„Ein Wolf im Palais Cardinal?“ von Armand-Jean-du-Plessis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 24 BewertungenKapitel Ein Wolf im Beichtstuhl
Die Halbwölfin Luna war wieder einmal kaum zu bändigen. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen sie mitzunehmen, dachte der Comte de Rochefort bei sich. Aber heute war sie als Ablenkung gedacht und sie kam ja auch zu selten aus dem Palais Cardinal hinaus, wenn er in Paris war. Trotzdem, über die Le Halles mit ihr zu gehen war besonders mühsam. Der riesige, teilweise überdachte Marktplatz und die Geschäftsarkaden mussten eine Unzahl an Gerüchen für Luna bereithalten, das war dem Comte natürlich bewusst, aber sie zog und zerrte an ihrer Leine, so sehr, dass er sie kaum noch halten konnte. Hier durfte man sie jedoch unmöglich freilassen. Es würde in einem heillosen Chaos enden, bis er die Halbwölfin wieder unter Kontrolle hätte. Also rasch über den Marktplatz zur Kirche, die einen Teil des Platzes begrenzte.
Was war nur mit dem schwarzen Wolf los.? Was sollte die verflixte Leine bei einem Ausflug ins Gerücheparadies? Luna zerrte wieder kräftig an. Hier roch es doch nach toter Ratte. Das muss man untersuchen, vielleicht zur Tarnung darauf wälzen. Und dort – da hatte jemand Essensreste fallen gelassen – nichts wie hin. Moment, hier hatte eine freche Rivalin markiert, das ging ja mal gar nicht - drübermarkieren - und dort war die Markierung von einem wahrscheinlich recht passablen Rüden, dies musste man näher beschnuppern. Außerdem musste man jeden Winkel begutachten, jeden Hauseingang betrachten, diese Säulengänge inspizieren und alle Marktstände kontrollieren. Jeden einzelnen natürlich. Das gehört sich einfach so – das musste der schwarze Wolf doch wissen! Ah, er war etwas unaufmerksam – jetzt noch ein starker Ruck – na wenigsten das Stück Käse hatte sie erwischt!
Da vorn war endlich Église Saint-Eustache de Paris. Die Kirche galt als letzter Pariser Sakralbau der Gotik, jedoch bereits mit dem Geist der Renaissance verbunden. Zurzeit waren gerade die letzten Umbauten fertig geworden, die Jean-François de Gondi, der Erzbischof von Paris, hatte vorantreiben lassen. Rochefort mochte den Erzbischof nicht. Er war ein religiöser Eiferer, der sich selbst aber nicht an die kirchlichen Regeln hielt und ein liederliches Leben führte. Trotzdem hatte Kardinal Richelieu die Gelder für den großzügigen Umbau genehmigt. Vielleicht lag es daran, dass der Kardinal hier 1585 getauft worden war. Wie auch immer, die Kirche interessierte den Comte de Rochefort aus einem ganz anderen Grund. Vor ein paar Tagen war ihm ein spanischer Agent hier entkommen, den er über den Marktplatz vor der Kirche verfolgt hatte. Zuerst hatte er gedacht, dass der Mann einfach das Menschengewühl der Heiligen Messe ausgenutzt hatte um zu verschwinden. Doch dann hatte er von einem Informanten erfahren, dass immer wieder diese Kirche in den Akten des Spanischen Geheimdienstes auftauchte, zu oft, um nur ein Zufall zu sein. Er würde sich das Gotteshaus einmal näher betrachten. Leider war es immer gut besucht - es war nicht nur die Kirche aller Händler und Kaufleute der Gegend, sondern auch wegen seiner Größe und Architektur sehr bekannt und beliebt. Auch wurde sie natürlich von mehr als einem Priester betreut und hatte zahlreiches weiteres klerikales Personal. Das würde gar nicht einfach werden, aber Rochefort brauchte zuerst einen Eindruck von allem hier.
Jetzt auch noch ein „Heulhaus“ für Menschen. Das erkannte Luna sofort am Geruch. Menschen waren schon seltsam. Sie trafen sich nicht in der freien Natur um als Rudel zu heulen, sondern in diesen besonders hohen Häusern. Zugegeben, das Heulen klang hier irgendwie sehr intensiv, aber Menschen konnten einfach nicht so gut heulen wie eine Luna. Und sie heulten in solchen Häusern auch noch mit Rudelfremden. Das war völlig unverständlich. Wenigstens war die Leine jetzt weg. Dann konnte man sich hier umsehen. Meistens waren diese Heulhäuser aber eher langweilig. Einmal hatte sie gezeigt, wie man in einem solchen Haus richtig heulte, aber irgendwie waren weder der schwarze Wolf noch der rote Leitwolf davon begeistert gewesen.
Rochefort hatte Luna von der Leine gelassen. Sie würde für Ablenkung sorgen, während er sich umsah. Hunde waren in Kirchen nicht ausdrücklich verboten, zumindest in vielen nicht. Das stammte noch aus der Zeit, als man mit samt dem Vieh die Kirchen besuchte. Natürlich war das heutzutage nicht mehr üblich und Hunde nicht gern gesehen. Aber manchmal waren die Privilegien eines Hochadeligen schon nützlich. Rochefort würde gern ein paar Worte mit denjenigen wechseln, die sich wegen Luna aufregten – so konnte er mit einigen Leuten ins Gespräch kommen. Er ließ seinen Blick schweifen und seufzte innerlich. Diese Kirche hatte fünfundzwanzig Kapellen, ein mittiges Chorgestühl, einen riesigen Orgelraum, fast ein Dutzend Beichtstühle, von den Nebenräumen wie der Sakristei mal ganz abgesehen. Wie sollte er da Auffälligkeiten finden? Wohl doch besser mit den Leuten anfangen, die in der Kirche ihren Dienst verrichteten.
Wie erwartet, gab es hier wenig Interessantes. Natürlich, die Gerüche vieler Menschen, aber sonst? Weihrauch mochte Luna nicht so besonders. Essensreste gab es auch nicht. Zum Spielen war der Ort auch wenig geeignet. In Kerzen beißen schmeckte nicht gut, das wusste sie aus Erfahrung, und das Wasser in den Schalen schmeckte meistens auch scheußlich. Luna trabte trotzdem mal durch die ganze Kirche, man wusste ja nie. Zwei, drei Leute schienen sie zu beobachten und sie schauten nicht freundlich. Haarkamm am Rücken aufstellen funktionierte aber – sie kamen nicht näher. Da waren offene Holzkäfige. Manchmal sperrten sich Menschen selbst für kurze Zeit darin ein – schon seltsam. Die könnte man noch begutachten. Was die Menschen an diesen Käfigen wohl fanden? Sie hatten nicht einmal einen bequemen Liegeplatz, nur eine niedrige Holzbank. Aber da – da war ein Stück Leder bei der Holzbank eingeklemmt. Luna hatte es gar nicht gesehen, nur gerochen. Mit nur einer schnellen, geschickten Bewegung hatte sie das Stück Leder gepackt und trottete mit ihrer Beute aus dem Holzkäfig. Das Leder wäre zumindest ein nettes Kauspielzeug, mit dem man sich eine Zeitlang beschäftigen konnte.
Der Comte hatte gerade einen leisen Aufschrei gehört. Ein Priester starrte mit einer Mischung aus Entsetzen und Wut auf Luna und nahm gerade eine kleine steinerne Heiligenfigur in die Hand wie einen Knüppel. Rochefort stutzte nur ganz kurz. Luna hatte eine kleine Ledermappe im Maul und war gerade aus einem Beichtstuhl gekommen. Die Reaktion des Priesters war aber doch seltsam und ungewöhnlich. Da musste er eingreifen. Nicht, dass Luna nicht mit dem Mann fertig werden würde, aber manchmal verschluckte sie Beute, wenn sie ihr jemand wegnehmen wollte, einfach als Ganzes. Und den Grafen interessierte jetzt diese Ledermappe…
Der Mann hatte seine Hand erhoben, also eine Drohgeste, oder? Luna schnupperte – der Mann roch mehr nach Angst als nach Wut. Es war also nicht notwendig ihn sofort Respekt zu lehren. Vielleicht würde er aber Lunas Langeweile vertreiben. Sie wich also zurück, hinter eine Bank. Der Mann kam näher. Luna war mit einem Satz darüber hinweg. Er umrundete die Bank. Luna schlüpfte unter die nächste Bank. Der Mann versuchte ihr den Weg abzuschneiden. Aber Luna war natürlich zu schnell und zischte an ihm vorbei. Er begann zu schimpfen und langsam kam er ins Schwitzen. Luna setzte zu einem Trab quer durch das riesige Kirchenschiff an und der Mann versuchte doch tatsächlich sie einzuholen. Das war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dabei war Luna nur im Renntrab. Sie war weit davon entfernt richtig zu laufen. So ging das eine ganze Weile.
Rochefort hatte zuerst eingreifen wollen, doch jetzt umspielte ein Lächeln seine Lippen. Wahrscheinlich war das gar nicht notwendig. Es war natürlich möglich, den Priester zu stoppen und zu befragen. Andererseits würde er sich dann offenbaren. Anscheinend hatte Luna einen sogenannten „toten Briefkasten“, also ein Geheimversteck, in diesem Beichtstuhl gefunden, wo Nachrichten hinterlegt und ausgetauscht wurden. Da der Kleriker gerade gut beschäftigt war, ging der Comte also zum Beichtstuhl. Wo könnte Luna diese Ledermappe gefunden haben? Ah – hier waren zwei kleine Schlaufen unter der Sitzbank im Beichtstuhl angebracht. Recht geschickt gemacht. Niemand, der davon nichts wusste, käme auf die Idee, dass darunter etwas versteckt wäre. Und in einem Beichtstuhl konnte man so ungesehen Nachrichten hinterlassen oder abholen. Die Ledermappe schützte wohl das Papier und so konnte die Nachricht auch nicht zufällig herunterfallen. Der Leiter des Geheimdienstes überlegte. Natürlich konnte er den Priester festnehmen und befragen. Da hatte er keine Skrupel. Allerdings könnte es auch besser sein, den Verdächtigen eine Zeit lang zu beobachten, was er so tat, wen er traf und auch seinen Hintergrund zu recherchieren. Dieser Halunke im Priestergewand wusste auch nicht, dass Luna zu ihm gehörte. Er konnte nicht wissen, dass er entlarvt war. Solche Vorteile musste man ausnutzen. Unbemerkt verließ der Comte de Rochefort den Beichtstuhl also wieder. Er ging zur Nebenpforte der großen Kirche und öffnete das Tor. Luna bemerkte das sofort. Mit großen Sätzen raste sie auf ihn zu. Rochefort trat ins Freie, blockierte aber noch das Tor. Im Sakralbau war ein Rumpeln zu hören. Der letzte Versuch die Halbwölfin aufzuhalten hatte damit geendet, dass der Priester einen schmerzhaften Zusammenstoß mit einem freistehenden Weihwasserbecken gemacht hatte.
Luna hatte noch immer ihre Beute im Maul. Und raus aus dem Heulhaus! Der Mann war ja auch ungeschickt gewesen – kein richtiger Widersacher für eine Luna. Und das Lederstück hatte sie natürlich behalten. Das hätte er nie bekommen. Oh, Moment, der schwarze Wolf hatte zu seinem schwarzen Beutel gegriffen. Da waren doch die köstlichen getrockneten Fischstückchen drinnen. Er wollte also tauschen. Getrockneter, nett riechender Fisch gegen Lederkauspielzeug – gar kein so schlechter Tausch. Aber natürlich nicht sofort einwilligen. Sie wollte ja ein großes Stück Fisch. Man durfte nie sofort tauschen. Aber es roch so lecker. Na gut – das war ein großes Stück. Die Halbwölfin spuckte die Ledermappe aus und verspeiste genüsslich den Trockenfisch.
Rochefort war auch zufrieden. Schnellen Schrittes ging er mit Luna zu den Markthallen hinüber. Es war natürlich Glück, dass Luna das Versteck und die Mappe gefunden hatte. Aber etwas Glück gehörte immer zu seinem Leben dazu. Die Nachricht in der Ledermappe war kodiert – aber dafür hatte Kardinal Richelieu ja Spezialisten. Die Angelegenheit würde noch einiges an Arbeit verlangen, aber ein Anfang war gemacht. Auch wenn sie es nicht wusste – die Halbwölfin war diesmal der Schlüssel zum Erfolg gewesen. Sie hatte sich einen ausgiebigen Spaziergang über den Markt mehr als verdient, auch wenn es für ihn sehr anstrengend sein würde sie in Zaum zu halten. In dem Gewühl würde er aber auch gut untertauchen können – also dann los.