Novemberherausforderung 2004 von Silvia
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 15 BewertungenKapitel Die verlorenen Kinder von St. Jean von
Mit vielem Dank an Stella, für die Korrekturen und Verbessungen. Danke, dass du Geduld mit meiner Rechtschreibung hast!
Die verlorenen Kinder von St. JeanMonsieur de Tréville, Capitaine der Musketiere, war es gewohnt dass allerlei Geschichten sein Vorzimmer erfüllten. Wenn Porthos nicht zum Anfang einer Woche eine neue Weibergeschichte zu erzählen hatte, dann war er krank; genauso oft hatte Aramis eine neue, spitzzüngige Geschichte über die neuesten Sittenlosigkeiten im Palais Cardinal zur Hand, oder er stand wieder einmal kurz davor ins Kloster einzutreten, und wenn d’Alencourt nicht eine neue Unerhörtheit vom Hofe hatte, dann musste eine mittlere Tragödie passiert sein. Doch, dass sich eine solche Ansammlung von Musketieren im Vorzimmer ballte um anscheinend einer Geschichte zu lauschen, die Leutnant Silvanus zum besten gab, war mehr ans ungewöhnlich.
Es hätte sehr Trévilles Temperament entsprochen einfach dazwischen zu fahren und dem Leutnant überdeutlich klar zu machen, dass sich dieses Verhalten nicht für einen Offizier geziemte. Aber im selben Moment kam ihm mit diesem Gedanken eine Erinnerung, die ihn entscheiden ließ, erst einmal festzustellen was vorging und zur Not diese Rede unter vier Augen zu halten, ohne dass die Truppe es mitbekam. Zu deutlich war da die Erinnerung an einen Fähnrich der französischen Garden dem diese Rede von dem nur zwei Jahre älteren Leutnant in einer sehr großbrüderlichen Manier gehalten worden war und die Tréville immer noch ein Lächeln entlockte. Aus dem Vorzimmer hörte er eben Aramis Stimme. „Ihr könnt mir Glauben, Silvanus, es war ein kleines Kind, das weinte. Mitten in der Nacht auf dem Friedhof von St. Jean!“
„Ich glaube Euch auch, Aramis.“ , erwiderte Silvanus ruhig. „Man hört es des öfteren in dieser Jahreszeit.“ Und er klang nicht im mindesten überrascht.
„In dieser Jahreszeit?“ erkundigte sich Aramis. „Wollt Ihr damit sagen, dass dort etwas umgeht?“ Auch ohne ihn zu sehen, wusste Tréville, dass Aramis sich jetzt bekreuzigte. Er öffnete die Tür des Audienzzimmers gerade so weit, dass er sehen konnte was vorging, ohne selbst sichtbar zu sein.
„Allerdings.“ , erwiderte Silvanus sehr ernst. „Ihr werdet wohl den armen kleinen Jean de Salvion gehört haben. Sagt nur , Ihr habt noch nie davon gehört?“ Er schaute die ganze Runde an. „Der arme Junge war der Sohn einer guten Hugenottin und wurde am Tag vor der Pariser Bluthochzeit geboren. Er war nicht getauft, als das Gemetzel begann. Seine arme Mutter floh vor den mörderischen Katholiken in eine Gruft des Friedhofs von St. Jean und versteckte sich da. Bis zum Abend verbarg sie sich, und dann, nachdem es stundenlang still gewesen war, wagte sie es kurz vor Mitternacht die Gruft zu verlassen. Doch leider lief sie einem Mob von Katholiken in die Hände. Sie entrissen ihr das Kind und zerschmetterten den kleinen Körper an einem Grabstein, bevor sie über die arme Mutter herfielen.“ Entsetztes Schweigen herrschte unter den Zuhörern. Silvanus schwieg für einen Moment. „Und noch heute sucht die Seele des gemordeten Knaben den Friedhof heim, den Ort wo er gemeuchelt wurde, ehe sein Leben wirklich begonnen hatte.“
Nicht wenige unter den Männern bekreuzigten sich hastig und sicher hätten sie den Leutnant noch mit weiteren Fragen bestürmt, doch in dem Moment betrat ein Kardinalist das Vorzimmer und von einem Moment auf den nächsten waren die Musketiere schon kampfbereit. Doch Leutnant Claude de Jussac brachte nur ein Schreiben seines Hauptmannes für Capitaine de Tréville und ging dann wieder, nicht ohne einige Worte mit Silvanus zu wechseln. „Ihr habt nicht vergessen, was heute für ein Tag ist?“
Silvanus lächelte leicht. „Natürlich nicht, Leutnant Jussac. Wir schreiben den letzten Tag des Oktobers und morgen ist Allerheiligen.“ Niemand machte sich um diesen Wortwechsel besondere Gedanken.
***
Monsieur de Tréville war selten so spät unterwegs, doch eine lange Diskussion mit seinem Schwager, dem Hauptmann der französischen Garden, war länger gegangen als er erwartet hatte und so schlug die Glocke bereits Mitternacht, als er eine Straße unweit des Friedhofes von St. Jean durchquerte (überquerte). Eigentlich hätte er dem keine weitere Beachtung geschenkt, wären da nicht zwei Männer gewesen, die in einigem Abstand in Richtung Friedhof gingen. In der Stille der Nacht konnte er nicht umhin einen Teil der Konversation der beiden mitzubekommen und zu erkennen, dass es sich bei ihnen; um Jussac und Silvanus handelte. „Wofür ist es dieses Mal eigentlich?“, hörte er Silvanus gerade sagen.
Jussac lachte leise. „Außer, damit sie uns nicht zu bald Capitaines machen? Nun, fangen wir doch mal bei diesem elenden Gascognerbengel an, den dein Hauptmann protegiert, nehmen wir die Schande die ich erlitt, besiegt vor meinen Herrn zu treten und natürlich immer noch dass du eine schlechte Entschuldigung für einen Leutnant bist.“ Die letzten Worte waren eher im Scherz gesprochen schien es.
Silvanus nickte. „Dann also nicht viel neues und ich werde darauf verzichten, dir deine geistigen und sonstigen Mängel noch einmal aufzuzählen.“ Auch diese Worte waren nicht ohne Humor gesprochen.
Tréville folgte den beiden und wunderte sich nicht im geringsten, dass die beiden auf das Friedhofstor zuhielten. Jussac schüttelte den Kopf. „Irgendwann wird uns jemand auf diese kleine Geschichte kommen. War es gut, dass du die Legende vom kleinen Jean in den Kreisen deiner Kameraden verbreitet hast?.“
Silvanus hob andeutungsweise die Schultern. „Sagen wir einmal so: Aus Gründen, die viel näher liegen, ist die Geschichte des kleinen Jean mir immer sehr gegenwärtig gewesen. Und sie hatten schon genug gehört. Nebenbei mag es sein, dass die Geliebte des einen oder anderen von ihnen irgendwann dieses Weges bedarf.“ Im nächsten Moment wirbelte er herum; er hatte Trévilles Schritt gehört.
Der Hauptmann musterte die beiden Leutnants nicht ohne Spott. „Ich nehme nicht an, dass die Herren hier sind(,) um für die Seele des armen kleinen Jean de Salvion zu beten? Silvanus Ihr solltet Euch schämen, diese Geschichte als Deckung für – “, er unterbrach sich und deutete fast erschrocken auf die Seitenmauer des Friedhofes.
Jussac und Silvanus folgten mit den Augen der Geste und sahen es ebenfalls. Ein weißes Licht schien auf der Friedhofsmauer, direkt über dem Grab von Jean de Salvion. Es war keine Kerze oder Laterne, sondern sah eher aus wie ein eingefangenes Mondlicht, das dort schien. Jussac bekreuzigte sich hastig. „Diese kleine Seele hat wahrscheinlich wirklich Gebete nötig.“ , murmelte er.
Tréville schüttelte den Kopf. „Unsinn.“ , erwiderte er scharf. „Da war nie ein Licht, und wenn man ein Kind hat schreien hören – dann, weil da auch eines war.“ fügte er knapp hinzu. Mit raschen Schritten ging er auf das Grab zu. Nun zwangen ihm die Grabanlagen auf dem Friedhof einen verwinkelten Weg auf. Als er aufsah, konnte er das Licht nicht mehr sehen. „Silvanus! Könnt Ihr es noch sehen?“ , rief er zu dem wartenden Leutnant am Tor.
„Ist noch da!“ , hörte er Jussacs Stimme antworten. Silvanus schien immer noch wie gelähmt zu sein, denn von ihm war nichts zu hören.
Tréville ging weiter und und als er ein weiteres Grab umrundet hatte, war das Licht wieder da. Langsam wurde die Sache dem Gascogner die Sache zu dumm. Es mochte sich nicht gehören über Gräber hinweg zu eilen , aber er war der Spielchen müde. Geraden Schrittes überquerte er die Gräber; das Licht war stetig zu sehen. Ein weißes Licht über dem Grab des vor so langer Zeit ermordeten Kindes. Als Tréville die Friedhofsmauer, nahe der das Grab lag erreichte, streckte er die Hand aus um nach dem Licht zu tasten und bekam zu seiner eigenen Überraschung etwas Kaltes zu fassen. Im ersten Moment erschrak er so sehr, dass er beinahe losgelassen hätte, doch dann begriff er, dass dies keine Hand aus jenem Grab war, sondern ein leeres Parfümfläschchen aus klarem Glas, in dem sich das Mondlicht gebrochen hatte. Beinahe hätte er gelacht, als er begriff wie simpel dieser Spuk gewesen war, doch eine Bewegung in der Dunkelheit hinderte ihn daran. Eine Person hastete eilige davon, in Richtung des Friedhofstors, Tréville folgte der Gestalt – erneut quer über die Gräber. Doch als er sie einholte, sah er, dass Silvanus, der vom Tor her gekommen war, die Person ebenfalls erreicht hatte. Im bleichen Licht des Mondes erkannte Tréville die Gestalt eines sehr jungen Mädchens mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Erschrocken sah sie vom einen zum anderen.
„Keine Angst.“, sagte Silvanus leise und sanft. „Niemand wird dein Geheimnis weitererzählen.“
„Es hieß, niemand wäre dort...“, stammelte das Mädchen. „Nur, nur die Seele des kleinen Jean...“ Wie ein in die Enge getriebenes Tier sah sie sich unruhig um.
„Es war ein Unglück.“ , sagte Silvanus freundlich. „Es hätte niemand hier sein sollen. Ihr könnt es immer noch hier lassen, und niemand wird es jemals erfahren.“
Mit einem Schlag wurde Tréville klar, wozu das Licht auf der Mauer da gewesen war und zu welchem schrecklichen Zwecke die Frau auf den Friedhof gekommen war. Umso entsetzter war er, als sie das Kind Silvanus übergab, sich umwandte und in die Nacht davoneilte. Silvanus sah ihr traurig nach. „Begeh´ keine Dummheit, Mädchen.“, sagte er leise. Die Art wie er das kleine Kind im Arm hielt, zeigte Tréville überdeutlich, dass er Übung damit hatte.
Jussac kam ebenfalls herüber. „Sie ist fort.“, meinte er leise. „Und die Luft ist rein, niemand sonst hat etwas gesehen.“
Tréville sah die beiden Leutnants an. „Also diente dieses vorgebliche Treffen, dieses vorgebliche Duell einem ganz anderen Zweck?“ fragte er, als ihm klar wurde, dass dieses „geheime Duell“ – und er hatte schon von anderen geheimen Duellen der beiden gehört – nur eine Ausrede gewesen war. Ein leises Wimmern des Kindes unterbrach ihn.
Silvanus sah ihn an. „Wäre es möglich, dass wir das besprechen, mon Capitaine, wenn das Kleine hier im Warmen und versorgt ist?“, erkundigte er sich.
„Ihr begleitet mich alle beide zum Hôtel de Tréville! Dort werdet Ihr Euch erklären und die Amme kann nach dem Kind sehen. Kein Widerspruch! Hütet sie schon klein Henri- Josephe, kann sie noch ein weiteres Kind beglucken.“
***
Die Dienerin brachte ein Tablett mit einer Kanne spanischer Schokolade und mehreren Tassen. Tréville studierte die beiden Offiziere, die in zwei Sesseln nahe des Kamins saßen, nachdenklich. Sie hatten so einiges gemeinsam; das fiel ihm nicht erst heute auf. „Also – wer von Euch zeichnet für das Kind verantwortlich?“, eröffnete er das Gespräch.
„Keiner.“ , erwiderte Jussac, einen Sekundenbruchteil schneller als Silvanus. „Die Mutter – wer immer sie war, hat ihre Sorgen einem Brief anvertraut, den sie in den Krug dieser imitierten römischen-,“
„ – griechischen Staute“, korrigierte Silvanus freundlich, „warf. Die Kopie der Demeter der Körbe.“
Jussac nickte. „Wie auch immer. Der Brief wurde gefunden und ihr wurde gesagt, sie soll am Vorabend von Allerheiligen zum Friedhof von St. Jean kommen und das Kind an jenem Grab lassen, bei dem das Licht über der Mauer scheint. Die Seele des kleinen Jean würde es beschützen und dafür sorgen, dass es von einer guten Seele gefunden wird. – So geht doch die Legende Silvanus?“ Ein Nicken bestätigte es ihm. „Nun, und wir beide hätten es nur abgeholt und morgen zu Silvanus Tante gebracht, die wiederum ein anständiges Zuhause für das Kind gefunden hätte.“
Tréville schwieg für einige Momente und trank einen Schluck Schokolade. Einen Teil dieser Legende kannte er. Sie war mindestens dreißig Jahre alt und er hatte sie nie besonders ernst genommen. „Und wie sind die Herren an diese Merkwürdigkeit geraten?“
Silvanus und Jussac sahen sich an, dann nickte der Leutnant der Kardinalsgarde. „Gut; wenn Monsieur le capitaine dies zu wissen verlangen...“ , begann er dann. „Auch wenn es Euch eigentlich nichts angeht. Meine Mutter hatte kurz vor ihrer Ehe einen Fehltritt begangen und vertraute ihr Kind auf dem selben Wege das Mädchen von heute Nacht, der Seele des kleinen Jean an. Ich habe davon nur erfahren, weil sie es mir anvertraute, als ich nach Paris ging. Sie sagte dass irgendwo dort vielleicht noch mein Halbbruder sein mochte.“ Jussac schüttelte den Kopf. „Ich hatte keine Geschwister. Oft hatte ich mir gewünscht ich hätte welche, aber ich blieb das einzige Kind meiner Eltern. Darum ging mir der Gedanke, dass ich einen Halbbruder hatte, so nahe. Schließlich ging ich hier in Paris, auf die Suche nach ihm. Ich hörte von dieser Legende. Meine Mutter hatte mir erzählt, sie hätte damals einen Brief in den Krug geworfen und auf die spätere Antwort hin das Kind auf dem Friedhof gelassen. Lange zögerte ich, doch alle andere Spuren verliefen im nichts. Schließlich schrieb ich einen Brief, in dem ich meine Suche schilderte, und warf ihn in den Krug dieser Statue.“
Tréville sah ihn überrascht an. „Und Ihr erhieltet Antwort?“
Jussac nickte. „Das Glück wollte es, dass das Kind das in jener Nacht auf dem Friedhof aufgesetzt wurde bei einer jener Familien blieb, die eng mit dem Geheimnis verbunden sind. Man schrieb mir, dass ich meinen Bruder treffen könne, da dieser damit einverstanden sei. Er sei Soldat genau wie ich.“ Sein Blick glitt zu Silvanus. „Und so lernten wir uns kennen.“, schloß er.
Silvanus nickte. „Ich war damals schon selbst mit dem Geheimnis in Berührung gekommen, da meine Eltern mich nie darüber belogen haben, dass ich nicht ihr leiblicher Sohn war. Ihre Ehe war kinderlos und darum behielten sich mich. Und Claude war bereit mich zu unterstützen, was meine Aufgaben anging.“
Tréville kannte Silvanus Familie ein wenig. Vekrachte Humanisten, allesamt. Ihnen war sowohl die Beteiligung an einer derartigen Geschichte zuzutrauen, als auch, dass sie ein solches Kind behalten würden. „Was wird mit dem kleinen Mädchen werden, das wir dort draußen gefunden haben?“, fragte er.
Silvanus lehnte sich leicht zurück. „Ich werde es zu meiner Tante bringen und sie wird ein Zuhause für die Kleine finden. Wo sie aufwachsen kann, fern vom Stigma des Hurenkindes.“
Der Hauptmann studierte die beiden für einen Moment. „Das wird nicht nötig sein.“ , meinte er dann schließlich. „Wenn ich der Amme und meiner Frau schon die Freude gemacht habe, ein weiteres Mädchen zum beglucken zu haben, wollen wir das doch nicht wieder ändern, oder?“
***
Der Morgen dämmerte bereits über Paris als Silvanus sein Elternhaus erreichte. Alles schlief, und auch der Leutnant war rechtschaffen müde. Er hatte keinen Leuchter mitgenommen als er die Treppen hinauf stieg. Eine Bewegung ließ ihn innehalten. Er stand seitlich eines der alten Spiegel entlang der Treppe. In dem grauen Morgenlicht, irgendwo zwischen Dämmern und Morgen, glaubte er vage eine Gestalt zu sehen. Eine blasse Frau, die ihn traurig ansah. Ganz leise meinte er für Momente ein Lied zu hören, eine leise, traurige Melodie.
Schritte ließen ihn zusammenzucken. Sein Ziehvater war die Treppen herab gekommen. Wie er Silvanus so vor dem Spiegel stehen sah, schlich sich ein schmerzliches Lächeln auf seine Züge. „Du hast das Lied gehört?“, fragte er ihn leise.
Überrascht sah Silvanus auf. „Du auch?“
Claude de Chergis legte seinem Sohn sacht die Hand auf die Schulter. „Ja, ich habe es gehört. Es hat mich damals geführt, als ich dich fand. Du schliefst und deine Mutter hatte dich gerade verlassen. In der Ferne hörte ich sie noch dieses Lied singen.“ Er sprach nicht weiter. Er brauchte nicht zu sagen, dass er in jenem Moment gewusst hatte, dass von allen verlorenen Kindern von St. Jean, es dieser Junge war, den er nicht fortgeben konnte.