sah sie, dass die Augen des Mönchs zwar glitzerten, sein Mund aber lächelte.
„Madame Bonacieux, Monsieur Porthos…ein Wunder!“
Bruder Mathias‘ Ausruf weckte auch Porthos, der mit noch schlafverhangenen Augen auf Aramis hinabsah, dann jedoch schlagartig erbleichte. „Er ist ja schweissnass!“, bekundete er entsetzt und als Constance näher herantrat, sah sie, was er meinte. Die Laken dampften förmlich vor Schweiss.
Mathias nickte und das erleichterte Lächeln, das seine Züge erhellte, war wie der erste Sonnenstrahl nach einem langen Winter. „Und das ist gut, Monsieur Porthos! Das ist sogar sehr gut! Das Fieber ist endlich gesunken.“
Als Constance die bebende Hand auf Aramis‘ Wange legte, spürte sie, was Mathias meinte. Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich die Haut unter ihren Fingern beinahe kühl an. Der Atem des Kranken kam noch immer in viel zu hektischen Stössen, durchbrochen von rasselnden Hustengeräuschen, aber es war ein Schritt. Endlich ein Schritt in die richtige Richtung.
„Er wird wieder gesund, Porthos.“
Doch Porthos hatte keinen Blick für sie. Er starrte sprachlos auf seinen Freund hinab. Dann nahm er dessen schmale Hand in die seine, presste sie gegen seine Stirn und begann hemmungslos zu weinen.
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„Ein wunderbarer Morgen!“
„Hm…“
„War wirklich eine gute Idee von Tréville uns ins Bett zu schicken. Ist es zu fassen, dass wir einen ganzen Tag verschlafen haben? Ich fühle mich richtig erholt und erfrischt, genau richtig, um unserem seltsamen Priester mal ein wenig auf den Zahn zu fühlen!“
„Hm.“
„Ich hoffe nur, Aramis geht es wieder besser. Aber es gab ja Hoffnung, als wir aufgebrochen sind.“
„Hm.“
„Bruder Mathias ist ein seltsamer Kauz. Scheint aber etwas Heilkunst zu verstehen.“
„Hm.“
D’Artagnan beschlich langsam das Gefühl, dass Athos ihm gar nicht zuhörte. „Ich bin übrigens schwanger. Von Tréville. Ich kann das Geheimnis einfach nicht länger für mich behalten. In ein paar Wochen wird mein Zustand ohnehin unübersehbar sein.“
„Hm.“
D’Artagnan beschloss zu rigoroseren Mitteln zu greifen und kniff Athos fest in den Arm. Dieser zuckte erschrocken zusammen und zischte ärgerlich: „Was sollte das?“
„Och, ich wolle nur kurz überprüfen, ob wirklich Athos an meiner Seite ist oder ein Götzenbild“, entgegnete d’Artagnan bissig.
Athos hob in einer entschuldigenden Geste die Schultern. „Entschuldige. Ich habe nur nachgedacht.“
„Es gibt Leute, die können nachdenken und schwatzen. Ich zum Beispiel.“
„Das eine oder das andere leidet bei dir allerdings immer. Meistens das Denken.“
Athos wich gewandt d’Artagnans halbherzigen Faustschlag aus, prallte bei dem Manöver jedoch mit einer rundlichen Marktfrau zusammen, die gerade mit ihrem Korb am Arm an ihnen vorbeieilte. Sie hatte schon den Mund geöffnet um Athos anzukeifen, dieser hob jedoch mit so vollendeter höfischer Manier den Hut und lächelte sie so strahlend an, dass ihr die bösen Worte im Hals stecken blieben und sie stattdessen spontan zurücklächelte. Das war einer dieser Momente, wo Athos‘ adeliger Charakter aufblitzte. Athos war nicht nur wegen seinem Geburtsrecht ein Graf, er vereinigte auch in seinem Wesen alle richterlichen Tugenden, die man von einem Edelmann erwartete. Es lag in seinem Blut. Und es stimmte d’Artagnan immer traurig, wenn er daran dachte, was für ein grosser Mann Athos hätte werden können, wenn das Leben nicht so grausame Scherze mit ihm gespielt hätte.
Er schüttelte diese düsteren Gedanken ab. „Darf ich fragen, worüber du so angestrengt sinnierst hast oder ist das nichts für Kleingeister wie mich?“
„Ich überlege mir gerade, wie wir diesem windigen Priester am besten auf dem Zahn fühlen sollen.“
D’Artagnan stöhnte theatralisch. „Dein letzter Plan endete damit, dass wir angebrüllt und rausgeworfen wurden."
„Und wir haben dank dieser Strategie ein paar interessante Erkenntnisse gewonnen. Also, sieh zu und lerne!“
Inzwischen waren sie bei der Kirche angekommen, die trotz der grausigen Geschehnisse noch immer friedlich und unbefleckt wirkte. Dennoch lief d’Artagnan ein Schauer über den Rücken als Athos das schwere Kirchentor aufstiess. Natürlich glaubte er nicht mehr an Gespenster, dennoch gruselte es ihn, wenn er daran dachte, dass er jetzt den Ort betrat, wo Robert Dupont auf so tragische Weise das Zeitliche gesegnet hatte.
„Irgendwie unheimlich oder?“, flüsterte er Athos zu, der mit seinem üblichen forschen Schritt in die Kirche marschierte, als sei e auf dem Weg in die nächste Schlacht.
„Was ist unheimlich?“, fragte Athos und seine Stimme klang wie ein Peitschenknall in der stillen Kirche.
„Naja, immerhin ist hier ein Mord passiert!“
Athos warf ihm einen höchst befremdeten Blick zu. „Ich bitte dich. Dupont ist ja nun wirklich nicht die erste Leiche, die dir über den Weg läuft.“
„Ja, aber der Mord ist immerhin in einer Kirche geschehen!“
Athos schien die Problematik noch immer nicht nachvollziehen zu können. „Und warum genau ist das jetzt schlimmer, als wenn er in einer schmutzigen Gasse passiert wäre?“
„Athos! Die Kirche ist immerhin Gottes Haus. Ein Hort des Friedens.“
„Du hast aber die Bibel schon begriffen oder? Mord und Totschlag auf fast jeder Seite!“
Manchmal war Athos‘ ewiger Zynismus ganz schön ärgerlich. „Du bist und bleibst ein elender Ketzer!“
„Aber, aber, so böse Worte hören wir in der Kirche aber gar nicht gerne.“
D’Artagnan fuhr erschrocken zusammen. Aus den düsteren Schatten der Kirche war auf leisen Sohlen ein schlanker, hochgewachsener Mann getreten, ganz in das Schwarz eines Priesters gekleidet. Porthos hatte ihn gut beschrieben, Pater Jacques hatte wirklich etwas von einem Fuchs. Und irgendwie hatte d’Artagnan das Gefühl, ihn zu kennen, auch wenn ihm partout nicht einfallen wollte woher.
Auch Athos zog gleich die richtigen Schlüsse. „Ihr müsst Pater Jacques sein.“
Pater Jacques hatte jenes milde Lächeln auf dem Gesicht, das auch Aramis gerne hervorkramte, wenn er sich mal wieder mit dem Gedanken trug, nicht mehr dem König sondern nur noch Gott zu dienen. Und wie bei Aramis, fand d’Artagnan es eigenartig unpassend in diesem Gesicht mit den wilden Zügen. „Muss ich mir Sorgen machen, wenn Musketiere bei mir auftauchen und meinen Namen kennen?“
„Wir sind Athos und d’Artagnan von den Königlichen Musketieren. Unser Freund Porthos hat uns Euren Namen genannt“, erklärte Athos. D’Artagnan entging nicht, dass der Musketier die Hand auf seinen Degen gelegt hatte. Eine oft unbewusste Geste von Athos, wenn er jemanden instinktiv misstraute.
Sofort glitt ein bedauernder Ausdruck über Jaques‘ Gesicht. „Ah ja Monsieur Porthos. Ein beeindruckender Mann. Schade, haben wir uns unter so bedauernswerten Umständen kennengelernt.“
„Bedauernswert ist ein seltsames Wort für einen Mord“, bemerkte d’Artagnan süffisant.
Jaques hob die Augenbrauen. „Mord? Da muss ein Irrtum vorliegen, Monsieur! Es war Selbstmord. Eine furchtbare Sünde und das unter Gottes Dach.“ Er schüttelte bedauernd den Kopf.
„Wir vermuten, dass es kein Selbstmord war.“ D’Artagnan schloss ergeben die Augen. Athos schien keinerlei Lust auf Spielchen zu haben und schnitt das heikle Thema auf seine üblich sensible, zurückhaltende Weise an. Vielleicht machte er Leute einfach absichtlich wütend. War vielleicht die unterdrückte Todessehnsucht in seiner Seele.
Im Gegensatz zu Monsieur Lefèvre blieb Jacques allerdings ruhig und gelassen. Vielleicht die so viel beschworene Demut eines Priesters. „Kein Selbstmord? Ich versteh nicht ganz.“ Sein Blick glitt unsicher von Athos zu d’Artagnan.
„Wir sind da auf gewisse Unstimmigkeiten gestossen“, erklärte Athos brüsk.
„Die da wären?“
Athos ignorierte den Einwand und deutete stattdessen auf die Empore. „Von dort oben hat er sich runtergestürzt? Können wir da mal raufgehen?“ Obwohl er es als Frage formulierte, klang es aus Athos‘ Mund eher wie ein Befehl und so kam es an. D’Artagnan glaubte zu sehen, wie zum ersten Mal so etwas wie Ärger in der sonst so unbewegten Miene des Paters aufblitzen, doch sogleich versteckte er den verdächtig zornigen Blick unter den sittsam gesenkten Lidern.
„Natürlich. Bitte folgt mir, meine Herren.“
Die Treppe, welche auf die Empore führte, war schmal und eng. Die drei Männer waren trotz ihrer schlanken Staturen gezwungen, hintereinander zu gehen. D’Artagnan ging hinter Pater Jacques, der trotz seiner Soutane geradezu leichtfüssig hinaufeilte. Mit ihren schweren Stiefeln und ihren klirrenden Waffen vollführten die beiden Musketiere in der stillen Kirche einen geradezu höllischen Lärm. Wäre Aramis bei ihnen gewesen, hätte er wohl tadelnd mit der Zunge geschnalzt.
Oben angekommen schwindelte es d’Artagnan kurz. Irgendwie hatte die Empore von unten weniger hoch gewirkt. Die Empore war für die eher kleine Kirche gross bemessen, ein Trupp Musketiere hätte wohl bequem hier hinaufgepasst. Nachdem er sich an die Höhe gewöhnt hatte, schlenderte d’Artagnan zum Geländer und linste vorsichtig über den Rand. Für einen Moment bildete er sich ein, in einen gähnenden Abgrund zu blicken, der nur darauf wartete, das nächste Opfer zu verschlingen. Wie würde es wohl sein zu fallen, immer tiefer, bis die menschliche Hülle schliesslich auf den Boden zersplitterte wie Glas? Ihm schauerte bei der Vorstellung und zugleich hatte sie etwas eigentümlich Faszinierendes, als berühre sie einen dunklen verborgenen Teil seiner Seele.
Auch Athos schien in Gedanken versunken zu sein. Er sah sich aufmerksam um und warf ebenfalls einen Blick nach unten, allerdings nicht um solche schwarzromantischen Überlegungen anzustellen. „Wieso?“, fragte er unvermittelt, die blauen Augen dabei fest auf Jacques gerichtet.
Dieser schien, wie d’Artagnan selbst, nicht zu wissen, wovon der Musketier sprach. „Wieso was?“
„Wieso hat Robert Dupont sich erhängt?“
„Wie ich bereits Monsieur Porthos erklärt habe, war Robert ein zutiefst zerrissener Mensch. Fromm und gut auf der einen Seite, voll lüsterner Sünde auf der anderen Seite. Es hat ihn innerlich aufgefressen. Bis er nicht mehr konnte.“ Jaques wirkte auf einmal sehr bewegt. In den dunklen Augen schimmerte es verdächtig und er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Verzeiht, es steht einem Priester wohl kaum zu, um einen Selbstmörder zu trauern. Doch Robert hat jahrelang bei mir gebeichtet und es schmerzt mich, dass ich ihn nicht auf den rechten Pfad zurückführen konnte. Ich habe versagt.“
Jähes Mitleid wallte in d’Artagnan auf. „Ihr dürft Euch nicht die Schuld geben. Manchmal kann man den Menschen nicht helfen, egal wie sehr man es sich wünscht.“
Jacques schenkte d’Artagnan ein dankbares Lächeln. „Es tut gut das zu hören. Aber Frieden werde ich erst finden, wenn mir Gott die Absolution erteilt. Und so lange werde ich die Bürde der Schuld tragen müssen.“
Der Mann schien ja zum Priester geboren zu sein, so sehr hatte er sich das Wort Gottes und seine Gesetze verinnerlicht. Wie salbungsvoll und leicht kamen diese gestelzten Worte über Jacques‘ Lippen. Er war eigentlich nicht unsympathisch, hatte sogar einen eigenwilligen Charme und setzte ihn gekonnt ein. Wenn ihm nur einfallen würde, wo er ihn schon einmal gesehen hatte! Und diese Stimme…sie kam ihm so bekannt vor…
„Duponts mögliche Gründe für einen Selbstmord sind mir bekannt. Aber wieso hat er sich ausgerechnet erhängt?“
War Jacques ärgerlich, dass Athos so wenig auf seine Trauer einging? Auf jeden Fall hatte die samtweiche Stimme einen deutlich härteren Klang, als er sagte: „Ich verstehe die Frage nicht, Monsieur Athos.“
Athos verschränkte die Arme vor der Brust. „Dann werde ich es deutlicher formulieren: Ich frage mich, wieso Dupont beschlossen hatte, sich ausgerechnet hier zu erhängen.“
„Er war oft hier. Die Kirche war wie sein zweites Zuhause.“
Neben dem verrufenen Gasthaus der „Fröhlichen Gans“, dachte d’Artagnan, behielt aber einen bissigen Kommentar für sich. Athos schien auf etwas Bestimmtes hinauszuwollen und er wollte ihn nicht unterbrechen.
Athos strich nachdenklich über die Brüstung der Empore. „Aber wieso macht er sich die Mühe und erhängt sich? Wieso springt er nicht einfach von hier runter? Glaubt Ihr, ein Mensch würde es überleben, wenn er aus dieser Höhe auf den Boden stürzt? Ich glaube das nicht! Er würde sich sämtliche Knochen brechen. Ein weitaus rascherer und weniger schmerzhafter Tod als Erhängen, würde ich meinen.“
Er hatte Recht, erkannte d’Artagnan. Noch einmal sah er hinunter. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass Dupont den Sturz überlebt hätte, hätte er mit Sicherheit schwere Verletzungen davongetragen, die früher oder später zu seinem Tod geführt hätten.
„Vielleicht wollte er nicht, dass es schnell geht. Vielleicht war sein Schuldbewusstsein so gross, dass er glaubte, keinen schnellen Tod verdient zu haben“, argumentierte Jacques.
„Eine interessante Theorie. Nur gibt es einen Haken: Es muss nicht sein, dass man beim Erhängen langsam erstickt. Es kann auch vorkommen, dass man sich das Genick bricht. Ein schneller Tod also, was Duponts Wünschen nicht entsprochen haben dürfte.“
D’Artagnans Bewunderung für Athos wuchs wieder einmal ins Grenzenlose. Wie hatte er sich das alles zusammengereimt? Ihm selbst gelang es ja nicht einmal, sich daran zu erinnern, wo er diesem Priester schon einmal über den Weg gelaufen war!
Athos war jedoch noch nicht fertig mit seiner Glanzvorstellung. „Und selbst wenn ihm dieser Aspekt nicht klar war: Wieso riskierte er es, hierherzukommen um seinem Leben ein Ende zu setzen? Sicher, es gab emotionale Gründe. Doch er wusste, dass Ihr nebenan wohnt. Er wusste, dass Ihr regelmässig die Kirche aufsucht, bestimmt auch mal in der Nacht. Er musste damit rechnen, dass Ihr ihn entdecken und von seinem Selbstmord abhalten würdet. Trotzdem wählte er von allen Methoden ausgerechnet die des Erhängens, die eine gewisse Vorbereitungszeit benötigt. Und selbst wenn er davon ausgehen konnte, dass Ihr nicht zuhause seid, hätte immer noch die Möglichkeit bestanden, dass eines Eurer Schäfchen die Kirche aufsucht und ihn stört.“
„Und nur weil sich der arme Dupont erhängt und nicht von der Empore gestürzt hat, sprecht Ihr in meiner Kirche von Mord?“
„Nein, das würde ich nicht wagen. Aber wir waren bei Duval, dem Leichenfledderer. Er hat Duponts toten Körper untersucht. Und er hat eine interessante Entdeckung gemacht. Der Strick, mit dem sich Robert angeblich erhängt hat, passt leider gar nicht zu den Würgemalen an seinem Hals.“
Alle Farbe wich aus Jacques‘ Gesicht. Der Arme wirkte bis auf die Knochen erschüttert. „Und das heisst?“, hauche er, als habe ihm das Entsetzen auch gleich die Stimme geraubt.
„Nun, ich erzähle Euch jetzt einfach mal, was ich vermute. Denn wissen kann ich es nicht. Ich vermute, dass Robert Dupont ermordet wurde. Er wurde hier in der Kirche erdrosselt, vermutlich von hinten, mit einem dünnen Strick. Daher die Würgemale. Der Täter wollte es wie Selbstmord aussehen lassen, deshalb schleppte er den Toten hier auf die Empore. Davon zeugen die zahlreichen blauen Flecken, die Duval auf dem Körper entdeckt hat. Er band der Leiche einen Strick um den Hals und hängte sie hier, so äusserst dekorativ hin, wo sie später von Monsieur Porthos entdeckt wurde. Ende der Geschichte.“
D’Artagnan und Pater Jacques starrten Athos mit offenen Mündern an, der eine mit glühender Hingabe, der andere mit sichtlichem Unwillen. „Ein Mord in meiner Kirche“, murmelte der Priester fassungslos, „das kann ich nicht glauben. Das will ich nicht glauben!
„Glaubt es lieber“, riet Athos kühl.
„Warum sollte jemand Robert Dupont umbringen?“
„Robert Dupont war ein wichtiger Zeuge in einem weiteren Mord. Er wusste zu viel. Ich hätte allerdings noch eine ganz andere Frage.“
„Um ehrlich zu sein habe ich für heute eigentlich genug Mordgeschichten gehört“, bemerkte Jacques matt und tatsächlich wankte der Priester unter diesen schauerlichen Enthüllungen so sehr, dass d’Artagnan ihm seinen Arm bot, auf den sich Jacques schwer abstützte.
Athos jedoch sah über das empfindsame Gemüt des Paters grosszügig hinweg. „Wie konnte ein Mord hier in dieser Kirche geschehen, ohne dass Ihr irgendetwas davon mitbekommt?“
Es wäre auch merkwürdig gewesen, wenn Athos zur Abwechslung mal jemanden nicht auf die Palme gebracht hätte. Die Empörung liess Jacques jedoch gleich seine Schwäche vergessen. Er liess d’Artagnan los und richtete sich zu seiner doch recht beachtlichen Grösse auf. „Was wollt Ihr damit andeuten?“
Athos riss die Augen auf, die auf einmal sehr gross und unschuldig wirkten. „Ich? Ich will Euch gar nichts unterstellen! Allerdings steht natürlich die Tatsache im Raum, dass Ihr sehr schnell bereit wart, an einen Selbstmord zu glauben, ja, dass Ihr uns den Gedanken förmlich aufgedrängt habt. Daraus ziehen wir natürlich schon unsere Schlüsse.“
Jetzt war Jacques Gesicht so krebsrot, dass es in der Halbdämmerung fast schon leuchtete. „Ihr unterstellt mir hier Ungeheuerliches!“
Athos‘ ruhiger Gesichtsausdruck war ein starker Kontrast zu Jacques wütender Miene. „Monsieur, mit keinem Wort habe ich eine Anschuldigung hervorgebracht. Es ist mir allerdings bewusst, dass Hunde, die getroffen werden, anfangen zu bellen.“
Jeder Trottel wäre imstande gewesen, diese versteckte Botschaft zu entschlüsseln und zu verstehen. Und Jacques war kein Trottel. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Ich glaube, es ist besser, wenn Ihr jetzt geht“, sagte er leise, aber mit einem drohenden Unterton in der Stimme.
Athos neigte mit seinem üblichen spöttischen Lächeln das Haupt. „Hat mich gefreut, ein wenig mit Euch zu plaudern, Pater Jacques!“
Nun ja, immerhin hat er nicht rumgebrüllt, dachte d’Artagnan, als er hinter Athos die gewundene Treppe hinunterstieg, und eigentlich hat er uns nicht einmal rausgeschmissen. Nur sehr eindringlich gebeten, doch bitte die Kirche zu verlassen. Bevor Athos und d’Artagnan jedoch das Flügeltor aufstossen konnte, hörten sie noch einmal die weiche Stimme von Paters Jacques: „Vielleicht solltet Ihr Gott noch um Schutz beten, meine Herren. Wer sich mit den falschen Mächten anlegt, kann diesen gut gebrauchen.“
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Kapitel Eine Sünde kommt selten allein
Kapitel 25
Eine Sünde kommt selten allein
„Entweder ist das einfach von Natur aus ein seltsamer Kerl oder er hat etwas zu verbergen.“
„Ich bewunderte deine Auffassungsgabe, d‘Artagnan“, bemerkte Athos spöttisch, aber er meinte es durchaus gutmütig. D’Artagnans Naivität war es immer wieder wert, ihn damit aufzuziehen, auch wenn der Junge mit jeden Tag mehr den Kinderschuhen entwuchs und seine rosarote Sicht auf die Dinge Stück für Stück ablegte. Manchmal bedauerte Athos das. D’Artagnan verkörperte für ihn die Frische der Jugend, die ihm aufgrund seiner hohen Geburt nie vergönnt gewesen war.
Er und d’Artagnan standen noch immer vor der Kirche, nachdem Pater Jacques sie so rabiat hinausbefördert hatte. Jetzt legte der Gascogner mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck die Hand auf die kalten Steine des Gemäuers, als könne er damit die Geheimnisse entlocken, die sich hinter diesen Mauern verbargen. „Wann hast du dir das eigentlich alles zusammengereimt? Du hast den armen Priester mit deiner Argumentation ja ganz schön in die Enge getrieben!“
Die Bewunderung, die d’Artagnans Stimme stets einen leicht höheren Klang verlieh, machte Athos immer ein wenig verlegen. d’Artagnan himmelte ihn manchmal an, als sei er die Verheissung Gottes und obwohl das seinem Selbstbewusstsein ungeheuer schmeichelte, ja es gar Balsam für seine Seele war, von jemanden so hoch geschätzt zu werden, lag ihm das treuherzige Vertrauen d’Artagnans manchmal schwer im Magen. Er hatte Angst, ihn zu enttäuschen.
Doch heute hatte er seinem jungen Freund glanzvoll bewiesen, dass ein wahrer Musketier auch mal Köpfchen beweisen musste. Manchmal war es gar nicht nötig, gleich mit den Degen rumzufuchteln. Und darauf war Athos ganz schön stolz. Er hatte für einen kurzen Moment die geheimnisvolle Aura die den Priester umgab durchbrochen und das wahre Gesicht freigelegt. Der Moment war kurz aber aufschlussreich gewesen. „Ich habe einfach meinen gesunden Menschenverstand gebraucht, d’Artagnan.“
„Solltest du öfters tun“, stichelte d’Artagnan.
„Ich hoffe immer, dass du irgendeinmal lernst mitzudenken, deshalb halte ich mich vornehm zurück.“
„Wie ungeheuer edel von dir.“
Athos liess den Blick über die Kirche schweifen. Eigentlich war es eine hübsche Kirche, frei von bedrückenden Prunk. „Jacques ist auf keinen Fall der harmlose Priester, den er allen vorspielt. Seine Frömmigkeit, seine salbungsvollen Reden. Auf mich wirkt das alles ein wenig gar einstudiert. So als glaube er, dass ein Priester sich so zu benehmen habe.“
D’Artagnan nickte selbstvergessen. „Kommt er dir eigentlich auch so bekannt vor?“, fragte er unvermittelt.
„Meine Güte, d’Artagnan, für mich sieht jeder Pfaffe gleich aus!“
D’Artagnan runzelte die Stirn. „Athos, du solltet nicht immer so respektlos von Gott sprechen.“
Es amüsierte Athos, dass seine saloppe Haltung zur Religion, d’Artagnan stets in tiefes Unbehagen stürzte. Im Gegensatz zu Porthos, der solche Äusserungen stets schulterzuckend überging und Aramis, der es längst aufgegeben hatte, Athos bekehren zu wollen, konnte er d’Artagnan mit solchen Aussagen stets reizen. „Du sorgst dich noch immer um mein Seelenheil, nicht wahr, d’Artagnan?“
„Irgendeiner von uns muss es ja tun“, grummelte der junge Musketier und seine offenkundige Besorgnis rührte Athos im gleichen Masse, wie sie ihn belustigte.
„Bete bei meiner Beerdigung für mich. Das sollte reichen für ein friedliches Jenseits.“
D’Artagnan öffnete den Mund für eine zweifellos gepfefferte Antwort, schloss ihn dann aber wieder, was ihm das nicht sehr intelligente Aussehen einer Forelle verlieh. Seine Zähne nagten heftig an seiner Unterlippe, eine Geste, die bei ihm immer scharfes Nachdenken bedeutete. Dann entspannten sich seine Gesichtszüge und ihm entfuhr ein leises: „Oh.“
Athos konnte die lebhafte Mimik von d’Artagnan mühelos lesen und er erriet sofort, dass ihm gerade etwas äusserst Wichtiges eingefallen war. Er griff in einer fahrigen Geste nach Athos‘ Arm. „Athos…ich weiss jetzt, woher ich ihn kenne!“
„Und, verrätst du’s mir, bevor du mir den Arm rausreisst?“
Doch statt seinen Klammergriff zu lockern, griff d’Artagnan noch stärker zu. „Du kennst ihn auch!“
„Ich habe keine Priester in meiner näheren Umgebung, ausser Aramis und das ist nur ein halber Priester und deshalb auch halbwegs erträglich.“
„Nicht in deiner näheren Umgebung, Athos. Du bist ihn vor heute erst einmal begegnet, an einem ziemlich trübsinnig Ort, an einem ziemlich sonnigen Tag.“ D’Artagnan sah sich ja wirklich viel von ihm ab, sogar das Sprechen in Rätseln hatte er übernommen. Nur machte es Athos deutlich weniger Spass auf der anderen Seite zu stehen.
„Spuck‘ s schon aus, d’Artagnan, oder hast du dich auf einmal in eine Sphinx verwandelt?“
D’Artagnan legte eine weitere Kunstpause ein, bevor er mit tragischer Stimme verkündete: „Jacques, war der Priester, der Francis beerdigt hat!“
Athos starrte ihn an. Erst dachte er, d’Artagnan müsse sich irren, doch dann erinnerte er sich daran, dass auch Porthos erwähnt hatte, der Priester käme ihm seltsam bekannt vor. An Francis‘ Beerdigung waren sie in Trauer um ihren Kameraden gewesen, zudem hatte Aramis‘ drohendes Todesurteil schwer auf ihnen gelastet. Er konnte sich kaum noch an die Worte des Priesters besinnen, geschweige denn an sein Gesicht. Aber jetzt, wo d’Artagnan es sagte… „Du hast Recht. Doch nur weil er Francis‘ beerdigt hat, muss er nicht auch der Mörder sein.“
„Nein, natürlich nicht. Interessant ist auch was ganz anders: Damals, auf dem Friedhof, habe ich doch Fleur und Marie belauscht. Ich war nicht der Einzige, Jacques trieb sich ganz in der Nähe herum. Vielleicht hat er nicht nur die Hälfte des Gesprächs gehört wie meine Wenigkeit, sondern die ganze Unterhaltung! So könnte er von Francis‘ Brief an Marie erfahren haben!“
Langsam fügten sich die Teile zu einem Bild zusammen. „Wenn er mit Fleur unter einer Decke steckt, wäre es allerdings nicht nötig gewesen, sie zu belauschen“, gab er zu Bedenken.
D’Artagnan zuckte mit den Schultern. „Vielleicht wollte er seiner Komplizin auch einfach nur beistehen. Wer weiss, wenn sie an einem weniger öffentlichen Ort gewesen wären, hätten sie vielleicht mehr getan, als nur auf Marie einzureden. Vielleicht hätten sie zu schlagkräftigeren Argumenten gegriffen!“
Athos nickte versonnen. Es gab noch immer viel zu viele Fragen, die eine Antwort verlangten. Und wenn sie ihnen niemand geben wollte, dann mussten sie sich eben holen. Es war an der Zeit, zu anderen Methoden zu greifen. Vertrauensvoll legte er den Arm um d’Artagnans Schulter: „Ich glaube, wir sollten einmal unsere liebe Freundin Madame Lilith besuchen.“
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Als Aramis aufwachte, war das für ihn, wie das Auftauchen aus einem tiefen dunklen Teich. Er schlug die Augen auf und machte die berauschende Entdeckung, dass seine Gedanken so klar und geordnet waren, wie schon lange nicht mehr. Sein Kopf war kein wirres Geflecht mehr aus Gefühlen, Erinnerungen und Träumen mehr. Seine Glieder dagegen fühlten sich entsetzlich schwer an, selbst die Arme zu heben erschien ihm wie eine unüberwindbare Hürde. Sich aufzusetzen, daran mochte er nicht einmal denken. Und er war immer noch müde.
Seine Lider senkten sich schon wieder, als ihn jemand unvermittelt den Arm drückte. „Aramis?“
Porthos‘ tiefe, warme Stimme klang schrecklich flehend und brachte Aramis dazu, die Augen ein weiteres Mal aufzureissen. Er blickte direkt in das so vertraute Gesicht seines Freundes, doch es erschien ihm ganz verändert. Die Lachfältchen hatten sich auf einmal in tiefe Sorgenfalten verwandelt, unter den Augen lagen tiefe Schatten und das Gesicht wirkte eingefallen, als hätte er schon länger nichts mehr gegessen.
„Du siehst furchtbar aus“, bemerkte Aramis, wobei die Worte leise und rau über seine Lippen kamen, die sich spröde und trocken anfühlten.
Porthos brach in schallendes Gelächter aus. Das verwirrte ihn etwas, weil seine Feststellung eigentlich ernstgemeint gewesen war. Porthos sah wirklich nicht gerade gesund aus. „Aus deinem Mund ist das wirklich eine sehr amüsante Feststellung! Du siehst aus, als hätte eine Kuh dich aufgegessen und wieder ausgespuckt.“
Es tat so gut, Porthos sprechen zu hören, die Lebhaftigkeit zu spüren, die von diesem Mann ebenso ausging wie der ungebrochene Enthusiasmus und die unbezwingbare Fröhlichkeit. Er hätte gerne etwas erwidert, doch der unbarmherzige Husten packte ihn wieder. Keuchend rang er nach Luft, kämpfte um den kostbaren Atem, den sein Körper ihm zu verwehren schien. Die Angst vor dem Ersticken bäumte sich in ihm auf, verzweifelt krallte er die Finger in die Bettlaken.
Porthos‘ Arm um seine Schultern war wie ein Rettungsseil. Er richtete ihn so mühelos auf, als sei er eine Puppe. „Ganz ruhig Aramis. Atme mit mir. Langsam ein und aus. So ist es gut. Du machst das hervorragend.“
Als der Anfall vorüber war, liess Aramis den Kopf schwer auf Porthos‘ Schulter fallen. „Verdammt, Porthos. Ich kann mich nicht erinnern, mich jemals so schlecht gefühlt zu haben“, murmelte er in die Halsbeuge seines Freundes.
„Sei guten Mutes, treuer Freund. Dein Fieber ist endlich gesunken. Sogar Bruder Mathias ist verhalten optimistisch, was deine Heilungschancen betrifft.“
„Ich glaube nicht, dass Bruder Mathias überhaupt weiss, was Optimismus ist“, schmunzelte Aramis. Ihm fielen schon wieder die Augen zu. Er fühlte sich so schwach und es war so warm in diesem Bett, so wohlig warm… Nur am Rande bekam er mit, wie Porthos ihn sanft zurück auf das Kissen legte, die Decke zurechtzupfte und ihm einen Kuss auf die Stirn hauchte. Und Aramis schlief zum ersten Mal seit langem mit der Gewissheit ein, dass er wieder aufwachen würde.
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In Madame Liliths Haus war es so stickig, dass d’Artagnan kaum Luft holen konnte. Er konnte nur schwer den Drang widerstehen, die Fenster weit aufzureissen. Stattdessen sass er in einem muffig riechenden Sessel, balancierte eine zierliche Teetasse in der Hand und hatte eine dicke Kater auf dem Schoss, der von dem Moment an, als er über die Schwelle getreten war, einen Narren an ihm gefressen hatte und ihm nicht mehr von der Seite wich. Merlin, wie Madame Lilith dieses rothaarige Ungetüm nannte, war ziemlich schwer und d’Artagnans Oberschenkel fühlten sich schon fast taub an.
Madame Lilith schien ein ähnliches Faible für Katzen zu haben wie Richelieu, aber damit hörte die Ähnlichkeit mit dem Kardinal auch schon auf. D’Artagnan hatte die Frau immer schon für reichlich wirr gehalten und ihr trautes Heim unterstützte diesen Eindruck noch. Die Fenster waren mit allerlei Tüchern verhangen, um eine dämmerige Atmosphäre zu schaffen, die von dem Rauch der vielen angezündeten Kerzen noch verstärkt wurde. Auf dem Tisch vor ihm stand eine Kristallkugel und um sie herum verstreut lagen Spielkarten mit merkwürdigen Symbolen. Und überall standen Vasen voller Rosen, dunkelrote Rosen, die einen schweren, betäubenden Geruch verströmten.
Kurzum: d’Artagnan fühlte sich hier mehr als nur unwohl.
Athos jedoch machte den Eindruck, als könnte er den ganzen Tag im Haus einer verrückten Wahrsagerin verbringen. Nur Athos brachte es fertig, in einem scheusslich gemusterten Sessel zu sitzen und trotzdem elegant zu wirken. Und er plauderte so liebenswert mit Madame Lilith, als würden sie sich schon eine Ewigkeit kennen.
Die Frau war ganz und gar hingerissen von Athos, der seinen Charme gnadenlos einsetzte. Gerade jetzt schenkte er ihr eines seines seltenen Lächelns. „Madame, ich kann Euch gar nicht sagen, wie sehr es mich und meinen jungen Freund ehrt, dass Ihr uns empfängt.“
D’Artagnan konnte ein Schnauben gerade noch unterdrücken. Merlin bohrte gerade seine Krallen in seine Beine. Er war weit davon entfernt, Freude zu empfinden, aber wenn Athos meinte, man müsste der Hellseherin Honig ums Maul schmieren, würde er eben mitspielen.
Madame Lilith kicherte wie ein verliebter Backfisch. „Wobei ich noch immer nicht weiss, wieso Ihr mich mit Eurem Besuch beehrt. Eurem Freund Porthos schien meine Anwesenheit eher Unbehagen zu bereiten.“
„Nun, die Botschaft die Ihr für ihn hattet, war auch nicht unbedingt erfreulich“, entgegnete Athos.
Sie warf ihm unter ihren langen Wimpern einen verschmitzten Blick zu. „Aber ich hatte Recht oder? Eurem Freund ging es tatsächlich schlecht.“
D’Artagnan fühlte sich unangenehm berührt. Die Frau war wirklich gruselig. Er verstand immer noch nicht ganz, wie sie Aramis‘ Gesundheitszustand so präzise hatte voraussehen können. Hatte sie etwa in ihre Kugel geblickt oder die Karten gelegt?
Athos nutzte die Gelegenheit um gleich noch ein wenig mehr zu schleimen. Er rutschte an die Kante seines Sessels und stellte seine Tasse ab, um die verblühte Hand von Madame Lilith zu ergreifen. „Leider traf Eure Prophezeiung zu. Unserem Freund geht es tatsächlich nicht sehr gut…“
„Oh, er befindet sich inzwischen auf den Weg der Besserung.“
D’Artagnan und Athos tauschten einen erstaunten Blick. Ob die Hellseherin auch diesmal richtig lag? Zur Abwechslung wäre das ja mal eine gute Nachricht.
Madame Lilith tätschelte Athos‘ Hand. „Vertraut mir, noch hat die Stunde Eures Freundes nicht geschlagen.“ D’Artagnan versteckte sein Grinsen gerade noch hinter seiner Teetasse. Die Finger der Frau strichen geradezu zärtlich über Athos‘ Ärmel. Wenn der ehemalige Graf seinen Charme nicht bald zügelte, würde sie in hier und jetzt vernaschen.
„Eure Prophezeiung hat uns sehr beeindruckt. Ich will Euch nicht verhehlen, dass wir anfangs nicht recht an das zweite Gesicht glauben wollten“, nahm Athos den Faden wieder auf. Geschickt fing er die wandernde Hand ein, umschloss sie aber beinahe zärtlich mit der seinen, was Madame Lilith erröten liess. Athos konnte, wenn er es darauf anlegte, Frauen offenbar genauso schnell um den Fingern wickeln, wie Aramis.
„Das geschieht mir öfters. In unserer engstirnigen Welt, schenkt man den spirituellen Dingen leider zu wenig Beachtung. Aber für mich lüftet sich manchmal der graue Schleier des Alltäglichen und enthüllt mir Dinge, die anderen verborgen bleiben. Manchmal ist das eine Last.“
„Eine schwere Last, wie ich mir vorstellen kann. Aber, Madame, wir sind gekommen, um eine bestimmte Auskunft zu erbitten.“
„Bitte und du wirst erhört werden“, erwiderte Madame Lilith gutgelaunt.
„Ich kann mir vorstellen, dass es für Euch ein heikles Thema ist, deshalb spreche ich es nur ungern an. Es geht nämlich um Pater Jacques.“
Die Worte taten sogleich ihre Wirkung. Madame Liliths zog ihre Hand so schnell aus der von Athos, als hätte sie sich verbrannt. „Oh, dieses Scheusal, dieses elende Scheusal“, schimpfte sie und zerrte heftig an ihren glitzernden Schals. Merlin schien die Unruhe seiner Meisterin zu spüren. Er bohrte seine Krallen noch tiefer in d’Artagnans Beine, der einen gequälten Laut von sich gab, der jedoch sowohl von Kater, als auch von den beiden Menschen ignoriert wurde.
„Woher rührt der Hass auf diesen Priester?“, hakte Athos unbeirrt nach.
Madame Lilith schürzte missbilligend die Lippen. „Priester? Das ist kein Priester. Das ist ein Mörder!“
Nun, endlich hatte das schreckliche Gesäusel ein Ende und die Sache wurde konkret. D’Artagnan fühlte sich berufen, auch einmal ins Gespräch einzugreifen. „Eine schwere Anschuldigung.“
Sie richtete ihre schillernden Katzenaugen auf ihn. „Ich würde sie nicht erheben, wenn ich nicht triftige Gründe dafür hätte. Dieser Mann hat einen Bund mit dem Teufel geschlossen. Einen Teufel in Frauengestalt!“
„Ja, so jemanden kannten wir auch mal“, murmelte d’Artagnan und dachte an Milady.
Athos überging diese Bemerkung. „Einen Teufel in Frauengestalt? Was für eine Frau?“
Die Wahrsagerin schloss die Augen und presste ihre Hand auf ihre Brust. Ihre Nasenflügel bebten. „Sie ist schön, sogar sehr schön. Doch ihr Herz ist so dunkel wie die Nacht, in deren Schutz sie ihm stets aufsucht.“
Das war ja nicht gerade eine aufschlussreiche Beschreibung. Könnte es Fleur sein? Schön war diese zweifellos. Nur in welcher Beziehung stand sie zu Jacques? Er konnte da keine Verbindung erkennen. Mehr schien Madame Lilith allerding nicht preisgeben zu wollen. Sie schlug die Augen auf und nahm dann einen Schluck Tee, ganz als würden sie sich hier über so harmlose Dinge wie Hofklatsch unterhalten und nicht über Teufel, die bei Priestern ein – und ausgingen.
„Wer ist Pater Jacques? Ein gefallener Engel?“, fragte Athos, nun mit einem drängenden Unterton in der Stimme.
Madame Lilith schüttelte langsam und bedächtig den Kopf. „Ihr versteht nicht. Der Mann, von dem Ihr sprecht ist nicht Pater Jacques! Er ist ein Wechselbalg, ein Teufel!“
D’Artagnan wurde das wieder alles zu übersinnlich. „Naja, nur weil Ihr ihn nicht mögt, müsst Ihr ihn nicht gleich mit einem Geschöpf der Hölle gleichsetzen.“
Das sonst so entrückte Gesicht der Seherin, nahm den Ausdruck einer wütenden Furie an. Während sie Athos ansah, als sei er die Erlösung von allen Sünden, blickte sie d’Artagnan nun an, als sei er ein besonders ekelerregendes Insekt. Dann verzogen sich die grell geschminkten Lippen zu einem herablassenden Lächeln „Ihr denkt, ich sei einfach nur eine schusselige alte Dame in deren Kopf nicht viel mehr ist, als in dem von Merlin oder? Aber ich plappere nicht einfach Unsinn. Pater Jacques ist nicht der für den er sich ausgibt!“
„Dann erzählt uns von ihm! Teilt Euer Wissen mit uns!“ Vielleicht war er ja zu forsch, aber d’Artagnan hatte keine Lust, den ganzen Tag mit diesem Brocken von Kater auf dem Schoss zu verbringen. Und wenn Athos‘ Süssholz raspeln nichts mehr brachte, mussten eben härtere Geschütze ausgefahren werden.
Er schien aber den richtigen Ton getroffen zu haben. Madame Lilith setzte sich aufrecht hin und ihre Stimme hatte den rauchigen Klang verloren, als sie fragte: „Was wollt Ihr wissen?“
„Woher kommt dieser Mann eigentlich? Lebte er schon immer in Paris?“, erkundigte sich Athos.
„Oh, nein. Bevor er hierherkam wirkte hier ein anderer Priester. Pater Michael. Nun, er war nicht gerade mit viel Intelligenz gesegnet, aber ein braver, anständiger Mann voller Gottesfurcht. Als er starb, wurde uns Pater Jacques versprochen…“ sie schwieg kurz und fügte dann nach einer kleinen Pause hinzu: „Ich erinnere mich, als sei es erst gestern gewesen. Es war eine regnerische Nacht und er war bis auf die Knochen durchnässt. Ich sah vom Fenster aus, wie er von seinem Maultier stieg. Ich öffnete das Fenster und fragte ihn, ob ich ihm helfen könne. Er wandte mir das Gesicht zu - es war ein gutes, freundliches Gesicht, im Mondschein klar zu erkennen - und winkte lachend ab. Er war so ein sympathischer Mensch! Ich spüre, wenn jemand ein gutes Herz hat und das hatte Pater Jacques!“
Jetzt war d’Artagnan verwirrt. Gerade hatten sie sich ewig lang Madame Liliths Geschimpfe über Pater Jacques angehört und plötzlich war dieser ein herzensguter Mensch? Er öffnete schon den Mund, schloss ihn aber wieder, als er Athos‘ nachdrückliches Kopfschütteln sah.
Madame Lilith setzte ihre Geschichte fort. „Der nächste Tag kam, ein strahlender Sommermorgen. Es klopfte an meine Türe, ich machte auf und sah in das Gesicht eines Fremden. Ein schönes Gesicht bei flüchtiger Betrachtung. Ich jedoch sah dahinter und was ich sah gefiel mir nicht, denn in dieser Seele taten sich tiefe Abgründe auf. Und dieser Fremde erzählte mir, er sei Pater Jacques!“
D’Artagnan begriff. „Es war also nicht derselbe Mann, den Ihr in der Nacht gesehen hattet?“
„Nein! Der Teufel war in menschliche Gestalt geschlüpft und hat den armen Pater Jacques getötet um seinen Platz einzunehmen!“ Madame Lilith schlug mit ihrer kleinen Faust auf die Sessellehne und ihre Stimme hatte sich zu einem hysterischen Kreischen gesteigert. Das erschreckte Merlin, der von d’Artagnans Schoss sprang und mit seinem Schwanz die Tasse aus seiner Hand fegt. Der Tee ergoss sich über d’Artagnans Beine, der sich einen Schmerzensschrei gerade noch verbeissen konnte. Heute war einfach nicht sein Tag. Offenbar hatten sich die überirdischen Mächte gegen ihn verschworen. Vielleicht sollte er seine skeptischen Gedanken was Madame Liliths Geisteszustand betraf etwas in Zaun halten.
Athos‘ Augen hatten den fiebrigen Glanz eines Jägers angenommen. „Madame Lilith, habt Ihr einen Beweis für Eure Behauptung? Oder wisst Ihr, was mit dem echten Pater geschehen ist?“
Doch Madame Lilith schien wieder in anderen Sphären zu schweben. Sie hatte den Blick auf die Decke gerichtet, ganz so, als stünde dort die Offenbarung des Herrn. Ihre Brust hob und senkte sich schwer. „Der zu Unrecht Ermordete“, durchbrach sie schliesslich die die erwartungsvolle Stille, „ruht zu Füssen des Engels.“ Und mehr war aus ihr nicht mehr herauszubringen.
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„Also, viel Gescheites hat sie ja nicht gewusst“, brummte d’Artagnan verstimmt, kaum hatte Madame Lilith die Tür hinter ihnen geschlossen. Die gute Frau hatte sie mehr oder weniger rausgeschmissen. Die Fragen seien zu viel für ihr zartes Gemüt, hatte sie ihnen erklärt, sie benötige jetzt Ruhe. Athos hatte eher den Verdacht, dass sie ihren Besuch überaus genossen hatte und das Ganze als grosse Bühne für ihren Auftritt genutzt hatte. Jetzt wo der letzte Vorhang gefallen war, war das Publikum entlassen.
„Im Gegenteil, sie hat uns sehr viel gesagt“, widersprach Athos. Er war mehr als zufrieden. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht, Madame Lilith war nicht einfach nur eine Spinnerin, sondern wusste erstaunlich viel. Sie war schlauer und durchtriebener als es den Anschein machte.
D’Artagnan warf ihm einen ungnädigen Blick zu. Er sah derangiert aus, mit seinen vom Tee verschmutzten Hosen und seine Stimmung schien endgültig auf dem Tiefpunkt angelangt zu sein. „Gut, sie hat behauptet, dass unser Pater Jacques, den wir kennen und lieben, nicht der richtige Pater Jacques ist. Aber wie sollen wir das beweisen? Madame Lilith ist nicht gerade eine glaubwürdige Zeugin.“
„Nun, dann müssen wir eben nach Beweisen suchen.“
„Und wo willst du sie suchen? Willst du ins Pfarrhaus einbrechen und seine Sachen durchwühlen?“, schnaubte d’Artagnan.
„Ja.“
D’Artagnan sah Athos an, als hätte er ihm gerade vorgeschlagen, die Sonne zu stehlen. „Du willst bei einem Priester einbrechen?“
„Es besteht der Verdacht, dass es gar kein richtiger Priester ist.“
„Trotzdem! Athos, wir sind Musketiere keine Einbrecher! Wir haben einen Ehrencodex.“
Athos verdrehte die Augen. Manchmal hatte der Junge einen schlimmeren moralischen Tick als Aramis. Ausser, wenn es um eigene Herzensangelegenheiten ging. „Ach, weisst du, solche Regeln sind ja doch mehr Richtlinien.“
Der Zweifel stand d‘Artagnan ins Gesicht geschrieben. „Bestimmt ist es Sünde in ein Pfarrhaus einzubrechen!“, jammerte er.
„Ach, weisst du, mit den Sünden ist das so eine Sache: Wenn man schon einmal damit angefangen hat, lohnt es sich auch nicht mehr damit aufzuhören.“
D’Artagnan fügte sich seufzend in sein Schicksal. „Oder wie es so schön heisst: Eine Sünde kommt selten allein.“
Kapitel Das Haus des Priesters
Kapitel 26
Im Haus des Priesters
Inzwischen war Tréville so oft im Arbeitszimmer von Richelieu, dass er schon daran dachte, hier sein Feldbett aufzuschlagen. Doch trotz seiner häufigen Besuche hatte sich das Verhältnis zwischen dem Kardinal und dem Hauptmann nicht gerade verbessert. Auch wenn sie ein gemeinsames Ziel, die Ergreifung dieses mysteriösen Mörders, hatten, waren die eigentlichen Differenzen zwischen den beiden noch immer unüberbrückbar und das schlug sich in giftigen Auseinandersetzungen nieder. Auch heute ging es alles andere als harmonisch zu.
Tréville rieb sich, am Ende einer nervenaufreibenden Diskussion, die schmerzenden Schläfen. „Und wieso darf ich nicht mit Pierre sprechen? Gibt es irgendeinen triftigen Grund dafür oder fällt das einfach unter Eure üblichen Schikanen?“
Richelieu verschränkte die Arme und dank der weiten Ärmel seiner roten Robe wirke er in dieser Pose wie eine missmutige Fledermaus. Sein Gesucht drückte dieselbe erschöpfte Gereiztheit aus, die auch Tréville empfand. „Der Grund dafür ist, dass ich immer noch nicht fertig mit Pierre bin. Er will mir nichts sagen. Weder über diese ominöse Fleur, noch über Duponts gewaltsamen Tod.“
„Genau deshalb will ich ja mit ihm sprechen! Mir gegenüber ist er vielleicht auskunftsfreudiger“, beharrte Tréville auf seinem Standpunkt. Irgendwie war es noch anstrengender mit Richelieu zu arbeiten, als gegen ihn. Vielleicht warf er ihm aber auch einfach aus purer Gewohnheit Knüppel zwischen die Beine.
„Ich bitte Euch, Tréville! Ihr seid ein guter Soldat, aber in Sachen Verhörtechniken viel zu weich. Wenn es mir und meiner roten Garde nicht gelingt diesem verfluchten Kerl das Maul zu öffnen, dann gelingt es keinem!“, knurrte Richelieu und aus dem Tonfall entnahm Tréville, dass ihm die tapfere Schweigsamkeit Pierres, ganz schön fuchste. Tréville zollte Lefèvre innerlich Respekt. Der zierliche Gastwirt musste robuster sein, als er aussah.
„Meine verweichlichten Verhörmethoden könnten in diesem Fall der Schlüssel sein. In Euch sieht Lefèvre nur einen Feind. Eure Beziehung ist vorbelastet, mit was auch immer. Ich dagegen könnte als Freund auftreten.“
In Richelieus Augen blitzte es gefährlich. „Und Euch mit ihm verbrüdern? Das würde Euch in den Kram passen!“
Richelieu war ja immer feindselig, aber immer wenn es um diesen Pierre ging, gebärdete er sich regelrecht paranoid. Tréville quälte die Neugier. Was verband diese zwei so ungleichen Männer? Teilten sie ein Geheimnis, dessen Entdeckung Richelieu um jeden Preis verhindern wollte? Gut möglich, allerdings ging es Tréville nicht um Richelieus Sünden. Dass dieser davon reichlich besass, wusste er. Aber er brauchte Pierres Aussage, um endlich Licht in diese Sache zu bringen und Aramis endgültig zu entlassen. „Glaubt mir, Kardinal, auf den Strassen gäbe es genug Verbündete gegen Euch, da bräuchte ich mich nicht in den Schmutz eines Gefängnisses zu begeben.“
„Für einen Mann, der etwas von mir will, seid Ihr äusserst unhöflich, Hauptmann.“
Tréville seufze schwer. Auf dem üblichen Weg kam er hier nicht weiter. Er musste es anders versuchen. „Kardinal, ich bitte Euch: Einer meiner Männern steht noch immer unter Mordverdacht. Ich sehe es als meine Pflicht, ihn von diesem schrecklichen Vorwurf zu befreien und das kann ich nur, indem ich den wahren Mörder finde. Erstaunlicherweise sind wir übereingekommen, unsere Kräfte zu vereinen, damit wir auf die Hilfe des jeweils anderen zählen können. Jetzt brauche ich diese Hilfe. Lasst mich mit Pierre sprechen, ich bitte Euch!“ Den letzten Satz brachte er nur schwer über die Lippen. Es widerstrebte ihm sehr, den Kniefall vor seinem persönlichen Lieblingsfeind zu machen. Aber wenn es der Wahrheit diente, musste man auch mal Kompromisse mit sich selbst schliessen.
Richelieu lehnte sich mi einem so selbstzufriedenen Grinsen zurück, dass Tréville sich beherrschen musste, es ihm nicht aus dem Gesicht zu schlagen. Stattdessen bohrte er die Fingernägel in die Handfläche. Ich tue das für Aramis, beschwor er sich selbst, ich tue es, um seine Unschuld zu beweisen. Mon Dieu, ich schwöre dir Aramis, wenn ich deinen Hals gerettet habe, wirst du zur Strafe für alle meine Unannehmlichkeiten erstmal sämtliche Stiefel der Garnison putzen!
„Ihr bittet mich, Hauptmann Tréville? Das sind wahrlich ungewohnte Töne! So demütig kenne ich Euch gar nicht. Vielleicht sollte öfters mal einer Eurer Männer unter Mordverdacht stehen. Das macht Euch so umgänglich.“
„Diese Umgänglichkeit solltet Ihr nicht allzu sehr ausreizen!“, warnte Tréville mit leiser, aber durchdringender Stimme. Er war nie ein Mann gewesen, der sich mit Brüllen Respekt verschaffen musste. Seine klare, kühle Stimme, seine kerzengerade Haltung und sein stolzer Blick verschafften ihm eine natürliche Autorität.
Und die beeindruckte manchmal sogar Richelieu. „Ich weiss nicht ob ich Eure Hartnäckigkeit ärgern oder bewundern soll. Aber da Ihr mich ja quasi auf den Knien anfleht…“ Bei diesen Worten bohrte Tréville die Nägel so fest in seine Haut, dass es zu bluten anfing, trug aber ein tapferes Haifischlächeln zur Schau, „will ich mal nicht so. Ihr dürft morgen mit Pierre reden. Eine Stunde! Nicht länger.“
Ein kleiner Sieg, dennoch unbestreitbar ein Sieg. Dennoch verkniff sich Tréville ein triumphierendes Lächeln, um Richelieu nicht weiter zu verärgern und sich so wohlmöglich gleich wieder um das mühsam erarbeitete Zugeständnis zu bringen. „Ich danke Euch vielmals! Ich werde Euch Eure Hilfsbereitschaft nicht vergessen.“ Die Ironie in Trévilles Stimme war unüberhörbar.
„Ich bin schliesslich dafür bekannt, ein äusserst grosszügiger und grossmütiger Mensch zu sein. Und weil ich mich jetzt um all die armen Seelen von Frankreich kümmern muss, wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Euch entfernen könntet!“
Dermassen aus dem Zimmer herauskomplementiert, beschloss Tréville, gleich noch einen Abstecher zum König zu machen, um diesen über die neusten Entwicklungen zu informieren. Es bestand immerhin die kleine Chance, dass Louis Aramis jetzt schon begnadigen würde, schliesslich hatten sich Ellens Anschuldigungen in Luft aufgelöst. Zudem war Louis ausgesprochen guter Laune. Seine Schwester, die Herzogin von Savoy, hatte ihm als Geschenk einen wunderbaren reinrassigen Hengst geschickt und er war ganz aus dem Häuschen darüber. Da Louis berühmter Gerechtigkeitssinn immer von seiner Stimmung abhing, rechnete Tréville sich durchaus Chancen aus.
Als er zu den königlichen Gemächern abbiegen wollte, kreuzten sich seine Wege mit einer Zofe. Er nahm sie nur aus den Augenwinkeln war, deshalb ging er erst achtlos an ihr vorüber, bevor er sie erkannte. Es war Marie, die Cousine von Francis. Jenes Mädchen, das dem Kardinal den Brief übergeben hatte, der ihn direkt in die Bibliothek geführt hatte. Hatte eigentlich schon irgendjemand daran gedacht, sie zu befragen? Sie war dem Toten wahrscheinlich näher gestanden als jede andere, vielleicht mit Ausnahm der geheimnisvollen Geliebten.
Er fasste einen schnellen Entschluss. „Marie?“, rief er ihr hinterher.
Sie drehte sich zu ihm um. „Ja, Hauptmann?“, fragte sie scheu und kam einige Schritte näher. Sowohl ihre Gesichtszüge, als auch ihre Bewegungen erinnerten Tréville schmerzhaft an Francis. Selbst die Art, wie sie jetzt die eine Hand in die Hüfte stemmte und ihn sowohl ehrerbietig als auch unverhohlen neugierig anblickte, war genau die ihres verstorbenen Cousins.
Einer spontanen Regung folgend, griff er nach ihrer Hand und drückte sie. „Erst einmal möchte ich Euch mein Beileid ausdrücken. Ich mag mir kaum ausmalen, was für ein Verlust Francis‘ Tod für Euch bedeutet.“
Ihre warmen braunen Augen füllten sich mit Tränen und sie sah beschämt zu Boden, um sie zu verbergen. „Er war wie ein Bruder für mich“, sagte sie mit leiser, tränenerstickter Stimme.
Tréville reichte ihr mitfühlend ein Taschentuch, dann legte er den Arm um sie und führte sie zu einer der Fensternischen, um ein wenig privater mit ihr sprechen zu können. Normalerweise wurden diese Plätze eifrig von Liebespaaren benutzt, weil man sich hinter den Vorhängen so geschickt verbergen konnte, aber für ein vertrauliches Gespräch, das nicht jeder mithören sollte, waren sie ebenfalls geeignet.
„Francis war ein tapferer und ehrenhafter Mann mit einem sonnigen Gemüt. Es war mir eine Ehre, ihn in meinem Regiment zu haben und ich bedaure es, dass er so früh und unverdient aus dem Leben geschieden ist.“
„Ich habe gehört, dass ein anderer Musketier ihn getötet haben soll. Ein Musketier namens Aramis.“ Es klang nicht wirklich vorwurfsvoll, eher fragend, beinahe neugierig.
„Das ist nicht wahr. Aramis war nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich und meine Männer suchen den wahren Mörder. Um Francis‘ Gerechtigkeit zu bringen.“
Ein Ausdruck grosser Erleichterung trat auf Maries sommersprossiges Gesicht. „Da bin ich froh. Francis hat oft von Aramis erzählt. Es hätte mich sehr geschmerzt, wenn mein Cousin durch die Hand eines Freundes hätte sterben müssen.“
„Ihr habt euch oft getroffen?“
„So oft es mein Dienst und sein Dienst erlaubte. Es war manchmal schwierig uns zu treffen, aber für kurze Gespräche hatten wir immer Zeit. Und in letzter Zeit war er sehr viel im Palast.“
Tréville horchte auf. „Öfters als sonst?“
„Ja. Auch wenn er keinen Dienst hatte. Erst habe ich mich gefreut, weil ich dachte, er käme meinetwegen öfters vorbei. Aber wenn wir uns sahen war er immer kurz angebunden und konnte mich gar nicht schnell genug loswerden.“
„Nicht sehr charmant.“
„Oh, Ihr dürft nicht denken, dass er sich schlecht um mich gekümmert hat. Er trug mich auf Händen. Er vernachlässigte mich nur dann, wenn…“ Sie zögerte auf einmal und brach verlegen ab.
Tréville verstand sofort auf, was sie anspielte. Immerhin hatte Francis viele Jahre unter ihm gedient und er kannte dessen Laster, so wie er die Schwächen aller seiner Männer genau kannte. „Nur dann, wenn er eine neue Geliebte hatte“, beendete er ihren Satz.
Maire nickte, eine Spur beschämt. „Ich sage nicht gern Schlechtes über einen Toten, aber Francis war ein Schlitzohr was Frauen betraf. Für keinen Rock war er sich zu schade. Besonders von verheirateten Frauen konnte er einfach nicht die Finger lassen. Und er hatte Erfolg, denn er war freundlich, witzig und charmant. Er stellte keine Ansprüche und war sehr diskret.“
Irgendeinmal, schwor Tréville sich im Stillen, würde er bei seinen Musketieren die Auflage einführen, dass jeder der den Eid schwor, in der Lage sein musste, mit dem Kopf statt mit dem Schwanz zu denken! Das war ja wirklich ungeheuerlich in was für Schwierigkeiten sich diese Romanhelden ständig brachten. Und er durfte es dann ausbaden. „Wisst Ihr denn, wer Francis‘ letzte Geliebte war?“
Zu seiner grenzenlosen Enttäuschung schüttelte Marie den Kopf. „Francis prahlte nie mit seinen Eroberungen. Schon gar nicht vor mir.“
Tréville verbiss sich einen Fluch. Wäre ja auch zu einfach gewesen. „Aber wenn er öfters im Palast war als sonst, muss es jemand gewesen sein, der viel Zeit hier verbringt, der möglicherweise sogar hier wohnt. Habt Ihr wenigstens eine Vermutung?“
Ein Hauch von Ärger blitzte in Maries Augen auf. „Ich habe meine Nase nicht in die Angelegenheiten meines Cousins gemischt. Mir war es lieber, nichts von seinen amourösen Eskapaden zu wissen.“ Verwundern tat Tréville das eigentlich nicht. Marie war eine Zofe. Sie war dazu erzogen, Geheimnisse für sich zu bewahren und sie wusste, dass es gefährlich sein konnte, sich in Hofintrigen zu mischen. In diesem Fall war es allerdings ärgerlich.
„Marie, ich frage Euch nicht, um meine persönliche Neugier zu befriedigen. Ich muss das wissen, um nachvollziehen zu können, wer ein Motiv hatte, Francis zu töten!“
Das schien Marie zu beruhigen. „Es ist nicht so, dass ich Euch nicht vertraue. Ich weiss, Ihr seid ein Mann von Ehre. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich mich immer mehr in diese Geschichte verstricke, ohne es zu wollen“, sagte sie entschuldigend.
Dieses Gefühl kannte Tréville nur zu gut. „Wir alle sind jetzt darin verstrickt, ob wir wollen oder nicht. Und wenn wir uns aus diesem Netz befreien wollen, müssen wir Licht ins Dunkel bringen. Auch wenn wir dabei vielleicht Dinge sehen, die uns nicht gefallen.“
„Ich weiss wirklich nicht, wer Francis‘ Geliebte war. Aber sie muss etwas Besonderes gewesen sein. Er war sehr verliebt. Wer auch immer sie war, sie hat ihn sehr glücklich gemacht. Er hat immer gestrahlt. Bis auf seinen letzten Besuch. Da war er auf einmal so niedergeschlagen. Am Boden zerstört.“
„Hat er Euch den Grund für seine schlechte Stimmung genannt?“
„Er wollte erst nicht recht darüber reden. Dann meinte er, einer seiner Kameraden sei in England als Spion entlarvt und hingerichtet worden. Das ging ihm wohl ziemlich nahe.“
Tréville runzelte verwirrt die Stirn. Der Kamerad, auf den Francis sich bezogen hatte, war Isaac, den er selbst unter einer falschen Identität nach England an Buckinghams geschickt hatte, um für Frankreich zu spionieren. Zwei Jahre lang hatte das reibungslos geklappt und Isaac hatte sie mithilfe von verschlüsselten Botschaften über jeden Schritt des ehrgeizigen Herzogs informiert. Bis dann, völlig unerwartet, Isaacs Deckung aufflog. Bevor Tréville, Richelieu oder Louis hätten intervenieren können, hatte Buckingham den Musketier schon einen Kopf kürzer gemacht. Die ganze Garnison hatte Trauer getragen. Francis hatte es besonders hart getroffen, denn er und Isaac waren fast so unzertrennlich gewesen wie Athos, Porthos, Aramis und d’Artagnan.
Dennoch verwunderte es ihn, dass Francis so kurz vor seinem Tod, deshalb deprimierter Stimmung gewesen war. Denn Isaac war schon seit fast einem halben Jahr tot. Warum überwältigte ihn jetzt auf einmal wieder die Trauer? Das erschien ihm mehr als seltsam. „Und sonst hat er nichts gesagt?“
„Doch. Er hat mir einen gegeben und liess mich schwören, dass ich diesen im Falle seines Todes nur dem Kardinal Richelieu übergebe.“
„Und Ihr habt den Brief nicht gelesen?“
Sie sah ihn ehrlich entrüstet an. „Natürlich nicht! Er hat mir eingeschärft, dass der Inhalt des Briefes nur für die Augen des Kardinals bestimmt sind.“
Tréville hob entschuldigend beide Hände. „Ich wollte Euch nichts unterstellen. Also, abgesehen von Euch wusste niemand von den Brief?“
Diese Frage brachte Marie in sichtliche Verlegenheit. Ihr Gesicht nahm einen deutlich rötlicheren Teint an und sie strich nervös die Hände an ihrem Rock ab. Dieses Mädchen war ein offenes Buch, gewiss nicht geschaffen für solche Intrigen, in die Francis sie offensichtlich verwickelt hatte. „Hauptmann, denkt bitte nicht schlecht von mir. Aber ich habe meiner Freundin Fleur von dem Brief erzählt. Bei Francis‘ Beerdigung. Ich konnte auf einmal nicht mehr schweigen. Ich hatte solche Angst, weil ich nicht wusste, um was es in dem Brief ging. Ich dachte, es sei etwas sehr Schlimmes, das unter Umständen auch mich in Schwierigkeiten bringt!“
Also doch. Fleur hatte davon gewusst! „Und sie wollte nicht, dass Ihr den Brief Richelieu gebt?“
„Sie wollte, dass ich ihn zerreisse. Sie meinte, der Kardinal sei ein böser Mann, mit dem man sich auf keinen Fall einlassen darf!“
Nun, damit hatte die Dame gewiss nicht ganz Unrecht. Allerdings hatte es wohl einen anderen Grund für ihren Rat gegeben. Es passte alles zusammen: Francis hatte irgendetwas über Fleur erfahren. und dieses Geheimnis war so einschneidend und gefährlich gewesen, dass es ihm das Leben gekostet hatte. Doch vielleicht hatte er geahnt, dass er in Gefahr schwebte und hatte das tödliche Geheimnis diesem ominösen Brief anvertraut. Fleur schien das auf jeden Fall gefürchtet zu haben.
„Marie…Kann es sein, dass Fleur diese ominöse Geliebte von Francis war?“
„Fleur?“, fragte Marie, in einem Ton, als hätte er gefragt, ob Fleur vielleicht eine heisse Affäre mit einem Schafsbock gehabt hätte.
„Wir vermuten, dass ihr Verschwinden mit Francis‘ Tod zusammenhängt.“
Bei diesen Worten wurde Marie schreckensbleich und begann bedrohlich zu wanken. Tréville fasste sie gerade noch rechtzeitig am Ellbogen. „Aber…Fleur ist doch…sie ist meine Freundin!“, stammelte Marie, während sie Tréville mit ihren grossen braunen Augen, die keine Bosheit und keine Falschheit kannten, anblinzelte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen, aber am königlichen Hof streute man mit solchen Gesten allzu schnell Gerüchte.
„Ich weiss. Manchmal stellt sich heraus, dass wir die Menschen, denen wir am nächsten stehen, eigentlich am schlechtesten kennen. Ich weiss, dass ist kein Trost. Aber zumindest eine Erklärung“, sagte Tréville sanft.
Es war nicht von ungefähr, dass Tréville bei seinen Männern so beliebt war. Er war unnachgiebig und streng. Die Treue zu seinem König ging ihm über alles und dieselbe bedingungslose Liebe, die er seinem Dienstherrn entgegenbrachte, verlangte er auch von seinen Männern. Doch zugleich gelang es ihm durch Menschlichkeit und Herzenswärme stets Verständnis für seine Musketiere zu zeigen. Er hatte für jeden ein offenes Ohr und seine Ratschläge waren zwar stets klug und durchdacht, jedoch ohne bevormundenden Unterton. Stets fand er einen Weg in die Herzen seiner Männer und vermochte es so, sie wieder auf den rechten Weg zu führen.
Auch auf Marie zeigte Trévilles ruhige, mitfühlende Worte sofort Wirkung. Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die beiden…Naja, Fleur ist schon kein Kind von Traurigkeit. Und sie hat gewiss ihre kleinen Geheimnisse.“
Tréville horchte auf. „Kleine Geheimnisse?“
„An manchen Abenden war sie einfach plötzlich unauffindbar. Wenn ich sie fragte, wo sie war, hat sie nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, sie habe eine Reise in ihre Vergangenheit gemacht.“
„Aber über ihre Vergangenheit hat sie nie gesprochen?“
„Nein. Ihr müsst wissen, es gab immer viel Gerede über Fleur. Sie scheint keine einflussreichen Verwandten zu haben, dennoch hat sie die begehrte Stelle als Hofdame bekommen. Und als sie hierherkam war ihr Auftreten so ganz anders, als man es sonst von Edeldamen gewohnt ist. Heute merkt man es kaum noch, aber ihre Sprache war…eine Spur zu unverblümt. Ihre Manieren waren so schlecht, dass man sie die „Gossenhofdame“ nannte. Aber sie lernte schnell. Nach einem halben Jahr war davon nichts mehr zu merken. Nur ihren beissenden Spott, den hat sie behalten.“
Eine Hofdame, die wie ein Strassenmädchen sprach? Das war in der Tat etwas merkwürdig, aber Tréville konnte sich keinen Reim darauf machen. Dennoch war die Unterhaltung mit Marie ergiebig gewesen. Er hätte schon viel früher auf das Mädchen zugehen müssen. Immerhin war sie Francis einzige noch lebende Verwandte.
„Marie, ich bin Euch zu Dank verpflichtet. Ich hoffe sehr, dass es mir gelingen wird, Francis‘ Mörder zu finden. Damit kann ich zwar Euren Schmerz nicht lindern, aber zumindest für ein Stück Gerechtigkeit sorgen.“ Er beugte sich über ihre Hand und küsste sie.
„Hauptmann Tréville, wenn es mehr Männer wie Euch gebe, wäre Frankreich ein gesegnetes Land.“ Und sie küsste ihm flugs auf die Wange, bevor sie flinken Schrittes weiter ihres Weges ging.
Dieses Kompliment liess den gestandenen Kriegshelden, gefeierten Strategen und wichtigen Berater des Königs erröten wie eine Jungfrau, die zum ersten Mal einen grossen Ball besuchte.
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Es war ein schöner, warmer Tag und d’Artagnan hätte einiges damit anzustellen gewusst. Zum Beispiel Hand in Hand mit Constance der Seine entlangspazieren. Ein kleines Übungsgefecht mit Porthos im Hof der Garnison. Philosophieren mit Aramis bei einem guten Glas Wein. Was man eben so tat wenn man jung und lebensdurstig war und zudem in der schönsten Stadt der Welt lebte. Könnte man meinen.
Stattdessen hatte er diesen schönen Sommertag verborgen hinter einem dichten Busch verbracht, den Bauch platt auf den Boden gedrückt, den Blick auf ein Pfarrhaus gerichtet, indem angeblich unheimliche Dinge vor sich gingen. Inzwischen hoffte d’Artagnan beinahe auf das Erscheinen eines blutrünstigen Geistes so sehr langweilte er sich inzwischen.
Der einzige Trost war, dass Athos wohl in einer ähnlich unbequemen Pose verharrte. Laut diesem war es zwingend notwendig, das Pfarrhaus von verschiedenen Seiten zu beobachten, damit sie Pater Jacques ja nicht verpassten, sollte der einen Fuss nach draussen setzen. Nur war der gute Priester ausserordentlich häuslich. Ein Sonnenuntergang wäre spannender zum Betrachten gewesen, als dieses kleine, unschuldig wirkende Häuschen.
Schliesslich wurde es Abend. Die belebten Strassen leerten sich, der Lärm ebbte ab, das Sonnenlicht nahm stetig ab, bis es schliesslich ganz verschwand und auch alle Wärme mit sich nahm. Sanftes Mondlicht ergoss sich über die Stadt, tauchte sie in ein mystisches Licht und auf einmal sah Paris nicht mehr aus wie der turbulente und farbige Mittelpunkt der Welt, sondern wie eine Märchenstadt, die in Schlaf gesunken war.
D’Artagnan wurde jäh aus seinen träumerischen Gedanken gerissen, als er von weither das Schnauben und Stapfen von Pferden vernahm. Und war das nicht das Geräusch von rollendem Rädern auf Pflastersteinen? Tatsächlich, wie auf ein unsichtbares Stichwort fuhr eine schlicht aussehende Kutsche in d’Artagnans Sichtfeld. Sie trug weder Wappen noch auffälligen Schmuck. Die Pferde jedoch, das erkannte d’Artagnans geübter Blick auf Anhieb, waren edle Tiere. Wer auch immer in dieser Kutsche reiste, wollte vielleicht den Anschein von Bescheidenheit wecken, doch d’Artagnan hätte seinen kostbaren Degen darauf verwettet, dass die Pferde aus einem adeligen Stall stammten.
Die Kutsche hielt direkt vor dem Pfarrhaus. Kurze Zeit später öffnete sich die Tür, Pater Jacques huschte in die Dunkelheit und verschwand in der Kutsche, die sogleich weiterfuhr. Das alles geschah so schnell, dass d’Artagnan sich einen Moment tatsächlich fragte, ob es wirklich geschehen war oder ob er sich die Kutsche vor lauter Langeweile nur eingebildet hatte.
„Wer mag das wohl gewesen sein?“
Vor Schreck sprang d’Artagnan auf die Füsse und riss noch während des Sprunges den Degen hoch. Nur Athos‘ schnellen Instinkten war es zu verdanken, dass d’Artagnan nicht seinen eigenen Waffenbruder in Scheiben schnitt.
„Athos! Bist du wahnsinnig dich so anzuschleichen?“, keuchte d’Artagnan. Seine Hand zitterte, als er seinen Degen wegsteckte. Zumindest hatte Athos dafür gesorgt, dass seine fast schon eingeschlafenen Sinne jetzt wieder geschärft wie die einer Raubkatze waren.
Athos hob auf jene überhebliche Art und Weise die Augenbrauen, wie es nur jemand konnte, der ganz genau wusste, dass seine geistigen Fähigkeiten diejenigen gewöhnlicher Leute weitaus überragten. „Ich wollte dich nur daran erinnern, dass man sich nie auf ein einziges Ziel konzentrieren soll, sondern auch beachten soll, was hinter einem geschieht“, mahnte Athos.
„Ich werde es mir merken“, murrte d’Artagnan verstimmt. Nach einem anstrengenden Tag hinter Büschen gingen ihm Athos‘ Beleherungen, die er sich sonst stets sehr zu Herzen nahm, eher auf die Nerven. Ausserdem sah Athos geradezu unverschämt entspannt aus. Während d’Artagnan von oben bis unten mit Staub bedeckt war, sah Athos so sauber und gepflegt aus, als sei er auf dem Weg zu einem Gartenfest beim König. Wo hatte er wohl seinen Beobachtungsposten bezogen?
Als hätte Athos seine Gedanken gelesen, musterte er den jungen Mann kritisch. „Was hast du eigentlich gemacht? Dich im Dreck gewälzt?“
„Du bist lustig! Du hast mich schliesslich in diesem Busch gesteckt. Und wo warst du eigentlich?“
„In der Taverne gleich gegenüber. Da hast du einen wunderbaren Blick auf das Pfarrhaus. Und sie haben ein ausgezeichnetes Bier“, entgegnete Athos launig.
D’Artagnan traute seinen Ohren nicht. „Wie bitte? Du hast dich einfach an den Tisch gesetzt und Bier getrunken? Während ich hier auf dem Bauch liegen und Schlange spielen musste?“, empörte er sich und stemmte zornig die Hände in die Hüfte. Den ganzen Tag hatte er sich nur mit dem Gedanken eines ebenso verrenkt liegenden Athos bei Laune gehalten, nur um jetzt zu erfahren, dass dieser im Gegensatz zu ihm einen äusserst angenehmen Nachmittag verbracht hatte.
Athos sah ihn mit grossen, unschuldigen Augen an. „Es sollte eigentlich nur ein Witz sein. Aber als du dann so brav unter dem Busch gekrochen bist, dachte ich: Schaden wird’s dem Jungen nicht.“
Für einen Moment hatte d’Artagnan ein klares Bild vor Augen. Er sah ganz deutlich wie er seine Hände langsam um Athos‘ Hals legte und genüsslich zudrückte. Tatsächlich fühlte er sogar schon ein Zucken in den Fingern. Er begnügte sich dann allerdings mit einem kräftigen Hieb gegen Athos‘ Schulter. „Was habe ich dir denn getan, dass ich eine solche Strafe verdient habe?“
„Gar nichts. Ich finde einfach, du solltest deine Naivität endlich ablegen und anfangen meine Befehle auch mal zu hinterfragen.“
„Naivität? Ich bin doch nicht naiv! Ich bin einfach nicht so misstrauisch und menschenfeindlich wie du!“, fauchte d’Artagnan.
Athos hob begütigend die Hände. „Reg dich nicht so auf, d’Artagnan. Schon vergessen? Wir zwei Hübschen hatten noch etwas vor!“ Er deutete vielsagend auf das Pfarrhaus.
Hatte d’Artagnan noch nie recht Lust gehabt genau dort einzubrechen, war seine Motivation nun erst recht am Boden. Naiv…so eine Frechheit! Nur weil sie ein paar Jährchen älter waren, behandelten ihn seine Freunde immer als sei er ein kleines Kind. Dabei war er durchaus reif und erwachsen. Und bestimmt nicht viel naiver als der stets gutgläubige Porthos und der bei Frauen immer schwach werdende Aramis!
Dennoch nagte Athos‘ Einschätzung an ihm. Weil ihm die Meinung seines Mentors eben doch wichtig war. „Du findest wirklich, ich bin naiv?“, fragte er beunruhigt.
„Am besten gehen wir durch den Garten. Dort können wir uns gut hinter Grünzeug verstecken...“, sinnierte Athos, der offenbar kein Wort von dem gehört hatte, was d’Artagnan gesagt hatte.
„Ich bin schon nett. Ich bin sogar ziemlich nett, aber ich halte das nicht zwangsläufig für eine schlechte Charaktereigenschaft. Im Gegenteil. Natürlich muss man als Musketier auch mal Härte zeigen, aber sein gutes Herz sollte man dabei schon bewahren oder?“
„Ohne Spur einzubrechen, das können wir wahrscheinlich vergessen. Was dumm ist, weil Jacques möglicherweise schlau genug ist, um uns zu verdächtigen. Allerdings wird es schwer für ihn sein, dass zu beweisen. Und wenn wir erst einmal nachweisen können, dass der gute Pater Dreck am Stecken hat, wird es niemanden interessieren, wie wir an die Beweise gekommen sind…“
„Und die Frauen mögen auch lieber ein bisschen naive Männer, als so kalte Durchtriebene…“
„Wir können auf die grosse Eiche klettern. Von dort sollte es ein Leichtes sein, die oberen Fenster zu erreichen und so können wir in das Haus einsteigen…“
„…aber du hast natürlich Recht, manchmal bin ich schon eine Spur zu gutgläubig!“
Athos seufzte schwer und drehte sich zu d’Artagnan um. „Gut, wenn es so an dir nagt: Ich nehme es zurück. Du bist nicht naiv, d’Artagnan. Du bist einfach ein netter Mensch. Können wir uns jetzt wieder auf die Tatsache konzentrieren, dass wir in ein Haus einbrechen müssen?“
Was sie dann auch taten. Es war allerdings eine mühsame Angelegenheit. Sie mussten darauf achten, möglichst leise vorzugehen, denn schliesslich sollte niemand sehen, wie zwei Musketiere bei einem ehrbaren Pfarrer einbrachen. Zur Sicherheit hatten sie ihre Uniformen abgelegt und kletterten nun in Hemd und Hose auf die grosse Eiche. Es verschaffte d’Artagnan grosse Befriedigung, dass es ihm mit Leichtigkeit gelang auf die Äste zu klettern, während Athos eher wirkte wie ein altersschwaches Eichhörnchen. Manchmal hatte es eben seine Vorteile als einfacher Bauer geboren zu sein.
Die nächste Herausforderung war es, das Fenster einzuschlagen. Ohne Lärm war das nicht möglich. Doch der Zufall kam ihnen zu Hilfe. Eine Gruppe betrunkener Soldaten zog grölend durch die Strasse und Athos nutzte den Lärm. Blitzschnell schlug er die Scheibe ein. D’Artagnan hörte das Splittern von Glas, dicht gefolgt von einem gezischten Fluch von Athos.
„Was ist passiert?“, flüsterte d’Artagnan aufgeschreckt.
„Verdammte Scherben! Ich hab mir die Hand aufgeschnitten.“
D’Artagnan klopfte ihm tröstend auf die Schulter. „Eine Verletzung, die einem Helden gebührt! Aber jetzt beweg deinen Hintern, ich will nicht auf dem Baum übernachten.“
„Die Ungeduld ist das Vorrecht der Jugend“, lamentierte Athos, tat aber wie geheissen. Noch einmal griff er mit der Hand hinein und öffnete das Fenster von innen. Nun war es leicht, die Fensterflügel aufzustossen und in das Haus zu steigen. Bevor d’Artagnan jedoch das Haus betrat, machte er zur Sicherheit noch das Kreuzzeichen.
Himmlischer Beistand konnte schliesslich nie schaden. Besonders, wenn man in das Haus eines Pfarrers einbrach.
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Jacques lehnte sich in seinem Sitzpolster zurück. Es tat gut, wieder mit ihr zusammen zu sein. Sie war der einzige Mensch, bei dem er ganz sich selbst sein konnte, bei der er nichts zu verstecken hatte und bei der er diese lächerliche Verkleidung des Priesters endlich fallen lassen konnte. Sie dagegen war noch immer maskiert, trug selbst hier in der Kutsche einen schwarzen Schleier, der nicht nur ihr Gesicht verhüllte, sondern dem Treffen auch etwas Geheimnisvolles gab. Ihre Schwäche für das Dramatische würde ihnen eines Tages noch zum Verhängnis werden.
„Zwei Musketiere waren bei mir. Sie waren äusserst misstrauisch.“
„Haben sie Fragen gestellt?“
„Ja. Und es waren gute Fragen. Sie glauben nicht, dass dieser Schwachkopf Dupont sich selbst umgebracht hat.“
Sie schnalzte wütend mit der Zunge. „Womit sie ja auch Recht haben. Verflucht, sie sind uns zu nahe auf den Fersen.“
Er nickte grimmig. Dieser Athos war ein durchtriebener und sehr kluger Mann. Er hatte ihn ganz schön in die Ecke gedrängt. Und er würde nicht lockerlassen. Das hatte Jacques in seinem Blick gesehen. Er war wie ein Hund, der sich festgebissen hatte. „Vielleicht sollte ich Paris verlassen. Zumindest für eine Weile."
Selbst unter dem schwarzen Schleier sah Jacques ihre Katzenaugen aufleuchten. „Und mich hier allein lassen? Kommt gar nicht in Frage. Bis jetzt konnten wir uns immer schützen. Es wird uns auch diesmal gelingen. Die Musketiere können doch nur Vermutungen anstellen. Sie haben keine Beweise.“
„Wenn sie auf mich gekommen sind, besteht die Möglichkeit, dass sie auf die Verbindung zwischen uns stossen. Und dann, meine Süsse, fliegt auch deine Tarnung auf“, gab er zu bedenken. Er widersprach ihr nur ungern, denn sie hatte ein äusserst heftiges Temperament, das so schnell und abrupt auflodern konnte, wie ein Waldbrand.
So auch jetzt. Ihre Hände schossen vor wie die Klauen eines Raubvogels und griffen nach den seinen. Ihre Fingernägel gruben sich schmerzhaft in die empfindsame Haut, dennoch kam kein Laut des Schmerzens über seine Lippen. Es war gefährlich, vor ihr, Schwäche zu zeigen. „Meine Tarnung wird nicht auffliegen, mein Lieber. Glaub mir, ich habe alle Fäden in der Hand. Meine Marionetten tanzen noch immer nach meinem Lied. Und meine Lieblingspuppe ist mir noch immer hörig.“
Behutsam löste er die Hand aus ihrem Griff. „Ich wollte dich nur daran mahnen, vorsichtig zu sein. Ich kenne deinen Hang zu Übermut.“
„Ich weiss, was ich zu tun habe. Ich werde nicht versagen. Wir werden nicht versagen.“ Ihre Stimme klang nun wieder warm und zärtlich, wie ein schnurrendes Kätzchen. Kein Wunder waren die Männer hinter ihr her. Wenn sie schon ihn, ihren Bruder mit solcher Leichtigkeit um den Finger wickeln konnte, wie mochte es dann Männern gehen, die sich von ihr Zuneigung und Liebe erhofften? Ihre Schönheit war ihre stärkste Waffe und die setzte sie gekonnt ein.
„Wäre es nicht einfacher, die Musketiere einfach…verschwinden zu lassen?“, schlug er schliesslich vor. Er empfand nicht das leiseste Bedauern bei dem Gedanken, einen Menschen zu töten. Mitgefühl und Skrupel, das waren die ersten Gefühle, die man bei ihrem Geschäft verlernte.
Sie legte den Kopf schräg. „Das wäre äusserst unüberlegt. Hauptmann Tréville würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, wenn wir noch einen seiner geliebten Männer töten würden. Und Tréville hat das Ohr des Königs. Nein, wir verfahren genau auf die Weise, wie wir es geplant haben.“
Ihr Ton signalisierte deutlich, dass sie sich auf keine weitere Diskussion mehr einlassen würde. Seufzend ergab er sich seinem Schicksal und gab ihr, als Zeichen seiner Zustimmung, einen Handkuss. Dennoch konnte er das ungute Gefühl in seiner Magengegend nicht verdrängen. Die lauernden, stechend blauen Augen des Musketiers Athos‘ wollten ihm nicht aus dem Kopf.
Vielleicht bildete er es sich ja nur ein, aber er konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er seiner persönlichen Nemesis begegnet war.
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Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wühlte Athos in den Schubladen eines fremden Mannes. Als er sich für den Dienst als Musketier gemeldet hatte, hatte Tréville diesen Aspekt seiner Pflichten vergessen zu erwähnen, dachte Athos grimmig, während er sich durch eine beachtliche Anzahl von schmutzigen Soutanen kämpfte. Auch wenn es ziemlich unwahrscheinlich war, dass Jacques seine finsteren Pläne in seiner Wäsche versteckte, er wollte alles durchsuchen.
Jacques schien ein Sammler zu sein. Das hübsche Haus war mit allem möglichen vollgestopft. Allein mit den Kerzenständern hätte man eine ganze Stadt erleuchten können, dazu kamen die dazu passenden Kerzen in allen Formen und Grössen. Dazu kamen noch aus Holz geschnitzte Heiligenfiguren, die allerdings so grob und dilettantisch wirkten, dass Athos vermutete, dass Jacques selbst Hand angelegt hatte. Dazu kam noch eine respektable Sammlung an verschiedenen Bibelausgaben, nicht weiter erstaunlich für einen Priester. Da waren die vielen Wein – und Schnapsflaschen schon irritierender. Probeweise nahm Athos aus einer bauchigen Flasche einen Schluck und verzog das Gesicht. Ganz schön stark. Bestimmt nicht als Messwein geeignet.
D’Artagnan war unterdessen damit beschäftig, das reich bestückte Bücherregal genauer zu untersuchen. Nachdenklich zog er Buch um Buch heraus und blätterte in rasender Geschwindigkeit durch die Seiten, wohl in der halbherzigen Erwartung, dass irgendwo ein verräterischer Zettel stecken könnte. Schliesslich hob er stirnrunzelnd den Kopf. „Ist es eigentlich normal, wenn ein französischer Priester lauter englische Bücher besitzt?“
„Englisch sprechen und lesen zu können ist kein Verbrechen, d’Artagnan.“
„Das weiss ich, aber ich finde es trotzdem seltsam.“
„Es wundert mich ehrlich gesagt, dass du Englisch kannst, Bauernjunge.“
Es war nicht so, dass Athos d’Artagnan wirklich für seine niedrige Herkunft verachtete. Auch wenn er sich eingestehen musste, dass er manchmal dazu neigte, Menschen nach ihrem Stammbaum zu bewerten, hatte d’Artagnan ihm schon hundertfach bewiesen, das in seiner Brust das Herz eines Löwen schlug. Dennoch konnte er es nicht lassen, den am Hof noch immer reichlich unbeholfen und linkisch auftretenden d’Artagnan mit seiner schlechten Bildung aufzuziehen.
Doch d’Artagnan reagierte überraschend würdevoll. „Ich habe nicht gesagt, dass ich es lesen kann, aber ich erkenne einen Engländer, wenn ich einen vor mir habe. Selbst wenn es sich nur um einen englischen Satz handelt.“
„Gut gekontert“, lobte Athos. Er schlenderte zu einem Schrank, der aussah, als hätte er auch schon bessere Zeiten gesehen. Als Athos jedoch daran rüttelte, erwies sie sich als erstaunlich widerstandsfähig.
D’Artagnans Pfiff liess ihn herumfahren. Da er sich von den Büchern offenbar nichts mehr erhoffte, hatte er sich dem Bett zugewandt. Und war offenbar fündig geworden. In seiner Hand hielt er einen filigran gearbeiteten Degen, dessen tödlicher Zweck trotz seiner Schönheit unverkennbar war.
„Wo hast du denn dieses hübsche Stück gefunden?“
„Unter dem Strohsack, auf dem unser bescheidener Priester sein Haupt bettet.“ D’Artagnan schwang den Degen prüfend durch die Luft. „Eine gute Waffe.“
Athos rief sich noch einmal Jacques‘ Gestalt vor Augen. Da war etwas in seiner Körperhaltung und seinem Gang gewesen, das sogar nicht in das Bild des braven Priesters passen wollte. Die katzenhafte Anmut eines Mannes, der es gewohnt war zu marschieren, zu kämpfen und seinen Körper zu stählen. Ein Soldat. „Nur weil er ein Priester ist, heisst das nicht, dass er kein Genussmensch sein kann. Denk an Aramis“, gab er dennoch zu bedenken und wandte sich wieder dem störrischen Schrank zu. Mit einem heftigen Ruck gelang es ihm endlich die verklemmte Tür zu öffnen.
Eine Wolke von Staub schlug ihm entgegen und er konnte gerade noch zur Seite springen, sonst wäre er unter einer Lawine von Messgewändern begraben worden. Athos schob den Stoffhaufen mit seinem Fuss weg – hoffentlich war Gott nicht kleinlich was die Kleidung seiner Bediensteten anging – und nahm den Schrank dann genauer in Augenschein. Zuerst dachte er, abgesehen von den Kleidern, sei dieser leer. Dann bemerkte er jedoch die kleine Kiste, die in der hinteren Ecke beinahe verschwand.
Neugierig zog Athos sie hervor. Es war eine schön gearbeitete Kiste, die ihn an die erinnerte, die er in der Kindheit besessen hatte. Er und sein kleiner Bruder Thomas hatten darin solche Schätze wie schön geschliffene Steine, Vogelfedern und gestohlene Haarbänder ihrer Mutter aufbewahrt. Jacques schien für diese Kiste einen ähnlichen Verwendungszweck gefunden zu haben, denn als Athos sie öffnete, erblickte er als erstes ein Bündel Briefe um die ein Medaillon geschlungen war.
Athos löste das Medaillon von den Briefen und öffnete es neugierig. Es enthielt eine rote Haarlocke, zusammengehalten von einer blauen Schleife. Hatte der brave Priester etwa nicht nur einen Degen, sondern auch eine Geliebte? Dass allein war allerdings noch kein Verbrechen, allerdings eine interessante Kleinigkeit.
Er klappte das Medaillon wieder zu und legte es zur Seite, dann machte er sich daran, das Bündel Briefe auseinander zu falten. Doch die Buchstaben, die sich über die Seiten drängten, machten keinen Sinn, es schien nur undeutliches Gewirr von Kinderhand zu sein. Aber wieso sollte jemand so etwas aufbewahren? Mit gerunzelter Stirn glitt Athos‘ Blick immer wieder über die Zeilen….Dann lächelte er. Eine Geheimschrift. Wäre doch gelacht, wenn er diese nicht entschlüsseln könnte.
Ohne die Spur eines schlechten Gewissens steckte Athos die Briefe ein. Natürlich war es heikel irgendetwas mitlaufen zu lassen. Dass Jacques sie so sorgfältig verborgen hatte, deutete darauf hin, dass sie wichtig waren, was die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass er auch den Verlust bemerken würde. Und mit der zerbrochenen Fensterscheibe würde er auch den Schluss ziehen, dass die Diebe die Briefe eingesteckt hatten. Aber Athos wollte die Briefe. Vielleicht lag in ihnen der Schlüssel zu den Rätseln, die den Priester umgab.
Athos packte das Medaillon in die Kiste und schob diese zurück in die Ecke. Auch die Messgewänder stopfte er wieder in den Schrank, dann knallte er die Türen hastig zu, bevor ihm die ganze weisse Pracht wieder entgegenstürzte.
„Hast du noch was gefunden?“, fragte er d’Artagnan, der nur mässig begeistert dabei war eine Kommode zu durchwühlen.
„Nichts, absolut nichts“, seufzte d’Artagnan und schloss geräuschvoll die Schublade.
„Ich dafür. Lass uns lieber verschwinden, bevor unser feiner Herr Priester zurückkommt.“
„Was hast du denn entdeckt?“ Wenn es etwas gab, das noch grösser war als d’Artagnans Appetit schlug, dann war es die brennende Neugier dieses Jungen.
„Ein paar hübsche Liebesbriefe, die wir uns näher ansehen sollten. Und jetzt sollten wir unsere süssen Hintern hier rausbewegen.“
Athos marschierte entschlossen zum Fenster, um auf demselben Weg wieder rauszukommen, wie er reingekommen war. Als er jedoch das Bein durch das zersplitterte Fenster schieben wollte, hörte er plötzlich ein sanftes Rauschen, dann spürte er wie etwas Kühles, Weiches seine Wange streifte und dann sah er plötzlich in das Gesicht des Leibhaftigen. Spitze, kleine Zähne, in einem zu einem grauenhaften Fauchen geöffneten Mund, bösartig glitzernde Augen…und es hing direkt in seinem Gesicht! Athos konnte nichts anders, er stiess einen gellenden Schrei aus. „Ein Geist!“, kreischte er. Hätte er d’Artagnans Warnungen nur ernster genommen! Jetzt rächte es sich, dass er das Übernatürliche stets als unmöglich abgetan hatte! Ein Teufelsgeist war erschienen, um sich an ihm zu rächen! Ermattet schloss er die Augen. Er wollte dieser Fratze nicht länger ins Gesicht sehen, da starb er lieber in Dunkelheit!
Glücklicherweise war er nicht alleine, d’Artagnan eilte schon zu seiner Rettung. „Hab ich dich, du gemeines Biest! Wie kannst du es wagen, meinen tapferen Freund hier anzugreifen?“ d’Artagnans theatralischer Tonfall weckte Athos‘ Misstrauen. So redete der junge Musketier eigentlich nur, wenn ein weibliches Wesen in der Nähe war oder wenn er gerade in ironischer Stimmung war. Jetzt tippte Athos auf Letzteres, allerdings hielt er es für einen äusserst unpassenden Augenblick für ironische Bemerkungen, immerhin versuchte gerade ein Geist sein Gesicht zu essen.
„Athos? Du kannst die Augen wieder aufmachen.“
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: d’Artagnan war keineswegs besorgt, er amüsierte sich köstlich. Also schlug Athos widerstrebend die Augen wieder auf und sah direkt in das breitgrinsende Gesicht d’Artagnans. Und zwischen seinen beiden Handflächen hielt er ein possierliches Tierchen, das mit scheuen Knopfaugen um sich blickte. Es sah keineswegs mehr beängstigend aus, eher…niedlich.
„Das, mein lieber Athos, ist wirklich ein extrem seltenes und sehr gemeines Exemplar eines Hausgespenstes: Bei uns in der Provinz nennen wir es allerdings einfach: Fledermaus.“
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Kapitel Tréville nimmt die Fährte auf
Kapitel 27
Tréville nimmt die Fährte auf
Alle erzählten ihm, er sei auf dem Weg der Besserung, aber für Aramis fühlte es sich keineswegs so an, eher im Gegenteil. Er fühlte sich unendlich schwach, zerschlagen und das Atmen schmerzte ihn. Das Reden strengte ihn an und selbst das Aufsetzen fiel ihm schwer. Und so sehr er sich auch bemühte die Müdigkeit zu bekämpfen, der Schlaf griff ständig nach ihm wie eine äusserst besitzergreifende Geliebte.
Dennoch musste er dankbar sein. Dankbar dafür, dass er wieder klar denken konnte, dankbar dafür, dass er überhaupt noch atmen konnte, dafür dass er nicht mehr in den Fängen dieses furchtbaren Fiebers war. Das Leben war ein Geschenk, das er nun viel mehr zu schätzen wusste. Auch wenn dieses neue Leben jetzt erst einmal im Bett begann.
Über fehlende Aufmerksamkeit oder mangelnde Pflege konnte er sich auf jeden Fall nicht beschweren. Eher im Gegenteil. Bruder Mathias und Constance schienen entschlossen zu sein, jeder Mutterhenne Konkurrenz zu machen, so wie sie stets um ihn herumscharwenzelten, seine Kissen zurechtzupften und ihm so viel Tee reinschütteten, dass er zu seiner grossen Beschämung mehrmals darum bitten musste, zum Nachttopf geführt zu werden. Er fühlte sich einfach noch zu schwach, um alleine gehen zu können.
Auch Porthos war immer da. Wann immer Aramis die Augen aufschlug, sass Porthos auf seiner Bettkante, eine stille Präsenz, die im beruhigenden Gegensatz zu der ständigen Nervosität der beiden anderen stand. Und vor ihm schämte sich Aramis auch nicht, nicht einmal, wenn er sich übergeben musste, weil es ihm immer noch schwerfiel Essen bei sich zu behalten.
So wie auch jetzt. Es war ihm zwar gelungen etwas Brot zu essen, aber nach einem weiteren heftigen Hustenanfall musste er schon wieder würgen und nur Porthos‘ Schnelligkeit war es zu verdanken, dass der Inhalt seines Magens in einer Schüssel und nicht in seinem Bett landete.
„Gott, ist das widerlich“, murmelte Aramis, als Porthos ihm behutsam mit seinem Taschentuch das Kinn abwischte.
„Sieh es mal so: Du wirst nach deiner Genesung wieder rank und schlank sein.“
„Willst du damit sagen, ich war dick?“ Trotz seiner Müdigkeit gelang es Aramis noch genügend Empörung in seine Stimmung zu legen.
„Nun ja, du hast schon ein bisschen angesetzt, ehrlich gesagt. Zu viele Frauen, zu wenig Abenteuer!“, zog Porthos ihn auf.
„Ich weiss nicht, was mich mehr erschreckt: Dass du auf meine Figur achtest oder dass du so gemein zu einem Kranken bist“, grummelte Aramis.
Porthos reichte ihm einen Becher mit Wasser. „Wenn du schon wieder den sterbenden Schwan spielen kannst, geht es dir wohl wirklich besser.“
Aramis trank das Wasser in langsamen Zügen. Es schmeckte wunderbar und half, den bitteren Geschmack aus seinen Mund zu spülen.
„Es wird wohl noch eine Weile dauern, bis du wieder Abenteuer erleben kannst. Ob jetzt mit oder ohne Frauen“, bemerkte Porthos, nachdem er den Becher wieder an sich genommen hatte.
„Mhm. Aber das heisst nicht, dass du auf die Abenteuer verzichten solltest.“
„Ach weisst du, nach diesen paar Nächten bin ich der Überzeugung, dass ich mich ganz gut mache als fürsorgliche Mutter.“ Wie um seine Worte zu beweisen, zog Porthos die Bettdecke noch ein Stück höher.
Der Schlaf klopfte schon wieder bei Aramis an, doch er schob ihn entschlossen beiseite. Er wollte sich jetzt nicht schon wieder ins Land der Träume verabschieden, denn er hatte noch etwas Wichtiges mit Porthos zu besprechen. Dafür wollte er zumindest halbwegs bei Bewusstsein sein. Entschlossen versuchte er, in eine halbwegs sitzende Position zu gelangen.
Porthos beobachtete seine Bemühungen mit Argusaugen. „Langsam!“, mahnte er, half ihm aber, indem er ihm fürsorglich ein Kissen hinter den Rücken schob. Aramis bedankte sich mit einem Lächeln, dann griff er nach Porthos‘ Hand. „Du solltest nach Paris zurückkehren“, fiel er dann gleich mit der Tür ins Haus.
Porthos sah ihn an, als hätte er ihm vorgeschlagen, er solle Bruder Mathias einen Heiratsantrag machen. „Kommt gar nicht in Frage. Mein Platz ist hier. An deiner Seite.“
„Ich bin auch dankbar, dass du hier bist. Wirklich. Aber ich habe Bruder Mathias und Constance, die sich um mich kümmern. Und ich habe einfach das Gefühl, dass dich Athos und d’Artagnan viel mehr brauchen, als ich.“
„d’Artagnan und Athos erfreuen sich bester Gesundheit. Du dagegen liegst mit einer schweren Lungenentzündung im Bett. Und da willst du mir erzählen, dass sie mich brauchen?“ Porthos stiess ein so lautes Schnauben aus, dass ein Stier vor Neid glatt erblasst wäre.
Aramis hatte gewusst, dass es nicht leicht werden würde, Porthos dazu zu bringen, nach Paris zurückzukehren. Er konnte es sich ja selbst nicht recht erklären, wieso er auf einmal das Gefühl hatte, dass Porthos hier am falschen Platz war. „In Paris geht immer noch ein Mörder um. Er hat schon einen Musketier auf dem Gewissen. Ich würde es nicht ertragen, wenn die nächste Leiche Athos wäre oder wir d’Artagnan beerdigen müssten!“ Den letzten Teil des Satzes stiess er zwischen heftigem Husten hervor, der sich aber zum Glück schnell wieder legte.
„Wenn Athos in den nächsten Tagen stirbt, dann höchstens weil er mal wieder zu viel gesoffen hat“, bemerkte Porthos spitz. Dann griff er nach Aramis‘ Hand. „Ich verstehe dich nicht. Constance hat gesagt, du hättest im Fieberschlaf immer nach mir gerufen. Und kaum bin ich hier, schickst du mich schon wieder fort?“
Aramis runzelte die Stirn. Er hatte nach Porthos verlangt? „Tatsächlich? Das weiss ich gar nicht mehr.“ Er versuchte seiner Stimme einen scherzhaften Klang zu geben, auch wenn er es eigentlich gar nicht witzig fand, dass sein Hirn sich anfühlte, wie eine Rumpelkammer. Zuerst der Schlag auf den Kopf, dann das hohe Fieber… seine Erinnerungen waren in einem undurchdringlichen Nebel verschwunden. Hin und wieder tauchten Fetzen auf, allerdings fiel es ihm schwer, diese zusammenzusetzen. So tauchte zum Beispiel vor seinem inneren Auge immer wieder das Bild eines äusserst hässlichen Wildschweins auf.
Porthos‘ Augen wurden noch eine Schattierung dunkler, immer ein Zeichen dafür, dass er innerlich aufgewühlt war. „Wir dachten…wir dachten, du wolltest Abschied nehmen…weil…“
Aramis wurde es schwer ums Herz. „…ihr dachtet, ich würde sterben“, beendete Aramis den Satz. Noch immer machte es ihm Angst, dass er so nahe am Tod vorbeigeschrammt war. Durch eine Musketenkugel oder einen wohlplatzierten Degenhieb zu sterben…damit musste man rechnen, wenn man sein Leben dem König von Frankreich weihte. Aber im Krankenbett zu sterben, wie ein alter, schwacher Mann…das hatte nichts Heldenhaftes und ganz gewiss nichts Erstrebenswertes.
„Glücklicherweise bist du ja noch unter uns.“ Porthos überspielte den melancholischen Moment mit seinem üblichen piratenhaften Grinsen und legte dann seine Hand auf seine Schulter, um ihn zurück in die Kissen zu drücken. „Und jetzt solltest du wirklich wieder schlafen. Sonst kommst du auf noch dümmere Gedanken.“
Aramis öffnete schon den Mund, um Porthos noch einmal zu beschwören, nach Paris zurückzukehren. Was sollte er denn hier an seinem Bett ausharren, wenn es doch einem Mörder zu finden galt? Er schloss ihn allerdings schnell wieder. Porthos hatte die Augenbrauen drohend zusammengezogen, ein sicheres Zeichen dafür, dass er über dieses Thema nicht mehr reden wollte. Und ausserdem war er wirklich müde, also schloss er die Augen und ergab sich den Wogen des Schlafes, die über ihm zusammenschlugen und ihn mitrissen in das Land der Träume.
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Athos erwachte und spürte so gleich alle seine Knochen. Kein Wunder, sass er doch zusammengesunken an seinem Schreibtisch, die linke Wange auf ein Stück Papier gebettet. Als er ruckartig den Kopf hob – der ganz schön dröhnte von den vielen Gläsern Wein, die er sich in der letzten Nacht gegönnt hatte – fiel das Papier zu Boden und als er sich bückte, um es aufzuheben, sah er, dass sich ein Fleck darauf gebildet hatte. Offenbar hatte er im Schlaf gesabbert. Er wurde wahrlich alt.
Ächzend erhob er sich und streckte sich dann ausgiebig, wobei er an das Fenster trat. Er mochte den morgendlichen Blick auf den verlassenen Hof, wenn über der Garnison noch die Stille der Nacht schwebte. Wenn Soldaten miteinander lebten, war es nie still, das Klirren der Waffen vermischte sich mit lautem Lachen und rauen Stimmen, die sich scherzhafte Beleidigungen zubrüllten. Früher hatte Athos die Stille kaum ertragen, denn mit der Ruhe kamen auch die Gedanken und mit den Gedanken die Erinnerungen, die ihn schmerzten und verfolgten. Sie kamen immer noch, ungebeten und in Wellen. Jetzt brauchte er allerdings keine Geräusche mehr, um sie zu überdecken. Es reichte, wenn er sich die Gesichter seiner Freunde vors geistige Auge führte.
Allerdings lag der Hof nicht so verlassen da wie sonst. Athos sah Tréville mit Hut und Mantel sein Pferd am Zügel führte und sich in den Sattel schwang. Vermutlich brach er auf um mit Pierre Lefèvre zu reden. Wenn ihn jemand zum Reden brachte, dann der gelassene und verständnisvolle Hauptmann. Und vielleicht würden sie dann endlich einen entscheidenden Schritt weiterkommen auf dieser Mörderjagd.
Wobei er selbst nicht gerade untätig geblieben war. Athos‘ Blick kehrte zurück zu den Papieren, die malerisch über seinen Schreibtisch verteilt waren. Jacques Briefe, die er gestohlen hatte. Die ganze Nacht hatte er versucht, die rätselhaften Botschaften zu entschlüsseln. Und an irgendeinem Punkt – nach manchem Glas Wein, wie er zugeben musste – hatte er das System begriffen.
Aber sie waren doppelt vorsichtig gewesen. Sie hatten nicht nur eine Geheimschrift benutzt, sondern offensichtlich auch eine Geheimsprache. Auch entschlüsselt gaben die Botschaften keinen Sinn. Und das kränkte Athos in seinem Ehrgeiz. Abgesehen davon war er neugierig. Was hatte der gute Pater Jacques zu verbergen, dass er seine Geheimnisse so sorgsam versteckte?
Ob er wohl den Diebstahl bemerkt hatte? Den Einbruch sicher. Die zerbrochene Fensterscheibe zeugte davon. Gut, vielleicht dachte er, es seien Lausejungen gewesen. Allerdings war Jacques offensichtlich ein sehr misstrauischer Mann und auch nicht gerade dumm. Vielleicht würde er sogar vermuten, dass die Musketiere dahintersteckten. Beweisen würde er es ihnen allerdings nicht können. Genauso wenig wie sie ihm nachweisen konnte, dass er in die mysteriösen Umstände von Francis‘ Tod verwickelt war.
Athos setzte sich erneut an den Schreibtisch. Die Briefe liessen ihm keine Ruhe. Mit dem Finger fuhr er über die Zeilen, als könne er die Worte besser verstehen, wenn er die Tinte fühlte. Wohlmöglich lag hier der Schlüssel zur Lösung des Mordfalls….der Schlüssel, der Aramis‘ Name endgültig reinwaschen würde….es wäre doch gelacht, wenn ihm das nicht gelingen würde…
Das Geräusch einer Tür, die jäh aufgerissen wurde, schreckte Athos auf und er, dessen Kopf gefüllt war mit Verschwörungstheorien und dunkelgewandeten Mördern, die in Gassen lauerten, griff beherzt nach dem Tintenfass , fuhr im Stuhl herum und warf es dem ungebeten Eintretenden entgegen, wobei er zu spät bemerkte, dass es sich keineswegs um einen Meuchelmörder handelte, sondern um d’Artagnan, der sich glücklicherweise im richtigen Moment bückte. Das Tintenfass surrte über ihm hinweg und zerbarst mit einem lauten Klirren auf dem Flurboden.
d’Artagnan blinzelte wie eine aufgeschreckte Eule. „Ist das deine neue Art, guten Morgen zu wünschen?“
„Vielleicht lernst du dann mal endlich anzuklopfen!“, knurrte Athos, dessen Herzschlag sich nur langsam beruhigte. Er ärgerte sich über seine eigene Ängstlichkeit. Erst liess er sich von einer Fledermaus fast ins Bockshorn jagen und dann bewarf er auch noch seinen Freund mit Tintenfässern. Die Anstrengungen der letzten Tage schienen sich auf sein Nervenkostüm auszuwirken.
D’Artagnan zuckte reumütig mit den Schultern. „Tut mir echt Leid, aber meine Neugier trieb mich dazu, solche Nebensächlichkeiten aussen vor zu lassen.“ Er trat näher und liess sich auf Athos‘ schmalen Bett nieder, wobei seine Augen auf den Briefen geheftet blieben, als könne er sie durch seinen Blick dazu bewegen, sich selbst vorzulesen. „Und? Hast du sie entschlüsselt?“
Athos gestattete sich ein überhebliches Lächeln. „Nun ja, während andere sich gestern Nacht huldvoll in ihre Gemächer zurückgezogen, weil sie müde waren…“ In die letzten Worte legte er besonders viel Spott, „ist es mir tatsächlich gelungen die Briefe zu entschlüsseln.“
Diese Nachricht liess d’Artagnan grosszügig über die feinen Seitenhiebe hinwegsehen. Er strahlte. „Wirklich? Und? Was steht in den Briefen?“, fragte er aufgeregt.
„Nun das…das weiss ich nicht so genau“, gab Athos widerstrebend zu.
„Wie? Aber eben hast du doch gesagt…"
„Ich weiss, ich weiss. Es ist mir gelungen, die Geheimschrift zu entziffern. Nur leider ist mir der Inhalt noch immer unverständlich.“ Seufzend deutete er auf die zerstreuten Blätter.
„Und? Wie funktioniert die Geheimschrift?“ d’Artagnan stand auf, um über Athos‘ Schulter zu spähen.
Geschmeichelt von d’Artagnans Interesse zog Athos ein Blatt Papier näher heran. „Es ist im Grunde ziemlich einfach“. Er langte nach der Schreibfeder, holte ein neues Tintenfass aus der Schublade und schraubte es auf. „Sieh mal, das ist das Alphabet wie wir es kennen.“ Mit flinken, schnellen Bewegungen schrieb er die Buchstaben ordentlich in einer Reihe auf.
„Hör mal, ich weiss, dass ich nicht gerade ein Gelehrter bin, aber das Alphabet beherrsche ich gerade noch.“ D’Artagnan klang ein wenig verschnupft.
Athos klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. „Das bezweifle ich auch nicht. Aber das Alphabet ist Teil des Codes, also sieh zu und lerne.“ Er tauchte die Feder erneut ins Tintenfass. „Und das ist das Alphabet rückwärts.“ Er schrieb die Buchstaben genau unter die ersten und schob das Blatt dann d’Artagnan zu.
D’Artagnan wirkte verwirrt. „Das sehe ich. Nur, was soll ich damit anfangen?“
Auf diese Frage hatte Athos gewartet. Er nahm nun einen von Jacques‘ Briefen und legte sie neben das von ihm aufgezeichnete Alphabet. „Diese Wörter geben auf den ersten Blick keinen Sinn oder? Wenn du jetzt aber statt einem F ein U liest und statt einem G ein T liest…wie sieht es dann aus?“
Angestrengt starrte d’Artagnan auf die Buchstaben, die Stirn in nachdenkliche Falten gelegt. Als er begriff, helle sich seine Miene sichtlich auf. „Sie haben also die Buchstaben vertauscht. Clever. Nur schade, dass ich die Worte immer noch nicht verstehe.“
„Die Nachrichten sind auch auf Englisch. Aber selbst übersetzt kann ich mir ehrlich gesagt keinen Reim darauf machen. Zum Beispiel hier“, er tippte mit dem Finger auf einen Satz, „das heisst, trägt die Stute das Fohlen noch? Oder hier ich hoffe, der Kuckuck ist ins Nest geflogen und hat das faule Ei herausgeworfen. Warum sollte jemand solche Tierbetrachtungen verschlüsseln?“
Dieses Mal verstand d’Artagnan sofort. „Weil sie einen Code über einen Code gelegt haben. Nicht nur eine Geheimschrift sondern auch eine Geheimsprache.“ D’Artagnan schien von der Raffiniertheit Jacques‘ förmlich hingerissen zu sein. Seine Neigung Menschen zu Helden hochzustilisieren machte offenbar nicht einmal vor potenziellen Mördern Halt.
„Zweifellos. Macht unsere Aufgabe allerdings nicht gerade leichter. Denn leider verstehe ich es einfach nicht.“ Frustriert warf Athos die Feder hin.
In d’Artagnans dunklen Augen glomm jener Funke auf, der stets signalisierte, dass er sich mit Feuereifer in die nächste Aufgabe stürzte. Er schwieg eine Weile, die Stirn in Falten gelegt, die Zunge zwischen die Zähne geklemmt, das Bild eines Menschen, der angestrengt nachdachte. Dann, ganz langsam, als tauche er aus einem tiefen Fluss auf, sagte er: „Trägt die Stute das Fohlen immer noch…das könnte doch übersetzt bedeuten: Ist sie immer noch schwanger?“
Jetzt fiel es Athos wie Schuppen von den Augen. „Die Königin! Der Schreiber fragt, ob die Königin immer noch ein Kind unter den Herzen trägt oder wieder eine Fehlgeburt erlitten hat! Der Schreiber scheint sich also sehr für die Familienplanung des Königs zu interessieren.“
D’Artagnan nickte. „Der Satz mit dem Kuckuck… Das ist doch der Vogel, der sich in anderen Nestern einquartiert oder? Und dafür stossen sie die richtigen Eier aus dem Nest. Aber sie wollen der Königin doch nicht etwa ein falsches Kind unterjubeln oder?“, fragte er entsetzt.
Athos stockte der Atem. Das wäre allerdings ungeheuerlich. Allerdings…wieso sollte jemand so etwas tun? Ein falsches Kind in die Arme der Königin legen…Abgesehen davon, wäre das ziemlich schwer zu bewerkstelligen. Wenn ein königliches Kind geboren wurde, war das keine Privatsache, der halbe Hofstaat würde dabei sein. Besonders weil bereits jetzt getuschelt wurde, dass Anna nicht das Kind des Königs unter ihrem Herzen trug. Anna selbst würde alles dafür tun, um alle Zweifel an der Vaterschaft des Kindes zu beseitigen. Nein, niemand, der noch alle Sinne beisammen hatte, würde es wagen, in die königliche Wiege ein Kuckuckskind zu legen.
„Vielleicht sollten wir uns weniger damit beschäftigen was sie tun. Sondern wer sie überhaupt sind“, überlegte Athos laut, „es sind Personen, die sich auf Englisch unterhalten, Personen, die offensichtlich Angst davor haben, dass man ihre Nachrichten abfängt, Personen, die sich für Vorgänge im Schloss interessieren und mindestens eine dieser Personen ist nicht das, was sie zu sein scheint.“
Sie kamen beide gleichzeitig zur Lösung dieses Rätsels und sprachen sie auch zugleich aus: „Spione.“
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Der Vorsteher der Bastille, Monsieur Sionne, erbleichte, als Tréville forschen Schrittes in sein Zimmer gestürmt kam und mit lauter Stimme forderte mit dem Gefangenen Pierre Lefèvre zu sprechen. Er schluckte schwer und begann mit nervös zitternden Händen die Aktenstapel vor sich hin – und herzuschieben. „Monsieur Tréville, Sie wissen, dass ich Ihnen nur ungern einen Wunsch abschlage…aber der Kardinal…“, stammelte er.
Tréville unterdrückte ein Knurren. Natürlich lag die rote Robe Richelieus auch drohend über der Bastille und normalweise ging er schonend mit Menschen um, die sich vor dem Kardinal fürchteten. Aber er hatte keine Lust, den netten alten Onkel zu geben. Es war früher Morgen, er hatte einen höllischen Ritt durch die verdreckten Strassen von Paris hinter sich, ein Mörder trieb sein Unwesen und hatte sich als Opfer ausgerechnet einen seiner Musketiere ausgesucht und obwohl er seine ganze Kraft einsetzte, wollte es ihm einfach nicht gelingen, den Täter zu erwischen. Das frustrierte und ermüdete ihn gleichermassen. Nur so ist es zu erklären, dass der sonst so ausgesucht höfliche Tréville den armen Sionne anblaffte: „Mir ist geht es vollkommen am Arsch vorbei, was der Kardinal hat oder nicht hat. Ich möchte mit Pierre Lefèvre sprechen. Sofort!“
Sionne schluckte schwer. „Monsieur Tréville…bitte versteht doch…der Kardinal hat mir strengste Auflagen gegeben…gerade, was diesen speziellen Gefangenen betrifft…“, würgte er hervor und sein hektisches Keuchen hätte Tréville vielleicht ernsthaft Sorgen bereitet, wäre dieser Mann nicht gerade das Einzige gewesen, was zwischen ihm und einem Ermittlungserfolg stand.
Deshalb beschloss er, dass es ihm egal wäre, wenn Monsieur Sionne hier und jetzt vor ihm erstickte, Hauptsache er würde irgendwie an die Gefängnisschlüssel kommen, die neckisch an Sionnes Gürtel klimperten. Abgesehen davon gefiel er sich eigentlich ganz gut in der Rolle des bösen Hauptmannes. Für einen Moment fühlte er sich sogar versucht, den Tisch mit einem gezielten Tritt umzuwerfen, fand dann aber, dass das der Dramatik dann zu viel wäre und sich zudem für einen königlichen Musketier nicht gebührte. Also zog er einfach jene finstere Miene, die er auch dann einsetzte, wenn einer seiner Männer mal wieder in irgendwelche Händel mit der Roten Garde verwickelt war. Zusätzlich verschränkte er die Arme und stellte sich breitbeinig hin, um Sionne zu demonstrieren, dass er vielleicht nicht das intrigante Geschick Richelieus besass, im Gegensatz zu diesem allerdings körperlich in der Lage war, seine Interessen notfalls mit roher Gewalt durchzusetzen. „Kardinal Richelieu hat mir zugesichert, dass ich mit Monsieur Lefèvre sprechen dürfte. Und ich möchte jetzt mit dem Gefangenen sprechen!“
Monsieur Sionne sah inzwischen aus wie ein Gespenst. „Das mag ja sein, Hauptmann. Aber der rote Richelieu…äh, ich meine natürlich….der ehrenwerte Kardinal hat nichts davon gesagt, dass Ihr zum Gefangenen vorgelassen werden sollt“, sagte er tapfer und stand sogar auf, vermutlich um seinen herausgewürgten Worten noch eine gewisse Tragweite zu verleihen. Sionne war jedoch trotz seiner sorgfältig geputzten Stiefel mit Absatz ein sehr kleiner Mann und ob er nun sass oder stand, er sah immer ein wenig so aus wie ein Kobold.
Tréville nutzte den Grössenunterschied und sah, sehr betont, auf den kleinen Gefängnisvorsteher herab. „Hat er dann explizit gesagt, dass Ihr mich nicht zu Pierre Lefèvre vorlassen sollt?“
Wieder begann Monsieur Sionne hektisch seine Finger zu kneten. „Nun, er hat es nicht direkt so formuliert….aber er hat eben auch nicht gesagt, dass ich Euch zu ihm vorlassen darf…und wie gesagt, er hat befohlen, dass niemand….“, druckste er herum.
Natürlich hatte er das nicht! Das war wieder einer von Richelieus üblichen Finten, die er auf perfide Weise nebenbei ausstreute um seinen Mitmenschen das Leben schwerzumachen. Tréville mochte ihm zwar das Versprechen abgerungen haben, mit Pierre sprechen zu dürfen, allerdings schien der Kardinal es nicht für nötig gehalten zu haben, diese Information an Sionne weiterzugeben, weshalb dieser sich nun querstellte.
Wenn Richelieu glaubte, ein übereifriger Gefängnisvorsteher könne ihn davon abhalten mit Pierre zu sprechen, hatte er sich gehörig geschnitten. Er war schon mit wahrlich schlimmeren Gegnern fertiggeworden. „Ich kann verstehen, dass Ihr keinen Ärger wollt mit Kardinal Richelieu. Aber Ihr wollt bestimmt auch keinen mit mir. Richelieu mag der Minister von Frankreich sein, doch auf meinen Befehl hören gut ausgebildete, kampferprobte Musketiere. Ihr wisst bestimmt, von welchem Schlag meine Männer sind. Lammfromm, wenn ich sie an der Leine habe. Wenn ich diese Leine jedoch lockere…“ Tréville hob in einer hilflosen Geste die Schultern, „verwandeln sie sich gerne mal in Höllenhunde. Lassen keinen Stein mehr auf den anderen.“ Er liess bedeutungsvoll den Blick über die dicken Mauern schweifen, als könne er sich bereits vorstellen, wie seine „Höllenhunde“ diese auseinanderrissen.
Sionne verstand die unterschwellige Drohung und schob den Finger in seinen Kragen, als ersticke er an der Last seiner Verantwortung. Er schwieg eine Weile, offenbar wog er gedanklich ab, was schlimmer wäre: Musketiere, die über sein Gefängnis herfielen oder ein Kardinal, der über ihn herfiel. Dann stiess er erneut einen schweren Seufzer aus und fuhr sich durch die Haare. „Na schön, Monsieur Tréville. Ich wäre allerdings froh, wenn Ihr das dem Kardinal gegenüber nicht erwähnen könntet.“
Das ging schneller als gedacht. „Monsieur Sionne, ich und der Kardinal sind nicht gerade dafür bekannt, dass wir unsere intimsten Gefühle miteinander austauschen. Also seid ganz unbesorgt.“
Die Sorgenfalten standen allerdings immer noch deutlich auf Sionnes Stirn geschrieben, als er die Gefängniszelle aufschloss. „Macht es kurz, Monsieur Tréville. Ich warte draussen. Klopft an die Tür, wenn Ihr rauswollt“, erklärte er noch, bevor er beiseitetrat und Tréville in eines der fürstlichen Gemächer der Bastille einliess.
Sobald er die Zelle betreten hatte, griffen Kälte und Dunkelheit nach ihm. Die Atmosphäre war so bedrückend aufgeladen mi den Geistern der verstorbenen Gefangenen, dass Tréville unwillkürlich zusammenfuhr, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel. Die Schatten der Bastille waren nun einmal lang und wen sie einmal in ihren gefährlichen Klauen hatte, den liess sie nie mehr ganz los. Und dank Maria de Medici hatte auch er einmal zu den Ehrengästen der Bastille gehört.
„Mein lieber Hauptmann! Wie schön, dass Ihr mich besucht. Hattet wohl Sehnsucht nach mir?“
Obwohl noch nicht lange in Haft, hatte der unfreiwillige Aufenthalt schon seine Spuren in Lefèvres Erscheinung hinterlassen. Weg waren die Pfauenfedern und die bunte Kleidung, die blonden Locken waren zerzaust und der Parfümgeruch war dem widerlichen Gestank des Gefängnisses gewichen. Und dennoch war weder der kokette Charme seiner Stimme verflogen, noch das spielerische Feuer aus seinen Augen verschwunden, als er auf Tréville zuschritt, als hiesse er ihn in einem edlen Salon willkommen und nicht in einer verdreckten Zelle.
„So könnte man es in der Tat nennen, Monsieur Lefèvre.“
Pierre seufzte dramatisch. „Das ist mein Schicksal. Ich ziehe schöne Männer an wie das Licht die Motten. Darf ich Euch in Ermangelung anderes Mobiliars mein Bett anbieten?“ Er deutete ein wenig beschämt auf das mottenzerfressene Feldbett. „Zum Sitzen, mein guter Captain, nur zum Sitzen“, fügte er mit einem listigen Lächeln hinzu, als er Trévilles entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkte.
Tréville war dieses zweideutige Gerede und dieses sanfte Umgarnen zwar äusserst unangenehm, zugleich freute es ihn allerdings, dass Pierre so offen und freundlich mit ihm sprach. Die Chancen standen gut, dass der Gastwirt ihm mehr anvertrauen würde, als Richelieu. Also setzte er sich gehorsam auf das Bett, wobei er allerdings darauf achtete, genügend Abstand zwischen sich und Pierre zu lassen, als dieser sich neben ihm niederliess und die Beine übereinanderschlug.
„Leider bin ich nicht hierhergekommen um ein munteres Schwätzchen zu halten.“
Pierre legte sich die Hand über das Herz. „Oh, das ist hart! Allerdings sollte ich vielleicht öfter im Gefängnis landen. Offenbar erregt man nur so die Aufmerksamkeit der grossen Männer unseres Staates.“ Die Bitterkeit in seiner Stimme wirkte so fehl am Platz, wie es Teufelshörner bei einem Engel wären.
„Glaubt mir, ich bedaure Eure Situation sehr. Ich habe versucht den Kardinal umzustimmen.“
Lefèvre senkte den Kopf, dennoch sah Tréville deutlich den Ärger in seinen Augen aufblitzen. Die Maske des munteren Geckes hatte in der Gefangenschaft Risse bekommen und bröselte jetzt langsam auf um den Blick freizugeben auf einen enttäuschten und verängstigten Menschen. Vielleicht würde es doch schwierig werden, sein Vertrauen zu gewinnen.
„Gewiss habt Ihr dass Hauptmann…Allerdings ist mir nicht entgangen, dass ich es wohl Euch und Euren Musketieren zu verdanken habe, dass sich das strenge Auge des Kardinals auf mich gerichtet hat“, sagte Lefèvre und nun war sein vorwurfsvoller Ton unverhüllt.
„Wir konnten nun einmal weder die Tatsache ignorieren, dass mein Musketier im Hinterhof Eures Wirthauses ermorden, noch den Umstand verschweigen, dass Euch mit Robert Dupont ein amouröses Verhältnis verbindet!“, gab Tréville zurück.
Eine hauchzarte Röte stieg in Lefèvres Wangen. „Es ist wohl kaum ratsam für meine Gesundheit und meine Freiheit, wenn ich meine…nun ja…meine Neigungen durch die Strassen von Paris brülle“, grummelte er.
„Mal abgesehen davon, dass Ihr Eure Neigungen nun wahrlich nicht sonderlich gut verbergt, habe ich nicht von Euch verlangt, dass Ihr Eure Liebesbeziehung durch Paris schreit. Und glaubt mir, ich habe schon weitaus schlimmere Geheimnisse bewahrt.“
„Ich verstehe einfach nicht, wieso sich plötzliche alle Welt für meine Liebe zu Robert interessiert.“ Lefèvre stand auf und begann auf und ab zu gehen, die Wut schien ihm auf einmal wieder frische Energie zu verleihen.
„Weil sich daraus ein Mordmotiv ergibt. Angenommen, Robert hat Euch mit Francis betrogen. Dann hättet Ihr einen guten Grund die beiden zu ermorden.“ Es fiel Tréville schwer, diese Vorstellung sein Musketier hätte mit einem anderen Mann zärtliche Berührungen ausgetauscht, auszusprechen. Für ihn war das einfach Sünde. Er war allerdings an einem Punkt angelangt, wo er die Dinge lieber direkt ansprach, anstatt lange um den heissen Brei zu reden.
Entnervt warf Lefèvre die Arme in die Luft. „Mit dieser hirnrissigen Theorie ist auch schon Richelieu gekommen. Selbst wenn ich eifersüchtig auf Francis gewesen wäre, wäre ich wohl kaum so dumm gewesen, ihn ausgerechnet in meinem Wirtshaus zu ermorden. Aber ich war nicht eifersüchtig auf Francis, weil er und Robert kein Techtelmechtel miteinander hatte. Francis war grenzenlos offen, wenn es um die Liebe ging und er war sicher kein Kind von Traurigkeit. Aber er mochte keine Männer. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Er war ganz und gar den Frauen verfallen.“
Das zu hören war eine unglaubliche Erleichterung für Tréville. Er war froh, dass er Francis richtig eingeschätzt hatte. Auch wenn er wusste, dass seine Musketiere alle ihre Geheimnisse vor ihm hatten, hätte es ihn doch beschäftigt, wenn er von Francis in dieser heiklen Sache nicht ins Vertrauen gezogen worden wäre. „Wisst Ihr, ob er eine Geliebte hatte?“
Pierre verdrehte entnervt die Augen. „Oh ja, er war ganz vernarrt in sie.“
„Hiess diese Geliebte zufällig, Fleur Delacroix?“, fragte Tréville unschuldig.
Die Reaktion kam sofort. Lefèvre blieb abrupt stehen und wirbelte so heftig herum, dass die blonden Locken flogen. „Fleur Delacroix?“, echote er ungläubig.
„Wir haben Grund zur Annahme, dass sie die geheimnisvolle Geliebte von Francis ist.“
„Fleur und Francis? Wie kommt Ihr nur auf diese Idee?“ Fassungslos schüttelte Pierre den Kopf. Seine Ungläubigkeit schien nicht im mindestens gespielt zu sein, allerdings war Tréville nicht entgangen, dass er bei der Nennung von Fleur kurz zusammengezuckt war, als sei es ein Thema, dass er lieber vermeiden wollte.
„Francis trug ein Schmuckstück bei sich, das offenbar seiner Geliebten gehörte. Und wir haben Grund zur Annahme, dass es sich dabei um Fleurs Kette handelt.“
„Da müsst ihr euch irren. Fleur war bestimmt nicht die Geliebte von Pierre. Das wüsste ich!“, behauptete Pierre und seine Heftigkeit überraschte Tréville.
„Nun, wir fühlen uns in unseren Verdacht bestätigt, da Fleur spurlos verschwunden ist.“
Da schien Pierre noch mehr aufzuregen. Erregt begann er wieder hin – und herzulaufen, wobei er ausladend mit den Händen rumfuchtelte, als sei er ein übereifriger Schauspieler. „Ich versichere Euch, Fleur hat nichts, aber rein gar nichts mit diesen Morden zu tun!“ Speicheltropfen flogen durch die Luft, als Pierre diese Worte hervorstiess und seine blauen Augen hatten sich so verdunkelt, dass sie aussahen wie der Nachthimmel ohne Sterne. Tréville brauchte kein Genie zu sein, um zu sehen, dass er einen Nerv getroffen hatte. Einen sehr empfindlichen Nerv sogar. Auf jeden Fall schien er Fleur gut zu kennen, sonst würde er nicht so gefühlvoll reagieren. Und genau diese Emotionalität musste er nun ausnutzen.
„Und woher wisst Ihr so genau, dass Fleur es nicht gewesen ist? Vielleicht war es Fleur, die Aramis niedergeschlagen, sein Messer genommen und Francis damit erstochen hat. Vielleicht war es Fleur, die Dupont erwürgt hat. Sie hat es mit einem Seil getan, wisst Ihr? Mit einem ganz schmalen Seil hat sie ihn von hinten erwürgt. Ein grauenhafter Tod, kann ich mir vorstellen. Wenn einem die Luft zum Atmen genommen wird. Vielleicht hat Robert sich noch gewehrt, vielleicht hat er mit den Händen nach hinten gegriffen, im verzweifelten Versuch, seinen Angreifer packen zu können. Und als es ihm nicht gelungen ist, als ihm das Bewusstsein langsam entglitten ist, als ihm klar geworden ist, dass er sterben wird, vielleicht hat er da noch an Euch gedacht, an Eure Liebe und die Zukunft, die ihr nie hattet und nun auch nie haben werdet…"
„Seid still“, Pierre schrie nun, während ihm die Tränen in die Augen stiegen, „seid endlich still!“
Es machte Tréville keinen Spass, den armen Mann so zu quälen. Er war immer schon in der Lage gewesen, in brenzligen Momenten die nötige Härte zu entwickeln, um das Richtige tun zu können. Auch wenn das Richtige schmerzhaft war. Mit Samthandschuhen kam man manchmal einfach nicht mehr weiter. „Robert ist still. Für immer. Denn er ist tot. Genau wie Francis. Ich werde nie mehr hören, wie er im Hof die Rekruten zusammenstaucht, nie mehr sein ausgelassenes Lachen hören, nie mehr hören, wie er mir einen guten Morgen wünscht. Ihr seid nicht der Einzige, der trauert, Monsieur Lefèvre! Francis war mein Musketier und er hatte etwas Besseres verdient, als in einem heruntergekommenen Hinterhof niedergestochen zu werden. Und wenn es Fleur war, die es getan hat, dann werden weder Gott noch Ihr, sie vor meinem Zorn schützen können.“
Auch Tréville war nun laut geworden und Pierre sah ihn mit grossen, weit aufgerissenen Augen an. In seiner Jugend war er so jähzornig gewesen, dass seine Mutter beinahe verzweifelt wäre. Jetzt hatte Tréville sein Temperament gut im Griff. Wohldosiert eignete es sich allerdings ausgezeichnet um andere einzuschüchtern. Bei Pierre funktionierte es auf jeden Fall. Seine Hysterie nahm jedenfalls schlagartig ab, wie ein Häufchen Elend sank er wieder neben Tréville auf das Bett. „Ich schwöre Euch, Fleur hat es nicht getan. Meine Fleur würde niemals so etwas tun.“
Genau auf ein solches Geständnis hatte Tréville gelauert. „Meine Fleur? Das klingt nach mehr als nur nach einer flüchtigen Bekanntschaft!“
Pierre hatte das Gesicht in den Händen vergraben, als wolle er sich vor der Welt und ihren Grausamkeiten verstecken. Er weinte nicht, er schluchzte nicht, er schwieg einfach, ein stummes Bild der Erschütterung. Tréville liess ihm einen kurzen Moment um sich zu sammeln. „Monsieur Lefèvre, bitte redet mit mir. Ich bin kein politischer Ränkeschmied wie Richelieu, ich will nur den Mörder finden. Wenn Ihr mir sagt, was Ihr wisst, kann ich Euch aus dem Gefängnis holen. Und Fleur vielleicht davor bewahren, wenn sie wirklich nichts damit zu tun hat.“
Pierre liess die Hände sinken und sah ihn an, erst voller Misstrauen, dann jedoch wurde sein Blick weicher. Die trotzige Mauer bekam Risse. Tréville spürte, dass er auf dem richtigen Weg war. Hier war ein Mann, der verlassen von allen Freunden in einer feindlichen Umgebung gefangen war und der verzweifelt versuchte, seine Geheimnisse festzuklammern. Und er sehnte sich danach, zumindest ein paar seiner Geheimnisse jemanden anzuvertrauen, um sich von dieser Last zu befreien.
„Ihr seid ein guter Mann, Monsieur Tréville. Und ich weiss, Ihr haltet Eure Versprechen. Schwört Ihr mir, dass Ihr das, was ich Euch jetzt sage, nicht dem Kardinal verraten werdet?“
„Das kann ich Euch nur versprechen, wenn Ihr mir versichert, dass Euer Geheimnis nichts beinhaltet, was Frankreich schaden könnte.“
Pierre hob eine Augenbraue. „Das ist seltsam, Hauptmann. Ich dachte, Ihr und der Kardinal seid Euch spinnefeind.“
„Oh, ich kann Euch versichern, wir hassen uns aus tiefstem Herzen. Aber das lässt uns nicht blind sein, für die Vorzüge des anderen. Der Kardinal ist ein furchtbarer Feind, aber der beste Freund, den sich Frankreich nur wünschen kann. Und um ein guter Freund zu sein, muss er alles über das launische, unruhige Land wissen, dass er so sicher steuert.“
Ein Lächeln zuckte um Pierres Mundwinkel. „Die meisten Menschen sind nicht halb so gut wie ihr Ruf. Bei Euch ist es umgekehrt. Euer Ruf wird Euch nicht gerecht. Ihr seid wahrlich grossmütig, wenn Ihr so achtungsvoll von Eurem Todfeind sprechen könnt. Respekt ist selten in diesen Tagen.“
„Ich habe auch Respekt vor den Geheimnissen anderer Menschen. Wenn es nichts ist, was den König und das Land gefährdet, werde ich auch das Eure hüten. Sogar vor den neugierigen Ohren des Kardinal.“
Pierre sah ihn lange an, als wolle er seine Seele ergründen. Dann – und Tréville hätte bei diesem Anblick am liebsten gejubelt – nickte er bedächtig. „Vielleicht ist reden tatsächlich der einzige Weg, Fleur noch einigermassen unbeschadet aus der Sache rauszubringen.“ Wieder ein schwerer Seufzer, dann bedrücktes Schweigen. Der Hang zur Dramatik war trotz Gefängnis offenbar noch intakt.
Als er die dramatische Pause als lang genug befand, sprach er weiter: „Ihr und Eure Musketiere habt natürlich Recht. Fleur ist tatsächlich nicht die, die sie zu sein scheint. Und Ihr habt auch Recht mit Eurer Vermutung, dass wir uns kennen. Fleur und ich sind zusammen aufgewachsen. Wir waren wie Geschwister. Und als ich mein Wirtshaus eröffnete, wurde sie eins meiner Mädchen.“
Tréville brauchte eine Weile bis er den vollen Umfang dieser Worte begriff. „Eines Eurer Mädchen?“
„Eines meiner Freudenmädchen um genau zu sein“, gab Pierre freimütig zu.
Da klappte Tréville die Kinnlade runter. Mit dieser Enthüllung hatte er jetzt nicht gerechnet. Und wie konnte das überhaupt sein? Palastzofen wurden sehr sorgfältig ausgewählt. Immerhin hatten sie Zutritt zu allen Gemächern und kannten meistens auch die Geheimgänge besser als jeder andere Bewohner des Palastes. Auch wenn Zofen keine so hohe Stellung genossen wie die Hofdamen, so wurde doch streng darauf geachtet, dass sie aus rechtschaffenen Familien kamen und einen untadligen Ruf besassen. Beiden Dinge, die auf Fleur wohl alles andere als zutrafen. „Aber wie kam sie dann in den Palast?“
Pierre richtete sich auf, sichtlich stolz. „Ich habe sie dorthin gebracht! Fleur hatte etwas Besseres verdien, als betrunkenen Männern auf dem Schoss rumzurutschen! Inzwischen läuft mein Wirtshaus so gut, dass ich das meinen Mädchen nicht mehr zumuten muss, aber am Anfang gab es bei uns noch kein ‚Nein‘. Aber Fleur ist eine kluge, pfiffige und schöne Frau, die es ebenso versteht leichte Konversation zu machen, wie geistreiche Diskussionen zu führen. Sie gehört nicht in die schmutzigen Gassen von Paris, sie gehört in die edlen Salons der hohen Damen. Und da habe ich…Beziehungen spielen lassen. Ihr eine blütenweisse Vergangenheit verpasst. Noch einmal ein paar Beziehungen spielen lassen. Ihr die Stellung im Palast verschafft.“
„Ihr müsst über ein beeindruckendes Beziehungsgeflecht verfügen“, bemerkte Tréville staunend.
Jetzt trat ein triumphierendes Leuchten in die klaren blauen Augen Pierres. „Mit meinem Wissen kann ich halb Paris erpressen, glaubt mir. Und es gibt viele, die mir einen Gefallen schulden oder mein Schweigen erkaufen wollen.“
Wenn sich Tréville das Gasthaus vors geistige Auge rief, konnte er sich lebhaft vorstellen, dass dort einige Sünden begangen wurden. Vielleicht sollte er in der Garnison auch ein solches Lokal einrichten, um so Erpressungsmaterial gegen seine Feinde sammeln. Porthos würde sicher ein gutes Schankmädchen abgeben. „Gut, Ihr habt Fleur also in den Palast gebracht, wo sie eigentlich nicht hingehört. Aber was hat das mit dem Mord zu tun?“
Pierre verdrehte die Augen. „Das versuche ich Euch ja die ganze Zeit zu erklären: Fleur hat eben nichts mit dem Mord zu tun!“
„Wenn sie nichts mit dem Mord zu tun hat, wieso ist sie dann verschwunden?“
„Weil wir offenbar nicht mehr die einzigen sind, die um unser Geheimnis wissen. Sie kam völlig panisch zu mir gelaufen, das arme Ding und hat mir erklärt, sie müsse unbedingt aus Paris verschwinden, weil jemand dahinter gekommen ist, dass ihre Vorgeschichte erstunken und erlogen ist.“
Tréville fühlte die Enttäuschung wie einen schweren Stein im Magen. Natürlich könnte es sein, dass Pierre log um Fleur zu schützen, aber so recht mochte er nicht daran glauben. Pierre machte auf ihn einen aufrichtigen Eindruck und so recht mochte er sich auch nicht vorstellen, dass dieser Lebemann sich in dunkle Intrigen verwickeln liess. Also schon wieder eine falsche Spur. Genau wie bei Ellen hatten sie ein Rätsel gelöst und wie bei Ellen brachte sie es keinen Schritt weiter.
Dennoch bohrte er weiter nach. „Fleur flüchtet, weil jemand herausgefunden hat, dass ihre Vergangenheit nicht ganz sauber ist?“
„Monsieur Tréville, ich brauch Euch wohl kaum daran zu erinnern, dass am französischen Hof, der Stammbaum alles ist. Und ich brauche Euch auch nicht daran zu erinnern, dass man den Adeligen zwar jede Lügerei vergibt, sich diese Toleranz aber gewiss nicht auf einfache Bedienstete erstreckt. Wenn Fleur auffliegt, wird ihr jedes Verbrechen, dass jemals im Louvre verübt worden ist, angelastet. Einfach, weil es bequem ist, einer ehemaligen Hure die Schuld in die Schuhe zu schieben!“
Wieder war Pierre laut geworden und Tréville hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände. „Schon gut, ich gebe zu, Fleur hatte wahrscheinlich wirklich Grund zu fliehen.“ Zumal Louis manchmal ganz schön hart sein konnte, wenn er seinem Beinamen „Louis der Gerechte“ alle Ehre machen wollte. „Habt Ihr denn eine Ahnung, wer von dem Geheimnis erfahren hat?“
Pierre schüttelte den Kopf. „Da fragt Ihr mich zu viel. Fleur war zu aufgebracht um irgendetwas näher erzählen zu können.“
„Und als Fleur zu Euch kam, habt Ihr ihr zur Flucht verholfen?“
„Ja. Rückblickend betrachtet hätte ich es vielleicht nicht tun sollen. Denn damit habe ich wohl Euren Verdacht noch mehr erhärtet.“ Pierre grinste schief.
Das klang wirklich alles sehr überzeugend und schlüssig. Und es war schwer zu glauben, dass sich hinter diesem Engelgesicht Hinterlist und Mordgedanken lauerten. Allerdings war Pierre zweifellos ein guter Schauspieler, der immerhin Richelieus Verhörmethoden widerstanden hatte.
„Sagt mir, wo Fleur ist, damit ich mit ihr reden kann und Euer Fehler ist wieder ausgebügelt.“
Die Kornblumenaugen glitten erneut prüfend über Trévilles Gestalt. Wahrscheinlich gehörte das zu Pierres Leben. Den Gesprächspartner abschätzen und abmessen, wissen, ob man sich ihm anvertrauen kann oder ob man die eine Seite seines Charakters sorgfältig verbergen musste. Wenn man so lebte wie Pierre, musste man behutsam vorgehen, wie eine misstrauische Katze auf Samtpfoten. ‚Ich könnte halb Paris erpressen‘ hatte er gesagt und er nutzte dieses Wissen offenbar um sich Vorteile zu verschaffen. Das war mehr als nur gefährlich, wenn man selbst so angreifbar war.
„Ich sage Euch, wo Fleur ist, wenn Ihr mir versprecht, dass Ihr dafür sorgt, dass sie an Hof zurückkehren und ihre Stellung behalten kann.“
„Ihr verlangt ganz schön viele Versprechen von mir, Monsieur Lefèvre.“
Ein raubtierhaftes Grinsen. „Ich bin Geschäftsmann.“
„Ich verstehe nicht ganz, was daran ein Geschäft sein soll. Wenn ich nicht mit Fleur reden kann, kann ich sie nicht entlasten. Ganz einfach.“
Pierre legte die Fingerspitzen aneinander und spitzte nachdenklich die Lippen. „Dann muss ich mein Angebot wohl erhöhen. Wenn es Euch gelingt, meine Fleur heil aus dieser Sache zu bekommen, erzähle ich Euch, wieso der Kardinal so wütend auf mich ist. Und glaubt mir, diese Geschichte wollt ihr unbedingt hören.“
Dieser Pierre war wirklich ein schlauer Fuchs. Tatsächlich war Tréville brennend an dieser Geschichte interessiert. Sie musste auf jeden Fall hörenswert sein, wenn Richelieu so erpicht darauf war, Pierre einzusperren. „Ich werde mein Möglichstes tun, um Fleurs Ansehen wieder herzustellen“, stimmte er schliesslich zu. Wenn das Mädchen tatsächlich unschuldig war, hatte sie diesen gesellschaftlichen Abstieg ohnehin nicht verdient.
Und so verriet Pierre Tréville endlich das Geheimnis von Fleurs Aufenthaltsort.
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Constance war gerade damit beschäftigt, Stoffbahnen auf dem Tisch auszubreiten, als schweres Poltern auf der Treppe, Porthos‘ Ankommen ankündigte. Das überraschte sie. Bis jetzt hatte Porthos das Krankenzimmer nur verlassen um sein Geschäft zu erledigen oder um möglich schnell etwas zu essen in sich reinzustopfen. Er schien entschlossen zu sein, Aramis keine Sekunde aus den Augen zu lassen, als hätte er Angst, dass sich die Krankheit verschlimmern könnte, sobald er einen Fuss aus dem Zimmer setzte. Und doch war es Porthos, der in den Raum trat und sich mit einem missmutigen Grummeln auf einen Stuhl sinken liess.
„Wie komme ich denn zu dieser Ehre?“, begrüsste ihn Constance, während sie nach der Schere griff.
„Bruder Mathias ist bei ihm. Um ihn zu untersuchen. Und Aramis fand, ich hätte ihn nun schon wahrlich oft genug mit nacktem Oberkörper gesehen.“
Die Tatsache, dass Aramis wieder Schamgefühl entwickelte, war ein gutes Zeichen. Trotzdem sah Porthos mehr als nur angesäuert aus. Aus Erfahrung wusste Constance, dass es besser war, den hitzköpfigen Musketier erst einmal abkühlen zu lassen. Wenn man ihn ausquetschte, wenn es innerlich noch brodelte, bekam man ohnehin nur schnippische Antworten. Also konzentrierte sich Constance wieder auf ihre Stoffe, die sie mit geübter Hand zuschnitt.
„Ich dachte, dein Mann sei der Schneider?“, fragte Porthos nachdem er sie eine Weile schweigend beobachtet hatte.
„Mein Mann ist aber nicht hier. Und weil er trotz seiner Reise nicht auf die Aufträge verzichten wollte, darf ich jetzt die Kleider fertigstellen.“ Sie war überrascht, wie bitter sie klang. Früher war sie zufrieden gewesen mit ihrem Leben. Nicht glücklich, wie hätte sie das sein können mit einem einfältigen Mann an ihrer Seite, den sie nicht liebe und der sie behandelte, als sei sie seine Dienstmagd. Früher hatte es ihr nichts ausgemacht, ihrem Mann bei der Arbeit zu helfen, im Gegenteil, sie hatte es als willkommene Abwechslung empfunden. Doch dann waren d’Artagnan und seine Freunde in ihrem Leben aufgetaucht und hatten sie daran erinnert, dass das Leben mehr war als muffige Stoffe und griesgrämige Ehemänner.
„Er hat dich nicht verdient, Constance.“
Sie sah überrascht auf. Porthos war immer freundlich zu ihr gewesen, aber er hatte sich noch nie so direkt zu ihrer Ehe geäussert. Als d’Artagnan und sie noch geglaubt hatten, ihre Liebe könne mehr sein als ein schöner Traum, hatten seine drei Freunde einfach so getan, als existiere ihr Ehemann nicht und als sei sie eine ungebundene Frau. Dass der raubeinige Porthos, der in seinem Soldatenleben aufging, Verständnis für ihre Situation aufbrachte, rührte sie.
„Wir bekommen selten das, was wir verdienen.“
Wie aufs Stichwort hörten sie Aramis husten, ein auf schreckliche Art und Weise vertrautes Geräusch. Beide zuckten erschrocken zusammen und lauschten mit angehaltenen Atem bis der Hustenanfall verebbt war. Porthos biss sich auf die Lippen. Das Leiden seines Freundes schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten.
„Der Idiot will, dass ich nach Paris zurückkehre“, platzte er schliesslich heraus.
Constance nahm einfach mal an, dass mit Idiot Aramis gemeint war. „Vielleicht“, sagte sie, so behutsam, als rede sie mit einem kleinen Kind, „vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.“
Porthos wirkte wie vor den Kopf geschlagen. „Wollt ihr mich etwa loswerden?“
Seit Constance mit d’Artagnan unter einem Dach gelebt hatte, wusste sie sehr genau, wie man mit empfindsamen Männerseelen umging. Und sie wusste auch, dass man sich nicht einschüchtern lassen durfte, egal wie laut sie knurrten. „Porthos, ich kann ja verstehen, dass du bei ihm sein willst. Aber ich verstehe auch, dass er sich Sorgen um d’Artagnan und Athos macht. Und dass er sich wünscht, dass sein Name wieder reingewaschen wird.“
„Verdammt, ihr tut ja gerade so, als seien Athos und d’Artagnan unfähige, kleine Kinder auf die man achtgeben muss!“, schimpfte Porthos.
Constance verkniff sich die Bemerkung, dass sich in ihren Augen alle vier Männer kindisch verhielten. „Darum geht es nicht. Verstehst du nicht: Sosehr Aramis Athos und d’Artagnan liebt, niemanden vertraut er so sehr wie dir. Und an niemanden glaubt er so sehr. Er ist der festen Überzeugung, dass nur du diesen geheimnisvollen Mörder finden kannst! Und abgesehen davon, spürt er doch, dass es dir in den Fingern juckt, dich wieder ins Abenteuer zu stürzen“, fügte sie mit mildem Lächeln hinzu und deutete mit dem Kinn vielsagend auf Porthos‘ wippenden Fuss, ein deutliches Zeichen dafür, dass dem freiheitsdurstigem Mann die Bewegung fehlte.
„Aber ich kann ihn nicht alleine lassen!“, begehrte Porthos auf und fuhr sich verzweifelt it das Hand durch die dicken Locken.
„Du lässt ihn nicht alleine. Bruder Mathias ist hier. Ich bin hier.“
„Er ist noch immer nicht gesund.“
„Wenn du warten willst bis er wieder gesund ist, wirst du noch Wochen an seinem Bett sitzen müssen. Das Schlimmste zumindest ist überstanden. Und wer weiss, vielleicht wird auch seine Genesung schneller voranschreiten, wenn er weiss, dass es einen Ort gibt, wohin er zurückkehren kann.“
Porthos rang mit sich, das konnte Constance an seiner Brust sehen, die sich mit schweren Atemzügen hob. Und sie verstand seine Gewissenskonflikte. Sie würde auch verstehen, wenn er sich entschloss, zu bleiben. Sie wollte einfach, dass er sich Aramis‘ Ansinnen ernsthaft überlegte.
„Und du würdest auf ihn aufpassen?“, fragte er schliesslich und die Angst in seiner Stimme war so greifbar, dass Constance ihn am liebsten tröstend in die Arme genommen hätte.
Stattdessen legte sie ihm sanft die Hand auf den Arm. „Ich lasse ihn nicht gehen, Porthos. Das verspreche ich.“
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Kapitel Das Wort der Seherin
Kapitel 28
Das Wort der Seherin
„Wenn Jacques wirklich ein englischer Spion ist…dann ist Francis ihm vielleicht auf die Schliche gekommen. Und musste deshalb sterben.“ D’Artagnan schwankte zwischen Begeisterung, endlich eine Spur gefunden zu haben, die nicht mit irgendwelchen Weibergeschichten zusammenhing und zwischen Entsetzen, das sich hier, im Herzen von Frankreich tatsächlich Spione eingenistet hatten. Wer konnte schon wissen, was diese schon alles an Informationen zusammengetragen und weitergeleitet hatten?
Athos hatte das Kinn nachdenklich in die Hand gestützt. „Möglich…und Francis hat es vielleicht Robert erzählt, weshalb Jacques auch diesen auslöschen musste.“
Da hatte d’Artagnan einen jähen Geistesblitz. „Vielleicht war es das, was Francis Aramis erzählen wollte! Aus irgendeinem Grund wollte Francis doch mit Aramis und zwar alleine. Deshalb sind sie aus der Gaststube verschwunden und sind in den Hinterhof gegangen, weil Francis ihm unter vier Augen mitteilen wollte, dass er Spione entlarvt hat! Jacques muss begriffen haben, dass Francis ihm auf der Spur war, ist ihm gefolgt, hat ihn erstochen und den Mord Aramis in die Schuhe geschoben. So hatte er auch gleich noch einen Sündenbock.“
Sein Freund machte eher einen skeptischen Eindruck. „Meinst du nicht, Aramis hätte uns von diesen Spionen erzählt?“
„Aramis hat sich doch an nichts mehr erinnert. Erst wegen dem Schlag auf dem Kopf und dann wegen seinem hohen Fieber. Aber dass er ihm etwas Wichtiges sagen wollte, daran erinnert er sich noch. Spione sind ja wohl etwas ziemlich Wichtiges!“
„Da hast du zweifellos Recht.“ Dennoch schien Athos noch immer nicht recht von der Theorie überzeugt zu sein. Er tippte sich nachdenklich mit dem Finger gegen das Kinn. „Aber wie hat Francis es herausgefunden? Wo ist die Verbindung zwischen ihm und Jacques?“
„Vielleicht hat Francis bei Jacques gebeichtet?“, schlug d’Artagnan vor.
„d’Artagnan, ich weiss ja nicht, wie du beichtest, aber im Normalfall ist es so, dass der Sünder dem Priester von seinen Missetaten berichtet und nicht umgekehrt“, entgegnete Athos schnippisch.
So schnell liess d’Artagnan sich nicht von seiner Fährte abbringen. Er grübelte weiter. Gut, Francis und Jacques hatten vielleicht keine sichtbare Verbindung zueinander. Aber wer konnte schon wissen, was der feine Priester so trieb? Vielleicht war er ebenso Stammgast in der Fröhlichen Gans wie Francis und Robert. Vielleicht waren sie miteinander ins Gespräch gekommen, hatten sich angefreundet und irgendwie war Francis dann misstrauisch geworden und hatte nachgeforscht. Er war ein Musketier gewesen und ein guter noch dazu, seine Instinkte könnten ausgeschlagen haben, er könnte angefangen haben, nachzuforschen…
Er machte den Mund auf um Athos erneut begeistert von seiner Theorie zu erzählen, liess es dann aber sein. Selbst nach seinen eigenen Massstäben waren das zu viele „vielleicht“ und „wenn“. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Wir denken vollkommen falsch. Er ist nicht Jacques auf die Schliche gekommen, sondern Fleur!“
„Wie, du denkst…Fleur ist auch eine Spionin?“
„Natürlich!“ d’Artagnan war zu aufgeregt um länger still sitzen zu können, er sprang auf und begann hektisch auf und ab zu gehen. „Es sind mehrere Spione oder? Das geht aus den Briefen hervor. Der Kuckuck ist ins Nest geflogen… damit muss Fleur gemeint sein! Als Zofe getarnt konnte sie sich in aller Seelenruhe Informationen aus dem Palast beschaffen und hat diese in verschlüsselten Briefen an Jacques weitergegeben. Dann hat sie eine Affäre mit Francis begonnen, er ist ihr auf die Schliche gekommen und sie mussten ihn deswegen beseitigen.“
„Das wäre möglich“, räumte Athos ein, „nur, wie kommt eine englische Spionin als Zofe in den Palast? Sie muss irgendwelche Empfehlungen gehabt haben.“
„Vielleicht hatte sie die. Es muss ja nicht sein, dass sie Engländerin ist. Es kann doch sein, dass sie Französin ist und umgedreht wurde.“
Jetzt schien Athos angebissen zu haben. Er wirkte mit einem Schlag viel munterer. „Wenn man diese Theorie weiterstrickt, können wir davon ausgehen, dass Jacques als Mittelsmann zu England fungiert. Möglicherweise ist er auch die Person, die Fleur dazu gebracht hat, ihr Land zu verraten.“
D’Artagnan nickte. Das konnte er sich gut vorstellen. Jacques wirkte wirklich wie eine Spinne, die im Hintergrund ihre Fäden zog und er erinnerte sich noch gut daran, wie aufgelöst Fleur bei Isaacs Beerdigung gewesen war. „Frauen“, bemerkte d’Artagnan weise, „sind ja bekanntlich leicht manipulierbar.“
Athos zog eine Augenbraue hoch, auf jene spöttische und herablassende Weise, die er so gekonnt beherrschte. D’Artagnan hätte schwören können, dass Athos heimlich vor dem Spiegel übte um diesen Blick so gut hinzukriegen. „So so, Frauen sind leicht manipulierbar. Und was ist dann mit dir?“
D’Artagnan plusterte sich empört auf. „Also bitte! Ich würde niemals für England spionieren, nur weil mir eine Frau schöne Augen macht!“
„Und wie war das noch einmal mit Milady? Du bist ihr nachgehechelt wie ein Hündchen!“
Das tat weh. Die Tatsache, dass er Athos‘ schöner Frau um ein Haar verfallen wäre, nagte tatsächlich noch immer an seinem Selbstbewusstsein. Auf der anderen Seite war es ein gutes Zeichen, dass Athos jetzt schon Witze über dieses Thema reissen konnte. Noch vor ein paar Monaten hätte Athos bei der blossen Erwähnung Miladys erst einen Tobsuchtanfall gekriegt, hätte ein paar Stühle zerhauen, sich dann volllaufen gelassen und hätte sich dann schmollend mit einem Krug Bier in die Ecke verzogen. „Das war einmal, Athos! Inzwischen bin ich viel misstrauischer geworden!“
Athos seufzte schwer. „Ach, Junge, Misstrauen ist nicht unbedingt eine Charaktereigenschaft, die du dir aneignen solltest. Es macht auch viel kaputt.“
Auch wenn d’Artagnan es auf den Tod nicht leiden konnten, wenn ihn seine Freunde als „Junge“ betitelten, als sei er gerade einmal drei Jahre alt, verzichtete er auf eine scharfe Antwort, weil ihm die offensichtliche Sorge in Athos‘ Stimme rührte. Er fand aber, dass in die scharfen blauen Augen wieder ein gefährlich nostalgischer Ausdruck getreten war und wollte das Gespräch wieder in ungefährlichere Gewässer steuern. „Wir gehen also davon aus, dass Pater Jacques und Fleur Spione sind“, fasste er zusammen.
„Und dass sie verantwortlich sind für Francis‘ und Roberts Tod. Wenn wir es ihnen nachweisen können, können wir Aramis von jeglicher Schuld reinwaschen.“
„Also zumindest von der Schuld an Francis‘ Tod“, ergänzte d’Artagnan mit schiefem Lächeln. Sosehr er Aramis mochte, er bezweifelte ernsthaft, dass dieser jemals in seinem Leben unschuldig gewesen war. Höchstens als frisch geborener Säugling.
„Um Fleur kümmert sich Tréville. Bleibt nur noch Jacques für uns.“
„Du klingst wie ein Jäger, der auf seine Beute anlegt.“
Das Grinsen, das sich über Athos‘ Züge legte war mehr als nur ein wenig böse, es war das Lächeln des Teufels. „Richtig, d’Artagnan. Und glaub mir, ich bin ein sehr guter Jäger!“
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„Ich finde wirklich, dass das eine blödsinnige Idee ist!“
Mathias beobachtete kopfschüttelnd wie sich sein Patient mühsam zur Bettkante kämpfte. Aramis hatte nichts mehr an sich von der leichten Eleganz, die Musketieren anhaftete, er wirkte wie ein altersschwacher Käfer der über das Bett krabbelte. Dennoch reichte es für einen zornigen Blick.
„Ich möchte aufstehen, nicht die Seine durchschwimmen“, knurrte Aramis verstimmt, während er sich mit der einen Hand auf dem Bettpfosten abstützte. Seine Brust hob und senkte sich schwer, ein deutliches Zeichen für Mathias, dass alleine das Aufsetzen ihn bereits angestrengt hatte.
„Jetzt seid doch vernünftig. Was spricht dagegen, wenn Ihr Porthos im Bett verabschiedet? Ich bin sicher, Euer Freund hätte Verständnis dafür. Zumal er Euch mit so viel Hingabe gepflegt hat.“ Von mir ganz zu schweigen, fügte er in Gedanken hinzu. Er sah Aramis schon mit zerbrochenen Gliedern am Fuss der Treppe liegen.
Aramis schien seine Bedenken jedoch nicht zu teilen. „Es ist wichtig, weil mir der Idiot sonst nicht glaubt, dass ich wieder gesund werde.“ Mit verbissener Miene zog Aramis sich am Bettpfosten hoch und schaffte es tatsächlich zu stehen, wenn auch auf wackligen Beinen.
„Ich weiss nicht ob der Idiot sich leichter überzeugen lässt, wenn Ihr ihn im Nachthemd und von oben bis unten zitternd gegenübersteht“, wandte Mathias ein. Tatsächlich sah Aramis eher aus wie ein Gespenst als wie ein langsam genesender Mensch.
Doch so langsam seine Kräfte auch zurückkamen, seine Sturheit schien Aramis schon vollumfänglich zurückgewonnen zu haben. So duldsam er vor ein paar Tagen noch alles über sich ergehen liess, so widerspenstig gebärdete er sich nun, was laut Constance zwar ein gutes Zeichen war, Mathias‘ aber ohnehin schon angegriffene Nerven den Rest gab.
„Ich möchte mir auch einfach mal ein bisschen die Beine vertreten. Ich liege schon viel zu lange in diesem Bett.“ Er warf einen zornigen Blick auf die zerwühlten Kissen, als hätten diese ihm ein persönliches Unrecht getan. Dann holte er tief Luft, bevor er den ersten Schritt tat, der allerdings auch sein letzter war. Wie Mathias vorausgesehen hatte, war Aramis noch nicht stark genug für solche Expeditionen und brach zusammen.
Mit einem beherzten Sprung gelang es Mathias gerade noch Aramis aufzufangen. Allerdings kippte Aramis um wie ein nasser Sack und war deshalb trotz des erlittenen Gewichtsverlusts zu schwer für Mathias. In einem Knäuel aus Armen und Beinen landeten die beiden ungraziös am Boden.
„Was treibt ihr beiden da eigentlich?“
Constance stand mit verschränkten Armen und einer steilen Zornesfalte auf der Stirn im Türrahmen. Ihr missbilligender Blick glitt über die beiden und blieb schliesslich an Aramis‘ leichenblassem Gesicht hängen. „Monsieur Aramis ist der Ansicht, dass er schon gesund genug ist, dass Bett zu verlassen“, klärte Mathias sie so sogleich auf und deutete mit dem Zeigefinger auf den Angeklagten, der zumindest den Anstand hatte, schulbewusst zu erröten.
„Und wieso genau willst du das Bett genau jetzt verlassen?“
Da Aramis nicht antwortete, erklärte Mathias ihr es. „Er will Monsieur Porthos verabschieden.“
„Und das kannst du nicht vom Bett aus weil…“
„Ich mich nicht länger fühlen möchte wie ein bettlägeriger Grossvater!“, fauchte Aramis.
Mathias erwartete eigentlich, dass Constance Aramis ordentlich die Meinung geigen und ihn dann ohne Umschweife ins Bett zurückbefördern würde. Er kannte sie inzwischen gut genug um zu wissen, dass Madame Bonacieux nicht viel Federlesen machte und sich trotz ihrer geringen Körpergrösse auch nicht scheute Gewalt anzuwenden, wenn es darum ging, ihrem störrischen Sorgenkind den Kopf zurechtzurücken. Doch zu Mathias Überraschung seufzte Constance nur, hielt Aramis dann die Hand hin und zog ihn hoch. „Na, dann komm. Porthos packt schon seine Sachen zusammen.“
Mathias sprang auf die Füsse. Empörung hämmerte in seinen Schläfen. „Madame Bonacieux! Ihr unterstützt dieses wahnwitzige Vorhaben auch noch? Der Mann gehört ins Bett“, polterte er und deutete vielsagend auf Aramis‘ schon wieder zitternde Beine.
Constance verdrehte die Augen. „Ganz meine Meinung. Aber wenn wir ihn jetzt nicht die Stufen runterhelfen, wird er die Treppen selbst hinuntergehen, stürzen, sich dabei das Genick brechen und unsere ganze harte Arbeit war umsonst. Also erfüllen wir ihm seinen Wunsch, dann gibt er Ruhe und ich muss d’Artagnan nicht erklären, dass sein Freund leider bei einem Treppensturz ums Leben gekommen ist.“
„Nun gut, das mag stimmen“, räumte Mathias ein, „aber ich übernehme keine Verantwortung für diese lebensgefährliche Aktion!“
„Den Weg nach unten wird er schon noch schaffen. Ausser ein verrückter Aktmörder lauert hinter der Türe.“
„Er ist immer noch wacklig auf den Beinen…“
„Er ist übrigens auch noch anwesend“, beschwerte sich Aramis.
„Ihr habt Fieber, Ihr seid nicht zurechnungsfähig“, entgegnete Mathias scharf.
„Ich bin völlig zurechnungsfähig und ich werde jetzt da runtergehen!“, verkündete Aramis und an der Art wie er das Kinn vorschob war zu erkennen, dass jedes weitere Wort verschwendeter Atem wäre. Irgendwie war er bedeutend pflegeleichter gewesen, als er noch stöhnend im Bett gelegen hatte.
„Zieh dir aber erst etwas über“, riet Constance ihm mit süffisantem Grinsen, „weisst du, das Nachthemd enthüllt Stellen, die Porthos vielleicht lieber nicht sehen möchte.“
Besagter Porthos sah sehr verdutzt aus der Wäsche, als sich Aramis, gestützt von Constance und Mathias die Treppe hinunterquälte. Mal abgesehen davon, dass sie sich bewegten wie eine äusserst schwerfällige Schildkröte trug Aramis auch noch einen geschmacklosen lila Morgenmantel von Monsieur Bonacieux, der mit Bienen und Schmetterlingen bestickt war.
„Aramis? Was soll das? Du gehörst ins Bett!“, schimpfte Porthos, als sie endlich die letzte Stufe heruntergeklettert waren, erstaunlicherweise ohne, dass sich jemand von ihnen das Genick gebrochen hatte.
Aramis lächelte nur und schlang dann die Arme um seinen Freund. „Pass auf dich auf, Porthos. Du weisst, Paris ist gefährliches Pflaster und ich bin nicht da, um deinen Rücken zu decken.“ Er sprach es leichthin, aber Mathias kannte Aramis inzwischen gut genug, um die ehrliche Sorge zu sehen, die in den dunklen Augen aufflackerte.
„Ja, was mache ich nur ohne meinen bunten Flattervogel, der mich beschützt. Wo doch die Gauner vermutlich schon beim Anblick dieses auffallend geschmacklosen Federkleids die Flucht ergreifen würden“, spöttelte Porthos mit einem vielsagenden Blick auf Aramis‘ bunter Aufmachung. Dann wurde er jedoch schlagartig ernst und presste kurz seine Stirn an die seines Freundes. „Ich werde den Mörder von Francis finden und deinen guten Namen wiederherstellen. Das schwör ich dir!“
„Ich weiss nicht, ob ich überhaupt je einen guten Namen hatte, den man wiederherstellen kann“, meinte Aramis mit leisem Lachen, als er sich von Porthos löste.
„Na ja, bei den Ladys dürfte er etwas angeknackst sein, aber es wird schon noch den einen oder anderen guten Mann geben, der etwas von dir hält.“ Porthos drückte Aramis ein letztes Mal die Schulter, dann wandte er sich an Constance und Mathias. „Constance, Bruder Mathias, es gibt keine Worte, mit denen ich euch beiden dafür danken kann, dass ihr Aramis wieder auf die Beine gebracht hat. Naja zumindest wieder einigermassen auf die Beine.“ Sein Blick ruhte auf Aramis, der sich inzwischen schweratmend am Treppengeländer abstützte.
Constance winkte verlegen ab. „Du brauchst uns nicht zu danken. Aramis ist auch mein Freund.“
„Ich habe gerne geholfen“, fügte Mathias hinzu und das stimmte. Im Kloster machten sich immer alle über seine übertriebene Vorsicht lustig, aber bei Aramis war seine beherzte Pflege auf fruchtbaren Boden gefallen. Und auch wenn er wusste, dass es Sünde war, er war stolz darauf, nicht aufgegeben zu haben. Auch wenn es ohne Monsieur Porthos‘ grossen Einfluss auf Aramis‘ seelischen Zustand, wahrscheinlich nicht gereicht hätte.
„Ich bin auf jeden Fall froh, kann ich ihn in so heilkundigen Händen wie den euren zurücklassen. Und wenn er sich bockig anstellt, scheut euch nicht ihn zur Not ans Bett zu fesseln.“
Aramis schnitt ihm eine Grimasse. „Du brauchst ihnen nicht noch deine Foltermethoden weiterzugeben, Porthos. Auf die Ideen kommen sie schon von ganz alleine.“
„Ich hab viel Erfahrung mit widerspenstigen Kranken“, versicherte Mathias Porthos. Der liess daraufhin ein amüsiertes Glucksen hören und klopfte Mathias zum Abschied auf die Schulter, was sich ungefähr so anfühlte, als wäre ihm ein Baumstamm auf das Rückgrat gekracht. Constance kam noch in den Genuss eines Handkusses, dann setzte sich Porthos seinen Hut auf und verwand endgültig aus der Tür. Kurz darauf hörte man die donnernden Hufe eines Pferdes. Er war fort.
Kaum war Porthos ausser Sichtweite, hörte Aramis auf den Starken zu spielen. Mit einem leisen Stöhnend liess er sich auf die Stufen sinken. Ein heftiger Hustenanfall schüttelte seine abgemagerte Gestalt durch; ein harsches, grauenhaftes Husten, das glücklicherweise schneller abebbte, als es bisher der Fall gewesen war. Dennoch schnalzte Constance tadelnd mit der Zunge. „Du hättest eben doch im Bett bleiben sollen!“
Aramis schüttelte den Kopf. Noch immer keuchte er, aber seine Stimme klang überraschend fest, als er sagte: „Ich kenne Porthos. Er wäre nicht gegangen, wenn er geglaubt hätte, dass es mir nicht wieder gut gehen würde. Aber er musste gehen. D’Artagnan und Athos brauchen ihn dringender als ich.“
Mathias verkniff sich einen Kommentar. Unter „gut“ verstand er es nicht, wenn einem schon Treppensteigen so sehr anstrengte, dass man hinterher schwitzend und schweratmend zusammenbrach.
„Was ich nicht verstehe: Wieso wolltest du Porthos denn so dringend an deiner Seite, wenn du ihn dann gleich wieder fortschickst?“, erkundigte sich Constance.
Aramis runzelte die Stirn. „Ich wollte ihn an meiner Seite?“, fragte er und sah reichlich verdutzt aus der Wäsche.
„Ihr habt im Fieber immer wieder nach ihm gerufen“, bestätigte Mathias.
Verwirrt schüttelte Aramis den Kopf. „Seltsam“, murmelte er, „aber ja, ich kann mich erinnern. In meinen Fieberträumen ist mir dauernd Porthos erschienen. Nur, dass es sich nicht wie ein Traum angefühlt hat, sondern eher wie…wie eine Erinnerung.“
„Wir dachten, du möchtest einfach deine Freunde bei dir haben, weil es dir so schlecht ging.“ Constance sah Aramis besorgt an, was Mathias ihr nicht verübeln konnte. Aramis war totenbleich, seine Stirn glänzte vor Schweiss und sein Atem wurde immer hektischer. Offenbar regte er sich fürchterlich auf.
Stockend kamen die nächsten Worte über Aramis‘ Lippen, so als bereitete es ihm grosse Mühe, sie zu formen. „Ich…damals als ich mit Francis geredet habe…er hat mir irgendetwas Wichtiges gesagt. Und…ich sollte es Porthos sagen, nein, ich sollte ihn warnen vor….“
„Aramis, du solltest dich nicht so aufregen“, schalt Constance, „du hast jede Menge Unsinn geträumt als du im Fieber lagst! Ich würde mir da keine Gedanken mehr darüber machen.“
Aramis achtete nicht auf sie. Stöhnend vergrub er das Gesicht in den Händen. „Ich sollte ihn warnen vor etwas. Oder jemanden. Aber ich habe vergessen um was es ging!“ Alarmiert beobachtete Mathias wie sich die langen Finger des Musketiers in das dunkle Haar krallten, als wolle er sich in seiner Verzweiflung jede Strähne einzeln ausreissen.
Um Aramis vor dem Verlust seiner Haarpracht zu retten, beschloss Mathias zu härteren Mitteln zu greifen. Er griff nach Aramis Ellbogen und zog ihn hoch, wobei es ihm wahrscheinlich nur deshalb gelang, weil der junge Mann nicht nur geschwächt war, sondern auch nicht damit gerechnet hatte, so rüde auf die Beine gehievt zu werden.
„Schluss damit! Ich bringe euch jetzt wieder zu Bett und dann werdet Ihr Euch ausruhen. Ihr denkt zu viel und zu viel denken hat noch jedem geschadet! Dass weiss die Kirche schon seit langem!“
„Nun, das erklärt zumindest den desolaten Zustand der guten Mutter Kirche“, murmelte Aramis, liess sich dann aber widerstandslos von seinen resoluten Pflegern die Treppe hinaufführen.
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Es war geradezu prophetisch, dass Porthos beinahe eine schwarze Katze über den Haufen ritt. Erschrocken riss er am Zügel, um sein Pferd zum Stehen zu bringen. Sein Hengst schnaubte unwillig und tänzelte nervös zur Seite, stieg allerdings nicht und liess sich von Porthos beruhigen.
Die Katze jedoch störte sich nicht daran, dass sie beinahe zertrampelt worden wäre, im Gegenteil. Sie liess sich auf die Erde plumpsen, wo sie sich auf den Rücken drehte. Ihre goldenen Augen richteten sich keck und herausfordernd auf Porthos, als wolle das freche Biest damit sagen: Komm und hol mich.
„Geh schon aus dem Weg!“, schimpfte Porthos. Er war ein zu grosser Tierfreund, als dass er die Katze einfach hätte niederreiten wollen. Die schien jedoch genau von seinen Skrupeln zu wissen, denn sie gähne nur demonstrativ und blinzelte ihn träge an. Entnervt stieg Porthos also vom Pferde um das flauschige Hindernis selbst aus dem Weg zu räumen.
„Schwarze Katzen bringen Unglück“, sagte in dem Moment eine vertraute rauchige Stimme. Aus einer der Seitengasse erschien Madame Lilith, die sich um den Kopf einen blauen Schal gewickelt hatte und am Arm einen Korb gefüllt mit Kräutern trug.
„Das scheint Euch nicht allzu gross zu kümmern“, bemerkte Porthos als er beobachtete, wie Madame Lilith in die Knie ging und die Katze mit leisen, zärtlichen Rufen zu sich lockte.
„Nun, die Menschen halten mich ohnehin schon für eine Hexe. Da kommt es auf eine schwarze Katze mehr oder weniger auch nicht mehr an“, sagte Madame Lilith mit einem gackernden Kichern. Die Katze hatte auf jeden Fall schon Vertrauen zu ihr gefasst und stiess mit einem kecken Schnurren den Kopf gegen die Hand.
Porthos wurde mit einem Mal mulmig zumute. Diese Frau war ihm unheimlich. Als Kind der Strasse hatte er einen Hang zum Aberglauben und an Madame Lilith war etwas Seltsames. Sie hatte vorausgesehen, dass es schlecht um Aramis stand, noch bevor jemand von ihnen überhaupt wusste, dass ihr Freund erkrankt war. War sie wirklich nur eine Verrückte? Wenn sie wirklich eine Seherin war, war sie wohlmöglich auch eine Hexe und mit Hexen wollte er lieber nichts zu tun haben. „Seid ihr es denn?“, fragte er und obwohl er versuchte seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben, hörte er sich in seinen eigenen Ohren schrill und panisch an.
Sie sah ihn an und ein belustigtes Funkeln trat in ihre Augen. „Keine Angst, ich kann keine Männer in Kröten verwandeln. Wobei Ihr wahrscheinlich ein prachtvolles Exemplar abgeben würdet.“ Ihr verschmitztes Grinsen verschwand und wich einem melancholischen Stirnrunzeln. „Wie schade, dass die Menschen das Böse immer am falschen Ort vermutet.“
„Und wo ist denn das Böse?“
Madame Lilith antwortete nicht. Ihr Blick ging ins Leere, während ihre Hand abwesend über das Fell der Katze strich. „Im Körper des Priesters haust das Böse und derjenige, den er erschlagen hat, ruht zu den Füssen des Engels“, deklamierte sie schliesslich in einem rauchigen Singsang, der Porthos erneut eine Gänsehaut über den Rücken trieb.
Dann stand sie abrupt auf. „Ich wünsche Euch einen guten Tag Monsieur Porthos.“ Jetzt klang sie wieder klar, beinahe geschäftsmässig.
„Auf Wiedersehen Madame Lilith!“, verabschiedete er sich. Auch wenn er nicht so sicher war, ob er sich dieses Wiedersehen wirklich wünschte.
Sie ging allerdings nur ein paar wenige Schritte, bevor sie sich noch mal umdrehte. „Und ich bin froh, dass es Eurem Freund wieder gut geht. Nicht jeder überlebt einen Tanz mit dem Tod.“ Und mit diesen Worten verschwand sie endgültig, die schwarze Katze dicht auf den Fersen.
Kapitel Noch eine Leiche
Kapitel 29
Noch eine Leiche
D’Artagnan und Athos stiegen gerade die Treppe zu Trévilles Arbeitszimmer hoch, als die scharfen Ohren des jungen Gascogner das Donnern von Pferdehufen vernahmen. Das alleine war gewiss nicht ungewöhnlich, denn die Garnison war nun einmal ein Ort von grosser Geschäftigkeit und die Musketiere kamen und gingen hier ganz wie die Bienen in ihrem Stock. Doch d’Artagnan wusste, dass der nahende Reiter Porthos war, denn er kannte die Pferde und Reitstile seiner Freunde so gut, dass er immer sagen konnte, welcher von ihnen sich gerade nährte.
Athos ritt meistens zügig und gleichmässig. Er beschleunigte nur, wenn es unbedingt notwendig war und hatte für die spontanen Wettrennen seiner Freunde oft nur ein seufzendes Kopfschütteln übrig. Sein Hengst, war ein eigenwilliges Tier, das überstürzte Aktionen seines Meisters auch niemals geduldet hätte und das selbst im grössten Getümmel seine stoische Ruhe behielt. Aramis‘ Stute dagegen war zwar sanft wie ein Lamm, hatte aber nicht selten jähe Temperamentausbrüche. Auch sie schien sich ganz ihrem Herrn angepasst zu haben, denn Aramis liebte es, einen schnellen Galopp anzuschlagen, sobald die Garnison im Blick war oder sie zu einem neuen Abenteuer aufbrachen. Porthos‘ Hengst hatte wahrscheinlich Stierblut in seinen Adern, denn er war ein so mächtiges Tier, dass die Erde unter seinen Hufen bebte. Und da Porthos stets so ritt, als sei ihm der Teufel auf den Fersen, hörte man ihn auch noch aus weiter Ferne.
D’Artagnans ausgezeichnetes Gehör hatte ihn auch dieses Mal nicht getäuscht. Es war tatsächlich Porthos, der wie ein Sturm durch das Tor brauste. Athos, der nun das Wiehern des Pferdes hörte, drehte sich nun ebenfalls um. Bei Porthos‘ Anblick wurde er kalkweiss. „Mein Gott“, brachte er hervor, „ist Aramis jetzt etwa…?“ Athos brauchte den Satz nicht zu vollenden, d’Artagnan wusste auch so, was er dachte, denn auch ihn hatte dieselbe Angst ergriffen. War Porthos vorzeitig zurückkehrt, um sie vom Tod ihres Freundes in Kenntnis zu setzen?
Als er Porthos jedoch genauer musterte, sah er zu seiner unendlichen Erleichterung keine Tränen auf dessen Gesicht. Er war zwar staubbedeckt und wirkte erschöpft, aber als er Athos und d’Artagnan erblickte, glitt ein fröhliches Lächeln über seine Züge und er winkte ihnen begeistert. Das hätte er wohl kaum getan, wenn Aramis verblichen wäre.
Ausser Porthos hätte plötzlich einen sehr kranken Sinn für Humor.
Neben d’Artagnan entspannte sich Athos merklich. Auch er hatte die Körpersprache seines Freundes gelesen und gedeutet. „Hattest du so grosse Sehnsucht nach uns oder ging unser Patient dir einfach so sehr auf die Nerven, dass wir das kleinere Übel für dich waren?“
Porthos verzog das Gesicht zu einer merkwürdigen Grimasse, ganz so, als könne er sich nicht entscheiden, ob er nun lachen oder fluchen soll. „Unser Kranker leidet wie immer an Selbstüberschätzung und ist der felsenfesten Überzeugung, dass er quasi schon wieder ganz genesen ist.“
„Klingt ganz nach dem Aramis, den wir kennen“, lächelte d’Artagnan. Dass Aramis zu seinem alten, sturen Stolz zurückgefunden hatte, war ein gutes Zeichen. Ironischerweise gab Aramis gerne die gezierte Prinzessin, wenn es um eine minimale Verletzung oder ein leichtes Unwohlsein wie einen Schnupfen ging, wenn ihm aber wirklich etwas fehlte, beharrte er darauf, völlig gesund zu sein, selbst wenn das Blut zu seinen Füssen schon eine Lache bildete. Einer der vielen Widersprüche, die Aramis in sich vereinte.
„Und weil du dir nicht ansehen wolltest, wie dein mit so viel Hingabe gepflegter Patient sich den Hals bricht, schliesst du dich wieder uns an?“, vermutete Athos.
Porthos‘ Miene wurde nun unverkennbar mürrisch. „Aramis hat mich weggeschickt. Er hat darauf bestanden, dass ich nach Paris zurückkehre. Um euch zu helfen, den Mörder zu finden.“
„Aramis traut es uns also nicht, den Mörder ohne dich zu entlarven? Das triff mich jetzt aber“, spöttelte Athos und fuhr sich mit der Hand an die Brust, als hätte ihn dort eine Musketenkugel getroffen.
„Nun, er ist eben der Meinung, dass ihr jemanden mit Verstand und List braucht um diesen verzwickten Fall zu lösen“, behauptete Porthos und warf sich übertrieben in Pose, wobei er d’Artagnan stark an Porträts von König Louis erinnerte, aber nicht weil Porthos‘ Haltung so stolz und königlich gewesen wäre, sondern eher weil er dasselbe dümmliche Lächeln auf den Lippen trug, dass auch Louis gerne aufsetze, wenn er sich malen liess.
Deswegen konnte d’Artagnan sich einen bösen Kommentar nicht verkneifen. „Und dann schickt er dich? Ich weiss nicht, vielleicht hat das Fieber Aramis‘ Verstand mehr beeinträchtigt als wir ahnten.“
Für einen Moment dachte d’Artagnan, er wäre zu weit gegangen. Trotz seiner Gutmütigkeit hatte Porthos ein leicht entflammbares Temperament und eigentlich hatte d’Artagnan keine Lust im hohen Bogen über das Treppengeländer zu fliegen. „Du weisst schon, dass ich jedem anderen für diese Beleidigung ins Gesicht geschlagen hätte? Aber ich möchte dich nicht noch mehr entstellen, als du es ohnehin schon bist!“
D’Artagnan öffnete schon vergnügt den Mund für eine weitere scherzhafte Beleidigung, doch eine scharfe Stimme kam ihm zuvor. „Wenn die Herren dann fertig damit sind, sich gegenseitig Höflichkeiten an den Kopf zu werfen, wäre es nett, wenn sie es sich einrichten könnten, mich mit ihrer Anwesenheit zu beehren.“ Tréville lehnte mit entnervtem Gesichtsausdruck an seinem Türrahmen und hatte den Schlagabtausch offenbar mitgehört. Unwillkürlich zog d’Artagnan den Kopf ein. Tréville vermochte es immer noch, ihm das Gefühl zu geben, ein ungezogener Junge zu sein.
Kurze Zeit später standen die drei Musketiere vor Trévilles ausladenden Schreibtisch und lauschten staunend seinem Bericht. Dass es dem Hauptmann tatsächlich gelungen war den sturen Bock Lefèvre zum Reden zu bringen, beeindruckte d’Artagnan und erfüllte ihn mit neuer Bewunderung für sein Idol. Man sah es dem rauen Soldaten nicht unbedingt an, aber wenn es nötig war, bewies er ein gutes Gespür für Politik und für Verhandlungen. Das war es, was ihn von vielen Musketieren unterschied: Sein scharfer Verstand, der stets über seine Kampflust siegte. Kein Wunder nahm Richelieu diesen Mann als Bedrohung wahr.
An Athos jedoch schien diese erneute Meisterleistung Trévilles abzuprallen, jedenfalls erstarrte er keineswegs in Bewunderung wie d’Artagnan. Stattdessen zog er ohne Umschweife einen Stuhl heran und liess sich rittlings darauf nieder, wobei er das Kinn auf der Lehne ruhen liess. Niemand vermochte es sich so elegant daneben zu benehmen wie Athos. Das lag wohl an seiner gräflichen Erziehung. Normalerweise rief Tréville ihn allerdings zur Ordnung, wenn Athos sich wieder so benahm, als gelten die Regeln der Musketiere für ihn nicht, heute liess er es sein, sondern bedeutete lediglich auch d’Artagnan und Porthos, dass sie Platz nehmen sollten.
„Fleur hütete also tatsächlich ein Geheimnis. Nur nicht das, was wir suchten.“ Athos fuhr sich mit entnervter Miene durch die Haare. „Gibt es eigentlich irgendein göttliches Gesetz, das besagt, dass alle Frauen auf der Welt Betrügerinnen sind?“
Die Schärfe in seiner Stimme veranlasste d’Artagnan zu einem tadelnden Kopfschütteln. „Sei nicht so streng mit Fleur. Sie ist in einen Stand geboren, in dem es nur wenig Freude und noch weniger Ehre gibt. Ist es da ein Wunder, dass sie sich dafür entschieden hat, die Chance zu ergreifen, als sie ihr zu Füssen gelegt wurde? Wenn du die Wahl gehabt hättest zwischen Zofe und Dirne, was hättest du getan?Athos sah mit einem Mal zerknirscht aus. Er war im Grunde ein verständnisvoller und einfühlsamer Mann, nur bei Frauen neigte er dazu, barsch und unwillig zu reagieren. Porthos jedoch liess ein amüsiertes Glucksen hören. „Stellt euch doch einmal Athos in Zofenkleidung vor“, kicherte er.
„Mein lieber Freund, ich möchte dich daran erinnern, dass nicht ich es war, der vor nicht allzu langer Zeit in Frauenkleidung durch die Garnison spaziert ist. Und ich wage zu behaupten, dass ich auch in weiblicher Gestalt bei weitem attraktiver bin als du!“, schoss Athos zurück.
„Also bitte. Mein Hintern konnte sich in dieser Robe durchaus sehen lassen!“
Tréville trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. „Porthos, deinen Hintern in Ehren, aber wir haben momentan Probleme in einer anderen Grössenordnung.“ Trotzdem hoben sich die strengen Lippen zu einem flüchtigen Grinsen.
„Es besteht immer noch die Möglichkeit, dass Pierre Lefèvre lügt um seine und Fleurs Haut zu retten“, kam d’Artagnan wieder zum Thema zurück.
„Das ist wahr“, räumte Tréville ein, „deshalb werde ich noch heute aufbrechen und der verschwundenen Dame auf den Zahn fühlen. Und auch wenn sie nicht die Täterin ist: Sie kann uns immer noch entscheidende Hinweise geben und uns möglicherweise verraten, wer diese Spionin im Palast haben. Denn das sich eine eingenistet hat, scheint ja bewiesen zu sein.“
„Beweisen können wir ja eben nichts“, erinnerte ihn Athos, „das Einzige was wir haben sind Vermutungen, die auf konspirativen Briefen fussen, die d’Artagnan und ich verbotenerweise gelesen haben. Nicht gerade ein stichhaltiger Beweis, wenn ihr mich fragt.“
Porthos runzelte verwirrt die Stirn. „Welche Briefe? Und was für Spione?“
Erst da fiel d’Artagnan ein, dass Porthos die neuesten Verwicklungen rund um Pater Jacques gar nicht mitbekommen hatte und folglich auch noch nichts von ihrer Spionagetheorie wusste. Also berichtete er seinem Freund von dem seltsamen Priester, der Kaffeestunde bei Madame Lilith und dem nächtlichen Einbruch in Pfarrhaus, wobei Athos in seiner üblichen trockenen Weise passende Ergänzungen anbrachte, wo er es als notwendig empfand.
Nach der lebhaften Schilderung schüttelte Porthos fassungslos den Kopf. „Heilige Maria Mutter Gottes in was für ein Wespennest haben wir da gestossen! Ihr glaubt also Pater Jacques ist ein englischer Spion, der unseren Erzfeind mit Informationen füttert? Und nicht nur das, in der Nähe des Königspaars soll sich auch noch so ein Schuft rumtreiben?“
„Es scheint so. Ich denke, dass der echte Pater Jacques von den Spionen umgebracht worden ist. Dazu passt Madame Liliths Aussage, dass der Priester sein Äusseres geändert hatte“, spekulierte Athos.
„Und ihr meint, Francis ist ihm auf die Schliche gekommen und deshalb musste er sterben?“, fragte Porthos.
„Wahrscheinlich kam er gar nicht Pater Jacques auf die Spur. Es könnte gut sein, dass die ominöse Geliebte, in die er so vernarrt war, eben jene Spionin ist“, erläuterte d’Artagnan.
Tréville blickte auf einmal versonnen. „Wisst ihr“, sagte er, so langsam, als müsse er seine sprudelnden Gedanken erst ganz langsam ordnen, „Francis hatte wohlmöglich auch einen sehr persönlichen Grund nach diesen Spionen zu suchen. Ihr erinnert euch vielleicht noch, dass ich vor zwei Jahren den Musketier Isaac nach England geschickt habe, damit er für uns Buckhinghams Pläne auskundschaftet. Das hat auch herrlich funktioniert. Nur, nach zwei Jahren ist er plötzlich aufgeflogen und wurde hingerichtet, leider bevor ich oder der König intervenieren konnten. Wir konnten uns damals nicht erklären, wie Isaacs Tarnung so plötzlich versagen konnte. Aber wenn wir natürlich Spione in unseren eigenen Reihen haben, ist auch dieses Rätsel gelöst.“
„Und als Francis es herausfand wollte er selbst denjenigen richten, der für den Tod seines Freundes verantwortlich ist“, sann Athos weiter.
„Was wiederum bedeutet, dass die verräterische Halskette gar nicht einer Geliebten von Francis gehört. Sondern der Spionin. Und Francis hat sie nicht aus Sentimentalität bei sich getragen. Sondern als Beweisstück!“ d’Artagnan sah stolz in die Runde. Er war ziemlich zufrieden mit seiner Kombinationsgabe.
Nur wurde die in der allgemeinen Aufregung nicht genügend gewürdigt. „Meine Herren, so hübsch sich diese Geschichte auch anhört, wir müssen sie beweisen, sonst eignet sie sich lediglich für einen schönen Damenroman. Porthos, gib mir diese Kette, ich werde sie Fleur Delacroix zeigen und ihre Reaktion wird zeigen, ob sie wirklich so unschuldig ist. Und ihr werdet diesen Priester so lange an den Fersen haften, bis er euch zum Beweis seiner Schuld führt!“
D’Artagnan konnte sich ein abfälliges Schnauben nicht ganz verkneifen. „Sehr schön. Dann brauchen wir also nur zu warten bis sich Pater Jacques eine schwarze Kutte umhängt, in einer finsteren Gasse verschwindet und sich dort mit einer ebenfalls schwarz gewandeten Gestalt lautstark über seine geheimen Pläne unterhält!“
„Ein guter Beweis wäre die Leiche des verschwundenen Priesters. Aber ob wir die je finden ohne jeglichen Anhaltspunkt…“ Athos hob mutlos die Schultern.
Eine kurze Weile war es still. Dann sagte Porthos plötzlich, mit leiser tragender Stimme: „Zu den Füssen des Engels ruht der zu Unrecht Erschlagene…“
„Wie bitte?“, fragte d’Artagnan, völlig verdutzt. Aramis neigte durchaus dazu irgendwelche Zitate aus Büchern oder Gedichten einzustreuen und auch Athos hatte durchaus mal literarische Anwandlungen. Porthos dagegen grölte höchstens irgendwelche schmutzigen Trinklieder oder riss anzügliche Witze.
„Das hat sie gesagt!“, flüsterte Porthos aufgeregt. Seine Augen glänzten, gerade so, als hätte er gerade den Standort eines grossen Schatzes herausgefunden.
„Wer hat das gesagt?“ Tréville wirkte ebenso verwirrt wie d’Artagnan sich fühlte.
„Die Seherin! Madame Lilith! Bei einem unserer ersten Treffen hat sie etwas gemurmelt von einem zu Unrecht erschlagenen, der zu Füssen des Engels ruht! Ich dachte natürlich, das sei nur wirres Gebrabbel.“
„Ehrlich gesagt, finde ich gerade auch, dass du wirres Zeug brabbelst“, bemerkte d’Artagnan spitz, „inwiefern soll uns dieser Engel weiter helfen?“
„Auf dem Friedhof, der hinter der Kirche ist, steht eine grosse Engelsfigur. Madame Lilith hat möglicherweise gesehen wie Pater Jacques die Leiche seines Vorgängers dort verscharrt hat?“ Er blickte aufgeregt in die Runde.
D’Artagnan musste zugeben, dass das ziemlich schlüssig klang und zumindest eine Spur darstellt, weshalb er sich bewogen fühlte, erwartungsvoll aufzuspringen. „Nun, meine Herren, ich denke, dann sollten wir uns mal ein paar Schaufeln besorgen. Ich schätze, wir haben da noch einen Friedhof umzugraben!“
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„Es geht abwärts mit uns. Erst bedrohen wir einen Priester, dann brechen wir in das Haus dieses Priesters ein und als Krönung von allem graben wir auch noch den Garten von genau denselben Priester um“, flüsterte d’Artagnan. Natürlich konnte der Gascogner nicht einmal dann still sein, dachte Athos seufzend.
Leider gehörte auch sein anderer Begleiter, namentlich Porthos, nicht gerade zu der stillen Sorte, denn dieser erwiderte, zwar halblaut aber dennoch gut verständlich: „Es ist nicht der Garten, sondern der Friedhof.“
„Und das ist ein Unterschied, weil…?“
„Jetzt seid doch mal still! Oder wollt ihr, dass der falsche Priester uns entdeckt?“, zischte Athos ärgerlich und warf einen unruhigen Blick zum Pfarrhaus. Zwar hatten sie am frühen Abend gesehen, wie Jacques mit Hut und Mantel ausgegangen war, doch irgendwie hatte Athos einfach ein schlechtes Gefühl. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er mitten in der Nacht mit einer Schaufel auf einem Friedhof stand.
Die Engelsfigur schimmerte undeutlich in der Nacht und für einen Moment bildete Athos sich ein, dass das verwitterte Gesicht ihn vorwurfsvoll ansah. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Seit seinem kleinen Zusammenstoss mit der Fledermaus schien er d’Artagnans Neigung in allem etwas Übernatürliches oder Gruseliges zu sehen übernommen zu haben.
Nach Athos‘ Mahnung hatten sowohl Porthos als auch d’Artagnan etwas beschämt den Mund gehalten, ein Zustand, der nach seiner persönlichen Erfahrung jedoch nicht lange halten würde. Und tatsächlich, sie hatte erst eine Weile gegraben, als d‘Artagnan flüsterte: „Sollte nicht einer von uns Schmiere stehen? Nur falls unser Priester zurückkommt.“
„Du willst doch nur nicht weiter schaufeln“, murrte Porthos, der sich, wie um seiner eigenen Aussage mehr Gewicht zu verleihen schwer auf seine Schaufel stützte und sich den Schweiss von der Stirn wischte.
Sofort plusterte sich d‘Artagnan empört auf. „Im Gegensatz zu dir breche ich nicht gleich zusammen, nur weil ich mal ein bisschen körperliche Arbeit tun muss. Ich bin mir das nämlich im Gegensatz zu dir gewöhnt!“ Und um dies zu beweisen warf er schwungvoll eine Schaufel mit Erde hoch. Athos bemerkte erst, dass die Ladung Erde auf ihn zuflog, als sie ihm schon mitten ins Gesicht klatschte.
„Pass doch auf!“, fauchte Athos, nachdem er sich den Dreck aus den Augen gewischt hatte. So sehr er seine Freunde liebte, manchmal wünschte er sich sehnlichst, sie würden sich in manchen Situationen tatsächlich wie erwachsene Männer und nicht wie kleine Kinder aufführen. Zum Beispiel wenn sie gerade heimlich nach einer Leiche gruben.
„Entschuldigung. Eigentlich war die Ladung für Porthos bestimmt“, sagte d’Artagnan bissig.
„Dann zielst du wirklich ausserordentlich schlecht“, schoss Porthos süffisant zurück.
„Dich sieht man eben schlecht im Dunkeln!“
„Du machst dich lustig über meine Hautfarbe, Bauernjunge? Wie tief muss man eigentlich sinken?“
„Oh, du meinst so tief, um jemanden mit seiner Herkunft aufzuziehen?“
Athos‘ Geduldsfaden riss. „Jetzt seid doch mal still, alle beide! Das ist eine ernste Sache; immerhin stören wir hier gerade die Totenruhe! Und ich glaube kaum, dass die Toten eure kindische Streitereien hören wollen.“
„Naja, vielleicht freuen sie sich über ein bisschen Unterhaltung“, erwiderte d’Artagnan, klang aber einigermassen zerknirscht.
„Meine Frage ist allerdings immer noch nicht beantwortet: Was tun wir, wenn Jacques hier auftaucht?“, hakte Porthos erneut nach, während er seine Schaufel mit neuem Enthusiasmus in die Erde stiess.
„Wir springen ins Loch und schaufeln uns möglichst schnell wieder zu“, schlug d’Artagnan vor.
„Das wird nicht nötig sein, wenn wir weniger Zeit mit Schwatzen verbringen und dafür mehr schaufeln würden.“ Manchmal kam sich Athos vor wie eine Gouvernante für ungezogene Prinzessinnen. Nur würden Prinzessinnen besser aussehen und wären leichter zu zügeln als zwei Musketiere. Doch die Angst davor von Pater Jacques dabei erwischt zu werden, wie sie buchstäblich nach seinen Geheimnissen gruben, schien sie anzutreiben, so dass sie tatsächlich schneller arbeiteten.
So mühsam es erst war, die Schaufel in die steife kalte Erde zu bohren, so einfach wurde es, nachdem die Erde erst einmal gelockert war, fand Athos sogar Freude in dieser ungewohnten Arbeit. Es hatte etwas Befriedigendes direkt zu sehen, was die eigenen Hände schufen, selbst wenn es nur ein grosses Loch war. Die Szenerie war allerdings mehr als nur ein bisschen unheimlich. Ein alter, verwitterter Friedhof, Nachtluft, die mit kalten Finger nach der eigenen warmen Haut griff und der Mond, der alles in unheimliches weisses Licht tauchte, so als würde er alles für einen Gespenstertanz vorbereiten.
Sei nicht so eine Memme, schalt Athos sich, wie oft hast du dem Tod schon ins Auge gesehen? Was können dir da schon ein paar Gespenster anhaben?
Doch sämtliche Versuche sich selbst zu beruhigen zerschlugen sich jäh, als d’Artagnan einen spitzen Schrei ausstiess und die Schaufel fallen liess. Mit weit aufgerissenen Augen sah er in das Loch und Athos brauchte nicht lange um den Grund seines Schreckens herauszufinden: Noch halb verborgen unter feuchter Erde lag ein Skelettschädel, die leeren dunklen Augenhöhlen auf sie gerichtet, als wollte er sie dafür anklagen, dass sie seinen Totenschlaf nach so langer Zeit noch störten.
Eine Weile starrten sie alle fassungslos auf den Schädel. Dann räusperte sich Porthos. „Nun, ich denke, da hätten wir den wahren Pater Jacques. Auch wenn der andere zugegebenermassen besser aussieht.“
Athos wollte gerade sagen, dass er sich diese geschmacklosen Scherze sparen soll, da sagte eine sanfte lauernde Stimme hinter ihm: „Guten Abend meine Herren. Kann ich Euch irgendwie helfen?“
Hinter ihnen stand ein sehr lebendiger Pater Jacques.
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Kapitel Märchen und Wahrheiten
Anmerkung: Wie ihr vielleicht bemerkt habt, habe ich es tatsächlich geschafft die komplette Story zu löschen. Aus Versehen. Was mich besonders ärgert ist, dass ich jetzt all eure Reviews verloren habe...aber ich trage sie in meinem Herzen! Die gute Nachricht ist: Wir nähren uns mit grossen Schritten dem Showdown...
Kapitel 30
Märchen und Wahrheiten
D’Artagnan musste zugeben, dass sie ziemlich in der Klemme stecken. Dass sie sich nachts auf einem heruntergekommenen Friedhof rumtrieben, hätten sie vielleicht irgendwie mit „Patrouille“ oder „schnell mal hier pinkeln“ erklären können, die Schaufeln und das grosse Loch dagegen passten allerdings in keines der Szenarien. Aber eine gute Ausrede musste her. Er konnte sehen, wie Athos‘ Hand sich nachdrücklich um seinen Degen legte und seine Miene sich in jene steinerne Maske verwandelte, die er stets aufsetzte, bevor er sich in einen Kampf stürzte. D’Artagnan wollte Blutvergiessen allerdings vermeiden. Er fand ein toter Pater Jacques auf diesem Friedhof reichte vollkommen.
Also wählte er die Flucht nach vorne. „Oh, Pater Jacques! Mit Euch hatten wir ja gar nicht gerechnet“, flötete er. Aus dem Augenwinkel beobachtete er wie Porthos geistesgegenwärtig mit seinem Fuss den Totenschädel wieder mit Erde bedeckte, dabei jedoch weiter Pater Jacques anblickte.
Dieser legte den Kopf schräg. „Das kann ich mir denken“, erwiderte er und seine Stimme troff geradezu vor falscher Freundlichkeit, „ich hätte mir allerdings auch nicht vorstellen mögen, dass ich des Nachts Musketiere in meinem Garten antreffe.“
„Nun ja, es handelt sich hier nicht um Euren Garten, sondern um einen Friedhof. Wir wollen doch bei den Tatsachen bleiben.“ D’Artagnan ging auf den plaudernden Tonfall ein. Zeit schinden erschien ihm als gute Option, in Anbetracht der Tatsache, dass ihm noch immer keine plausible Ausrede eingefallen war.
„Oh ja, natürlich, bitte verzeiht meine unpräzise Aussage. In meinem Beruf verwechselt man diese beiden Dinge gerne.“
Irgendwas an der Art wie der Pater „Beruf“ betonte, gefiel d’Artagnan genauso wenig wie Athos‘ angespannte Schulterlinie. Athos wirkte inzwischen wie eine Raubkatze, die auf der Lauer lag und d’Artagnan wusste nicht, wie lange er diese tödliche Energie noch zurückhalten konnte. Wenigstens war es Porthos inzwischen gelungen, den Schädel wieder komplett zu verbergen, so dass dennoch die Chance bestand, dass sie Pater Jacques glaubhaft machen konnten, dass sie noch immer keine Ahnung von seinem schmutzigen kleinen Geheimnis hatten.
D’Artagnan räusperte sich energisch. „So gerne ich mich noch länger über Gärten und Friedhöfe unterhalten würde, ich denke, wir gehen dann besser mal. Noch einen angenehmen Abend wünsche ich!“
Er packte Athos am Arm, nickte Porthos auffordernd zu und wollte sich an Pater Jacques vorbeidrängen. Schon fast glaubte er daran, sich tatsächlich so einfach aus der Schlinge ziehen zu können, da schoss Jacques Hand vor wie eine Adlerkralle und erwischte ihn am Handgelenk.
„Da es sich aber um den Friedhof neben meiner Kirche handelt, glaube ich ein Recht darauf zu haben, zu wissen, wieso Ihr diesen mitten in der Nacht spontan umgrabt.“ Noch immer war seine Stimme ausnehmen höflich, doch nun flocht sich eine Schärfe dazwischen, die keinen Widerspruch duldete.
„Ähm“, war das Einzige das d’Artagnan herausbrachte, da kam gänzlich unerwartete Hilfe von Porthos. Wie aus dem Nichts heraus begann dieser aus voller Kehle zu lachen, als sei die ganze Situation irrsinnig komisch statt unheimlich und brenzlig. Aber Porthos hatte den Kopf in den Nacken geworfen und lachte unbekümmert, was sich anhörte, als würde Donner aus seinem Mund kommen. Athos sah Porthos so entsetzt an, dass d’Artagnan wusste, dass sein Mentor denselben Verdacht hegte wie er: Ihr Freund hatte wohl nach all den Aufregungen der letzten Tagen den Verstand verloren, wofür er sich kaum einen schlechteren Zeitpunkt hätte aussuchen können.
Pater Jaques wirkte jetzt leicht entnervt. „Darf ich fragen, was so lustig ist?“, erkundigte er sich gereizt.
Porthos beruhigte sich so weit, dass er einen geraden Satz hervorbrachte. „Entschuldigt bitte mein ungehöriges Gelächter! Aber die ganze Geschichte ist wirklich zu komisch! Komisch und peinlich, wenn ich das so sagen darf!“ Er kicherte dümmlich.
„Nun, wenn die Geschichte so amüsant ist, bin ich natürlich erpicht darauf sie zu hören“, verlangte Jacques, klang dabei aber wieder so verbindlich und freundlich wie zuvor.
Ich auch, hätte d’Artagnan beinahe hinzugefügt. Im letzten Moment konnte er sich auf die Zunge beissen und so verhindern, dass Porthos‘ Lügenmärchen aufflog, bevor er überhaupt damit begonnen hatte. Denn er ahnte inzwischen, dass sein Kamerad keineswegs das jähe Opfer einer Geisteskrankheit geworden war, sondern er gerade ein kleines Theaterstück eingeleitet hatte, das offenbar zum Ziel hatte, Pater Jacques zu täuschen.
Porthos zuckte verlegen mit den Schultern. „Eigentlich ist es eine alberne Geschichte. Es geht um eine Wette, die wir abgeschlossen haben. Mit den roten Gardisten.“
Pater Jacques‘ Miene war eine Maske der Ungläubigkeit. „Interessant. Und die Wette drehte sich darum, wer es wagt mitten in der Nacht einen Friedhof umzugraben?“ Selbst in d’Artagnans Ohren klang das reichlich dünn und er betete innbrünstig, dass Porthos sich eine bessere Ausrede hatte einfallen nur lassen.
Erneut liess Porthos sein donnerndes Lachen hören. „Nein, nein. Das wäre allerdings auch keine schlechte Idee gewesen. Nein, diese roten Deppen haben doch tatsächlich behauptet auf diesem Friedhof wäre ein Schatz versteckt.“
Das war eine so fantasievolle und an den Haaren herbeigezogene Erklärung, dass alle erst einmal verblüfft schwiegen. D’Artagnan konnte gerade noch ein kleines Winseln unterdrücken. Das war so ziemlich das Gegenteil einer überzeugenden Ausrede. Allerdings konnte er Porthos auch keinen Vorwurf machen. Immerhin war ihm überhaupt etwas eingefallen, was man von ihm selbst kaum behaupten konnte.
„Ein Schatz…“ Pater Jacques dehnte jedes Wort auf geradezu schmerzhafte Weise aus.
„Genau“, plapperte Porthos unbeirrt weiter, „ein Schatz. Wir haben natürlich kein Wort geglaubt, aber die Gardisten haben so stur auf ihrer Meinung beharrt – und wir waren ehrlich gesagt auch nicht mehr so ganz nüchtern – dass wir sie zu einer Wette herausgefordert haben. Wenn hier tatsächlich ein Schatz zu finden ist, gehört dieser nicht nur ihnen, sondern wir werden auch zum Kardinal gehen, ihm die Füsse küssen und ihm versichern, dass die Rote Garde uns an Können bei weitem übertrifft. Wenn nicht, müssen sie dasselbe tun – nur eben bei Hauptmann Tréville.“
Alle starrten Porthos an. Athos fassungslos, Pater Jacques verdutzt und d’Artagnan selbst bewundernd. Auch wenn die Ausrede völlig abstrus klang - gegen Ende hatte Porthos seiner Geschichte noch einen einigermassen plausiblen Schluss verpasst. Es war zumindest besser als nichts.
Pater Jacques schien das allerdings nicht zu finden, denn jetzt war es an ihm, herzhaft zu lachen. Allerdings nicht auf diese herzliche, warme Art und Weise, wie es Porthos vorher getan hatte. Sein Lachen war kurz und scharf wie die Klinge eines Dolches, der gerade in das Herz eines Menschen fuhr. „Mit Verlaub: Das ist wirklich die lächerlichste Lüge, die ich je gehört habe. Und glaubt mir: Ich habe schon viele Lügen gehört.“
„Wir lügen nicht“, widersprach d’Artagnan und seine Stimme klang selbst in seinen eigenen Ohren piepsig und schwach, als wäre er ein kleines Mädchen, das behauptet den Apfel nicht gestohlen zu haben, ihn aber dummerweise noch in der Hand hält.
„Ihr lügt schlecht. Das ist ein Unterschied“, verbesserte Pater Jacques sanft.
Athos stellte sich vor seine Freunde und seine stolze Entschlossenheit war wie ein Schild, der sich um ihn und seine Freunde legte. Der kerzengerade Rücken, das leicht erhobene Kinn, die Art wie er die Hand auf die Hüfte stemmte; das alles liess keinen Zweifel daran, dass hier ein Edelmann stand, der sich nicht so leicht einschüchtern liess. „Nun, dann beweist uns das Gegenteil. Und wenn ihr das nicht könnt, schlage ich vor, gehen wir entweder jetzt getrennte Wege oder lösen dieses Problem auf andere Weise.“ Erneut legte sich Athos‘ Hand wie zufällig um den Degen.
In Pater Jacques Augen blitzte eine Wildheit auf, die im groben Gegensatz zu seiner salbungsvollen Sprechweise stand und für einen Moment erinnerte der falsche Priester d’Artagnan an eine Wildkatze, die nur darauf wartete ihre Beute anzuspringen. Er seufzte schwer. Dabei hatten er und Porthos wirklich versucht, die ganze Sache friedlich beizulegen.
Doch zu seiner grossen Überraschung verschwand jegliche Aggression aus Pater Jacques Zügen. Stattdessen breitete sich ein mildes Lächeln auf seinem Gesicht aus. „Nun, da habt Ihr zweifellos Recht, Monsieur Athos. Beweisen kann ich Euch nichts. Und eigentlich ist es auch ein zu schöner Abend um sich zu streiten, nicht wahr?“ Er trat einige Schritte zurück.
D’Artagnan nahm das als Aufforderung den Friedhof zu verlassen. Er nickte Pater Jacques auf eine wie er hoffte würdevolle Art und Weise zu und stolzierte an ihm vorbei. Athos machte allerdings keine Anstalten ihm zu folgen, sondern starrte weiterhin Pater Jacques an, der seinen grimmigen Blick gelassen erwiderte. Als Porthos Athos am Arm wegziehen wollte, machte sich dieser mit einem Ruck frei. „Ist ganz schön frustrierend, wenn man weiss, dass man auf der richtigen Spur ist, aber es ist nicht beweisen kann oder?“, fragte Athos unverhohlen provozierend.
Pater Jacques‘ Lächeln tröpfelte langsam von seinem Gesicht. „Manche Spuren führen direkt zur Hölle, Monsieur Athos. Vergesst das nicht.“ Und nach dieser unverhohlenen Drohung drehte sich der Priester um und verschwand auf leisen Sohlen in der Nacht.
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Der Morgen war noch kalt und jung, als Tréville auf seinem mächtigen Hengst durch das Tor der Garnison braust. Der kühle Wind fühlte sich wohltuend frisch auf seinem müden Gesicht an. Gestern hatte er bis spät in die Nacht auf die drei Grabräuber gewartet. Ihr Bericht hatte Tréville sehr beunruhigt. Zwar hatten der Fund des Skeletts und auch das Verhalten von Pater Jacques, nachdem er sie in flagranti erwischt hatte, ihre Theorie bestätigt, aber laut Athos‘ Urteil, war der Priester ein gefährlicher Mann, der sich, je mehr er in die Enge getrieben werden würde, umso vehementer wehren würde oder aber Schritte gegen sie einleiten würde. Das war keine besonders erbauliche Aussicht, dennoch hatte Tréville seine Männer erst einmal ins Bett geschickt. Bevor sie Jacques endgültig enttarnten, wollte er mit Fleur reden. Er hatte das Gefühl, dass Fleur diejenige sein würde, die auch noch den letzten Vorhang, der über all diesen Geheimnissen lag, beiseiteschieben würde.
Pierre hatte ihm verraten, dass er Fleur bei seiner Schwester Sophie untergebracht hatte. Diese führte – im Gegensatz zu ihrem lebenslustigen Bruder – offenbar ein sehr zurückgezogenes und bescheidenes Leben in einer Hütte, die ironischerweise im selben Wald wie die geliebte Kapelle des Kardinals, lag. Innerlich wappnete sich Tréville gegen das Zusammentreffen mit einer weiteren skurrilen Person. Wer mit Pierre Lefèvre verwandt war und im Wald hauste, war wahrscheinlich auch nicht unbedingt eine ausgeglichene, vernünftige Persönlichkeit. Er stellte sich diese Sophie als eine Mischung aus Hexe und Waldschratt vor und ihm schwante Übles.
Zum Glück hatte Pierre ihm den Weg zu der Hütte sehr genau beschrieben und da Tréville zudem einen ausgezeichneten Orientierungssinn hatte, kam er zügig durch den Wald und es dauerte nicht lange bis er zwischen den Blättern Häuschen erspähte. Tréville stieg in gemessener Entfernung ab und nahm die Zügel in die Hand. Schrullige Dame hin oder her, er wollte sie nicht erschrecken, indem er in einem Karacho, hoch zu Ross und in Uniform ihre Einsamkeit zerstörte.
Das Haus sah allerdings keineswegs so aus wie das Haus einer Hexe, im Gegenteil. Mit den Efeu berankten Wänden und dem hübschen rötlich schimmernden Dach wirkte es sogar äusserst romantisch. Geradezu perfekt für ein heimliches Stelldichein mit einer schönen Dame, dachte Tréville und band sein Pferd an einem Baum fest. Nicht, dass das bei ihm in nächster Zeit der Fall sein würde. Sein ganzes Herz gehörte Regiment, eine Frau passte schlecht in sein Soldatenleben. Aber manchmal, in bitteren einsamen Stunden sehnte er sich danach die weichen behütenden Arme einer Frau um sich zu fühlen.
Seine süssen Gedanken wurden jäh durch das verräterisch laute Knacken von Zweigen unterbrochen. Eine Frau trat aus dem Unterholz, leise vor sich hin singend. Doch als sie Tréville erblickte, brach sie den Gesang abrupt ab und starrte ihn an.
Es war auf keinen Fall Fleur, das sah Tréville auf den ersten Blick. Diese Frau hatte ein wettergegerbtes, braun gebranntes Gesicht, das ebenso deutlich auf viel Arbeit im Freien hinwies wie die rauen Hände. Sommersprossen zogen sich über ihre Nase, was ihr einen kecken und frechen Charme verlieh. Um den Kopf hatte sie ein rotes Kopftuch gebunden unter dem braune Locken hervorquollen. Am Arm trug sie einen geflochtenen Korb. Die blauen Augen waren denen ihres Bruders so ähnlich, dass Tréville sofort wusste, dass ihm hier die geheimnisvolle Sophie gegenüberstand.
Er lüftete mit einer eleganten Bewegung den Hut. „Gott zum Grusse, Mademoiselle Lefèvre.“
Sie hob die Augenbrauen. „Sieh an, was für ein Wunder. Ein königlicher Musketier findet den Weg zu diesem abgeschiedenen Flecken Erde. Und nicht nur das, er weiss sogar meinen Namen! Wenn Ihr mir jetzt Euren Namen sagt, sind wir auf Augenhöhe.“ Ihre Stimme klang rau und war überraschend tief für eine Frau. Der spöttische Unterton erinnerte Tréville an Pierres Neckereien.
„Ich bin Hauptmann Tréville.“ Die Worte gingen ihm eigenartig schwer über die Lippen und verwundert stellte er fest, dass er es nicht mehr gewohnt war, sich vorzustellen. In Paris genoss er einen solchen Bekanntheitsgrad, dass die meisten beim Blick auf seine Uniform sofort wussten, wer vor ihnen stand.
Sophie stiess einen jungenhaften Pfiff aus. „Hoher Besuch sogar. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mir heute Morgen natürlich ein anderes Kleid angezogen.“ Sie deutete auf ihr einfaches Kleid, dessen Sam schön völlig zerfranst war.
„Ich komme aus Paris, Mademoiselle. Jede Frau, die überhaupt etwas trägt, ist für mich schon ein erhebender Anblick“, witzelte Tréville.
Er schien den richtigen Ton getroffen zu haben. Mit einem herzhaften unkomplizierten Lachen legte sie den Kopf in den Nacken. „Und die Männer von Paris scheinen einen besseren Sinn für Humor zu haben, als mein Bruder stets behauptet.“
„Vielleicht lernt Euer Bruder einfach nur die falschen Leute kennen.“
Sophie zuckte mit den Schultern. „Gut möglich. Deswegen seid Ihr doch hier oder? Weil mein Bruder die falschen Leute kennengelernt hat und wieder einmal bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt.“
Die offene Art und Weise wie Sophie die Dinge ansprach, war Tréville sehr sympathisch. Es war zur Abwechslung mal ganz angenehm, mit jemanden zu sprechen, der noch unberührt war von den Ränkespielen des Hofs und nicht – oder nur am Rande – in einen komplizierten Mordfall verwickelt war. Er beschloss deshalb, schnell zur Sache zu kommen. „Ich will Eurem Bruder helfen. Er wird verdächtigt einen Mord begangen zu haben und…“
„Spart Euch das, Hauptmann“, unterbrach ihn Sophie, „ich weiss in welches Chaos Pierre sich mal wieder reinmanövriert hat. Und ich weiss auch, wieso Ihr hierhergekommen seid. Ihr wollt mit Fleur Delacroix reden.“
Nun fühlte Tréville sich allerdings überrumpelt. „Ihr seid wirklich erstaunlich gut informiert, Mademoiselle.“
Sie schien das leise Misstrauen, das in seiner Stimme mitgeschwungen war, gehört zu haben; denn sie stiess ein keckerndes, spöttisches Lachen aus. „Keine Sorge Hauptmann, ich habe keine kleinen Vögelchen im Palast, die mir spannende Geschichten zutragen. Fleur hat mir alles erzählt und ich habe geahnt, dass irgendeinmal jemand hier auftauchen und nach ihr suchen würde. Die Frage war nur: Gehört derjenige welcher zu den Guten oder den Bösen.
„Und? Wie lautet das Urteil bei mir?“
Sophie überlegte kurz. „Nun, anhand der Tatsache, dass Ihr es vorzieht mit mir zu reden, statt einfach in mein Haus einzubrechen und Fleur an den Haaren raus zu schleifen, würde ich Euch zu den Guten zählen. Andererseits“, sie legte den Kopf schräg, „erscheint es mir seltsam, dass der berühmte Hauptmann der Musketiere den Weg zu mir auf sich nimmt, nur weil eine Zofe nicht ganz ehrlich war, was ihre Vergangenheit betrifft.“
„Ich bewunderte Euren Scharfsinn. Aber das ist eine lange, verwickelte Geschichte, die ich gerne mit Fleur klären würde.“
Sie seufzte schwer. „Diese Soldaten. Einfach immer so verschwiegen. Sagt ihr mir aber wenigstens, wie es meinem Bruder geht? Muss ich mir Sorgen machen?“
„Das kommt darauf an. Wie schlimm klingt den Gefängnis für Euch?“
Sophie reagierte weniger heftig als erwartet. Kurz glitt ein Zucken über ihr sommersprossiges Gesicht und die Finger verkrampften sich um den Henkel ihres Korbs, ansonsten blieb sie äusserlich gelassen. Doch in ihrer Stimme schwang deutliche Sorge mit, als sie fragte: „Und Ihr glaubt, ein Gespräch mit Fleur könnte Euch dabei helfen, meinen Bruder aus dem Gefängnis zu helfen?“
Er erwiderte ihren herausfordernden Blick. „Ja“, entgegnete er schlicht.
„Dann, werde ich es Euch wohl erlauben.“ Und ohne grössere Umschweife hakte sie sich bei ihm unter und führte ihn in das Haus.
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Porthos befand sich noch im Halbschlaf, als er die Treppe hinunterstolperte und sich neben d’Artagnan auf die Bank sinken liess. Mit einem leisen Stöhnen vergrub er den Kopf in den Armen. Er fühlte sich, als hätte er einen grauenhaften Kater, dabei war er einfach nur völlig übermüdet. Es wäre leichter zu ertragen gewesen, wenn er wenigstens auf eine schöne feuchtfröhliche Nacht in einem Wirtshaus hätte zurückblicken können. Stattdessen hatte er die Nacht auf einem unheimlichen Friedhof verbracht, ein Skelett ausgebuddelt und hatte sich von einem als Priester getarnten Spion rechtfertigen müssen. Das war nicht unbedingt seine Vorstellung von einem amüsanten Abend.
„Guten Morgen, Porthos!“, zwitscherte d’Artagnan, griff nach der Karaffe mit dem Wasser und schenkte Porthos einen Becher ein. Der Jüngste in ihrem Bund war geradezu unverschämt fröhlich. Es war immer wieder erstaunlich, welche Vitalität d’Artagnan ausströmte. Egal ob er jetzt wenig geschlafen oder eine anstrengende Mission im Dienste des Königs hinter sich hatte, d’Artagnan sprühte immer vor Energie.
Athos dagegen wirkte noch müder als Porthos sich fühlte. Mit tief ins Gesicht gezogenem Hut sass er da, die Füsse auf dem Tisch gelegt, den Stuhl so weit nach hinten gekippt, dass er nur noch auf den hinteren zwei Stuhlbeinen balancierte. Unter der Krempe warf er d’Artagnan einen düsteren Blick zu. „Kannst du mir verraten, wieso du so wahnsinnig gute Laune hast?“
D’Artagnan zuckte mit den Schultern. „Weil ich mit den charmantesten Männern von ganz Paris frühstücken darf?“, schlug er mit einem breiten Grinsen vor.
„Ich würde eher sagen mit den schönsten und klügsten Männern von Paris“, korrigierte Athos.
D’Artagnan hob neckisch eine Augenbraue. „Bei aller Liebe, habt ihr beiden heute schon in den Spiegel gesehen? Ihr seht ähnlich aus wie der König, wenn er mal wieder den Herzog von Buckingham am Hof begrüssen muss.“
„Und wie sieht der König dann aus?“, fragte Porthos, gegen seinen Willen amüsiert. D’Artagnans schnelle Zunge und sein unverdrossener Witz war ebenso unerschütterlich wie seine Energie. Darin wurde er nur von Aramis übertroffen, der selbst dann noch geistreiche Scherze zu reissen pflegte, wenn ihm das Wasser bis zum Hals stand.
„Verknittert und miesepetrig!“, erklärte d’Artagnan und ahmte den Gesichtsausdruck des Königs, der seinen verhassten Gegenspieler willkommen heissen musste, so unglaublich komisch und zugleich treffend nach, dass Porthos in lautes Lachen ausbrach.
Athos jedoch blieb ungerührt. Sein Blick richtete sich auf das grosse Eingangstor, dann schien er zu stutzen. „Wir haben hohen Besuch!“, sagte er unvermittelt, nahm die Füsse vom Tisch und setzte sich ordentlich hin. Halb erwartete Porthos, dass der König jetzt in den Hof spaziert kam. Louis hatte das unglaubliche Talent immer dort aufzutauchen, wo gerade über ihn geredet wurde.
Aber es war keineswegs Louis, sondern ein weitaus angenehmerer Besucher. Adelina kam ihnen entgegengeschritten, die roten Locken zu einem geflochtenen Dutt gedreht, was ihr katzenhaft hübsches Gesicht in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte. Sie trug ein grünes Reitkleid und darüber einen grauen Mantel. Beide Kleidungsstücke betonten ihre schlanke Figur liessen sie aussehen wie eine Nymphe aus einem Märchenbuch. Porthos Herz vollführte einen gewagten Salto. Diese Frau. Sie raubte ihm einfach immer wieder den Atem.
Er war so überwältigt, dass er mit offenem Mund einfach sitzen blieb, während d’Artagnan und Athos beflissen auf die Füsse sprangen. „Die schönste Hofdame der Königin in unserer bescheidenen Garnison! Was für eine Ehre!“, flötete d’Artagnan und liess sich nach Porthos‘ Empfinden etwas zu viel Zeit mit dem Handkuss.
Adelinas Lächeln war strahlend wie das Sonnenlicht das durch dunkles Geäst brach. „Was kann es Schöneres für eine Frau geben, als sich in das Zuhause der glattzüngigsten Kavaliere von ganz Frankreich zu begeben?“, lachte sie, während sie ihre schmale Hand nun auch Athos entgegenhielt. Dann sah sie Porthos direkt an. „Auch wenn mein Kavalier es nicht für nötig zu halten scheint, mich zu begrüssen.“
Porthos kam umständlich auf die Füsse und wechselte einen erstaunten Blick mit seinen beiden Freunden. Es war ungewöhnlich für die sonst so diskrete Adelina, dass sie so offen auf ihre Liaison anspielte. Und wenn er es sich recht überlegte, war es auch sehr ungewöhnlich, dass sie am helllichten Tag einfach in die Garnison spazierte. Ihre Beziehung war zwar nicht unbedingt ein Staatsgeheimnis, aber doch etwas, dass sie eigentlich unter Verschluss hielten. Immerhin war Adelina eine englische Adelige und er nur ein meist völlig abgebrannter Musketier. Nicht gerade das was man eine standesgemässe Verbindung betrachtete. Adelinas Ruf konnte dadurch ernsthaften Schaden nehmen.
Sie musste einen Grund dafür haben.
Und tatsächlich, als er ebenfalls seine Ehrerbietung bekundet hatte, schob sie ihren Arm unter den seinen. „Begleitet Ihr mich, Monsieur Porthos?“, fragte sie mit keckem Augenaufschlag.
„Natürlich…“ stotterte Porthos, noch immer irritiert von Adelinas Betragen.
Sie jedoch wirkte genauso selbstsicher wie immer. „Es tut mir Leid, dass ich Euren Freund kurz entführen muss, meine Herren“, sagte sie in Richtung Athos und d’Artagnan, „aber ich verspreche Euch, dass ich ihn in einem Stück zurückbringe.“ Und mit diesen Worten zog sie Porthos in die belebten Strassen von Paris.
„Äh, Adelina? Kannst du mir sagen, was das eigentlich soll?“, fragte Porthos schliesslich, als sie die Garnison ein Stück hinter sich gelassen hatten.
„Wieso? Was soll denn sein?“ Ihr Tonfall war eine Spur zu unschuldig um glaubwürdig zu sein. Sie schien ihm das Misstrauen vom Gesicht abzulesen, denn sie schmiegte sich in einer entschuldigenden Geste an ihn und drängte ihn so in eine abgelegene Gasse. Hier, fern von der Menge, fühlte sich Porthos auf einmal wie entwurzelt. Zugleich war er froh, dass Adelina offenbar beschlossen hatte, ihnen ein Stück mehr Privatsphäre zu gönnen. Doch das ungute Gefühl in seinem Magen verstärkte sich. Irgendwas stimmte hier doch nicht.
„Adelina, es gibt niemanden mit dem ich lieber Zeit in einer dunklen Gasse verbringen würde, aber ich wäre jetzt wirklich dankbar, wenn du mir endlich sagen könntest, warum du mich aufgesucht hast!“
Sie machte ein zerknirschtes Gesicht. „Verzeih mir Porthos. Ich habe einen…einen heiklen Auftrag bekommen und bin deshalb gezwungen unübliche Wege zu gehen.“
„Auftrag? Von wem hast du denn einen Auftrag bekommen?“ Eigentlich gab es nur jemanden, der eine Hofdame als Laufbursche brauchen konnte und das war…
„Von der Königin“, bestätigte Adelina seine Vermutung, „sie hat…eine heikle Bitte an mich gerichtet.“ Ihre Stimme klang so besorgt, wie Porthos sie noch nie gehört hatte. Adelina war eigentlich eine Frohnatur.
„Was für eine Bitte?“
Sie sah ihm fest in die Augen. „Porthos…was weisst du von der Beziehung der Königin zu Aramis?“
Mit dieser Frage hatte Porthos nun wirklich nicht gerechnet. „Sie ist die Königin und er ein loyaler Musketier, der sie mit seinen Leben beschützen würde“, entgegnete er vorsichtig.
Adelina schnaubte. „Oh, Porthos. Beantworte meine Frage bitte ehrlich und nicht mit einer solchen Floskel! Ich bin die Vertraute der Königin. Ihre Geheimnisse sind bei mir sicher.“
Porthos wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab. Die Wahrheit war, dass er nicht wusste, wie weit Anna und Aramis in ihrer gegenseitigen Zuneigung gegangen war. Er hoffte für sie beide, dass sie die Grenzen, die das Leben ihnen gesteckt hatte, nicht überschritten hatten. Aber, dass zwischen den beiden eine fatale Anziehung bestand, die weit über das normale Verhältnis eines Musketiers zu seiner Königin ging, das wusste er genau. Aber konnte er Adelina das anvertrauen? Ein Geheimnis, das seinen besten Freund Schaden zufügen konnte?
Aber es war Adelina. Die Frau, die er liebte und die der Königin ergeben war. „Er mag sie und sie mag ihn“, gab er schliesslich zu, „er ist ihr Ritter, wenn du es so sehen willst. Aber wie kommst du darauf? Was hat Aramis mit deiner Aufgabe zu tun?“
„Nun, in gewisser Weise ist Aramis meine Aufgabe. Die Königin hat mich gebeten, ihn in ihrem Namen zu besuchen und ihre Genesungswünsche auszurichten.“
Porthos schnappte nach Luft. Hatte die Königin den Verstand verloren? Wie konnte sie, nun da ihre Stellung nach all den verzweifelten Jahren endlich durch ihre Schwangerschaft gesichert war, ihren Kopf wegen einer Schwärmerei riskieren? Doch dann fiel ihm noch eine ganz andere Frage ein. „Aber woher weiss die Königin überhaupt, dass Aramis krank ist? Und woher, weisst du es überhaupt. Ich habe dir das gar nicht erzählt!“
Sie sah mit einem Schlag noch zerknirschter aus. „Tréville hat es mir gesagt.“
Toll. Ihr Hauptmann wurde auch noch zur Plaudertasche. „Und woher weiss die Königin, dass wir wissen wo Aramis ist? Hast du ihr das etwa auch erzählt?“
Adelinas Schultern sanken nach vorne und ihre Wimpern senkten sich, ganz das Bild der reuigen Sünderin. „Es tut mir so leid, Porthos. Aber die Königin war so um Sorge um ihn und hat sich so gequält…ich musste ihr einfach sagen, dass er in Sicherheit ist!“
Porthos fasste sich stöhnend an den Kopf. Frauen! Wieso mussten sie nur immer ihre Romanzen miteinander austauschen? „Und du musstest ihr dann auch gleich noch erzählen, dass er krank ist?“
„Das ist mir unglücklicherweise rausgerutscht“, gestand Adelina.
„Dir ist mal eben so rausgerutscht, dass wir einen aus dem Kerker entflohenen Häftling versteckt halten und dieser neben einer Amnesie auch noch an einer Lungenentzündung leidet? Adelina!“ Porthos fuhr sich entnervt durch die Haare.
„Ich weiss, ich weiss…aber du hast sie nicht gesehen, Porthos. Sie war ausser sich vor Kummer. Ich wollte nur helfen!“
Sie klang so flehentlich, dass Porthos‘ Zorn sich verflüchtigte. Eigentlich hatte er kein Recht, Adelina Vorwürfe zu machen. Er hatte ihr schliesslich alles erzählt und so zur Geheimnisträgerin gemacht. Und er wusste aus eigener Erfahrung, wie schwierig es sein konnte, dem Königspaar einen Wunsch abzuschlagen. Wobei Könige und Königinnen eigentlich keine Wünsche äusserten, sondern Anweisungen und Befehle. Anna versteckte das zwar hinter ihrem Liebreiz und ihrer Höflichkeit, aber auch sie war es gewohnt zu bekommen, was sie wollte.
„Und du konntest es ihr wirklich nicht ausreden?“
„Wir reden hier von Anna von Österreich! Dieser Frau redet man nichts aus. Nein, ich muss es tun. Schon allein um ihren Gemütszustand wieder herzustellen. Dem König ist auch schon aufgefallen, wie besorgt und traurig Anna in letzter Zeit ist. Noch kann er diese Gemütsveränderung auf die Schwangerschaft schieben, aber was wenn er misstrauisch wird?“
Das war alles andere als eine gute Nachricht. Langsam aber sicher wuchs ihnen die Geschichte über den Kopf. Er fand Annas Idee noch immer ziemlich dämlich und er war alles andere als glücklich, dass Adelina ihn jetzt in diesem riskanten Unterfangen auch noch zum Komplizen machte. Aber es schien, als hätte er gar keine andere Wahl. „Adelina, ich hoffe, du weisst wie gefährlich es sein kann, die Königin bei ihren persönlichen Liebeshändel zu unterstützen.“
Sie sah ihn ernst an und legte ihre Hand auf seine. „Ich weiss es, Porthos. Aber es ist besser, ich nehme das Risiko auf mich. Ich bin unabhängiger als die anderen Damen in ihrem Gefolge. Wenn es allzu brenzlig wird, kann ich immer noch nach England zurückgehen“, fügte sie mit einem halben Lächeln hinzu.
Auch wenn ein kleiner Teil von ihm noch immer zornig auf sie war, zog er sie näher an sich. „Das wäre aber sehr schade“, murmelte er und vergrub die Nase in ihrer duftenden Lockenflut. Diese Frau, dachte er träumerisch, sie könnte sogar einen Mord begehen und ich würde ihr verzeihen.
Sie spürte seinen Stimmungsumschwung, hob den Kopf und schenkte ihm einen ihrer flüchtigen Feenküsse. Hungrig verlangte er nach mehr, doch sie schob ihn ein Stück von sich und legte ihm die Hand auf die Lippen. „Nein. Ich darf jetzt keine Zeit mehr verlieren. Und du musst mir jetzt sagen, wo genau ich Aramis finden kann.“
Porthos knurrte unwillig, beschrieb Adelina dann aber bereitwillig, wo Aramis zu finden war. „Madame Bonacieux ist bei ihm. Ihr kannst du vertrauen, sie ist eine gute Freundin.“ Er nestelte kurz am Verschluss des Kreuzes, das er stets um den Hals trug, nahm es ab und drückte es Adelina in die Hand. „Hier. Gib ihr das, damit sie weiss, dass du eine von uns bist.“
„Ich werde nett zu deinem Freund sein. Im Namen der Königin und in deinem Namen“, versprach sie ihm, während sie das Kreuz einsteckte.
Er verzog das Gesicht. „Sei lieber nicht zu nett. Aramis ist ein ziemlicher Frauenheld.“
„Keine Angst. Ich habe bereits einen Musketier und bin mehr als zufrieden mit seinen Leistungen.“ Sie küsste ihn erneut, länger und leidenschaftlicher, bevor sie sich schliesslich mit einem letzten bedauernden Blick von ihm löste.
„Adelina! Pass auf dich auf!“, rief er ihr noch hinterher.
Sie hielt kurz inne und drehte sich noch einmal um. „Keine Angst, Porthos. Ich pflege meine Aufträge stets tadellos zu erledigen.“ Ihr Lächeln wirkte auf einmal ganz anders als sonst, nicht mehr spöttisch und lebensfreudig, sondern geradezu raubtierhaft…beinahe bösartig sogar. Doch dann zog sie sich die Kapuze über den Kopf, verschwand in der Menschenmenge und Porthos war sich sicher, dass er sich dieses gefährliche Lächeln nur eingebildet hatte.
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Alles in allem wirkte Fleur keineswegs wie eine mordlustige Spionin. Sie war sehr blass und um den schönen vollen Mund zeichneten sich deutliche Falten ab, so als hätte der Kummer seine Krallen in die weiche Haut geschlagen. Ihr blondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing und aus dem sich einzelne Strähne lösten. Ihre blauen Augen jedoch waren scharf und durchdringend und ihre Stimme, mit dem sie Tréville ihre Geschichte erzählte, war leise aber fest.
Ihre Schilderung deckte sich ganz mit der von Pierre. Ganz nüchtern, ohne es gross auszuschmücken, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit in Armut und wie Pierre sie später unter seine Fittiche genommen hatte. Wie sie jahrelang ihren Körper und ihre Liebe zu Geld gemacht hatte. „Es war nicht so schlimm, wie bei anderen Bordellen. Pierre hat…gut zu uns geschaut. Er hat uns von der Strasse geholt, obwohl er selbst doch nichts hatte. Und als er endlich genügend Mittel hatte, mussten wir auch keine Freier mehr ins Bett nehmen. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre ich auf der Strasse gestorben.“
Als wolle sie sich stellvertretend bei seiner Schwester bedanken, lächelte sie Sophie flüchtig zu. Diese sass neben Tréville und zupfte vorsichtig ihre frisch gesammelten Kräuter auseinander. Jetzt sah sie kurz von ihrer Arbeit auf. „Ehrlich gesagt fand ich schon immer, dass mein Bruder eine merkwürdige Auffassung von Moral hat. Aber er ist eben wie er ist.“ Sie hob kurz die Schultern und widmete sich wieder ihren Kräutern.
„Und dann hat er Euch die Stelle als Zofe besorgt“, nahm Tréville den Faden wieder auf.
„Ja. Keine Ahnung wie er es angestellt hat. Zuerst hatte ich überhaupt keine Freude. Ich habe mich sogar regelrecht gefürchtet. Der Hof des Königs ist eine Schlangengrube und auf seine Art genauso gefährlich wie die Strasse. Aber die Strasse kenne ich seit meiner Geburt und dort weiss ich wie man sich wehren kann. Aber dann ging ich doch und es dauerte nicht lange, bis ich Gefallen an meinem Leben fand.“ Tränen stiegen ihr in die Augen und sie legte in einer flehentlichen Geste die Hand auf seinen Arm. „Oh, Monsieur Tréville, ich versichere Euch: Ihre Majestäten könnten keine treuere Zofe finden als mich. Ich habe meine Pflicht stets mit der allergrössten Sorgfalt erledigt!“
„Fleur, ich bin nicht hier, weil Ihr geschwindelt habt, was Eure Herkunft angeht. Ich bin hier, weil Ihr unter dem Verdacht steht, den Musketier Francis ermordet zu haben.“ Er wählte bewusst einen scharfen und anklagenden Tonfall, um eine Reaktion zu erhalten.
Die kam dann auch so gleich. Fleur stiess einen spitzen Schrei aus und sprang auf. Die Empörung liess ihr Gesicht glühen. „Was? Wie kommt Ihr nur auf so einen schrecklichen Gedanken? Wieso sollte ich einen Musketiere töten?“, fragte sie und ihre Stimme überschlug sich vor Zorn. Sophie hob den Kopf und warf Tréville einen sowohl irritierten als auch warnenden Blick zu. Zweifellos war sie bereit ihren Schützling zu verteidigen und Tréville konnte sich gut vorstellen, dass sie eine erbitterte Gegnerin wäre.
Einschüchtern liess er sich davon aber nicht. „Nun, vielleicht, weil Francis um Euer kleines Geheimnis wusste?“
„Nein! Ich habe kaum je ein Wort mit Francis gewechselt. Ich weiss nur, dass er Maries Vetter ist, weil sie oft von ihm erzählt hat.“
„Ihr hattet also keine persönliche Beziehung zu Francis?“
„Was soll ich denn für eine Beziehung zu ihm gehabt haben?“, fragte Fleur händeringend.
Tréville verschränkte die Arme und fixierte das junge, aufgebrachte Mädchen. „Eine amouröse Beziehung.“
Fleur stiess ein humorloses Lachen aus. „Ich und Francis? Wir kannten uns kaum. Nur vom Sehen.“
Jetzt spiele Tréville seinen letzten Trumpf aus. „Und trotzdem habt Ihr ihm ein wertvolles Schmuckstück geschenkt!“
Die Wut verschwand aus Fleurs Zügen und machte Verwirrung Platz. „Ein Schmuckstück? Ich habe so gut wie gar keinen Schmuck! Und wenn ich welchen hätte, dann würde ich ihn nicht verschenken. Und schon gar nicht an Francis, den ich, wie gesagt so gut wie gar nicht kannte!“
Tréville griff in seine Tasche und zog die Kette hervor, jenes verräterische Medaillon, das Francis bei sich getragen hatte. Er hielt es Fleur direkt vors Gesicht. Deren blauen Augen wurden gross vor Überraschung und sie griff danach. Ihre Finger strichen über das fein gearbeitete Material. Tréville war verblüfft. Fleur schien das Schmuckstück zu kennen. War sie doch die gesuchte Spionin? War ihre rührselige Geschichte und ihre Empörung einfach nur eine schauspielerische Leistung.
Sie gab die Kette Tréville zurück. „Das gehört mir nicht. Aber…“ sie zögerte kurz, dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck, „ich weiss, wem es gehört.“
Trévilles Herz schlug schneller. War er nun endlich der Lösung des Falls näher? Wurde nun endlich die Identität dieser geheimnisvollen Spionin enthüllt? „Wem Fleur? Wem gehört die Kette?“
Sie biss sich auf die Lippen. Dann erwiderte sie entschlossen seinen Blick.
„Lady Adelina.“
Kapitel Die Spionin, die ich liebte
Kapitel 31
Die Spionin, die ich liebte
Tréville war eigentlich ein umsichtiger Reiter, doch jetzt kannte er keine Gnade mit seinem Pferd und trieb es unbarmherzig durch die Strassen von Paris, wobei er nicht einmal auf die Menschen achtete, die durch die Stadt flanierten. Mehrere mussten zur Seite springen als er herangeprescht kam und einige riefen ihm unflätige Schimpfwörter her. Er selbst predigte seinen Männern zwar immer wieder, dass sie sich nicht benehmen sollten wie die Wilden, aber jetzt gerade hatte Tréville weitaus drängendere Probleme als den Ruf der Musketiere.
Sein König und sein Land waren in Gefahr. Und dass nur, weil er zu dumm gewesen war, das Naheliegende zu erkennen.
Noch immer dröhnten Fleurs Worte in seinen Ohren. Lady Adelina. Buckinghams Abgesandte, die er als Hofdame an den französischen Hof geschickt hatte, damit sie der Königin mit ihrer munteren, fröhlichen Art Gesellschaft leistete. Lady Adelina, die mit ihrem sprühenden Wesen und ihrem Charme alle bezaubert hatte. Lady Adelina, die immer so freundlich, so verständnisvoll, so lustig gewesen war, die ihn mit ihrer unkonventionellen Art so sehr beeindruckt hatte, dass er selbst dann nicht den Hauch eines Verdachtes gegen sie gehegt hatte, als sich herauskristallisiert hatte, dass englische Spione ihre Finger bei diesen mysteriösen Mordfällen im Spiel hatten.
Dabei passte alles zusammen. Fleur hatte ihm erzählt, dass es Adelina gewesen war, die ihr geraten hatte zu fliehen, weil ihr Geheimnis aufgeflogen wäre. Und als Porthos ihr dann das Schmuckstück präsentiert hatte, hatte die raffinierte Adelina einfach behauptet, es gehöre Fleur. So hatte sie ihnen eine neue Hauptverdächtige präsentiert und ihre Spuren erneut verwischen können. Sie musste es auch gewesen sein, die den Kardinal in der Bibliothek überfallen hatte. Wahrscheinlich hatte Jacques, der das Gespräch zwischen Fleur und Marie auf dem Friedhof belauscht hatte, sie rechtzeitig gewarnt. Vermutlich hatte die gewiefte Adelina jeden Geheimgang im Louvre ausgekundschaftet und konnte sich mühelos unerkannt bewegen.
Er musste sofort den König in Kenntnis setzen. Adelina war eine enge Vertraute von Anna und wer wusste was die Königin ihr schon anvertraut hatte? Und dann das Kind…wer wusste schon welchen Auftrag Buckingham seiner Spionin eingeflüstert hatte! Was wenn er gar die Hand nach dem Leben des langersehnten Erben Frankreichs ausstreckte?
Diese Angst war es, die Tréville antrieb und als er endlich beim Louvre angekommen war, warf er die Zügel achtlos einem Stallburschen zu und stürmte ohne sich lange mit irgendwelchen höfischen Geplänkel aufzuhalten durch die Palasttüren. „Wo ist der König?“, blaffte er den ersten Höfling an, der ihn über den Weg lief.
Dieser war jedoch vom herrischen Ton des Hauptmannes keineswegs eingeschüchtert. Tatsächlich schien er den verdienten Captain der Musketiere in seiner schmutzigen Reitkleidung schlichtweg nicht zu erkennen. Tréville, der schliesslich direkt aus dem Wald kam, sah nämlich eher wie eine Vogelscheuche als wie ein Musketier. Sein Hut wurde nicht nur von der üblichen Feder, sondern auch von einem grossen Vogeldreck verziert, in seinen zerzausten Haaren hatten sich zahlreiche Blätter verfangen und seine Stiefel waren so schlammüberzogen, dass man ihre Form nur noch erahnen konnte. Und genau diese Stiefel waren es jetzt, die der Höfling mit hochgezogenen Brauen einer kritischen Musterung unterzog. „Monsieur, was soll das? Ihr ruiniert mit Euren dreckigen Stiefel den kostbaren Teppich!“
Solche Töne war sich Tréville von Richelieu mehr als gewöhnt, dass jetzt aber ein blasierter Höfling derart hochnäsig mit ihm sprach, schlug dem Fass den Boden aus. „Die Teppiche sind mir egal. Ich muss den König sprechen.“
„Nun dem König sind seine Teppiche jedoch nicht egal“, erklärte der Höfling mit herablassenden Lächeln, „und ohnehin solltet Ihr Euch ein anderes Benehmen angewöhnen, wenn Ihr beim Hof etwas erreichen wollt, Monsieur!“
Unter anderen Umständen hätte Tréville gelacht, denn er war nicht eitel und die Gesellschaft seiner Soldaten war ihm ohnehin lieber als die der Reichen und Mächtigen. Jetzt aber war er in Eile und er konnte nicht fassen, dass er in seiner dringenden Mission von einem Emporkömmling aufgehalten wurde, der ihm Vorträge über das richtige Verhalten am Hofe hielt! „Ich muss mit dem König sprechen, also sagt mir Ihr jetzt wo er ist!“
Der Höfling schüttelte missbilligend den Kopf. Er war ein hübscher junger Mann mit blonden Locken und himmelblauen Augen. Nur die zu spitz geratene Nase passte nicht ganz in sein ebenmässiges Antlitz. Gekleidet war er allerdings eher schlicht und da Tréville ihn bis jetzt noch nie bei Hofe gesehen hatte, vermutete er, dass der Jüngling zum Landadel gehörte und zum ersten Mal den Weg in den Palast gefunden hatte. Das hinderte ihn aber offensichtlich nicht daran, sich aufzuspielen. „Ihr könnt doch nicht einfach daherkommen wie ein Bettler und dann danach verlangen, den König zu sehen. Wenn das jeder machen würde!“
„Ich bin aber nicht jeder!“, brülle Tréville, der nun endgültig die Fassung verlor. Der Gedanke, dass Adelina gerade jetzt fröhlich durch die Gemächer der Königin spazierte und wer weiss was für Untaten ausbrütete, liess ihn die Fassung verlieren und für einen Moment war er tatsächlich versucht, die spitze Nase seines Gegenübers zu brechen. Aber Louis wäre wahrscheinlich nicht erfreut, wenn der Hauptmann seiner Musketiere einen Adeligen verprügelte.
Schon gar nicht, wenn er dabei den teuren Teppich endgültig mit Blut ruinierte.
„Wenn Ihr mit dem König sprechen wollt, müsst Ihr erst um eine Audienz bitten und wenn Euch diese Audienz dann gewährt wird…“
Jetzt verlor Tréville endgültig die Beherrschung „Ich weiss das! Aber es geht hier nicht um irgendwelchen Hofklatsch, sondern um Leben oder Tod! Und wenn Ihr mir jetzt nicht sofort sagt, wo der König ist, dann…“ Doch Tréville kam nicht mehr dazu seine Drohung auszusprechen, denn in diesem Moment schnitt ihm eine schneidende, ölige Stimme das Wort ab. „Hauptmann Tréville! Könnt Ihr mir sagen, wieso Ihr hier so rumbrüllt? Wir sind hier im Palast und nicht in der Garnison der Musketiere, wenn Ihr das vergessen haben solltet!“
Der Kardinal, gewandet in eine seiner kostbaren Roben, kam mit gerunzelter Stirn die Treppe hinunter. Tréville war noch nie so froh gewesen seinen Erzfeind zu sehen. Der Höfling dagegen war blass geworden. „Der berühmte Hauptmann der Musketiere! Monsieur Tréville, bitte verzeiht mir. Ich konnte ja nicht ahnen, dass ein Vertrauter des Königs rumläuft wie Landstreicher.“
Tréville seufzte schwer. Wenn der junge Mann nicht bald lernte, seine Zunge zu hüten, würde er ein kurzes Leben bei Hofe führen. „Vielleicht ist Euch das eine Lehre, Menschen nicht nur nach Ihrem äusseren Schein zu beurteilen“, knurrte er unwillig.
In Richelieus Augen trat ein spöttisches Funkeln. „Aber keine Angst, mein lieber Junge. Tréville ist der Einzige im engsten Kreis des Königs, der sich seine Kleidung jeweils von einer Vogelscheuche leiht.“ Und mit einer lässig eleganten Handbewegung scheuchte er den jungen Adeligen fort, der sich unter gemurmelten Entschuldigung zurückzog. Tréville starrte ihm böse hinterher. So ein Flegel! Allerdings hatte er jetzt weder die Zeit sich mit diesem Milchgesicht zu beschäftigen, noch den Kardinal für seine Vogelscheuchen – Bemerkung in die Schranken zu weisen. „Ich habe herausgefunden, wer hinter den Mordfällen steckt“, begann er ohne Umschweife, „und ich muss umgehend den König darüber informieren.“
Richelieu hob die Augenbrauen. „Da werdet Ihr kein Glück haben, Tréville. Der König ist ausgeritten. Mal ganz abgesehen davon, wieso sollte sich der König für die Mordfälle interessieren? Das war ja bis jetzt eher eine Sache zwischen mir und Euch“, meinte er und sein salbungsvoller Tonfall zerrte an Trévilles inzwischen arg lädierten Nerven.
„Nun, ich denke schon, dass der König sich dafür interessiert, wenn er an seinem Hof englische Spione beherbergt.“
Das hatte gesessenen. Richelieu entgleisten kurz die Gesichtszüge, dann hatte er sich wieder in Griff. „Spione? Ich verstehe nicht. Vor nicht allzu langer Zeit ging es doch noch um ein Eifersuchtsdrama und jetzt plötzlich tauchen englische Spione auf? Eure Theorien, um Euren Musketier zu entlasten werden immer abenteuerlicher, Tréville. Wobei, wenn ich es mir recht überlege, geht es Euch inzwischen vielleicht gar nicht mehr um den bedauernswerten Monsieur Aramis, sondern um unseren lieben Gastwirten Pierre Lefèvre, an dem Ihr scheinbar so einen Narren gefressen habt?“
Tréville ging auf Richelieus süffisanten Tonfall nicht ein. „Ich würde den König nie mit irgendwelchen Theorien belästigen. Ich weiss, dass sich bei uns Spione eingeschlichen haben. Besser gesagt eine Spionin. Nämlich Lady Adelina.“
Es könnte gefährlich sein, dass hier auf den Gängen einfach auszuposaunen, aber da er momentan nicht mit dem König sprechen konnte und er die schwangere Königin nicht mit der Nachricht überfallen wollte, dass eine ihrer liebsten Hofdamen eine Mörderin war, blieb ihm nichts anderes übrig als es dem Kardinal zu berichten. Seine Offenheit verschaffe ihn jetzt immerhin die Genugtuung, Richelieu völlig verdutzt zu sehen. „Lady Adelina? Seid Ihr Euch da sicher?“
Tréville sah ihm fest in die Augen. „Ja.“ Und er berichtete Richelieu alles, was er und seine Musketiere herausgefunden hatten. Richelieu hörte zu, stumm und reglos, nur hin und wieder entschlüpfte ihm ein Laut des Erstaunens. Am Ende von Trévilles Erzählung waren Richelieus Lippen nur noch ein schmaler Strich und er schüttelte fassungslos den Kopf. „Lady Adelina! Wie unverfroren von den Engländern uns eine so auffallend schöne Spionin zu schicken und sie uns so offensichtlich zu präsentieren.“ In Richelieus Stimme schwang neben Ärger auch ein Hauch von Bewunderung mit. Unverfrorenheit und Raffiniertheit hatte er schon immer bewundert, sogar bei seinen Feinden.
Allerdings fand Tréville, dass es jetzt gerade Wichtigeres gab, als den Engländern für ihre Spionagestrategie Respekt zu zollen. „Wir müssen Adelina sofort festnehmen. Bevor sie noch mehr Unheil anrichten kann!“
Das schien Richelieu aufzurütteln. „Ihr habt natürlich Recht, Tréville. Besonders da die Königin ja einen Narren an unserer Lady gefressen hat. Wir müssen sie sofort davon in Kenntnis setzen.“ Ein boshaftes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. Wahrscheinlich konnte er es kaum erwarten der einsamen Anna unter die Nase zu reiben, dass eine ihrer wenigen Vertrauten, in Wirklichkeit eine Spionin war.
Tréville freute das weniger, er bedauerte es, Anna Kummer zu bereiten. Und es zog ihm das Herz zusammen, wenn er daran dachte, dass er Porthos noch eine viel tiefere Wunde würde zufügen müssen. Wie würde sein braver treuer Musketier reagieren, wenn er erfuhr, dass seine Geliebte in Wirklichkeit jene war, die seinen Kameraden ermordet und seinen besten Freund ins Gefängnis gebracht hatte? Er konnte Porthos dieses Leid nicht ersparen. Das Einzige was er tun konnte, war ihm die Nachricht so schonend wie möglich zu überbringen. Für Anna dagegen lag auch das nicht im Bereich des Möglichen. Der Kardinal würde sich diese Chance sie zu demütigen nicht entgehen lassen. „Kümmert Ihr Euch um Adelina. Ich werde dafür sorgen, dass Ihr Komplize, Pater Jacques verhaftet wird.“
Richelieu nickte. „Sobald der König zurückkehrt, werde ich ihn von diesen Ungeheuerlichkeiten berichten. Geht mit Gott, Tréville.“
Das war eine deutliche Entlassung. Tréville neigte kurz den Kopf und machte dann auf dem Absatz kehrt. Er würde zuerst einmal in die Garnison zurückkehren um seine Musketiere zu informieren und sie dann sofort zum Pfarrhaus zu schicken. Der falsche Priester und die verräterische Lady hatten genug Unheil gestiftet. Jetzt würden sie ihnen das Handwerk legen.
Es wäre bedeutend einfacher gewesen, wenn nicht auch Porthos‘ Herz in diesem tödlichen Spiel verwickelt gewesen wäre.
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John wartete unter jenem Baum auf sie, der ihnen schon öfters als Treffpunkt gedient hatte. Schon von weitem sah sie ihn, wie er nervös auf und ab tigerte, wobei sich sein schwarzes Priestergewand im Wind blähte. Es war immer noch seltsam, ihn in dieser schlichten Robe zu sehen, er, der doch ebenso wie sie eine Schwäche für aufwendige Kleidung hatte. Es hatte ihm auch nicht sonderlich gefallen, die Rolle eines Priesters übernehmen zu müssen, aber die Tarnung war perfekt gewesen. Zumindest bis alles schiefgelaufen war.
„Du bist zu spät“, begrüsste er Adelina missmutig, als sie vom Pferderücken glitt.
„Ich habe auch einen guten Grund dafür“, erwiderte sie, nachdem sie ihn auf die Wange geküsst hatte. Sie fühlte sich noch immer euphorisch nach ihrem Gespräch mit Porthos. Dieser Dummkopf hatte ihr endlich gesagt was sie wissen musste, um die letzte verräterische Spur zu löschen. „Ich habe herausgefunden, wo die Musketiere Aramis versteckt haben. Jetzt können wir endlich deinen Fehler korrigieren.“
Sie könnte nicht verhindern, dass sich leichter Tadel in ihre Stimme schlich. John ging sofort in Verteidigungsstellung. „Du trägst mindestens ebenso Schuld daran, dass wir so viele Scherereien hatten, Adelina! Immerhin war Francis deine Quelle und dein Liebhaber! Und obwohl du dachtest, dass dein Netz aus Liebreiz genügt um ihn zu zähmen ist er dir auf die Schliche gekommen“
Das entsprach der Wahrheit und das ärgerte sie noch immer. Francis hatte ihr aus der Hand gefressen. Wenn sie sich den Mond gewünscht hätte, hätte er nicht nur versucht ihr diesen vom Himmel zu holen, er hätte ihr auch noch die Sterne zu Füssen gelegt. Aber dann war dieser verfluchte französische Spion gestorben und er war plötzlich geradezu besessen gewesen, herauszufinden, wie die Tarnung seines Freundes so plötzlich hatte auffliegen können. Adelina musste sich eingestehen, dass sie Francis unterschätzt hatte. Sie hätte nie gedacht, dass er tatsächlich hinter ihre Machenschaften kommen würde.
Adelina warf in einer herablassenden Geste den Kopf in den Nacken. „Das mit Francis war tatsächlich mein Fehler. Aber wenn er nicht so verliebt in mich gewesen wäre, hätte er mich gleich verraten und hätte mir nicht ein Ultimatum gestellt. Zu dumm nur, dass du ihn erst erwischt hast, nachdem er Aramis von mir erzählt hat. Aber das wäre ein Problem gewesen, dass du gleich hättest lösen können – wenn du ihm die Kehle aufgeschlitzt hättest.“
John verdrehte die Augen. „Das hatten wir doch schon einmal, Adelina. Ich dachte, wenn ich es so aussehen lasse, als hätte Aramis Francis getötet, würde er ohnehin vom Kardinal zum Tode verurteilt werden. Und dann hätte sich der Zorn der Musketiere ganz auf Richelieu gerichtet und niemand hätte mehr nachgeforscht, wer Francis ermordet hat.“
„Ich habe dir gleich gesagt, dass das ein blöder Plan ist“, zischte Adelina, „wenn Aramis nicht glücklicherweise durch den Schlag auf den Kopf seine Erinnerung an jenen Abend verloren hätte, hätte er mich auffliegen lassen. Schon um Porthos vor mir zu schützen. Und dann hast du uns mit dieser Handlung die Musketiere erst recht auf den Hals gehetzt. Wenn sie nicht unbedingt die Unschuld ihres Freundes hätten beweisen wollen, wären sie dir jetzt nicht so dicht auf den Fersen!“
„Ach, und wenn ich Aramis getötet hätte? Meinst du sie hätten dann nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt um den Mörder zu finden?“
Ein berechtigter Einwand. Dennoch machte Adelina eine wegwerfende Handbewegung. „Tot ist tot. Aramis wäre dadurch ja doch nicht wieder lebendig geworden. Hoffnung ist bei Musketieren der grössere Antrieb als Rache.“
„Oh, ich weiss, du kennst das Seelenleben der Musketiere in – und auswendig. Immerhin lagst du ja auch mit der Hälfte von ihnen im Bett!“, stichelte John.
„Es waren zwei, mein lieber Bruder, nur zwei. Wenn ich das nicht getan hätte, dann wäre unsere Spionagetätigkeit hier nie so erfolgreich gewesen. Und auch jetzt, profitieren wir von meiner Verführungskunst. Sonst hätte mir Porthos doch nie erzählt, wo ich Aramis finden kann. Und jetzt können wir zu Ende führen, was wir begonnen haben.“
„Wieso eigentlich die ganze Mühe? Du hast mir doch erzählt, Aramis sei schwer krank und liege im Sterben?“, wunderte sich John.
Auch so eine unglückliche Wendung. Als Tréville ihr damals berichtet hatte, dass Aramis erkrankt war, war es ihr schwergefallen nicht zu jubeln. Die Gefahr, dass Aramis sich doch noch erinnern könnte, schien sich von selbst zu lösen. Aber dann war Porthos wieder in Paris aufgetaucht und hatte so gar nicht den Anschein eines Trauernden gemacht. Da war ihr klar geworden, dass sie kein Risiko mehr eingehen konnte. „Offenbar können wir nicht mehr davon ausgehen, dass Aramis auf natürliche Weise von uns geht. Ich glaube, da müssen wir ein bisschen nachhelfen.“ Sie zog den Dolch hervor, den sie stets in ihrem Mieder verbarg. Normalerweise überliess sie John die blutigen Seite ihre Aufträge, aber das hiess nicht, dass sie nicht in der Lage war ihr tödliches Handwerk zu vollbringen, wenn es sein musste.
Sie schenkte ihren Bruder ein strahlendes Lächeln. „Für England, Bruder.“
„Für England, Schwester.“
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D’Artagnan hielt sich eigentlich nicht für hellseherisch begabt. Schliesslich war er keine Madame Lilith. Aber manchmal warnten ihn seine Instinkte lange bevor etwas Schlimmes geschehen war. Sein Vater hatte immer darüber gelacht und gemeint, d’Artagnan sei offenbar ein halbes Pferd, nicht nur wegen seines feinen Gehörs, sondern auch, weil er vor Gefahr scheute, noch bevor diese überhaupt eingetreten war. So war es auch heute. Seit Porthos ungewohnt schweigsam von seinem Stelldichein mit Adelina zurückgekehrt war, konnte er seine Beine einfach nicht mehr stillhalten. Während also Athos sich von Porthos im Kartenspiel über den Tisch ziehen liess – um Porthos‘ Laune nicht weiter zu verschlechtern, schien Athos sich dafür entschieden zu haben, seine gar grosszügige Auslegung der Regeln zu ignorieren – führte d’Artagnan seine Stute, die treue Iphigenie am Zügel über den Hof. Das arme Tier stand schon viel zu lange unbewegt im Stall, weil ihr Herr die ganze Zeit zu Fuss in Paris rumrannte. Und so konnte er seine Unruhe zumindest ein wenig bezähmen.
Gerade überlegte er, ob er vielleicht sogar einen Ausritt wagen könnte, als Iphigenies freudiges Wiehern, Trévilles Ankunft verkündete. D’Artagnan hatte schon immer die Vermutung gehabt, dass seine Stute ein Auge auf Trévilles feurigen Hengst geworfen hatte und die Art wie sie jetzt den schönen Kopf in den Nacken warf, bestätigte ihm das. Seine Freunde lachten immer darüber, dass er dem Gefühlsleben der Pferde zu viel Aufmerksamkeit schenkte, aber schliesslich war sein Vater berühmt gewesen für seine Pferdezucht und hatte ihn gelernt, diese Tier und ihre Sensibilität ernst zu nehmen.
Wenn er jetzt das Gefühlsleben seines Hauptmannes einschätzte, kam d’Artagnan zum Schluss, dass Tréville düsteren Sinnes war. Er schwang sich ohne ein Wort des Grusses vom Pferd und warf die Zügel dann d’Artagnan zu. „Bring die Pferde in den Stall und komm dann zu mir ins Arbeitszimmer. Und ihr auch!“, rief er Porthos und Athos zu, die sich bereits erhoben hatte. Als d’Artagnan die beiden Pferde in den Stall führte, sah er, wie Tréville Porthos einen kummervollen Blick zuwarf und das ungute Gefühl in d’Artagnans Magengegend verstärkte sich.
Entgegen seiner Gewohnheit sich selbst um Iphigenie zu kümmern, überliess er die Aufgaben dieses Mal dem Stallburschen. Zu gross war seine Neugier auf Trévilles Nachrichten. Nur wenige Augenblicke später stürzte er atemlos und noch mit Strohhalmen an den Stiefeln in das Arbeitszimmer, wo Porthos und Athos auf Stühlen sassen, während Tréville ihnen den Rücken kehrte und aus dem Fenster starrte. Die drei Freunde warfen sich beunruhigte Blicke zu. Wenn Tréville so melancholischer Stimmung war, bedeutete dies nichts Gutes. Nur weniges vermochte den zähen Hauptmann zu erschüttern, doch nun war es offensichtlich geschehen.
Als die Tür hinter d’Artagnan geräuschvoll ins Schloss fiel, schreckte er zusammen. Er wandte sich seinen Männern zu, die Stirn von Sorgen umwölkt. „Ich war bei Fleur Delacroix“, begann er ohne Umschweife, „und sie ist keine Spionin. Zwar hatte sie ein Geheimnis, doch keines, dass uns etwas anginge. Tatsächlich wurde sie in diese Intrige verwickelt und uns bewusst als Verdächtige präsentiert. Von der wahren Schuldigen, die uns alle an der Nase herumgeführt hat.“
Bei den letzten Worten sah er Porthos voller Mitgefühl an. D’Artagnan ahnte mit jäher Klarheit worauf Tréville hinauswollte. Fleur war nur deshalb in den Mittelpunkt der Ermittlungen gerückt, weil jemand behauptet hatte, die Kette, die Francis bei sich getragen hatte, gehöre ihr. Und dieser jemand war niemand anderes gewesen als jene Frau, die Porthos‘ liebte. An der Art wie Athos scharf die Luft einsog, bemerkte d’Artagnan, dass dieser zum selben Schluss gekommen war. Porthos jedoch schien nicht zu verstehen. Vielleicht wollte er es einfach auch nicht verstehen. Er stand nur da und erwiderte Trévilles Blick, stumm und verwirrt.
„Die Spionin nach der wir suchten ist Lady Adelina.“ Tréville sagte es kurz und knapp, seine Augen jedoch verrieten, wie schwer es ihm gefallen war, diese Worte, die für Porthos wie Messerstiche ins Herz sein mussten, auszusprechen. Er streckte die Hand nach Porthos aus, um sie ihm tröstend auf die Schulter zu legen, doch dieser wich vor ihm zurück.
„Adelina? Nein, das kann nicht sein…sie würde nicht…niemals…“, stammelte er fassungslos und er sah hilfesuchend zu seinen Freunden, als hoffe er, sie würden Tréville heftig widersprechen.
Und ach, wie gerne hätte d’Artagnan das getan um Porthos‘ Schmerz zu lindern, wie gern hätte er selbst statt der fröhlichen und herzlichen Adelina einen dunklen Schergen, am besten noch in Diensten des Kardinals, als Täter identifiziert. Doch das Leben war nun einmal kein Roman, den man selbst nach Belieben ausschmücken konnte und wie von selbst begann d’Artagnans Verstand die verstreuten Scherben der mysteriösen Geschehnisse der letzten Tage zusammenzusetzen. Alles machte auf entsetzliche Art und Weise Sinn: Adelina, die Engländerin war und mit ihrem Komplizen auf diese Weise kommunizierte, die rote Locke, die dieser aufbewahrt hatte, die geheimnisvolle Kette, die Francis bei sich getragen hatte und die sie so geschickt als Beweis gegen Fleur verwendet hatte, Adelina, die als Hofdame gewiss auch über die Geheimgänge im Palast Bescheid wusste, weshalb es ihr ein Leichtes gewesen war, den Kardinal und Tréville in der Bibliothek zu überfallen. Nein, er konnte Porthos keine falschen Hoffnungen wecken, denn sie wären vergebens gewesen. Alles was er tun konnte, war seinen zitternden Freund in den Arm zu nehmen um ihm diese schwere Stunde zumindest etwas leichter zu machen.
Athos war aschgrau im Gesicht geworden. „Adelina war also Francis‘ Geliebte. Und im Glauben, dass er ihr vertrauen könnte und in seiner Verliebtheit, hat er ihr die Geheimnisse der Musketiere erzählt.“
Tréville nickte grimmig. „Er muss ihr auch von Isaac erzählt haben. Ihr wisst schon; der Musketier, dessen Tarnung am englischen Hof plötzlich aufgeflogen ist. Jetzt wissen wir endlich auch wieso. Weil Adelina ihrem Herrn Bericht erstattet hat. Dummer Francis“, fügte er bitter hinzu. Eine durchaus berechtigte Äusserung, wie d’Artagnan fand. Auch wenn er nicht hatte wissen können, dass er in den Armen einer Spionin lag, war es äusserst fahrlässig gewesen einer Engländerin von einer so heiklen Mission zu berichten. Andererseits: Wie oft hatte sein eigenes Herz ihn schon zu Dummheiten verführt?
Und plötzlich kam ihm die Grabplatte in den Sinn, die ihm damals bei der Beerdigung von Francis aufgefallen war. „Nur der Tod kann nicht verraten“, zitierte er und alle Köpfe drehten sich zu ihm um. „Das stand auf Isaacs Grab. Ich konnte den Namen damals nicht richtig einordnen, aber jetzt macht der Satz Sinn. Wahrscheinlich hat Francis den Spruch ausgesucht. Vielleicht als Mahnung an sich selbst oder als Hinweis für uns. Weil er herausgefunden hatte, wer der Verräter war.“
Tréville nickte. „Und deshalb hat er auch den Brief geschrieben und versteckt. Er wusste, dass sein Leben in Gefahr war und hat deshalb diese Vorkehrungen getroffen. Nur, wieso er nicht gleich zu mir gekommen? Uns wäre viel erspart worden. Und er würde wohl noch leben!“
„Weil er sie liebte. Vielleicht wollte er ihr die Möglichkeit geben zu fliehen“, wandte Athos ein. Er klang ungewohnt sanft und seine Hand berührte flüchtig die von Porthos, als wolle er, der kein Freund grosser Zärtlichkeiten war, ihn zumindest so seiner Unterstützung versichern. Natürlich, Athos hatte dieselbe Geschichte erlebt und wusste wie es war, wenn man zerrissen wurde, zwischen Liebe und Hass. D’Artagnan war diese Erfahrung bisher erspart geblieben, aber der Teufel sollte ihn holen, wenn er zuliess, dass Porthos nun in denselben tödlichen Strudel aus Selbsthass gezogen wurde, den auch Athos so lange hatte bekämpfen müssen.
„Das macht Sinn. Und weil er ihr diese Möglichkeit gab, wusste sie, dass ihre Tarnung gefährdet war und so hat sie sich dafür entschieden, ihn zu töten.“
Trévilles Nüchternheit schien Porthos den Rest zu geben. Er schlug die Hände vors Gesicht, nur um sie gleich wieder sinken zu lassen. Ein trotziger Ausdruck war in seine dunklen Augen getreten. „Sie kann es nicht gewesen sein! An jenen Abend waren wir zusammen. Sie hat ihn gar nicht töten können!“ Die verzweifelte Hoffnung liess seine Stimme schrill werden.
Athos schüttelte den Kopf. „Sie nicht. Aber Jacques, der ihr Verbindungsmann und ihr Komplize war. Und er war es auch, der Robert Dupont erpresst hat, so dass dieser vor dem Gericht Aramis belastete. Robert hat ihm wohl im Beichtstuhl von seiner verhängnisvollen Liebe zu Männern berichtet und das hat er als Druckmittel benutzt bevor er auch diesen gefährlichen Zeugen umgebracht hat.“
Das sonst so fröhliche, lebhafte Gesicht Porthos‘ hatte sich in eine Maske aus Schmerz verwandelt und er schüttelte immer wieder den Kopf, als versuche er aus einen bösen Traum zu erwachen. Das kurze Aufbäumen der Hoffnung war vorbei, jetzt blieb nur noch die verzweifelte Akzeptanz der schmerzhaften Tatsachen. „Adelina…ich habe ihr blind vertraut und sie…und sie…“ Mit einem Aufschluchzen verbarg er das Gesicht in den Händen.
„Aber wie passt Aramis in diese Geschichte?“, fragte d’Artagnan, während er gleichzeitig über Porthos‘ Rücken strich. Es war schwer mitanzusehen wie der unerschütterliche Hüne, der gerade in den letzten Tagen ihr Rückhalt und ihre Stärke gewesen war, nun so in sich zusammensank, als wären mit den Enthüllungen alles Leben aus ihm gewichen.
„Zufällig, wahrscheinlich. Er war an Francis‘ Todestag mit ihm zusammen. Und er war der passende Sündenbock. Zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Athos hob die Schultern.
„Oder aber“, wandte d’Artagnan ein, „sie fürchteten, dass Francis Aramis von Adelinas wahren Absichten erzählt hat.“
Bei diesen Worten hob Porthos den Kopf. Er war so bleich wie frisch gefallener Schnee und seine Augen waren wie dunkle tiefe Brunnen. „Francis hat es Aramis erzählt. An diesem Abend. Aramis konnte sich nach dem Schlag auf den Kopf nur nicht daran erinnern. Aber in seinem hohen Fieber hat er immer wieder nach mir gerufen. Nicht, weil er mich an seiner Seite wollte, wie wir dachten. Sondern weil er mich warnen wollte.“
Bedrückte Stille. Wenn das stimmte, dann war Aramis nicht zufällig in diese dunklen Geschehnisse geschlittert, sondern war bewusst aus dem Weg geräumt worden. Und auch das machte auf eine schreckliche Art und Weise Sinn. Denn warum sonst hätten sie Dupont erpressen sollen, so dass er seine Aussage so korrigierte, dass Aramis als der Schuldige dastand? So hätten sie sich elegant auch dieses Zeugen entledigen können. „Gut, haben wir Aramis in Sicherheit gebracht“, meinte d’Artagnan erleichtert. Sie hatten damals geglaubt, ihn vor den Klauen des Kardinals beschützen zu müssen…und in Wirklichkeit hatten sie ihn vor den Mördern Francis‘ beschützt.
„Und gut wissen sie nicht, wo Aramis sich aufhält“, ergänzte Athos.
Bei diesen Worten entschlüpfte Porthos ein entsetztes Keuchen. Er wand sich aus d’Artagnans Armen und sprang auf. Auf einmal wirkte er nicht mehr niedergeschmettert, sondern eher wild wie eine Furie. „O mein Gott! Als Adelina heute zu mir kam, wollte sie wissen wo Aramis ist. Angeblich weil die Königin sie damit beauftragt hat, es in Erfahrung zu bringen. Und ich…und ich…“ Er brach ab.
Athos war nun ebenfalls aufgesprungen. „Du hast es ihr nicht gesagt? Oder? Porthos, sag mir, dass du ihr nicht erzählt hast, wo Aramis zu finden ist?“
Wie in Trance nickte Porthos. „Doch. Sie weiss es. Sie wird ihn aufsuchen um ihn zu töten. Und alle, die sich ihr in den Weg stellen!“
D’Artagnans Herz blieb stehen.
Constance!
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Anmerkung: Wir nähern uns dem Finale, meine Lieben….Ich hoffe, ihr verzeiht mir den klitzekleinen Cliffhanger und seid nicht enttäuscht über die Auflösung des Falls. Jetzt können die Jungs endlich aufhören Detektiv spielen und das machen, was ihnen liegt. Reiten, fechten und schöne Frauen retten. Und natürlich Aramis. Wobei, wer weiss ob ihnen das gelingt?
Kapitel Auf Leben und Tod
Kapitel 32
Auf Leben und Tod
Die drei Musketiere ritten nicht, stattdessen flogen sie förmlich über das Land. An der Spitze war d’Artagnan, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die sonst so fröhlichen Augen angsterfüllt. Athos und Porthos folgten dicht hinter ihm, ebenso stumm.
Porthos‘ Herz schlug so heftig in seiner Brust, das es sich so anfühlte, als würden seine Rippen jeden Moment brechen. Doch noch schlimmer waren die Gefühle, die wie ein wilder Sturm an seiner Seele zerrten. Am liebsten hätte er seine Verwirrung und seinen Schmerz in die Welt hinausgeschrien, doch was hätte das gebracht? Und so blieb er stumm, während er sich tiefer über den Hals seines Pferdes beugte und es unbarmherzig vorwärtstrieb.
Die Scham, die er bei dem Gedanken verspürte, wie leicht er Adelinas gewinnenden Charme erlegen war und wie leichtsinnig er ihr alles anvertraut hatte, war wie eine brennende Wunde in seinem Innern. Jetzt, wo das dunkle Geheimnis seiner Geliebten aufgedeckt war, schien es ihm, als hätte er es immer wissen müssen. Da war diese flüsternde Stimme in seinem Kopf, die ihn immer wieder fragte: Wieso hast du es nicht bemerkt? Wieso bist du so dumm und fällst immer auf die falschen Menschen rein?
Zugleich war da diese Furcht, die ihm den Hals abschnürte. Die Furcht um den guten, schusseligen Mathias, der nur hatte helfen wollen und nun keine Ahnung hatte, dass eine Mörderin auf dem Weg zu ihm war. Die Furcht um die warmherzige, liebevolle Constance, die durch ihre Freundschaft mit ihnen nun schon wieder in tödliche Gefahr geraten war. Und die furchtbare nagende Furcht um Aramis, um den witzigen, schlagfertigen und lebensfrohen Aramis, der eben eine schlimme Krankheit überstanden hatte und nun geschwächt einer weiteren Bedrohung gegenüberstand. Die Porthos selbst ihm auf den Hals geschickt hatte.
Lass uns rechtzeitig da sein, betete er stumm, lass uns rechtzeitig da sein! Ich kann ihn nicht verlieren! Wieso lässt du ihn die Lungenentzündung überleben, nur um ihn dann doch sterben zu lassen? Das kann nicht deine himmlische Gerechtigkeit sein! Bestraf ihn nicht für meine Dummheit!
Athos hatte sich etwas zurückfallen lassen, so dass er nun neben ihm ritt. Porthos bemerkte es allerdings erst, als Athos das Wort an ihn richtete. „Porthos“, sagte er mit Nachdruck, „du trägst keine Schuld an der ganzen Sache! Hörst du? Was auch immer heute geschieht, du hast keine Schuld.“ Porthos nickte, konnte Athos jedoch nicht in die Augen sehen. Es war freundlich von ihm, dass er die Last, die sich Porthos selbst aufgebürdet hatte, erleichtern wollte.
Doch auch Athos‘ Worte konnten die düsteren Schatten nicht vertreiben, die seine Seele verdunkelten. Im Gegenteil, die Angst, die aus Athos‘ angespannter Körperhaltung und der Art wie er die Zügel umklammerte, verstärkte die Furcht in seinem Herzen. Wenn selbst der beherrschte Athos offensichtlich aufgebracht war, war die Situation mehr als brenzlig.
Porthos heftete den Blick wieder auf den Himmel.
Lass uns nicht zu spät kommen!
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Im Haus war es still. Bruder Matthias hatte beschlossen einen Spaziergang zu machen und bei dieser Gelegenheit gleich noch ein paar Heilkräuter zu sammeln. Constance dagegen fegte fröhlich summend die Küche ordentlich aus. Das gehörte zwar sonst nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, aber die Tatsache, dass Aramis auf den Weg zur Besserung war, hatte ihr einen Stimmungsaufschwung verschafft. Es war ein gutes Gefühl, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben. Ausserdem war es schön, mal wieder etwas anderes zu tun, als Tee zuzubereiten und feuchte Umschläge auszuwechseln. Und das Haus hatte es wirklich wieder dringend nötig, geputzt zu werden. Es war Constance schon immer ein Rätsel gewesen, in welch kurzer Zeit Männer alles verdrecken konnten.
Ein Klopfen an der Türe riss Constance aus ihrer emsigen Tätigkeit. Sie hielt überrascht inne. Wer konnte das sein? Kurz dachte sie mit jähen Schrecken an eine verfrühte Rückkehr ihres Mannes, verwarf diesen Gedanken allerdings schnell wieder. Jacques wäre wohl eher in ihrem Stadthaus aufgetaucht, nicht hier. Es werden doch wohl nicht die Männer des Kardinals sein, schoss es ihr durch den Kopf und es war diese Befürchtung, die sie dazu veranlasste, den Besen fest zu umklammern, als sie die Tür aufriss.
Vor ihr stand eine feenhaft schöne Frau mit roten Haaren. Eine Adelige, das sah Constance sofort an ihrer stolzen Haltung und ihrer Kleidung, die zwar vom schlichten Schnitt waren, war jedoch aus kostbaren Stoff, wie ihr geübtes Schneiderinnenauge sofort erkannte. Dennoch wirkte die fremde Dame ramponiert. Das raffiniert geschnittene Reitkleid war beschmutzt, der elegante Umhang an einigen Stellen zerrissen und einige der roten Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht. Auch das Lächeln, das sie Constance jetzt schenkte, wirkte zittrig.
„Verzeiht, mein plötzliches Auftauchen muss Euch erschrecken. Und ich will Euch bestimmt nicht stören! Nur, ich brauche dringend Eure Hilfe!“ Die Frau stolperte vor Aufregung über ihre Worte. Sie schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen.
Constance legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Beruhigt Euch, Madame! Was ist denn passiert?“, fragte sie freundlich. Wahrscheinlich wäre eine förmlichere Anrede passender gewesen, aber da sie den Rang der Frau nicht kannte und die Situation dringend erschien, verzichtete sie auf die gehobenen Umgangsformen.
Die Frau schluckte schwer. „Ich bin ausgeritten…mit meinem Bruder. Er ist Priester und wir sehen uns nicht oft. Vielleicht waren wir deshalb zu übermütig. Das heisst“, sie stiess ein tränenersticktes Lachen aus, „ich war viel zu übermütig. Mein Pferd ist mit mir durchgegangen und hat mich abgeworfen. Ich habe nur ein paar Blessuren davongetragen, aber mein Bruder wollte das Pferd wieder einfangen. Doch es war ausser sich. Es ist gestiegen und dabei hat es ihn mit dem Huf an der Stirn erwischt. Jetzt liegt er da und er bewegt sich nicht und alles ist voller Blut…“ Sie brach ab.
Constances Herz quoll über vor Mitleid. Das klang wirklich schlimm. Sie hatte oft genug Reitunfälle mitangesehen um zu wissen, dass diese nicht selten tödlich endeten. Gerade wenn es um Kopfverletzungen ging, die schlimme Komplikationen mit sich ziehen konnten. Allerdings sagte dieselbe Erfahrung Constance auch, dass Kopfwunden generell viel bluteten, selbst wenn sie nicht tief gingen.
„Zeigt mir die Stelle wo er jetzt liegt, Madame. Vielleicht sieht es schlimmer aus, als es ist.“
Die Frau sah sie mit tränenfeuchten Augen. „Meint Ihr? Seid Ihr denn in der Heilkunst bewandert?“
Das war eine heikle Frage. Constance wollte die jäh aufgeflammte Hoffnung der Frau nicht wieder zerstören, allerdings sie auch nicht im Glauben lassen, dass sie eine Wunderheilerin sei. „Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte sie ausweichend. Dann straffte sie entschlossen die Schultern. „Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Reden. Zeigt mir wo Eurer Bruder liegt!“
Die Fremde nickte entschlossen. Doch als sie sich umdrehte, stiess sie plötzlich einen schmerzerfüllten Schrei aus und sank zu Boden, wobei sie ihren Knöchel umklammerte. Sofort kniete sich Constance neben sie. „Was ist mit Euch? Habt Ihr Euch verletzt?“
Tränenverschleierte grüne Augen blickten Constance an. „Mein Fuss... ich habe ihn beim Sturz verdreht. Er hat vorher schon wehgetan aber ich dachte es geht…“ Sie brach ab, das Gesicht schmerzverzerrt, trotz ihrer Schönheit ein Häufchen Elend. Constance biss sich auf die Lippen. Offenbar hatte sich die Dame bei ihrem Sturz vom Pferd den Knöchel verstaucht und mit diesem würde sie nicht weit kommen. Der verunfallte Mann brauchte aber jetzt Hilfe.
Kurzentschlossen nahm Constance die Verletzte am Arm und zog sie hoch. „Kommt. Beschriebt mir ganz genau wo Euer Bruder liegt. Ihr könnt Euch im Haus ausruhen, während ich nach ihm sehen werde.“ Und nachschaue, ob man überhaupt noch etwas für den armen Mann tun kann, fügte sie in Gedanken hinzu.
Behutsam half sie der stark hinkenden Frau über die Schwelle und setzte sie dann in der Küche auf einen Stuhl. „Wartet hier! Ich werde so schnell wie möglich zurückkehren. Und erschreckt nicht, wenn Ihr Husten hört. Oben liegt ein Freund von mir, der sich gerade von einer Lungenentzündung erholt.“ Kurz fragte sie sich, ob sie Aramis über den Besuch informieren sollte, verwarf den Gedanken aber so gleich wieder. Als sie kurz vorher nach ihm gesehen hatte, hatte er im tiefen Schlaf gelegen und Schlaf war das, was er noch immer am dringendsten benötigte um vollständig zu genesen. Und Constance bezweifelte, dass der noch immer geschwächte Aramis mal eben so in die Küche spazieren würde.
Die Frau griff impulsiv nach ihrer Hand. „Ihr seid eine gute Frau, Madame…“
„Bonacieux“, stellte sich Constance vor und weil es ihr richtig vorkam, sank sie in einen kurzen Knicks.
Die Selbstverständlichkeit mit der die Rothaarige diese Geste zur Kenntnis nahm, zeugte davon, dass Constance mit ihrer Vermutung richtig lag. In ihrer Küche sass jemand von hoher Geburt. Dennoch neigte ihr Gast nun zu einer kleinen Ehrbezeugung den Kopf. „Ich bin Gräfin Adelina. Wenn Ihr meinen Bruder rettet, stehe ich tief in Eurer Schuld, Madame Bonacieux.“
„Macht Euch keine Gedanken. Ich helfe nicht um Schuldscheine zu sammeln“, erwiderte Constance. Dann liess sie sich von Adelina den Weg zu der Unfallstelle genau beschreiben, bevor sie sich ihren Umhang überzog und nach einem letzten aufmunternden Lächeln den Weg in den Wald antrat.
Offenbar hatte sich der Unfall nicht weit von ihrem Haus weg ereignet. Constance war erst wenige Schritte in den Wald gegangen als sie es sah. Ein schwarzes Bündel, das auf dem Boden lag und von weitem wirkte wie ein unförmiger schwarzer Tintenfleck. Das musste der gestürzte Priester sein. Mit gerafften Röcken rannte sie zu ihm und liess sich neben ihn auf die Knie fallen. Seine Augen waren geschlossen, doch Blut konnte Constance keines erkennen und sein Atem ging in tiefen regelmässigen Zügen. Er sah eigentlich gar nicht so schlimm verletzt aus. Hatte Adelina in ihrer Panik Gespenster gesehen?
Constance legte ihre Hand auf die Brust des Bewusstlosen um seinen Herzschlag zu spüren. Es schlug, soweit Constance es beurteilen konnte, genau wie es sollte. Und eine Kopfwunde konnte sie beim besten Willen nicht sehen. Vielleicht war sie verborgen?
Vorsichtig schob sie ihre Finger unter seinen Hinterkopf um ihn anzuheben, da riss der Priester die Augen auf. Constance blieb keine Zeit zu schreien. Mit einem bösen verzerrten Grinsen im Gesicht packte er sie am Hals und seine Finger legten sich wie eiserne Klammern um ihre Kehle.
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Das war ja fast zu einfach, dachte Adelina. Die dusselige Kuh war ihr ohne Widerstand in die Falle gegangen. Wie gut, dass Porthos ihr von der liebenswerten Madame Bonacieux berichtet hatte. Wer sich so aufopferungsvoll um kranke Freunde kümmerte, der liess keine verwundeten Menschen im Wald liegen. Mitgefühl war der Schlüssel gewesen, der ihr die Türen dieses Hauses geöffnet hatte.
Adelina war schon zu lange Spionin und hatte ihre Hände schon zu oft in Blut getaucht als das sie das Schicksal der warmherzigen Bonacieux sonderlich beschäftigt hätte. Ein Bauernopfer, bedauerlich aber unausweichlich. Bei Aramis lagen die Dinge anders. Er war ein gefährlicher Zeuge und noch dazu ein Versäumnis. Jacques hätte ihn gleich mit Francis töten sollen, das hätte ihnen den ganzen Zirkus hier gespart.
Dennoch schade war es schon um den Musketier. Die Königin hielt so grosse Stücke auf ihn und erzählte stets mit glühenden Wangen von ihrem ganz persönlichen Ritter, dass Adelina, gesegnet mit dem untrüglichen Instinkt aller Spione, ahnte, dass die beiden weit mehr verband als das übliche Verhältnis zwischen Königin und Musketier. Dass Porthos ihr die Geschichte von der Königin, die sich vor Sorge um Aramis kaum trösten könnte, so ohne weiteres geglaubt hatte, bestätigte ihr Vermutung. Es wäre für England äusserst interessant gewesen, den Ausgang dieser französischen Affäre zu erfahren.
Doch, ob jetzt Geliebter der Königin oder einfacher Musketier, Aramis würde heute sterben.
Mit dem Dolch in der Hand stieg Adelina die Treppe hoch. Es müsste natürlich eine Erklärung geben, für das gewaltsame Ableben des Musketiers und der armen Bonacieux. Sie und John hatten entschieden, das Ganze als Überfall von Räubern zu tarnen. Das kam schliesslich oft genug vor. Sie würde zurück in den Louvre eilen; mit blauen Flecken und in zerrissenen Kleidern würde sie dann mit tränenerstickter Stimme davon berichten, dass sie selbst mitten in den Überfall geplatzt war. Mit knapper Not habe sie entfliehen können, für Aramis und Madame Bonacieux sei jede Hilfe zu spät gekommen. Sie würden ihr glauben, davon war Adelina überzeugt. Überfälle von Gesetzlosen kamen so weit ausserhalb von Paris schliesslich oft genug vor und ihr schauspielerisches Talent würde dem Ganzen noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Was Porthos betraf: Ihn würde sie schon zu trösten wissen.
Sie war ganz ruhig als sie in das Zimmer trat und behutsam die Tür hinter sich schloss. Es roch nach Kräutern und Schweiss, der untrügliche Geruch von Krankheit. Nun, sie würde ihn ja bald von seinem Leiden erlösen. Leise wie ein Schatten huschte sie zum Bett. Darin lag, tief schlummernd, der Musketier, der ihr Verhängnis hätte werden können.
Es war wirklich ein gutaussehender Mann und die Krankheit hatte dieser Schönheit noch etwas Zerbrechliches und Überirdischen verliehen. Die fein gemeisselte Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und lange Wimpern, die wie ein zarter Vorhang auf der blassen Haut ruhten, das alles liess einem fast glauben, man sehe einen schlafenden Elfenprinz. Das lange dunkle Haar lag ausgebreitet auf dem weissen Kissen, fast hätte man es für einen Heiligenschein halten können. Nur, dass Aramis alles andere als ein Heiliger war, wenn sie Porthos lebhaften Schilderungen Glauben schenken konnte.
Das friedliche Bild wurde dadurch gestört, dass Aramis‘ Atemzüge rasselnd und keuchend waren, fast wie bei einem alten Mann. Eindeutig lungenkrank. Einer plötzlichen Eingebung folgend, steckte Adelina das Messer weg. Wieso kompliziert, wenn man es auch einfach haben konnte? Wieso die langwierige Geschichte eines Raubüberfalls erzählen, wenn man doch alles so bequem auf einen natürlichen Tod schieben konnte? Erstickt im Schlaf. Nicht ungewöhnlich bei Lungenkrankheiten.
Adelina packte eines der Kissen. Und dann drückte sie es langsam auf Aramis‘ Gesicht.
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Aramis‘ Träume waren dunkel. Er träumte von Francis, einem gesunden lachenden Francis, der mit ihm scherzte und ihn umarmte. Doch als Aramis ihn an sich drückte, spürte er plötzlich etwas Feuchtes und als er hinuntersah, sah er, dass Francis Hemd blutdurchtränkt war. „Vergib mir Bruder, ich habe dich verraten. Dich und die Musketiere“, keuchte er und noch mehr Blut quoll aus seinem Mund. Aramis versuchte verzweifelt die Blutung zu stoppen und presste beide Hände auf Francis‘ Bauch. Doch das Blut floss unaufhaltsam durch seine Fingen, ein steter roter Strom der auf den Boden tropfte und zu Rosen erblühten. Wunderschön, aber tückisch und gefährlich. Und aus den Rosen wurde eine Frau, eine rothaarige Frau mit grünen Katzenaugen. Sie lächelte ihn an. Doch es war ein schreckliches Lächeln, ein Lächeln, das Schmerz bedeutete und Tod verhiess.
Dann wurde aus dem Schatten Porthos geboren, dunkel und gutaussehend, wild und stark. Die Frau sank in seine Arme, er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Es war ein schönes Paar; leuchtendes Rot und tiefes Schwarz. Porthos‘ Augen war voller Glück, ihre voller warmer Zuneigung. Nein, da blitzte etwas anderes auf in den Tiefen dieses schimmernden Grünes. Es waren nicht die Augen einer liebenden Frau, es waren die lauernden Augen eines Raubtiers und die Hand, die nun auf Porthos‘ Schulter lag, war keine zarte Frauenhand, sondern eine Klaue. Aramis wollte schreien, wollte seinen Freund warnen, doch kein Laut entkam seinen Lippen, nicht einmal ein Flüstern. Er war dazu verdammt, stumm mitanzusehen, wie sein bester Freund in der Umarmung dieses furchtbaren Wesens ertrank und nicht einmal bemerkte, wie sich ihre Krallen in seinen Rücken bohrten. Porthos warf den Kopf in den Nacken, das Gesicht eine schmerzverzerrte Grimasse, die Lippen zu einem schrillen Schrei geformt. Und wie roter Regen tropfte das Blut auf den Boden.
Die Bilder verflossen. Wieder stand Francis vor ihm, umklammerte mit den Händen seine Oberarme. „Du musst ihn warnen!“, rief Francis und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung, „du musst Porthos vor ihr warnen! Sie mag ihm Liebe vorheucheln und ihm das Paradies versprechen, aber sie ist ein Teufel! Ein Teufel in Menschengestalt. Sie wird ihn vernichten, so wie sie mich und Isaac vernichtet hat. Sie ist die Feindin Frankreichs! Er darf ihr nicht vertrauen, hörst du? Sag ihm das bevor es zu spät ist! Die Gräfin Adelina ist eine Spionin für England!“
Francis. Porthos. Adelina. Spionin. Mord. Blut. Verrat. Liebe.
Eine Frau in Rot. Ein toter Musketier. Ein unliebsamer Zeuge.
Das war kein Traum. Das war eine Erinnerung.
Aramis riss die Augen auf. Und sah die rote Frau, die mit kalten Lächeln an seinem Bett stand. Er öffnete den Mund, doch sein Schrei wurde vom Kissen erstickt, das unbarmherzig auf sein Gesicht gedrückt wurde.
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Constance kämpfte um ihr Leben. Verzweifelt griff sie nach der Hand, die ihr die Kehle zudrückte, doch alles Zerren an den Fingern war vergeblich. Es war, als hätte sich eine Bärenklaue um ihren Hals gelegt. Und der Mann selbst, der dunkle Priester, erschien ihr auch wahrlich wie ein Monster. In den Tiefen dieser Augen konnte Constance weder Reue noch Mitgefühl lesen, im Gegenteil. Es schien ihm geradezu Vergnügen zu bereiten, zu sehen, wie Constance um jeden Atemzug ringen musste und wie das Leben auf quälend langsame Weise aus ihr wich.
Vor ihren Augen flimmerte es, das Grün der Bäume verwandelte sich in Schwarz. In ihren Ohren rauschte das Blut, ihre Körper wurde taub und starr, ihre Hände, die eben noch versucht hatten sich irgendwie aus dem erbarmungslosen Griff zu retten, fielen nutzlos herab. Sie verlor sich. Nein, begriff sie mit jähen Schrecken, sie starb. Sie starb einsam und verlassen auf einer Waldlichtung wegen ihrer verdammten Hilfsbereitschaft.
Vielleicht war es dieser Gedanke, der sie noch einmal mit jäher Kraft erfüllte. Vielleicht auch die Wut darüber, so hereingelegt worden zu sein. Vielleicht auch der Gedanke an d’Artagnan, den Mann, den sie liebte. Aber egal wieso, auf jeden Fall hob sie ihr Knie und rammte es so fest sie konnte in die Weichteile ihres Angreifers.
Sie hatte offenbar gut getroffen. Der Priester stiess einen Schrei aus und liess ihren Hals los. Constance stürzte benommen zu Boden. Ihr war furchtbar schwindlig, das Aufstehen misslang ihr, weshalb sie vorwärts kroch. Weg, einfach nur weg, dachte sie, doch ihr Köper war geschwächt vom Luftmangel und sie war zu langsam und zu schwerfällig. Und auf einmal stand der Priester wieder über ihr, das Gesicht eine verzerrte Fratze aus Wut und Rache. Er packte sie grob an den Haaren. „Du kleines Biest“, zischte er ihr ins Ohr als er sie hochzog, „du kleines widerliches Biest!“ Er schüttelte sie wie eine Katze.
Wieder spürte sie Wut in sich aufflammen. Mit einer schnellen Kopfbewegung befreite sie ihre Haare. „Fasst mich nicht an!“, fauchte sie, während sie zurückstolperte. Erneut fiel sie hin, was ihre Drohung umso lächerlicher machte: Sie war nicht nur eine zierliche Frau, die ihrem Gegner körperlich unterlegen war, sie konnte auch kaum richtig Luft holen, weil ihr Hals von der Würgeattacke immer noch schmerzte. Sie war diesem Mann völlig ausgeliefert.
Die Wut verschwand aus seinem Gesicht und machte einer hinterlistigen Amüsiertheit Platz. „Wer hätte gedacht, dass sich hinter diesem braven Hausmütterchen – Gesicht eine solche Wildkatze verbirgt?“ Bevor sie noch wusste wie ihr geschah, stiess er sie erneut zu Boden. Und dann war er wieder über ihr, ihr Gesicht so nah an ihrem, dass sie seinen heissen Atem spüren konnte, der über die empfindliche Haut an ihrem Hals strich. „Eigentlich wollte ich dich schnell töten. Aber ich denke, ich habe mir ein bisschen Spass mit dir verdient.“
Sie wollte schreien, aber ihrer geschundenen Kehle entkam nur ein leises Wimmern. Sie wollte sich wehren, ihn kratzen, ihn schlagen, ihm wehtun, aber sie konnte es nicht. Er hielt ihre Handgelenke fest, presste sie auf den moosigen Waldboden und obwohl sie sich wand wie eine Schlange presste er seine Lippen auf die ihren. Sein Kuss bereitete ihm jedoch nur kurzes Vergnügen. Mit grimmigen Vergnügen biss sie ihn.
Zwar fuhr er kurz zurück, dennoch schaffte sie es nicht, ihm zu entkommen. Inzwischen kniete er auf ihr und machte sie so bewegungsunfähig. „Wehr dich ruhig, Kleines. Ich mag das“, raunte er ihr ins Ohr. Sie zappelte wild, trat um sich und spuckte ihn sogar an. Ihn schien das alles nicht zu berühren, im Gegenteil. Sein schrilles spöttisches Lachen hallte höhnisch durch den Wald. Für ihn war es ein Spiel.
Ein Spiel, das sie verlor. Sie war zu erschöpft um sich weiter zu sträuben. Mit tränenblinden Augen sah sie hinauf in den Himmel, der sie mit seiner satten blauen Farbe zu verspotten schien. Ein schöner Tag zum Sterben, dachte sie mit einem Anflug von Ironie, während sie es stumm über sich ergehen liess, dass er ihre Röcke zurückschob.
Das Wiehern von Pferden, das Donnern von Hufen, laute Rufe, das Geklirr von Degen, ihr Name, der geschrien wurde, voller Angst und Zorn, Constance konnte die Geräusche nicht verarbeiten, sie begriff nicht, was um sie herum geschah. Ihre Seele war so betäubt von Schmerz und Angst, dass sie nicht einmal wirklich wahrnahm, wie ihr Peiniger jäh von ihr abliess und mit einem lauten Fluch zwischen den Bäumen verschwand. Erst als warme Hände sie aufrichteten und eine vertraute Stimme tröstende Worte in ihr Ohr hauchte, wurde ihr klar, dass sie gerettet worden war. D’Artagnan. D’Artagnan war gekommen.
Mit einem lauten Aufschluchzen vergrub sie das Gesicht in seiner Uniform. Er roch wie üblich nach Schweiss und Heu, nach Abenteuer und Geborgenheit. Gerade jetzt war dieser Duft das Einzige was zwischen ihr und dem Abgrund stand. Sie klammerte sich an ihn, als wäre er ein Felsen inmitten eines stürmischen aufgepeitschten Meeres und er wiegte sie, als sei sie ein kleines Mädchen, strich ihr über das Haare und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Es war genau das, was sie jetzt brauchte. Ihn. Sie brauchte ihn und es war eine furchtbare Ungerechtigkeit des Lebens, dass sie ihn nicht haben konnte, weil sie sich vor Gott diesem Idioten von Bonacieux versprochen hatte.
Es dauerte eine Weile bis sie sich wieder einigermassen gefasst hatte. „Verzeih“, murmelte sie und rückte etwas von d’Artagnan ab. Sie wusste nicht einmal, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Dafür, dass sie so blindlings in die Falle gegangen war? Dafür, dass sie ihm die Uniform nassgeweint hat? Dafür, dass sie ihn immer wieder von sich stossen musste?
D’Artagnan fragte nicht weiter nach. Stattdessen zog er sie wieder an sich. „Du zitterst ja“, murmelte er und rieb ihr mit der Hand über den nackten Arm. Zittern war noch untertrieben. Constance schlotterte, als hätte sie gerade ein Bad in Eiswasser genommen. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Körper schüttelte sich, ob vor Schock oder vor Ekel über das, was ihr beinahe passiert wäre, konnte sie nicht sagen.
„Ich dachte, er bräuchte Hilfe…er lag am Boden. Und…plötzlich…plötzlich war seine Hand…“ Sie berührte ihren Hals, der sich geschwollen anfühlte. „Ich…konnte mich befreien, aber dann war er über mir und ich habe mich gewehrt und dann wollte er…er wollte...“ Sie stolperte hilflos über die Worte, unfähig das Grauen, das sie erlebt hatte, zu schildern.
„Der Mann ist ein Mörder, Constance. Er hat Francis umgebracht.“
Obwohl sie keine Ahnung hatte, wer der Priester war oder wieso er das getan haben sollte, glaubte Constance d’Artagnan sofort. Sie hatte die Augen gesehen, diese Augen, in denen die Lust am Töten aufgeblitzt war, diese Augen, die sich an ihrem Leid ergötzt hatten. Wenn d’Artagnan nicht gekommen wäre und ihn verjagt hätte… „Wo ist er?“, fragte sie erschauernd und sah sich mit wilden Blick um. Halb erwartete sie, dass der Priester sich hinter einem Baum verbarg um ihr erneut aufzulauern.
d’Artagnan presste die Lippen zusammen. „Er ist abgehauen, der Feigling. Aber Athos ist ihm nach. Und wenn er ihn erwischt, dann Gnade ihm Gott!“
Das konnte sich Constance lebhaft vorstellen und sie fühlte eine grimmige Erleichterung bei dem Gedanken, dass Athos sich diesen Mann vorknöpfte. Mit einem erleichterten Seufzen liess sie den Kopf auf d’Artagnans Schulter fallen, nur um ihn so gleich wieder hochzureissen. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie völlig vergessen hatte, wer sie überhaupt in diese Situation gebracht hatte.
„O mein Gott, d’Artagnan! Diese Frau, sie ist bei Aramis. Ich habe sie mit ihm allein gelassen!“
„Welche Frau?“
„Adelina. Sie nannte sich Lady Adelina“
D’Artagnans entsetzter Gesichtsausdruck sagte ihr alles. Und mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend wurde ihr klar, dass sie nicht die Einzige war, die gerade um ihr Leben gekämpft hatte. Die Frage war nur, ob Aramis ebenfalls siegreich gewesen war.
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Es war fast schon lächerlich leicht. Aramis war zwar tatsächlich aufgewacht, allerdings hatte er ihr nichts entgegenzusetzen. Sein Körper war zu geschwächt von der Krankheit, als dass er noch genug Kraft gehabt hätte, sich zu wehren. Er zappelte und trat um sich, doch es waren vergebliche Bemühungen seinem Tod zu entkommen, sie drückte unbeirrt weiter das Kissen auf sein Gesicht. Das Töten machte ihr so sogar noch mehr Spass. Zu spüren wie das Leben langsam aus dem Körper wich, zu sehen wie die Glieder langsam erschlafften und den immer langsamer werdenden Herzschlag zu fühlen.
Ein heftiger Stoss in den Rücken riss Adelina aus ihren Gedanken. Instinktiv liess sie das Kissen fallen und drehte sich um. Da bekam sie einen harten Schlag ins Gesicht. Es war mehr die Überraschung als der Schmerz, der sie zu Boden gehen liess. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr jetzt noch jemand in Quere kommen könnte. Aber da stand er, der mysteriöse Angreifer, in der Hand noch den Weidenkorb, den er ihr offenbar vorher um die Ohren geschlagen hatte.
Allerdings wirkte der Störenfried alles andere als bedrohlich. Immerhin trug er eine Mönchskutte und Adelina konnte selbst durch die weiten Falten des Gewandes sehen, dass seine Knie schlotterten. Ausserdem hing in seinen Haaren allerlei Kräuter, zweifellos der ehemalige Inhalt des Korbes. Der Rest lag auf dem Boden um sie herum verstreut. Trotz seiner offensichtlichen Angst umklammerte er immer noch den Korb, offenbar bereit, ihn erneut als Waffe zu verwenden.
„Weg von ihm, Dämonin!“ Seine Stimme zitterte etwas, dennoch las Adelina in seinen Augen den eisernen Entschluss, Aramis zu verteidigen.
Unter anderen Umständen hätte Adelina gelacht. Nur, fand sie es gar nicht komisch, dass ihr dieses Mönchlein jetzt dazwischenfunkte. Zu ihrem äussersten Missmut musste sie nämlich feststellen, dass er offenbar noch zur rechten Zeit – beziehungsweise aus ihrer Sicht – genau zu falschen Zeit - gekommen war. Es war ihr nicht gelungen, Aramis zu ersticken. Dieser hustete sich nämlich gerade die Seele aus dem Leib und auch wenn er verzweifelt nach Luft rang, war er nach Adelinas Geschmack immer noch viel zu lebendig.
Sie setzte ein honigsüsses Lächeln auf. „Aber Pater! Ich bin doch keine Dämonin! Schämt Ihr Euch nicht, eine schwache Frau von hinten anzugreifen und sie dann noch zu beschimpfen?“ Ihre Stimme war sanft wie Samt. Es war diese Stimme, die ihren Liebhabern so süsse Lügen ins Ohr geträufelt hatte, dass diese ihr blind ihr Vertrauen geschenkt hatten. Und nun zeigte diese liebliche Stimme in Kombination mit ihren weit aufgerissenen unschuldig blickenden Augen erneut Wirkung. Sie konnte sehen wie der Mönch zögerte. Und vor allem konnte sie sehen, wie sein Körper sich entspannte.
Ihre Chance. Ihr Bein schoss noch vorne und fegte ihm die Füsse weg. Er gab einen überraschten Laut von sich als er stürzte. Blitzschnell wie eine Katze war sie aufgesprungen, zu dem Liegenden geeilt und hatte mit einer einzigen Bewegung seinen Kopf einmal kurz auf den Boden geknallt. Er war sofort bewusstlos. Später würde sie ihn seinem Schützling hinterherschicken. Jetzt aber wollte sie endlich das Blut von Aramis sehen. Und jetzt würde sie es schnell machen.
Er hustete noch immer, als sie langsam zu ihm hinüberging, wobei sie in einer fliessenden Bewegung ihr Messer zog. Die Hustenkrämpfe schüttelten ihn so sehr, dass an eine Flucht nicht zu denken war. Ganz der sture Musketier versuchte er es dennoch. Mit letzter Kraft wollte er vor ihr wegkriechen, erreichte aber damit nur, dass er aus dem Bett fiel und benommen liegenblieb. Auch gut. Ohne Umschweife setzte sie sich auf seinen Rücken. Sein Stöhnen hätte mancher Frau und manchen Mann das Herz zerrissen, ihr entlockte es nur ein Lächeln. Er war ihr ausgeliefert.
„Ich tu das nicht gerne, mein Schöner“, hauchte sie ihm ins Ohr. Beinahe zärtlich strich sie ihm die verschwitzten Locken aus der Stirn. „Schon wegen Porthos, bedaure ich es. Aber was tut man nicht alles für sein Land. Das müsstest du am besten wissen.“
Und mit einem Ruck an seinen Haaren zog sie seinen Kopf hoch um das kalte Messer an den schlanken Hals zu drücken.
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Der falsche Priester war schnell. Wie ein Reh auf der Flucht preschte er durch den Wald, ein schwarzes Irrlicht zwischen den Bäumen. Doch Athos war auch schnell. Er hatte nicht lange, kräftige Beine, sondern er besass auch Ausdauer. Schliesslich war er ein Musketier und es gab kaum einen Tag, den er nicht in der Garnison verbrachte, um seinen Körper zu stählen. Naja, wenn er ehrlich war, genoss er es manchmal auch einfach, sich mit jemanden zu raufen, besonders wenn die dunklen Stunden der Erinnerungen ihn niederrangen und er die angestaute Energie irgendwie loswerden musste. Wenn die Rastlosigkeit ihn in ihren Klauen hatte, gab es nur zwei Auswege: Alkohol oder körperliche Ertüchtigung.
Jetzt, während er Pater Jacques nachhetzte, war Athos mehr als froh sich in den letzten Tagen eher auf Letzteres verlassen zu haben. Seine Beute mochte schnell sein, wurde aber merklich langsamer. Vermutlich ging ihm die Puste aus, weil er lange Strecken nicht gewohnt war. Zudem behinderte ihn wahrscheinlich die lange Priesterrobe. Athos dagegen steigerte sein Tempo noch. Der Zorn in ihm trieb ihn an. Das hier war der Mörder von Francis. Das hier war der Mann, der vor kurzem versucht hatte, Constance zu vergewaltigen. Das hier war ein gefährlicher Spion. Er war es seinen Freunden und seinem König schuldig ihn zu stellen.
Diese dunklen Rachegedanken vernebelten seinen sonst so scharfen Sinn. Zu spät bemerkte er, dass die schemenhafte Gestalt von Jacques plötzlich verschwunden war. Gerade als sich in seinem Kopf langsam die Frage formte, wie sein Gegner so schnell hatte verschwinden können, bekam er auch schon den Fuss in die Kniekehle. Mit einem überraschten Laut stürzte er zu Boden.
Er fing sich schnell genug, dass er sich noch umdrehen konnte und das war sein Glück. Jacques stürzte sich auf ihn, den Degen in der Hand, in den Augen ein irres Feuer. Instinktiv rollte sich Athos zur Seite, so dass Jacques‘ Degenhieb ins Leere ging. In einer einzigen anmutigen Bewegung war Athos auf die Füsse gekommen und hatte seinen Degen gezogen.
Sie umschlichen sich wie zwei Raubkatzen, lauernd, vorsichtig und zugleich strotzend vor Kampflust. Jacques hatte die Maske des Priesters endgültig fallen gelassen. Er hatte seinen Priesterrock hochgebunden, so dass er seine volle Bewegungsfreiheit hatte, seine Haltung war aufrecht und sein Blick war voll grausamer Schärfe. Nun strahlte er genau das aus, was Athos schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gespürt hatte. Die tödliche Präzision eines ausgebildeten Kämpfers.
Ein böses Lächeln formte sich um Jacques‘ schmale Lippen. „Irgendwie wusste ich, dass es am Ende wir zwei sein werden, die uns gegenüberstehen, Musketier.“
„Und ich wusste von unserer ersten Begegnung an, dass Ihr nicht das seid, was Ihr vorgebt zu sein.“
„So? Was bin ich denn?“ Jacques änderte seine Stellung und glitt nach links. Athos dagegen blieb stehen, den Degen erhoben, den Blick fest auf seinen Kontrahenten gerichtet. Sein Atem ging in ruhigen, gleichmässigen Zügen und er stand so locker wie möglich da. Diese lässige Haltung täuschte seine Gegner immer wieder. Athos war nicht so feurig wie Porthos oder d’Artagnan, deren grösste Stärke ihre Schnelligkeit und ihr heftiges Temperament war, das ihnen Bärenkräfte verlieh. Athos dagegen war wie Eis. Er lockte seine Gegner an, und enthüllte seine gefährliche Kräfte erst dann, wenn es kein Zurück mehr gab.
„Ein Spion“, Athos sprach ruhig, während seine Augen jeder von Jacques Bewegungen folgte, „ein englischer Spion. Ein Mörder. Der Mörder von Francis, der ein Musketier war. Und der Mörder von Robert Dupont, der unschuldig in alles verwickelt wurde.“
Jacques zog eine enttäuschte Grimasse. „Wisst Ihr, wenn Ihr das alles so aufzählt, klingt das alles so negativ. Dabei habe ich nur meinem Land gedient. So wie Ihr dem Euren dient.“
„Ich bin ein Musketier und kein Spion“, erwiderte Athos und war selbst überrascht über die Schärfe in seiner Stimme. Schliesslich hatte er keine so romantisch verklärte Vision des Musketier-Daseins, wie d’Artagnan und hatte auch nicht gerade die höchste Meinung von sich selbst. Aber Jacques widerte ihn an. Der Gedanke, diesem Mann in irgendwelchen Punkten ähnlich zu sein, berührte einen wunden Punkt in ihm. Lass dich nicht reizen, beschwor er sich selbst, das ist das, war er will.
Jacques legte den Kopf schräg und selbst diese Geste sah bei ihm nicht neckisch oder verspielt, sondern bedrohlich. „Nein, Ihr seid das, was dein König von Euch verlangt. Musketier oder Spion, wo ist denn da der Unterschied? Tragt nicht auch Ihr einen falschen Namen, Athos?“
„Vielleicht sollten wir uns dann die Ehre erweisen und uns demaskieren bevor wir zur Tat schreiten?“, Athos hob den Degen, „ich bin Athos, aber früher nannte man mich den Comte de la Fère.“
„Oh, französischer Adel. Ich kann leider nicht mit einem so klangvollen Namen dienen. Wenn Ihr in der Hölle gefragt werdet, wer Euch getötet hat, dann lautet die Antwort: John.“ Und mit diesem Satz griff er an. Athos, der damit gerechnet hatte, sprang mit Leichtigkeit beiseite. Die Klinge glitt ins Leere, John machte einen Ausfallschritt, was Athos die Gelegenheit bot, hinter ihn zu kommen. Doch John war schneller als gedacht. Blitzschnell hatte er sich umgedreht und parierte Athos‘ Degen mit einer solchen Wucht, dass Athos es bis ins Handgelenk spürte. Mit einer geschickten Drehung befreite Athos seine Klinge und griff von neuem an.
John war ein ausgezeichneter Fechter. Wendig, schnell, dennoch kraftvoll. Die Eleganz und Anmut seines Gegners errang sich Athos‘ widerwillige Bewunderung. Auch wenn es natürlich leichter für ihn gewesen wäre, wenn John weniger gut gewesen wäre, so erfüllte ihn der Kampf doch mit einer eigenartigen Befriedigung. Es fühlte sich geradezu befreiend an, nach all diesen Tagen voller dunkler Rätsel, nun endlich etwas tun zu können. Die meist sorgfältig verborgene finstere Seite in Athos brach auf, als er nun die Kräfte mit jenen seines Gegenspielers mass und mit jedem Schlag glaubte er zu spüren, wie der Blutrausch in ihm grösser wurde, eine rote Flut, die nur darauf wartete, losgelassen zu werden.
Er durfte sich dem nicht hingeben. Erstens war er kein Barbar und zweitens konnte er John nur dann überwinden, wenn er einen kühlen Kopf behielt. Also zähmte Athos die Dunkelheit, die sich wie ein störrischer Hengst in ihm aufbäumte. Stattdessen focht er ruhig weiter, sorgfältig darauf bedacht seine Kraft nicht zu verschwenden.
Die Zeit war sein Verbündeter. Je länger es Athos gelang, die Attacken seines Gegners zu parieren und ihm auszuweichen, desto langsamer wurde John. Athos kreuzte oft genug mit d’Artagnan die Klingen um zu wissen, wie man feurige Kämpfer erlahmte und sie zu Unvorsichtigkeiten verleitete. Wie ein Wiesel wich er ihm aus, dehnte jeden Moment so lange wie möglich und verteidigte mehr als dass er frontal angriff. Er spürte, dass sein defensives Verhalten John ärgerte.
Es war dieser Ärger, der ihn unvorsichtig werden liess. Als Athos erneut zurückwich, verzerrte sich Johns Gesicht vor Zorn und er machte einen schnellen Ausfallschritt, um ihn noch zu erwischen. Athos sah den Fehler in der Deckung seines Gegners sofort, tauchte ab, hob seinen eigenen Degen und erwischte das Handgelenk seines Kontrahenten. Blut spritzte und mit einem dumpfen Klirren fiel die Waffe auf den Boden.
Athos stiess sie mit dem Fuss beiseite, bevor John wieder nach ihr greifen konnte. In einer aufreizend langsamen Bewegung legte er die Degenspitze auf Johns Brust. „Musketier schlägt Spion würde ich sagen.“ Der Triumph färbte seine Stimme spöttisch.
In Johns Gesicht konnte er weder Enttäuschung noch Entsetzen lesen. Nur eine schneidende Kälte als wären seine Züge in Eis erstarrt. „Spione verlieren nicht. Sie gewinnen…oder sie sterben.“ Athos wusste, was John tun würde, noch bevor sich dessen Finger um den Griff des Degens legte. Er sah einfach zu, wie der falsche Priester, der englische Spion, der Mörder von Francis, sich selbst die Klinge in das Herz stiess.
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Im ersten Moment dachte Porthos, Aramis sei tot. Als er ins Zimmer stürzte sah er Adelina wie sie auf dem leblosen Körper seines Freundes kniete. Sie hatte seinen Kopf gerissen, das Messer an seinem Hals und obwohl kein Blut floss, liessen seine geschlossenen Augen und seine bleiche Haut für einen schrecklichen Moment lang glauben, er sei zu spät gekommen. Doch dann flatterten Aramis‘ Lider und ein Stöhnen glitt von seinen blau schimmernden Lippen.
Er lebte. Aramis lebte.
Alleine diese Erkenntnis verlieh ihm Bärenkräfte. Mit einem Brüllen warf er sich auf Adelina, hob sie mühelos hoch und warf sie zur Seite. Sie war zu überrascht um sich zu wehren. Mit einem überraschten Schrei fiel sie zu Boden, prallte mit dem Kopf gegen die Bettkante und blieb reglos liegen. Porthos kümmerte sich nicht um sie. Er hatte nur Augen für Aramis, der benommen und hustend versuchte sich aufzurichten.
„Aramis!“ Porthos liess sich neben seinem Freund auf die Knie fallen und wollte ihn in seine Arme ziehen, als eine Stimme rief: „Vorsicht, hinter Euch!“
Porthos fuhr herum. Adelina hatte ihre Ohnmacht offenbar nur vorgetäuscht. Sie war aufgestanden, den Dolch noch immer in der Hand, drohend, gefährlich und bereit zu töten. Und hinter ihr stand, mit schlotternden Knien und weit aufgerissenen Augen der gute Bruder Mathias, dessen Warnung ihm vermutlich gerade das Leben gerettet hatte. Zeit zum Danken blieb ihm allerdings nicht. Adelina ging auf ihn los.
Sie war so schnell, dass er den Degen nicht rechtzeitig ziehen konnte. Mit voller Wucht prallte sie gegen ihn und riss ihn zu Boden. Der Sturz presste ihn die Luft aus den Lungen, Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Erst im letzten Moment bekam er ihr Handgelenk zu fassen, gerade noch bevor sich das Messer in sein Fleisch bohren konnte.
Es war eine fürchterliche Ironie, dass sie nun in einer Position verharrten, die sie so oft im Liebesspiel eingenommen hatten. Er, der unter ihr lag und ihr ausgeliefert, sie, die auf ihn thronte und die Macht genoss, die sie innehatte. Aber es war kein Spiel. Adelinas schöne Züge waren vom Hass verzerrt und ihre grünen Augen waren die einer Schlange, die bereit war zuzubeissen. Nichts war mehr geblieben von der witzigen, fröhlichen Frau mit der Porthos so oft das Bett geteilt hatte und in die er bis über beide Ohren verliebt gewesen war. Ein Teil von ihm – ein grosser Teil – wehrte sich dagegen, ihr wehzutun. Sein Verstand sagte ihm, dass sie eine Spionin, eine Verräterin und Mörderin war, doch sein Herz schrie danach, sie weiterhin lieben zu dürfen. Sie war die Frau, die neben ihm gelegen hatte, die ihm Liebesdinge ins Ohr geflüstert hatte, deren Atem über seine Haut gestreift war und deren Hände sich mit den seinen verschlungen hatten.
Aber sie war auch die Frau, die den Tod zweier Musketiere verursacht hatte. Und wenn er sie nicht aufhielt, würde sie Aramis ebenfalls töten. Aramis, sein Freund, der gute, schlaue Aramis, der auch über seine schlechtesten Witze lachte, der ihm vertraute, der ihn oft genug in Schwierigkeiten brachte aber mindestens ebenso oft rettete. Aramis, der so voller Lebensfreude war, der ihn den Arm um die Schultern legte und ihm leise Spötteleien und scharfzüngige Bemerkungen ins Ohr raunte, um ihn zu amüsieren.
Er musste ihn retten.
Mit einem Schrei zog er sie so heftig am Handgelenk, dass sie vorüber fiel. Gleichzeitig rollte er sich zur Seite, so dass ihr Messer statt ihn den Boden durchbohrte. Noch bevor sie reagieren konnte, war er schon wieder auf den Füssen, packte sie an den Armen und wollte sie nach oben ziehen. Doch so leicht machte sie es ihm nicht. Mit einer schnellen Drehung entkam sie seiner Umklammerung, hob den Fuss und wollte ihm mit diesem vor die Brust treten. Er bekam ihn zu fassen, drehte ihn zur Seite, so dass sie ihren Stand verlor und auf seitwärts auf das Bett fiel. Bevor sie sich wieder aufrappeln konnte, hatte er seinen Degen gezogen und hielt ihn unter ihr Kinn. „Ihr seid besiegt, Madame!“
Der Ausdruck ihrer grünen Augen wandelte sich innerhalb eines Lidschlags. Die kalte Boshaftigkeit schwand, stattdessen kehrten das verspielte Funkeln und die kecke Verspieltheit zurück. Mit einem betörenden Lächeln schob sie mit ihrem langen Finger die Klinge beiseite. „Ach, Porthos. Sind wir denn Feinde? Nur weil unsere Länder sich nicht einig sind, bedeutet das doch nicht, dass unsere Herzen ebenfalls im Streit sein müssen.“ Sie legte die Hand auf ihre Brust, noch immer lächelnd, ein Bild verführerischer Unschuld.
Porthos spürte, wie er ins Wanken geriet. Ihre Schönheit, ihre Stimme, ihre Bewegungen…sie wickelte ihn um den Finger. Sie kannte den Weg zu seinem Herz. „Sag mir, Adelina…war alles zwischen uns gelogen?“
Ihr Blick wurde noch weicher. „Nicht alles“, hauchte sie, glitt vom Bett und erhob sich, ohne dass er sie aufzuhalten versuchte. Er fühlte sich wie gelähmt, all seine Entschlossenheit wankte beim Anblick ihrer vollen schönen Lippen, die den seinen wieder so gefährlich nah war.
Es war Aramis‘ Husten, der ihn aus seiner Trance riss. Dieser furchtbare Husten, der kein Ende nehmen wollte. Als Porthos einen kurzen Blick über die Schulter warf sah er Aramis, der heftig zitternd und vornübergebeugt auf einem Stuhl sass, verzweifelt nach Atem ringend. Bruder Mathias strich ihm über den Rücken und redete beruhigend auf ihn ein. Doch Aramis schien sich nicht beruhigen zu können. Obwohl ihm das verschwitzte nasse Haar ins Gesicht fiel, konnte Porthos sehen, dass die dunklen Augen auf ihn gerichtet waren. Und sie waren voller Angst. Aber es war nicht die Angst um sich selbst, erkannte Porthos, es war die Angst, dass ihm, Porthos, etwas geschah.
Beim Anblick des entsetzten und kranken Aramis, traf er seine Entscheidung.
Adelinas Lächeln war zur Maske des Triumphs geworden. „Du kannst mir nichts tun, Porthos. Dafür liebst du mich zu sehr.“
Er sah ihr in die Augen. Hob die Hand, strich ihr mit den Finger über die Wange, eine letzte zärtliche Geste. „Nein. Ich glaubte dich zu lieben. Aber ich liebte nur eine Illusion.“ Mit diesen Worten hieb er den Degenknauf gegen ihre Schläfe. Mit einem leisen, überraschten Laut brach sie zusammen und dieses Mal, da war sich Porthos sicher, war ihre Ohnmacht nicht nur gespielt.
Ohne sich noch länger mit ihr aufzuhalten, eilte Porthos zu Aramis und nahm Mathias‘ Platz ein. Behutsam nahm er ihn in die Arme und presste seinen Kopf gegen seine Brust. „Atme mit mir, Aramis. Ein – und aus. Ganz ruhig“, beschwor er ihn. Sein Freund fühlte sich wieder viel zu warm an, was allerdings auch von der Aufregung rühren konnte und nicht zwangsläufig vom Fieber kommen musste.
Der Husten ebbte ab. Aramis‘ Atemzüge wurden ruhiger und gleichmässiger. Dennoch hielt Porthos ihn immer noch fest, strich ihm über das Haar und küsste ihn auf die Stirn. Er musste ihn spüren, musste den Herzschlag selbst fühlen um zu wissen, dass er lebte und bei ihm war „Alles ist gut, alles ist gut“, murmelte er, während er ihn festhielt, „alles ist gut.“
Er brauchte eine Weile um zu bemerken, dass das Schluchzen, das den Raum erfüllte, nicht von Aramis kam, sondern von ihm selbst. Und dass Aramis ihn ebenso fest umschlungen hielt, wie er ihn.
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Anmerkung: Das war es, das grosse Finale! Ich hoffe, ich konnte die Spannung aufrechterhalten und ihr hattet ebenso viel Spass beim Lesen wie ich beim Schreiben. Die Kampfszenen fielen mir nicht gerade leicht, aber ich glaube, sie sind nicht sooo schlecht herausgekommen. Jetzt kommt noch ein Abschlusskapitel. Und dann sind wir endgültig am Ende…
Kapitel Das letzte Geheimnis wird gelüftet
Kapitel 33
Das letzte Geheimnis wird gelüftet
Aramis schlug die Augen auf und fühlte sich gut. Naja, nicht wirklich gut, aber auf jeden Fall besser. Das Fieber war endlich weg und seine Hustenanfälle waren zwar immer noch grässlich, überfielen ihn allerding weniger häufig und dauerten auch nicht mehr so lange. Und heute beim Aufwachen hatte er zum ersten Mal seit langem wieder Appetit verspürt. Seine Lebensgeister kehrten zurück. Wenn nicht wieder irgendeine durchgedrehte Spionin vorbeikam und versuchte ihn zu erwürgen, würde er bald schon wieder ganz gesund sein.
Auch wenn ihm die Schwäche noch immer in den Knochen steckte, wurde der Drang, aufzustehen und die Sonne draussen zu geniessen, immer stärker. Eigentlich war er schon seit Tagen der Meinung, dass er das Bett inzwischen auch mal wieder verlassen konnte. Schliesslich starre er wirklich schon genug lange die immer gleiche Zimmerdecke an. Zu seinem Leidwesen war er aber der einzige, der dieser Meinung war. Sie hatten sich alle gegen ihn verbündet, Athos, Porthos, d’Artagnan, Constance und Bruder Mathias. Gerade Letzterer war der Ansicht, dass Aramis tot umfallen würde, sobald er auch nur seinen grossen Zeh aus der Decke streckte.
Der Rückfall, ausgelöst durch seinen Todeskampf mit der tückischen Lady Adelina, war natürlich alles andere als angenehm gewesen. Das Fieber war wieder gestiegen. An die Nacht darauf hatte er nur noch verschwommene Erinnerungen: Die Hitze, die in seinem Körper tobte, Constances Finger, die über seine Wangen strichen, Mathias, der nasse Tücher um seine Waden wickelte, Athos, der mit der Hand seine Stirn fühlte, d’Artagnan, der seine durchschwitzten Laken auswechselte, Porthos, der an der Bettkante sass und seine Hand gar nicht mehr loslassen wollte. Aber bereits nach zwei Tagen war das Fieber gesunken. Es gab also keinen Grund mehr, ihn einzusperren.
Aramis linste vorsichtig zu Athos rüber, der auf einem Stuhl sass und ein Buch las. Vor ein paar Tagen hatte Aramis versucht das Bett auf eigene Faust zu verlassen, doch dieser Ausflug hatte ein unrühmliches Ende auf dem Fussboden gefunden. Seit dem spielten seine Freunde abwechselnd Kindermädchen. Sie selbst bezeichneten es allerdings als „ihm Gesellschaft leisten“, aber sie achteten alle streng darauf, dass er sich nicht überanstrengte. Wobei alles was auch nur ein Minimum an Bewegung forderte, unter „Überanstrengung“ fiel.
Jetzt allerdings war Athos so in das Buch vertieft, dass er es vielleicht wagen könnte…
„Denk nicht mal dran!“, warnte ihn Athos, ohne von seiner Lektüre aufzusehen.
Dieser Mann und seine verfluchten Instinkte! Aramis stiess einen schweren Seufzer aus und liess sich frustriert noch tiefer in die Kissen sinken. „Was ihr da macht ist streng genommen Freiheitsberaubung“, maulte er.
Athos warf ihm über dem Buchrand einen amüsierten Blick zu. „Du liegst in einem Bett, Aramis. Nicht in einem Kerker.“
„Mit jedem Tag wird der Unterschied kleiner“, beharrte Aramis verschnupft.
„Ich weiss nicht, wieso du so jammerst! Du liegst unter warmen Decken, Constance bringt dir dein Essen, Bruder Mathias kümmert sich um dich als wärst du ein neugeborenes Kind und wir alle verwöhnen dich.“
„Wenn das so schön ist, wieso liegst du dann nicht im Bett und lässt dich umsorgen?“
„Weil ich nicht derjenige bin, der in den letzten Tagen fast gestorben wäre“, bemerkte Athos treffend und legte das Buch weg. Seine Miene war stoisch und kühl wie immer, aber seine Augen funkelten vor diebischem Vergnügen über diese vertrauten Neckereien. Aramis spürte, dass Athos dasselbe empfand wie er: Erleichterung darüber, dass wieder Normalität in ihr Leben zurückgekehrt war.
Wobei noch nicht alles wieder ganz normal war.
„Hast du inzwischen mit Porthos gesprochen?“, fragte Aramis leise. Er wusste nicht recht auf welche Antwort er hoffen sollte. Einerseits wäre er froh, wenn Porthos überhaupt mal wieder mit jemanden auch nur ansatzweise so etwas wie ein Gespräch führen würde, andererseits wusste er nicht, ob Athos wirklich der Richtige war, um über Liebeskummer zu reden. Athos‘ Lösung für seelische Probleme, bestand normalerweise darin Alkohol in sich reinzuschütten.
Als hätte er seine Gedanken gelesen, meinte Athos: „Ich weiss nicht, ob ich der Richtige bin um jemanden gute Ratschläge zu geben, der gerade von einer Frau betrogen wurde, die vorgab jemand anderes zu sein. Es ist ja nicht so, als hätte ich das besonders gut verschmerzt.“ Ein Hauch von Bitterkeit und Sehnsucht schwang in seiner Stimme mit.
Aramis hatte wirklich keine Lust sich auch noch mit Milady und Athos auseinanderzusetzen. Ein Freund, der im Trübsinn versank, reichte ihm vorerst. „Und was ist mit d’Artagnan? Hat er versucht, mit Porthos zu reden?“
Diese Frage entlockte Athos ein amüsiertes Grinsen. „Dafür müsste unser lieber d’Artagnan sich erst einmal weiter als eine Armlänge von Constance entfernen – und das ist zur Zeit ein Ding der Unmöglichkeit.“
Das stimmte. D’Artagnan war begeistert gewesen von der Idee, nicht in die Garnison zurückzukehren, sondern hier zu bleiben, bis Aramis sich soweit erholt hatte, dass sie die Reise nach Paris antreten konnten. Tréville höchstpersönlich hatte ihnen seinen Segen gegeben, als er die gefangene Adelina abgeholt hatte um sie in die Bastille zu bringen. Die paar Tage Erholung hätten sie sich wahrlich verdient, hatte er geknurrt und in seiner üblich rauen Art noch hinzugefügt, dass Paris schon nicht gleich fallen würde, nur weil vier Musketiere mal nicht zugegen waren. Auf jeden Fall nutzten d’Artagnan und Constance die gemeinsame Zeit um ihre Romanze wieder aufzufrischen.
Aramis gönnte es ihnen von Herzen. Bald würden sie sich wieder trennen müssen, Constance wäre wieder an ihren gutbürgerlichen Mann gebunden und d’Artagnan bliebe wieder nichts ausser seiner Sehnsucht und seinen bittersüssen Erinnerungen. Was ihn allerdings ein wenig beunruhigte war die Vorstellung, dass Monsieur Bonacieux früher als geplant von seiner Reise zurückkehren könnte und sein Haus voller Musketiere fand, von denen einer mit seiner Frau turtelte.
Nein, Athos hatte Recht: Der verliebte D’Artagnan war ebenfalls nicht der rechte Gesprächspartner für den vom Schicksal gebeutelten Porthos. „Aber irgendjemand muss mit ihm reden! Es wird ihn sonst von innen zerfressen, ich kenne ihn.“ Aramis schlug frustriert mit der Hand auf die Bettdecke. Und weil es sich gut anfühlte, wollte er es gleich noch mal machen, aber Athos fing seine Faust ab.
„Aramis…wir beide wissen, dass du es bist, der dieses Gespräch führen sollte.“
„Würde ich ja gerne. Nur kommt er mich nie besuchen!“
„Er sitzt jede Nacht bei dir!“
„Ja, wenn ich schlafe! Und da finde ich es relativ schwer, ein Gespräch zu führen. Sobald ich die Augen aufmache, verschwindet er. Als wolle er nicht mit mir reden.“ Aramis befreite seine Hand aus Athos‘ Griff und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Er macht sich Vorwürfe.“
„Das ist es ja. Ich will nicht, dass er an seinen Schuldgefühlen zerbricht.“
Aramis liess seine Worte auf Athos wirken. Er konnte sehen, dass sein Freund mit sich rang. Nur mit Mühe konnte er ein zufriedenes Lächeln unterdrücken. Bald hatte er Athos genau dort, wo er ihn wollte. „Wenn ich allerdings aufstehen dürfte, dann könnte ich zu ihm gehen und…“
Ein schwerer Seufzer hob Athos‘ Brust. Dann stand er auf und streckte Aramis die Hand entgegen. „Nun gut. Aber du bist es, der Constances und Bruder Mathias‘ Zorn auf sich nimmt, wenn sie uns erwischen!“
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Die Frühlingssonne bäumte sich ein letztes Mal auf und sandte ihre goldenen Strahlen, die über das Land, das rötlich aufglühte und so auf einmal wirkte wie ein verwunschenes Märchenreich. Doch Porthos hatte kein Auge für diese Schönheit. Für ihn war ohnehin alle Schönheit gestorben. Zusammen mit seinem Glauben an die Liebe.
Porthos zog die Knie an, eine Position, die er als Kind oft eingenommen hatte, wenn er bei seiner Mutter Trost und Wärme gesucht hatte. Damals, als er gemeinsam mit ihr in einem heruntergekommenen Haus gelebt hatte, das überall auseinanderbrach. Sie waren arm gewesen, so arm, dass er oft Bauchschmerzen vor Hunger hatte. Und dennoch war er glücklich gewesen. Weil seine Mutter ihn mit ihrer Liebe überschüttet hatte. Das war alles was er gebraucht hatte um auch die schlimmsten Zeiten zu überstehen.
Seitdem war er immer überzeugt gewesen, dass alles gelingen konnte, wenn man nur liebte. Die Liebe hatte ihm immer Stärke verliehen. Als er sich als Gauner im Hof der Wunder durchschlug, war es die Liebe zu Floh gewesen, die ihn beflügelt hatte. Als er später zu den Musketieren gekommen war, hatte er eine andere Form der Liebe entdeckt: Freundschaftliche Zuneigung, die in brüderliche Liebe umschlug. Das war das, was er für d’Artagnan, Athos und Aramis empfand. Mit ihnen an seiner Seite konnte er alles aushalten: Die Schikanen des Kardinals ebenso wie das ständige Risiko im Auftrag des Königs zu fallen.
Nun aber hatte er die dornige, dunkle Seite der Liebe kennengelernt. Zum ersten Mal in seinem Leben war die Liebe kein Geschenk gewesen, sondern ein Fluch, den er viel zu spät bemerkt hatte. Und diese verräterische Liebe, die eigentlich gar keine Liebe gewesen war,
hatte seinen besten Freund beinahe umgebracht. Es war als hätte Adelina ihm unwiderruflich ein Stück seiner Seele geraubt.
Porthos nahm einen Schluck aus der Weinflasche. Im Gegensatz zu Athos war er kein einsamer Trinker. Auch wenn er dem Alkohol sicher nicht abgeneigt war, zog er es vor, in Gesellschaft zu trinken am besten auf einer fröhlichen Feier oder nach einem langen Tag mit seinen Freunden in einem Wirtshaus. Aber jetzt war ihm nicht nach Gesellschaft, im Gegenteil. Er konnte sich einfach nicht dazu überwinden, sich zu den anderen zu setzen, die gerade gemeinsam das Abendessen zu sich nahmen. Auch wenn ihm niemand einen Vorwurf machte und alle ihm versicherten, er trage keinerlei Schuld an den Geschehnissen, jedes Mal, wenn er in ihre Gesichter sah, verkrampfte sich sein Herz vor Scham. Und es war nicht nur die Scham darüber, dass er Adelina, Aramis‘ Aufenthaltsort verraten hatte. Es war vor allem die Scham darüber, dass sein Herz trotzdem blutete bei dem Gedanken, dass die schöne Adelina heute Morgen hingerichtet worden war.
Das letzte Mal als er sie gesehen hatte, hatte Tréville sie im gefesselten Zustand auf ein Pferd verfrachtet. Sie war wütend gewesen, hatte gefaucht wie eine Katze und sich gegen die Fesseln gesträubt. Als die Leiche ihres Bruders an ihr vorbeigetragen wurde, hatte sie ihren Zorn und ihren Schmerz herausgeschrien, ein schriller Sirenenschrei, der durch Mark und Bein ging. Doch selbst so in, diesem aufgelösten Zustand, hatte sie etwas unglaublich Anziehendes. Und als sie davonritt, warf sie ihm einen letzten kecken Blick über die Schulter zu, ein Blick, der alles versprach und ihn mitten ins Herz traf.
Er hatte sie geliebt. Das liess sich nicht so schnell abstreifen, wie eine überflüssig gewordene Haut. Mit einem Seufzen legte Porthos den Kopf in den Nacken um erneut den Himmel zu betrachten. Inzwischen hatte er von einem glühenden Rot zu einem zarten Rosa gewechselt. Bald würde er sich in ein dunkles Blau färben. Vielleicht war es auch so in der Liebe, dachte Porthos, vielleicht brauch sie einfach Zeit, sich zu verflüchtigen.
„Ein wunderschöner Abend nicht wahr?“
Aramis‘ sanfte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Lautlos, wie es seine Art war, hatte er sich angeschlichen und liess sich nun neben Porthos auf die Bank sinken. Noch war die übliche Eleganz seiner Bewegungen nicht zurückgekehrt und auch die dicke Decke, die er sich um die Schulter geschlungen hatte, verriet, dass er noch nicht ganz auf der Höhe seiner Kräfte war. Deshalb runzelte Porthos nun ärgerlich die Stirn. „Du gehörst ins Bett, Aramis!“, tadelte er ihn.
„Dort langweile ich mich nur“, entgegnete Aramis und strecke genüsslich die langen Beine aus, ganz wie eine Katze, die sich in der Sonne räkelte.
Porthos gab ein unwilliges Knurren von sich. Aramis und sein Leichtsinn! Noch vor ein paar Tagen war er hochfiebernd darniedergelegen und kaum ging es ihm ein bisschen besser, übertrieb er es schon wieder. „Und hier draussen holst du dir den Tod!“ Energisch stand er auf und versuchte Aramis am Ellbogen ebenfalls hochzuziehen. Doch dieser blieb stur sitzen.
„Wieso behandelt ihr mich eigentlich alle wie ein unmündiges Kind? Ich hatte eine Lungenentzündung und eine Amnesie und beide Dinge führen nicht zu einem dauerhaften Verlust des Verstandes!“
„Nun ja auf deinem Verstand war ja ohnehin noch nie so gross Verlass. Du musst ja ständig über die Stränge schlagen mit deinen ausufernden Gefühlen. Immer muss ich auf dich aufpassen und…“ Er brach schlagartig ab.
Aramis beobachtete ihn genau. „Ja? Was wolltest du sagen?“
„Ach nichts.“ Porthos wandte sich ab. Er hatte kein Recht so zu reden. Wenn er seine Gefühle besser im Zaun gehalten hätte und mehr auf Aramis Acht gegeben hätte, sässe dieser jetzt nicht so abgemagert und in eine Decke gehüllt neben ihm.
„Porthos…dir ist schon klar, dass du keine Schuld an dieser Geschichte trägst?“
Es war das grenzenlose Verständnis und die Wärme in Aramis‘ Stimme, die Porthos bis ins Innerste traf und ihm die Tränen in die Augen trieb. „Das sagen alle. Aber es stimmt nicht! Ich habe Adelina blind vertraut und mich von ihr einwickeln lassen. Dabei hätte ich doch spüren müssen, dass etwas nicht stimmt. Spätestens als Francis ermordet wurde. Wenn ich nicht so verblendet gewesen wäre, dann hätte ich es gemerkt. Und dann hättest du nicht so lange in den Kerker müssen und wärst nicht krank geworden und…“ Er brach ab und vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen.
„Porthos! Ich hätte die Lungenentzündung wahrscheinlich auch bekommen, wenn ich nicht im Kerker gelandet wäre! Ich habe mich schon Tage vorher unwohl gefühlt.“
„Aber ich habe ihr verraten wo du bist! Wie sollst du mir je vergeben können, dass ich dich verraten habe?“
Aramis packte ihn an den Schultern. „Ja, aber du warst auch derjenige, der sie aufgehalten hat. Porthos“, er griff nach Porthos‘ Kinn und hob es sanft hoch, so dass er ihm in die Augen sehen musste, „wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich es nicht geschafft. In jener Nacht, als ich so hohes Fieber hatte und kaum atmen konnte, da glaubte ich, sterben zu müssen. Ich habe nicht mehr gekämpft. Dann kamst du…und hast es an meiner Stelle getan. Du hast mich beschützt, so wie du es immer tust. Glaube nicht, dass du jetzt weniger wert bis, nur weil du diese Frau geliebt hast!“
„Abgesehen davon wärst du ja kein richtiger Musketier, wenn du nicht mindestens einmal auf eine manipulative Frau reingefallen wärst“, erklang plötzlich Athos‘ raue Stimme. Porthos hob den Blick und sah, dass Athos lässig am Türrahmen lehnte, flankiert von d’Artagnan. Beide schenkten ihm ein schiefes Grinsen…und Porthos konnte nicht anders, er musste zurückgrinsen.
„Niemand gib dir die Schuld an dem was passiert ist. Ausser du selbst. Es gibt also nichts zu vergeben.“ In Aramis‘ dunklen Augen stand kein Groll und kein Vorwurf, sondern nur reine Zuneigung, etwas, was Porthos glaubte, verloren zu haben. Erneut zog er seinen Freund in eine innige Umarmung, doch dieses Mal mit einem breiten Lächeln statt mit Tränen.
Aramis ächzte. „Porthos…meine Rippen…“
„Entschuldige.“ Er liess ihn los. „Du bist aber auch furchtbar dünn geworden. Wir müssen dich unbedingt mehr füttern.“
„Genau, du bist ja schrecklich abgemagert.“ D’Artagnan piekte scherzhaft mit dem Finger in Aramis‘ Rippen.
„So können wir dich den Damen in Paris unmöglich präsentieren“, pflichtete Athos bei, „aber keine Angst unter unserer Pflege wirst du bald wieder so hübsch wie vorher sein.“
„Schliesslich ist das unser Motto nicht wahr? In guten wie in schlechten Tagen. Oder: Alle für einen…“ d’Artagnan machte eine dramatische Pause bevor alle vier im Chor antworteten:
„Und einer für alle!“
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„Wenn das nicht meine hübschen Musketiere sind!“ Pierre Lefèvre drängte sich resolut zwischen zwei seiner herumwuselnden Mädchen hindurch und kam mit strahlender Miene auf die Freunde und ihren Hauptmann zu, die sich an einem der Tische niedergelassen hatten. Pierre schüttelte erst Athos begeistert die Hand, drückte sich dann den verdutzten d’Artagnan an die Brust, schlug Porthos auf die Schulter und gab Aramis ein Küsschen auf die Wange. Vor Tréville schliesslich machte er eine elegante Verbeugung.
„Hauptmann, Ihr habt Euer Versprechen gehalten. Dafür stehe ich zutiefst in Eurer Schuld.“
Tréville grinste etwas verlegen. Schliesslich hatte er Pierre nicht einfach aus reiner Nächstenliebe geholfen, sondern in erster Linie um Aramis‘ Unschuld zu beweisen. Dennoch war er froh, dass der muntere Gastwirt der Bastille entkommen war. Es wäre nicht recht gewesen, wenn er inhaftiert geblieben wäre und das nur, weil der Kardinal mal wieder auf einer seiner Rachefeldzüge war.
„Immerhin durfte ich so Eure bezaubernde Schwester kennenzulernen.“
Pierre lächelte und griff sich lässig einen Bierkrug von einem Tablett, das gerade von einer der hübschen Damen vorbeigetragen wurde. „Ach ja die gute Sophie…ein verrücktes Huhn. Aber eine gute Schwester und treue Freundin.“ Tréville fand es ziemlich komisch, dass ein Mann, der heute eine äusserst seltsame federbestickte Robe und dazu Schnabelschuhe trug, jemanden wie Sophie als „verrückt“ bezeichnete. Allerdings schienen in Pierres Leben ohnehin andere Massstäbe zu gelten.
„Ich bin auf jeden Fall froh, dass sich für Euch ebenfalls alles zum Guten gewendet hat. Es tut mir Leid, dass diese ganze Geschichte auch Euch so furchtbar getroffen hat“, sagte Aramis mit ehrlicher Anteilnahme in der Stimme. Heute trug er zum ersten Mal seit langem wieder seine Uniform. Weil er noch immer eine Spur zu dünn war, sass sie noch nicht perfekt, aber das Strahlen und der Schalk war in seine dunklen Augen zurückgekehrt, so dass er endlich wieder aussah wie der lebensfrohe junge Mann, der er vor der Krankheit gewesen war. Als seine Musketiere nach Paris zurückgekehrt waren, hatte er noch eher an ein Gespenst erinnerte.
Pierre winkte lässig ab. „Oh, daran tragt Ihr nun wirklich keine Schuld. Das war eher eine Verkettung unglücklicher Umstände. Und immerhin lebe ich noch. Andere hatten weniger Glück…“ Ein Schatten fiel über das sonst so fröhliche Gesicht des Wirtes und Tréville wusste, dass er an Robert dachte.
D’Artagnan schien den melancholischen Stimmungsschwung bei Pierre ebenso zu bemerken. Er hob seinen Bierkrug. „Lasst uns auf Francis trinken. Er war ein guter Mann. Und auch auf Robert. Der ebenfalls ein guter Mann war.“ Sie stiessen die Bierkrüge aneinander. Es war eine ungewöhnliche Art diesen Toten zu gedenken. Aber schliesslich hatte es sich auch um ungewöhnliche Männer gehandelt.
„Wir sollten auch auf Fleur trinken. Deren Geheimnis gewahrt wurde und die immer noch als Zofe im Palast lebt, obwohl sie eigentlich eine von uns ist.“ Den letzten Teil flüsterte Pierre nur noch. Tréville war auch ziemlich stolz auf sich, dass es ihm gelungen war, Fleurs Namen reinzuwaschen, ohne ihre Herkunft zu verraten. Schlussendlich hatte ihm der Kardinal dabei geholfen. Wenn auch nicht ganz freiwillig…
Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Athos plötzlich: „Das wundert mich aber eigentlich schon die ganze Zeit: Wieso war der Kardinal plötzlich so hilfsbereit als es um Fleur ging? Er wird doch nicht plötzlich sein Herz entdeckt haben?“
„Nun ja…vielleicht haben wir ihm einen kleinen Stoss in die richtige Richtungen gegeben.“ Tréville wechselte einen fragenden Blick mit Pierre. Er war sich nicht sicher, ob er das Geheimnis, das den Kardinal mit dem exotischen Gastwirt verband, wirklich verraten durfte.
Doch Pierre lächelte ihm aufmunternd zu. „Hauptmann, ich denke, Eure Männer haben sich diese Geschichte mehr als verdient. Der Grund wieso Richelieu Fleur so bereitwillig geholfen hat, liegt in unserer gemeinsamen Vergangenheit. Und diese Vergangenheit ist auch der Grund, wieso Richelieu so sehr darauf versessen war, mich hinter Gittern zu sehen.“
„Sagt nur, Ihr wisst um eines der dunklen Geheimnisse, die der Kardinal so geschickt unter seiner roten Robe verbirgt?“, fragte d’Artagnan, dessen Augen so gross und n rund wie Münzen waren. Auch Athos, Aramis und Porthos schienen vor Neugierde förmlich zu brennen.
Pierre lachte auf. „Dunkel kann man das Geheimnis eher nicht nennen. Eigentlich ist es eher komisch. Wisst Ihr, Richelieu und ich, wir kennen uns noch vom Studium.“
„Vom Studium“, echote Aramis verdutzt, „aber Richelieu hat doch Theologie studiert!“
„Genau. Ich auch.“
Tréville konnte es seinen Musketieren nicht verdenken, dass ihnen förmlich die Kinnlade runterfiel. Als Pierre ihm diese Geschichte erzählt hatte – nachdem er seinen Teil des Handels abgeschlossen und ihn aus der Gefängniszelle rausgeholt hatte – hatte er erst auch nicht glauben können, dass ausgerechnet Pierre eine Kirchenlaufbahn angestrebt hatte.
„Es war jetzt nicht so, dass es meine Idee gewesen wäre“, stellte Pierre naserümpfend klar, „mein Vater hatte sich die Idee in den Kopf gesetzt, dass ich für die Kirche geboren sei. Ein Irrtum, wie ich damals übrigens schon wusste. Auf jeden Fall lernte ich dort Armand kennen – euch besser bekannt als Kardinal Richelieu. Und ob ihr es glaubt oder nicht: Damals waren wir befreundet. Nicht eng, aber zumindest so, dass wir unsere Abende gemeinsam verbrachten. Richelieu entpuppte sich dann aber immer mehr als Meisterschüler und machte sich einen Spass daraus, jene zu demütigen, die nicht ganz mit seiner Intelligenz mithalten konnte Und ich war sein Lieblingsopfer. Deshalb beschlossen ich und ein paar meiner Kameraden ihm einen Denkzettel zu verpassen.“
„Keine gute Idee sich mit Richelieu anzulegen“, bemerkte d’Artagnan. Tréville sparte sich den Kommentar, dass d’Artagnan selbst ja ein geradezu bewundernswertes Talent dafür zeigte, dem Kardinal auf die Nerven zu gehen.
„Damals waren wir noch jung und wenn ich geahnt hätte, dass aus diesem oberschlauen, mageren Studenten einmal der mächtigste Mann Frankreichs werden würde, hätte ich den kleinen Scherz vielleicht auch gelassen. Aber ich wusste es damals doch nicht und so bereitete ich den Streich vor. Ich und meine Freunde veranstalteten einen kleinen Kostümball zu dem wir auch Richelieu einluden. Er erschien tatsächlich – verkleidet als prachtvoller Kater.“
„Wie passend“, murmelte Athos.
Pierre fuhr fort: „Es war ein rauschendes Fest, wobei ich es mir selbst zur Aufgabe machte, dafür zu sorgen, dass Richelieus Glas nie leer war. Unser Plan ging auf, der gute Kater war um Mitternacht so betrunken, dass er sich widerstandslos in das nächste Bordell führen liess. Und dort erwachte er dann auch, in seinem Katerkostüm, umgeben von kichernden Dirnen und prustenden Freiern, denn wir hatten es uns nicht nehmen lassen, sein Kostüm zu ergänzen: Mit einem Priestergewand, so dass ein jeder wusste, wen es da zu den leichten Damen gezogen hatte.“
Die Musketiere brachen in so schallendes Gelächter aus, dass sich andere Gäste erschrocken zu ihnen umdrehten. Porthos schlug vor Vergnügen mit der Faust auf den Tisch, d’Artagnan kugelte sich förmlich vor Lachen, Aramis liefen die Tränen über die Wangen und selbst der sonst so zurückhaltende Athos hielt sich den Bauch. Die Vorstellung war aber auch zu komisch: Der strenge und würdevolle Richelieu, der sich im Katerkostüm in einem Bordell räkelte.
„Wie Ihr Euch vorstellen könnt, hat Richelieu schnell herausgefunden, wer sich diesen Streich ausgedacht hatte. Von da an war es vorbei mit unserer Freundschaft, denn überall kursierten nun Witze und Gerüchte, über den Kater, der einen Kater hatte und bei den Katzen landete. Das hat er mir nie verziehen, obwohl ich kurz darauf das Studium vorzeitig beendete. Die Kränkung war so tief, dass Richelieu auch jetzt, viele Jahre danach, die Chance ergriff, sich an mir zu rächen.“
„Unser Kardinal hat eben ein gutes Gedächtnis, was vergangene Demütigungen betrifft“, grinste Aramis.
„Und sicher hat der Kardinal Interesse daran, dass diese unrühmliche Jugendsünde nicht plötzlich am Königlichen Hof die Runde macht. Daran wird ihn wohl unser Hauptmann erinnert haben, als er für Fleur bat.“ Athos, der Scharfsinnige, hatte Trévilles List vollkommen durchschaut, was dieser mit einem leichten Nicken seines Kopfes bestätigte.
Porthos hob erneut seinen Krug. „Wenn das mal kein Grund zum Trinken ist! Der Kardinal wird Opfer seiner eigenen Intrigen und muss sich unserem Hauptmann beugen! Ein Hoch auf Tréville!“
In dieser Nacht fanden die Freunde noch manchen Grund zum Anstossen und auch wenn Tréville sonst streng darauf achtete, dass die Musketiere in seiner Gesellschaft nicht allzu sehr über die Strenge schlugen, liess er die Zügel dieses Mal locker. Sie hatten sich diese ausgelassene Feier wahrlich verdient.
Und so wie er die vier kannte, würde das nächste Abenteuer nicht lange auf sich warten lassen.
- Ende –
Anmerkung: Ein bisschen wehmütig bin ich ja schon. Diese Fanfiction hat mich – wenn ich richtig rechne – fast drei Jahre lang begleitet. Mal ging es mir leicht von der Hand, dann stockte es wieder und manchmal hatte ich gute Lust, das Ganze hinzuschmeissen, wenn die Mordtheorien nicht funktionieren wollten und ich nicht wusste, wie ich das Ganze auflösen oder es zu Ende bringen soll. Aber die Freude daran war zu gross, als dass ich einfach aufgeben wollte und ich bin stolz, dass ich euch jetzt das fertige Werk präsentieren kann. In der Vergangenheit hatte ich immer Probleme damit, längere Fanfictions zu Ende zu schreiben, weil ich schnell die Lust verlor oder mich in der Handlung verwickelte. Dass ich es jetzt geschafft habe, eine über 200 Seiten lange Story zu beenden, ist ein grosser Schritt in meiner Schreibentwicklung.
Den ich auch euch zu verdanken haben! Das Musketier – Fandom ist vielleicht nicht das Beliebteste, allerdings findet man hier qualitativ sehr gute Fanfictions – was man von anderen Fandoms nicht behaupten kann. Ich bin stolz, dass ihr meine Story so gut aufgenommen hat. Ihr habt grosszügig über meine historischen Fehler und über meine allzu saloppe Sprache hinweggesehen. Und vor allem habt ihr meinen Humor verstanden! Danke für eure Reviews, ihr seid ein klasse Lesepublikum (und es ärgert mich immer noch, dass ich die Hälfte eures Feedbacks verloren habe, weil ich die Story mal versehentlich gelöscht habe).
Wahrscheinlich widme ich mich jetzt mal wieder meiner geliebten Mittelerdewelt (ich schaff auch dort eine lange Fanfiction, ich glaube fest daran), aber bestimmt werde ich auch mal wieder was zu den Musketieren schreiben. Ideen hätte ich auf jeden Fall. Die dritte Staffel von „The Musketeers“ war eine solche Katastrophe, dass es mich in den Fingern juckt die Staffel neu zu schreiben…und dann hätte Aramis auch mehr zu tun, als nur im Bett rumzuliegen, wie hier.
Au revoir!
Eure Lady Aramis