„Ein Wolf im Palais Cardinal?“ von Armand-Jean-du-Plessis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 24 BewertungenKapitel Wolfsjagd
In den königlichen Privatgärten der Tuilerien herrschte lebhafte Betriebsamkeit. Schließlich stand die große Herbstjagd des Königs bevor. Und die Höflinge und Günstlinge des Pariser Hofes nutzen die immer noch angenehm wärmende Sonne um zu flanieren und allerlei Dinge im Vorfeld zu besprechen. Der Ort für die königliche Jagd war seit kurzem bekannt: Zuerst nach Évreux und dann in die Wälder rund um Versailles. Seit der König Ländereien der Gondi dort hinzuerworben hatte, war es auch ein prächtiges Jagdgebiet geworden.
Der Comte de Rochefort lauschte dem Geplapper nur nebenbei, denn er hielt Ausschau nach dem Mann, mit dem er sich treffen wollte. „Es mag ja ein gutes Jagdgebiet sein, aber ein Schloss mitten im Wald – ist das nicht ein wenig unpassend?“ „Zum Glück gibt es das ursprüngliche Jagdschloss ja nicht mehr!“ „Wie recht Ihr habt, es war so klein, dass es nicht einmal Räumlichkeiten für die Königin enthielt!“ „Ja, da kann ich Euch nur zustimmen, François de Bassompierre hat es einmal als ein armseliges Schloss, bei dem nicht mal ein einfacher Edelmann Neid empfindet, bezeichnet, nicht wahr?“ „Vielleicht solltet Ihr nicht die spitzen Bemerkungen des Marquis de Bassompierre wiederholen - wegen solcher Witzchen sitzt er seit zweieinhalb Jahren in der Bastille.“ „Ja, aber wohl wegen seiner Bemerkungen über Richelieu und nicht über das königliche Jagdschloss.“ „Mag sein, aber die Spitzel des Kardinals sind überall und außerdem ist das alte Schloss ja abgerissen worden und Hofbaumeister Philibert Le Roy errichtet dort eine dreiflügeligen Schlossanlage.“ „Die soll aber doch noch gar nicht fertig sein, wie man hört.“ „Da mögt Ihr durchaus Wahres gehört haben, jedoch der Mittelteil ist bereits fertig gestellt und auch der Westflügel. Man ist zuversichtlich, dass der Ostflügel nächstes Jahr fertiggestellt ist und dann eine festliche Eröffnung gefeiert werden wird.“ „Also ist der Großteil bereits bewohnbar, das ist beruhigend. Erinnert Ihr Euch noch daran, wie der König vor Jahren darauf bestand bei Versailles zu jagen und es noch nicht mal das alte Jagdschloss gab – er übernachtete doch tatsächlich in einer Mühle – man stelle sich vor – Seine Majestät in einer Mühle!“ „Die Jagdleidenschaft Seiner Majestät ist legendär, aber Fortuna hatte ein Einsehen und die Zeiten haben sich ja geändert.“ „Aber ja, die Zeiten haben sich geändert und morgen brechen die vierzig Wagen mit der Möblierung aus den drei königlichen Depots auf, um das Schloss für die Jagd einzurichten.“ Merde, ich muss meine Dienerschaft noch anweisen. Meine Gattin hat angedroht nicht zu erscheinen, wenn ihre Frisierkommode nicht mitkommt.“ „Aber mein Lieber, Ihr verwöhnt Eure Gattin – es ist doch nur eine chasse à courre.“
Endlich kam der erwartete Besucher, obwohl „Besucher“ war der falsche Ausdruck... Rochefort war bereits angewidert von dem Gespräch der „Hofschranzen“, wie er sie gerne bezeichnete. Und Jagden liebte er auch nicht besonders – schon gar nicht eine Parforcejagd, also eine Hetzjagd wie die chasse à courre. Auch Luna, die Halbwölfin, war bereits etwas gelangweilt. Sie mochte es nicht sehr ruhig zu liegen, hier war doch ein ganzer Park voller Gerüche und die vielen tollen bunten Bänder, die von den Leuten hingen, da konnte man sich doch nach Herzenslust darin verbeißen. Herrchen war manchmal ein richtiger Spielverderber. Sie wusste nicht, wie gerne Rochefort sie losgelassen hätte um Höflingsgewänder zu jagen – oh ja, nur zu gerne, aber Luna war jetzt sieben Monate alt und richtig groß geworden – in der Dämmerung konnte man sie schon durchaus für ein gefährliches Raubtier halten. Sie jetzt los zu lassen würde Ärger bedeuten und Rochefort wollte im Moment keine Aufmerksamkeit. Für einen Augenblick war der Geheimdienstleiter von Kardinal Richelieu abgelenkt bei dem höchst erheiternden Gedanken, wie Luna die Höflinge in Panik versetzen würde und ein Lächeln umspielte seine Lippen. Das nützte die Halbwölfin aus um den herankommenden Mann auf ihre Weise zu begrüßen. Sie stürzte sich auf den überraschten Musketier, stellte sich auf die Hinterpfoten, warf ihn dabei fast um, und begann dann genüsslich an seinem prächtigen Kasack zu kauen. Dabei hatte d'Artagnan noch Glück, dass er seinen breitkrempigen schwarzen Hut mit weißer Plumage und der Leutnantskokarde noch rechtzeitig mit der Hand hatte auffangen können. Die Straußenfedern hätte Luna in Sekundenschnelle zerbissen. Es dauerte doch ein paar Augenblicke, bis die beiden Männer Luna beruhigt hatten. Noch vor einigen Jahren hätte der Gascogner diesen Vorfall genutzt, um ein Duell zu provozieren, aber einerseits ließ sich Rochefort nicht auf Duelle ein und andererseits war aus der Abneigung der ersten Zeit fast so etwas wie Freundschaft zwischen den beiden Männern entstanden.
„Nun, ich bin zu spät und habe dies Art von Begrüßung wohl verdient“, meinte der Leutnant der Musketiere daher nur. „Ich sehe da einige Höflinge, die ein derartiges Willkommen eher verdient hätten“, war die Erwiderung des Mannes in Schwarz mit einem verächtlichen Blick auf die „Hofschranzen“. „Ich fasse mich kurz, denn Ihr seid im Dienst und auch ich habe noch einige Verpflichtungen. Ich möchte Euch um einen Gefallen bitten, diese große Herbstjagd bereitet mir ein wenig Kopfzerbrechen. Es werden neben den Majestäten und dem Kardinal ja zahlreiche Personen vom Hochadel und auch ausländische Diplomaten teilnehmen. Zu meinem Bedauern werde ich zumindest am ersten Teil der Jagd nicht teilnehmen können und wahrscheinlich wird auch Hauptmann Jussac von der Garde Seiner Eminenz abwesend sein. Daher wäre ich Euch sehr verbunden, wenn Ihr Reibereien zwischen den Garden und den Musketieren verhindern würdet. Der Kardinal war sehr deutlich bei seinen Worten an seine Garde und er würde es sehr schätzen wenn auch Ihr Eure Männer im Zaum halten würdet. Es geht hier nicht um Rivalität, sondern um die Sicherheit Frankreichs.“ D'Artagnan zögerte nur kurz. Hauptmann Treville war zwar nach wie vor für eine „gesunde Konkurrenz“ zwischen den beiden Garderegimentern, aber es war bedeutend friedlicher geworden seit der Zeit der Diamantnadelaffäre. War das wirklich schon sechs Jahre her? „Natürlich stimme ich Euch zu, Monsieur Rochefort. Ich werde auf mögliche Heißsporne unter meinen Männern einwirken.“ Hatte er das wirklich gesagt? Und sogar mit Überzeugung? Innerlich seufzte d'Artagnan kurz – wo waren die Zeiten geblieben? Aber mit Macht kommt Verantwortung und als Leutnant hatte man andere Verpflichtungen... „Wenn Ihr es nach Eurem Dienst schafft, noch in meinem Stadthaus vorbeizuschauen, warten ein paar ausgezeichnete Flaschen Wein aus dem Keller des Kardinals auf Euch und wir könnten noch ein paar Details besprechen…“ Rocheforts Abschiedsworte hallten noch einige Zeit nach, als der Leutnant der Musketiere wieder seinen Dienst aufnahm.
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Zwei Wochen später sehnte sich d'Artagnan nach diesem Abend zurück, der Wein war ausgezeichnet gewesen, das Kaminfeuer wohlig warm und selbst das Gespräch mit Rochefort fast wie unter Kameraden. Die königliche Jagd hingegen verlief dagegen äußerst ungemütlich. Quartier gab es nur für die allerhöchste Gesellschaft und selbst ein Leutnant der Musketiere musste sich oft mit einem Zelt begnügen. Nun, daran war er gewöhnt, aber dass seine Männer nicht genug zu essen bekamen, war geradezu lächerlich bei der Menge an Wild, die der Adel niedermetzelte. Schuld daran war dieser widerliche Dujardin. Wie war dieser Emporkömmling bloß zu einem Titel des „Maitre du Interieur“ im Louvre gekommen? Und dann seine Idee eines Saales der Trophäen der Herbstjagd. Jedes einzelne erlegte Tier wurde ihm vorgelegt und er entschied, ob es ausgestopft werden sollte. Der Vorgang dauerte 2-3 Tage, da er bei besonderen Stücken gleich mit der Vorpräparation begann. Inzwischen verdarben große Teile des Wildes. Aber es blieb dabei, jedes einzelne Stück musste zur Begutachtung vorgelegt werden. Am liebsten hätte der Leutnant diesen Kerl selbst ausgestopft. Das verbliebene Fleisch ging natürlich an die königliche Tafel und der halbe Tross hungerte oder nahm sich von den Bauern der Umgebung, was sie fanden.
Der Ärger, der dadurch entstand, war beträchtlich. Der immer wieder einsetzende Regen und der teilweise eisige Wind taten ihr Übriges um die Stimmung bei den Garden zu verschlechtern. D'Artagnan hatte alle Hände voll zu tun, um sein Versprechen gegenüber Rochefort einzuhalten und keine ernsthaften Streitereien zwischen den Männern entstehen zu lassen. Aber selbst die Hofgesellschaft hatte fast genug von der Jagd und alle kamen zum Leutnant der Musketiere um sich zu beschweren. Da waren die Hofdamen, deren Kleidung nicht richtig trocknete, die Diplomaten, die sich eine private Audienz beim König erhofften, die Höflinge, die sich ihre Hinterteile wund geritten hatten und selbst die Kämmerer und höheren Dienstboten baten ihn um dies und das, da sie ständig von ihrer Herrschaft angewiesen wurden „wichtige“ Dinge zu beschaffen. Verdammt, er war nicht das Kindermädchen der Hofgesellschaft, sondern für die Sicherheit des Königs zuständig! Die Kardinalsgarde war auch nur bedingt eine Hilfe. Ja, sie hatte sich pflichtbewusst in die Sicherheitsmaßnahmen integriert, aber darüber hinaus geweigert mehr zu tun. Man sei ja nur das zweite Garderegiment Seiner Majestät und in erster Linie für die Sicherheit des Ersten Ministers, Kardinal Richelieu, zuständig. Für Galanterien seien die Musketiere in Blau ja sonst so gerne zu haben... Nur der König amüsierte sich prächtig bei der Jagd.
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Ah, endlich wieder so richtig laufen! Luna war begeistert und voller Energie. Da nahm sie es sogar in Kauf, dass Herrchen auf diesem, wie er es nannte, „Pferd“ ritt. Na gut, dieses Tier war wirklich schnell, aber es war auch größer. Die Wälder rochen toll nach Beute, aber Herrchen schien es ziemlich eilig zu haben. Aber es würde sich sicher noch eine Gelegenheit ergeben... Dort in der Ferne waren seltsame Geräusche, zuerst ein lauter langer Ton, so eine Art Tröten, dann war da Hundegebell, von vielen Hunden. Die Halbwölfin spitzte die Ohren und richtete die Nase in den Wind. Da vorne musste es Beute geben und die kam ja direkt auf sie zu – was für eine Gelegenheit!
Rochefort war weniger begeistert. Er hatte diese Abkürzung genommen um möglichst rasch zum königlichen Lager zu kommen. Doch anscheinend war er jetzt zwischen die Treiber und die Jagdgesellschaft gekommen. Innerlich fluchte er, da preschte schon allerlei Getier aus dem Dickicht, voller Panik vor den Treibern und Hunden. Und Luna war jetzt natürlich auch nicht mehr zu bändigen. Sie hörte auf keines seiner Kommandos und sprang ein Reh an, das anscheinend einen leicht verletzten Huf hatte. Der Rest der Tiere bog scharf links ab und Rochefort hatte Mühe sein Pferd ruhig zu halten. Die Halbwölfin hatte ihre Beute gerade erlegt, als die Hunde ankamen. Sofort stellte Luna ihre Nackenhaare auf und stellte sich. Ein tiefes Wolfsgrollen klang wie: „Wagt es ja nicht meiner Beute zu nahe zu kommen!“ Die gesamte Meute stoppte ab. Sie begann Luna zu verbellen, aber so richtig nähern wollte sich keiner der Jagdhunde ohne Kommando. Es war so eine Art Patt. Dann kamen die Treiber. Einer von ihnen wollte den Hunden einen Befehl geben, doch plötzlich sah er einen gebieterisch aussehenden Mann, hoch aufgerichtet auf seinem Pferd. „Zurrrückziehen“, knurrte Rochefort laut und es klang dem Knurren des Halbwolfes gar nicht so unähnlich. Erschrocken wich der Mann einige Schritte nach hinten. Die anderen Treiber versuchten inzwischen mühsam ihre Hunde zu beruhigen. Das dauerte eine ganze Weile, das Wild war inzwischen über alle Berge und eine enttäuschte Jagdgesellschaft wartete an diesem Tag vergebens darauf, dass ihnen die Tiere einfach vor die Nase getrieben wurden. Luna war die einzige, die heute Beute gemacht hatte!
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Kardinal Richelieu hatte sich in eine Schreibstube zurückgezogen, die er sich extra hier im Jagdschloss von Versailles hatte einrichten lassen. Für den Ersten Minister von Frankreich schien die Arbeit niemals ein Ende zu nehmen, insbesondere wenn zahlreiche Diplomaten an einer königlichen Jagd teilnahmen. Solch eine Gelegenheit durfte man nicht verstreichen lassen. Die politische Situation war äußerst angespannt und den Luxus von Erholung konnte Richelieu sich nicht leisten. In seiner Jugend hatte gern an Jagdritten teilgenommen. Doch diese höfische Art, Tiere sich zutreiben zu lassen, fand der Kardinal fast unchristlich und auch ein wenig langweilig. Als der Comte de Rochefort den kleinen Raum betrat, blickte Richelieu auf. „Ah, Monsieur le Comte, ich habe Euch erwartet. Ich soll Euch von Seiner Majestät streng zurecht weisen und Euch strikt anweisen, Euren Wolf im Zaum zu halten, damit die Jagd Seiner Majestät nicht wieder gestört wird. – So, das wäre hiermit erledigt, kommen wir zu wirklich wichtigen Dingen. Gebt mir einen kurzen Bericht über Eure Mission auf Chateau La Forêt d’Évreux.“ Rocheforts Miene, die bei den Eingangsworten noch freundlich gewesen war, versteinerte sich augenblicklich. „Ich fürchte, der Bericht wird nicht so kurz, Eure Eminenz.“ Luna, die wie selbstverständlich mit Rochefort durch die Tür geschlüpft war, begutachtete inzwischen die Fransen am Teppich der Schreibstube. Fransen, wie herrlich, die konnte man einzeln ausreißen und im Raum verteilen – fein, dann würde es nicht langweilig werden.
Doch sowohl Rocheforts Bericht als auch der heimliche Angriff auf den Teppich durch die junge Halbwölfin wurden unterbrochen. Ein Sekretär des Kardinals betrat den Raum, nachdem er nur kurz geklopft hatte. Der Kardinal blickte ihn aufmerksam an. Wenn einer seiner Vertrauten fast ohne Ankündigung eintrat, musste es wichtig sein. „Verzeiht, Eure Eminenz, die Störung, aber es gibt einige Aufregung bei Hofe.“ „Sprecht“, war die einzige Erwiderung von Richelieu. „Es werden drei junge Hochadelige vermisst. Sie sind von der heutigen Jagd nicht zurückgekehrt. Nun könnten die jungen Herren auch einen Ausflug gemacht haben, aber zumindest bei einem von ihnen wäre das sehr ungewöhnlich und da auch die Tochter des holländischen Gesandten betroffen ist…“ „Mademoiselle Lieke ist auch dabei?“ unterbrach ihn der Geheimdienstchef, „das ist in der Tat ungewöhnlich. Ich werde mich um die Angelegenheit persönlich kümmern.“ „Die königlichen Musketiere sind bereits ausgerückt und man bittet um die Unterstützung der Garde Seiner Eminenz und die Herzogin von…“ Weiter kam der Sekretär wieder nicht, abermals wurde er von Rochefort unterbrochen: „Schon gut, ich sagte doch, ich werde mich persönlich darum kümmern und ich habe eine bessere Idee als eine Horde Gardisten, die nachts im Wald herum stolpern. Luna, lass das und komm mit!“
„Lasst ausrichten, dass meine besten Leute sich der Sache annehmen, meine Garde aber bleibt vor Ort – und lasst die Wache verdoppeln, das könnte auch eine Ablenkung sein.“ Die Worte des Kardinals waren sehr bestimmt und es folgte ein kurzer Blick des Einvernehmens mit Rochefort. Als der Comte rasch den Raum verließ, folgte Luna ganz brav, allerdings, wenn man genau hinsah, hingen da ein paar Fransen in ihrem Maul…
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Rochefort hatte rasch sein Pferd gesattelt und war an die Stelle geritten, wo die Gruppe junger Leute angeblich zuletzt gesehen worden war. Dort war bereits Leutnant d'Artagnan dabei, Suchtrupps der Musketiere mit Laternen in alle Richtungen ausschwärmen zu lassen. „Müsst ihr Musketiere unbedingt immer auf den Spuren herumtrampeln?“ waren seine Begrüßungsworte in mildem Spott. „Euch auch eine schöne, ruhige Nacht, mein Herr, aber bei dieser Finsternis und nach der Jagd heute könnte man sowieso keine Spuren sehen“, erwiderte der Musketier. „Sehen wohl nicht“, gab Rochefort zurück, „aber es gibt andere Möglichkeiten“ und er deutete auf Luna neben ihm. Dann zog er etwas unter seinem Wams hervor, beugte sich zur Halbwölfin herab und ließ sie daran schnuppern. D'Artagnan hätte zu gerne erspäht, was es war. Ein Brief? Ein Taschentuch? Es war einfach zu finster um es zu erkennen.
Luna schnüffelte, dann kam der Befehl „Such, Luna, such!“ Ah, ein Spiel! Das hatte Herrchen schon länger nicht mit ihr gespielt. Toll, mitten in der Nacht durch den Wald toben und jemand finden, der sich versteckt hatte! Hmm, der Geruch war unbekannt, aber nicht unangenehm, aber hier waren tausende Gerüche, das war schwerer als sonst, aber vielleicht gab es ja dann auch eine bessere Belohnung. Und hier war der Geruch, also los! Und wie es losging. Luna beschleunigte wie rasend und bog ab ins Gebüsch. Rochefort seufzte. Vielleicht hätte er sie doch vorher an die Leine nehmen sollen, aber die Zeit drängte, also trieb er sein Pferd an. D'Artagnan war einen Augenblick verblüfft, aber dann folgte er Rochefort so schnell er konnte.
Es war einer der schwersten Ritte, die Rochefort jemals gemacht hatte. Zwar war er auch schon tagelang durchgeritten, bei Wind und Wetter, aber das war etwas anderes. Nachts im Wald bei diesem Tempo war gefährlich. Sein Pferd war natürlich von ihm trainiert und besonders trittsicher, aber herunterhängende Äste, verborgene Wurzeln und andere Hindernisse lauerten überall. Er durfte aber den Anschluss an Luna nicht verpassen, sie aber auch nicht zurückrufen. Denn sonst könnte sie die Lust am Spiel verlieren, sie war ja kein ausgebildeter Fährtenhund. Zum Glück verlief die Spur bald aus dem Wald hinaus. Auch der Gascogner hielt tapfer mit, auch wenn er deutlich zurückgefallen war. „Oder doch kein Glück!“ dachte der Comte de Rochefort, denn es ging nach Westen Richtung Étang puant. Und rund um den „Stinkenden Teich“ war ein Sumpfgebiet, das wohl noch lange nicht trocken gelegt werden würde. Ausgerechnet das Sumpfgebiet und das bei fast völliger Dunkelheit, denn Wolken hatten sich über den Himmel verteilt. Noch war die Wolkendecke nicht ganz geschlossen, aber es sah nicht gut aus.
Luna aber setzte unbeirrt ihr Suchspiel fort. Wasser, Schlamm und finster war es auch, Herrchen hatte sich diesmal eine wirkliche Herausforderung ausgedacht. Hoppla, die Spur war weg, nein, doch nicht, nur dieser kleine Schlammbach war im Weg, kein Problem… Und jetzt wurde es wirklich schwer, die Spur war nicht mehr da. Luna blieb stehen und schnüffelte. Doch, da war ein Hauch einer Spur, so ähnlich, wie wenn man einer Person folgte, die in einem dieser kleinen Holzhäuser fuhr, wo Pferde angespannt wurden – hießen wohl „Kutschen“ oder so. Aber am Wasser? Also eine Wasserkutsche. Da kann man eine Spur ja nur mehr erahnen! Und es roch nach Blut, kein Beuteblut, das war ein Mensch! Mehrere Menschen und Pferde, so wie vorher, aber die Spuren der Menschen und Pferde waren nicht mehr auf dem gleichen Weg wie der Geruch, dem sie folgen sollte.
D'Artagnan und Rochefort waren von ihren Pferden abgestiegen. Beiden war die Anstrengung der nächtlichen Verfolgung anzusehen. Gerade kam der volle Mond hinter einer Wolkenbank hervor. Der Sumpf wirkte gespenstisch und abweisend. Den Leutnant fröstelte – sicher nur der kalte Schweiß vom anstrengenden Ritt, aber er riss sich zusammen. Er konnte sich doch vor Rochefort keine Blöße geben. Aber auch diesem war etwas mulmig, nicht wegen der möglichen Gefahr für sich, in solchen Situationen war er eiskalt, aber diese Sümpfe waren tückisch, ein Jugendlicher in der Nacht war hier sicher in tödlicher Gefahr. Luna schien unsicher geworden zu sein an dieser Stelle. Im Mondlicht waren im schlammigen Untergrund deutlich Hufabdrücke zu sehen. Sie führten hierher, aber auch seitlich am Sumpf vorbei wieder weg. In den Sumpf führte hingegen keine Spur. Rochefort stutzte. Warum sollte jemand zum Moor reiten und dann daran vorbei. Das ergab keinen Sinn. Auch d'Artagnan hatte die Abdrücke entdeckt. „Das kann noch nicht lange her sein. Da ist kein Wasser in den Abdrücken. Nichts wie hinterher“, meinte der Leutnant der Musketiere, „solange das Mondlicht hält, haben wir eine Chance sie einzuholen.“ „Wartet noch ein wenig, diese Ungeduld der Gascogner scheint Ihr immer noch nicht abgelegt zu haben. Erstens ist Luna sich nicht sicher und diesen Pferdespuren könnte sie leicht folgen und zweitens stimmt hier etwas nicht. Seht doch hier, das schaut aus als hätte man etwas ins tiefere Wasser geschliffen. Jetzt haben wir ein echtes Problem, das sieht nach einem Boot aus.“ Rochefort blickte nachdenklich in das Moor. „Möglich, es könnte sein, dass sie die Pferde zur Ablenkung weggetrieben haben, oder einer hat sie weggeführt. Übrigens, sieht das nach mehr als drei Pferden aus, fast doppelt so viele. Die Sache gefällt mir immer weniger“, stimmte d'Artagnan zu. „Und was jetzt?“.
„Ich denke, Luna hat diese Frage gerade beantwortet“, erwiderte Rochefort grimmig. Die junge Halbwölfin war in das schlammige Wasser gesprungen, aber nach ein paar Metern wieder an eine begehbare Stelle geklettert, hatte geschnüffelt und war weiter gerannt. Gerade begann sie wieder am brackigen Wasser zu schnüffeln und immer so weiter. In dieser Nacht lernte Rochefort einige Flüche aus der Gascogne, die er noch nicht kannte, aber d'Artagnan blieb bei ihm als der Graf tiefer in den Sumpf eindrang, immer hinter Luna her, die mal kurz schwamm, dann wieder über eine festere Stelle lief. Nach einer gefühlten Ewigkeit erblickten die beiden ein Licht, nachdem sie eine mit Buschwerk bewachsene Stelle durchquert hatten.
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„So, meine jungen Freunde, Euer Ende ist nah. Die Sünden der Väter fallen auf ihre Kinder zurück. Niemand betrügt mich um meinen Lohn oder nennt mich einen Scharlatan.“ Die drei gefesselten Adeligen blickten mit Entsetzen auf den Mann vor ihnen und seine zwei bewaffneten Spießgesellen. Jetzt waren sie wieder Kinder, die vor Angst laut schreien wollten, wenn da nicht diese schmutzverkrusteten Knebel gewesen wären. Längst waren dies nicht mehr die jungen Gecken, die spielerisch um ein hübsches Amsterdamer Mädchen buhlten und sie zu einem kleinen Ausritt in der Dämmerung überredeten. Sie hatten es auch schon vielfach bitter bereut, auf die Schmeicheleien des Maitre du Interieur hereingefallen zu sein und auf seine schönen Worte vom romantischsten Ort, den man sich vorstellen konnte, wenn man nur etwas wagemutig sei. „Habt Ihr gewusst, dass man im Norden Deutschlands Leichen in den Mooren gefunden hat, die fast unversehrt waren und sie sollen schon viele Jahrzehnte dort gelegen haben. Nicht ganz so elegant wie meine Präparate, aber die Launen der Natur kommen an meine Kunst eben nicht heran. Leider fehlt mir die Zeit Euch richtig auszustopfen, so müsst Ihr Euch damit begnügen durch das Moor konserviert zu werden, aber für meine Rache soll es mir genügen.“ Die jungen Leute versuchten sich in ihren Fesseln aufzubäumen, aber die Lederbänder waren feucht gewesen und schnürten sie unbarmherzig ein. Das war ihr Ende – die Halunken lachten und machten sich bereit ihre Opfer im Sumpf zu versenken.
Dann brach die Hölle los. Aus dem Sumpf sprang mit Riesensätzen ein haariges Untier heran und auf die arme Lieke zu. Geifer tropfte von seinen Lefzen. Dem Ungeheuer folgten zwei Kreaturen aus Schlamm und Morast. Sie stürmten ebenfalls auf die kleine Sumpfinsel. Für einen Augenblick waren die Assistenten von Dujardin geschockt und ließen ihre Gefangenen los. Als die Schurken zu ihren Waffen greifen wollten, war es schon zu spät. Die Schlammmonster waren bereits bei ihnen und sie hauchten innerhalb weniger Sekunden ihr verbrecherisches Leben aus. Blut tropfte von den Klingen und vermischte sich mit dem Morast. Lieke schien mehr Glück zu haben. Zwar war sie von der Bestie angesprungen und auch umgeworfen worden, aber dann begann diese ihr liebevoll das Gesicht abzuschlecken, freudig zu jaulen und schwanzwedelnd um eine Belohnung zu bitten.
Monsieur Dujardin wandte sich in Richtung des Bootes, das am anderen Ende der kleinen Insel lag. Soweit sollte er aber nicht kommen. Mit einer flinken Bewegung zog Rochefort einen Wurfdolch aus seinem Ärmel und dieser traf den Fliehenden zwischen die Schulterblätter. Ein zweiter Dolch, aus dem Stiefel gezogen und geworfen, beendete die Flucht endgültig. Der nun wohl ehemalige Maitre du Interieur taumelte noch zwei, drei Schritte und versank im gurgelnden Schlund des Étang puant. D'Artagnan hatte inzwischen die Jugendlichen von ihren Fesseln befreit und die beiden Jungen bedankten sich überschwänglich bei ihm. Der große Held und Musketier – Leutnant der Königsgarde, Retter der Unschuldigen und Beschützer von Frankreich! „Das ist wieder typisch“, dachte Rochefort leicht säuerlich. Doch dann sah er, wie Lieke auf die Knie sank, die völlig verschlammte Luna umarmte und sie an sich drückte. Luna erwiderte die Zärtlichkeit, in dem sie die junge Holländerin erneut abschleckte. „Ich weiß, warum ich die kleine Lieke immer mochte, mein Instinkt hat mich noch nie betrogen“, dachte der Comte de Rochefort bei sich, „sie erkennt die wahren Helden!“