Je suis une femme von Engel aus Kristall

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Kapitel Kapitel 1

Kapitel 1


Vor dem Fenster ging langsam die Sonne unter. Ich saß auf meinem Bett und starrte vor mich hin. Meine Eltern und meine beiden Halbbrüder, die Mama aus ihrer ersten Ehe mitgebracht hatte, waren noch unten beim Essen. Papa hatte mir befohlen auf mein Zimmer zu gehen, weil ich versehentlich mit der Bratensoße gekleckert hatte. Es war doch keine Absicht gewesen. Auch Etienne, mein Bruder, der neben mir saß, sagte das. Doch Papa hörte nicht darauf, er sah keine Notwendigkeit dazu, Pascal und er waren ja nicht seine richtigen Söhne. Ich war sein einziges Kind. Noch jedenfalls. Aber bald würde sich das ändern. Mamas Bauch war schon so groß, lange konnte es nicht mehr dauern. Und Papa redete ständig davon, wie sehr er sich auf seinen Sohn freute. Die Möglichkeit, dass es ein Mädchen wurde, wie ich, schien für ihn gar nicht zu bestehen. Daran, dass er sich bereits bei meiner Geburt einen Jungen erhofft hatte, bestand kein Zweifel, das hatte er mich sechs Jahre lang spüren lassen.

Im Grunde war ich froh nicht mehr beim Essen sitzen zu müssen. Ich fühlte mich matt, hatte keinen Appetit und das Schlucken tat mir weh. Nachdem ich in mein Nachtgewand geschlüpft war, kroch ich unter die warme Bettdecke, um darauf zu warten, dass Mama gute Nacht sagen kam. Eine ganze Weile lauschte ich der Stille. Mir war kalt, obwohl ich mir die Decke bis zum Kinn hoch gezogen hatte.
Irgendwann wurde die Tür meines Zimmers geöffnet und Mama betrat den Raum. Ich musste nicht hinsehen, um das zu wissen, denn ich erkannte es an ihren Schritten. Liebevoll strich sie mir übers Haar, legte gleich darauf etwas verwundert die Hand auf meine Stirn.
„Anne, Chérie, du bist ja ganz heiß. Fühlst du dich nicht gut?“ fragte sie ein wenig besorgt, mit ihrer warmen sanften Stimme, die ich so liebte.
„Ich bin nur ein bisschen müde“, antwortete ich leise.
Für einen Moment verzog sie das Gesicht, dann lächelte sie, nahm meine kleine Hand und legte sie auf ihren Bauch. Ich grinste breit, als ich die Bewegungen des Kindes fühlte. Das war mein kleines Geschwisterchen!
„So, nun musst du aber schlafen“, sagte sie schließlich. „Träum süß.“ Sie gab mir einen Kuss auf die Stirn, ehe sie mein Zimmer verließ und hinter sich sacht die Tür schloss.

Am nächsten Morgen konnte ich kaum aufstehen. Mir war schlecht, mein Hals tat so weh, dass ich kaum schlucken konnte, und obwohl ich fast nichts aß, musste ich mich übergeben. Abwechselnd war mir heiß und kalt. Als Mama mich so sah, steckte sie mich sofort wieder ins Bett. Sie machte sich große Sorgen, und obwohl sie mir versicherte, dass es mir bald wieder besser gehen würde, ahnte ich, dass ich mir etwas Schlimmes eingefangen hatte.
Der Arzt kam, um mich zu untersuchen. Ich mochte ihn nicht, hatte Angst vor seinen Geräten. Dennoch ließ ich alles klaglos über mich ergehen, für einen Protest fühlte ich mich zu ausgelaugt. Er gab mir etwas, das mein Fieber senken sollte, und das einfach fürchterlich schmeckte. Hoffentlich half es.
Mama kümmerte sich die nächsten Tage jede Minute aufopfernd um mich. Ich war ihr dafür unendlich dankbar. Dagegen schien es Papa überhaupt nicht zu interessieren, dass ich so krank war. Als Mama mein Zimmer verließ, um wieder etwas von dem Medikament für mich zu holen, konnte ich hören, wie er vor meiner Tür mit ihr schimpfte. Jedes Wort verstand ich.
„Thèrèse, ich will nicht, dass du ständig bei der Kleinen bist, du könntest dich anstecken“, sagte er vorwurfsvoll. „Sie schläft sowieso fast die ganze Zeit.“
„Woher willst du das wissen?“ entgegnete Mama scharf. „Du hast kein einziges Mal nach ihr gesehen. Anne braucht mich, ich werde sie jetzt nicht allein lassen!“
Er schnaufte, das tat er immer, wenn er wütend war. „Herrgott, denk doch auch an das Kind, das du unter dem Herzen trägst! Was ist, wenn du dich ansteckst?“
„Das Risiko muss ich eben eingehen. Und nun geh mir bitte aus dem Weg, unsere Tochter muss ihre Medizin bekommen.“
„Thèrèse“, begann er ein weiteres Mal, seine Stimme war nun leiser. „Hast du die Worte des Arztes schon vergessen?“
Mama schnappte nach Luft. „Claude, wie kannst du so etwas nur sagen? Überhaupt nur denken? Anne wird nicht sterben! Sie wird gesund, ich weiß es.“

Traurig wandte ich mich ab, wünschte ich hätte dieses Gespräch nie gehört. Alles was Papa interessierte, war das noch nicht geborenen Kind, von dem er hoffte, nein erwartete, dass es ein Junge war. Ob ich lebte oder starb, war ihm egal. Konnte ich denn etwas dafür, dass ich als Mädchen auf die Welt gekommen war? Ich hatte mir das doch nicht ausgesucht. Warum gab er mir die Schuld?
Aber in einem hatte er recht. Ich wollte auch nicht, dass Mama sich bei mir ansteckte und selbst krank wurde. Sie ließ sich jedoch nicht davon abhalten, mich zu pflegen. Stundenlang saß sie an meinem Bett und hielt meine Hand, als das Fieber so hoch war, dass es meine Sinne vernebelte. Ihre Fürsorge ließ mich kämpfen, und schließlich begann es mir wieder besser zu gehen. Doch dann geschah das, was Papa befürchtet hatte. Mama wurde krank.

Ich machte mir solche Vorwürfe, sie hatte sich bei mir angesteckt. Immer wieder bettelte und bat ich sie sehen zu dürfen, doch Papa ließ mich nie zu ihr. Ab und zu schaffte ich es mich heimlich in ihr Schlafzimmer zu schleichen. Einmal, als mir das wieder gelungen war, saß ich bei ihr auf dem Bett und hielt ihre Hand. Genauso wie sie es bei mir getan hatte. Sie sah mich aus trüben Augen an, dankbar dafür, dass ich gekommen war.
„Mama, du wirst doch gesund, oder?“ flüsterte ich. „Und meinem Geschwisterchen wird auch nichts geschehen, richtig?“
Sie seufzte schwach, drückte zärtlich meine Hand. „Ja natürlich, mein Schatz. Es geht mir bestimmt schon bald wieder besser.“ Für einen Moment unterbrach sie sich. „Anne, du musst jetzt gehen, bevor der Papa zurück kommt. Sonst wird er furchtbar böse mit dir.“
„Ich will aber bei dir bleiben“, jammerte ich verzweifelt. Ich konnte nicht verstehen, warum ich nicht zu Mama durfte.

„Anne!“
Als Papa meinen Namen schrie, erschrak ich furchtbar, ich hatte die Tür gar nicht gehört. Er riss mich grob am Arm fort von dem Bett und zog mich aus dem Raum.
„Claude bitte, sei nicht so streng mit ihr“, hörte ich im Hintergrund Mamas Stimme. Dann fiel die Tür zu.
„Ich hatte dir doch verboten, dich auch nur in der Nähe des Zimmers blicken zu lassen!“ donnerte er. „Warum kannst du nicht hören?“
Er schlug mich so heftig, dass ich gegen die Wand hinter mir fiel. Vor Schmerz und Angst schrie ich auf, Tränen strömten meine Wangen hinab. Doch er ließ mich nicht los, sondern zerrte mich zu meinem Zimmer, wo er mich einschloss. Ich weinte bitterlich, verstand die Welt nicht mehr. Was war denn so falsch daran, dass ich Mama lieb hatte, mir Sorgen machte, und sie sehen wollte?

Erst im Laufe des nächsten Tages ließ mich Pascal wieder aus dem Zimmer. Er nahm mich in den Arm, tröstete mich. Etienne und er hatten mich gern. Sie verstanden wohl auch nicht, warum Papa so garstig zu mir war. Im Blick meines Halbbruders erkannte ich, dass etwas Schlimmes vorgefallen war.
„Pascal... was ist denn?“ fragte ich ihn leise. Er wollte mir etwas sagen, doch offenbar wusste er nicht wie. „Ist etwas mit Mama? Ist sie...“
Behutsam ergriff er mich an den Schultern, sah mich ernst an. „Mama geht es so weit gut, du musst dir um sie keine Sorgen machen, Anne...“
„Was dann? Bitte sag es mir!“
„Unser kleiner Bruder, er... wurde heute morgen tot geboren.“
„Nein!“ rief ich aus. Das konnte nicht sein! Mein Geschwisterchen lebte nicht mehr? Dass Pascal von einem Bruder gesprochen hatte, bekam ich zunächst nicht richtig mit. Tränen liefen unaufhaltsam meine Wangen hinab. Ich war unfähig noch irgendetwas zu sagen, weinte nur verzweifelt in Pascals Schulter. In meinem Inneren wusste ich, dass nun einiges anders würde.