Novemberherausforderung 2004 von Silvia
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 15 BewertungenKapitel Die Geister, die ich rief von
Anm.:
Für Maike.
Bin doch noch rechtzeitig fertig geworden!
"Gib es mir zurück! Armand, es gehört mir!"
"Ihr irrt, mon frère. Diese Holzfigur befand sich schon immer in meinem Besitz. Ich habe sie Euch lediglich geliehen und wünsche sie nun zurück."
"Du bist ein Lügner! Ein Lügner und ein Schuft! Du hast sie mir geschenkt."
"Wage es nicht noch einmal, mich so zu nennen - du kleine Laus!"
Etwas polterte kurz, von oben waren die Geräusche einer Rangelei zu hören und schließlich schien Armand über seinen kleinen Bruder zu triumphieren, denn ein leises Wimmern, wie es nur Henri-Josèphe in dieser Tonlage zustande bringen konnte, war zu hören.
Monsieur de Tréville père seufzte leise und gab es auf, sich vor dem Spiegel den Kragen ordentlich zurechtrücken zu wollen. Als der Vater der kleinen Streithähne im Zimmer über dem seinen, war es nun wohl seine Pflicht ein Machtwort zu sprechen, zu trösten und zu mahnen. Das kam in letzter Zeit immer häufiger vor; zu häufig für den Geschmack des Hauptmanns der Musketiere, der auch so schon jeden Tag mit genügend zu groß geratenen Kindern zu tun hatte.
Anscheinend hatte Armand mal wieder die Überlegenheit seiner ganzen zehn Jahre dem nur achtjährigen Bruder gegenüber ausspielen wollen, sich dabei ganz bewusst hochmütig im Ton vergriffen und war schließlich wieder zum Kind geworden, als Henri-Josèphe verständlicherweise nicht gehorchen wollte. Welche kleinen und großen Wunden, über einen blauen Fleck bis hin zu verletztem Stolz, dürfte Tréville jetzt wohl wieder kurieren?
Ein Notfall wie ein krankes Kind wäre zwar eine durchaus willkommene Ausrede gewesen, um heute Abend nicht am Fest der Ratsherren der Stadt Paris, teilnehmen zu müssen. Doch schien es bei diesem Streit unter Brüdern lediglich auf das übliche Gerangel, wer am Ende Recht behalten sollte, hinauszulaufen. Das war zwar nicht minder bedeutsam für seine Söhne, allerdings sehr lästig für Tréville, der an diesem 31. Oktober immerhin pünktlich im Rathaus erwartet wurde.
Wäre das Kindermädchen hier gewesen, hätte sie sich um die beiden Brüder gekümmert, sie innerhalb weniger Augenblicke nicht nur wieder zur Ruhe, sondern auch ins Bett bekommen. Doch Clodine war zu Besuch bei ihrer recht plötzlich erkrankten Mutter und würde erst in einigen Tagen zurückkehren. Ersatz fand sich solange in dem treuen Kammerdiener Richard, der schon seit vielen Jahren in Diensten des Hauptmanns stand und der mit Kindern zumindest so gut umgehen konnte, dass er mit ihren zahlreichen Streichen ein wenig gelassener umging, als die übrige Dienerschaft - Doch Richard war im Augenblick unterwegs auf einem letztem Botengang für diesen Tag, zu den ihn Tréville unüberlegter Weise noch verpflichtet hatte.
Für einige Minuten also ohne wachsame Aufsicht, hörte man plötzlich ein Poltern und dann eine Flut von blumigen Ausdrücken, die, mit heller Kinderstimme vorgetragen, sicher nicht die gleiche Wirkung auf den so Angeschrienen hatten, wie sie es vermutlich sollten. Im Gegenteil forderten diese Flüche eine nicht minder aufgebrachte Antwort heraus, sodass nun durch zwei Etagen des Hôtel de Tréville ein Lärm zu hören war, wie man ihn eher tagsüber erwarten konnte, nicht jetzt, wenn der Haushalt ansonsten zur Ruhe gekommen war.
Ein leises, fast zurückhaltendes Klopfen veranlasste den Herrn des Hauses, die Augen wieder zu öffnen und sich vom Spiegel abzuwenden. Sein Kragen war noch immer nicht gerichtet, doch dem schenkte Tréville nun keine Beachtung als auf sein fragendes "Ja?" die Tür geöffnet wurde und eine kleine, zierliche Gestalt eintrat, vielmehr ins Zimmer schlüpfte. Ein wenig unschlüssig blieb sie gleich hinter der Schwelle wieder stehen und machte dann einen zwar damenhaften, aber etwas verspäteten Knicks. Tréville lächelte leicht zu dieser kleinen Vorstellungen angelernter Etikette seiner Ältesten, die wohl viel Zeit damit verbracht hatte, die Damen um sie herum zu studieren, um selbst eine zu werden. Ginge es nach ihrem Vater, konnte sich Francoise damit gerne noch länger Zeit lassen, schließlich war auch sie erst dreizehn, noch ein halbes Kind und sicher nicht dem Alter, alles nachzuahmen. Nicht wahr? Vielleicht wurde sein kleines Mädchen langsam ein großes Mädchen...
"Wie kann ich Euch helfen, Mademoiselle?" fragte Tréville schließlich ganz ernst und mit der höflichen Verbeugung eines Kavaliers zu seiner Tochter hin, auf deren Gesicht sich dabei ein kurzes Lächeln stahl. Nein, noch nicht sehr groß. Eine Weile sollte Francoise wohl noch sein kleines Mädchen bleiben, welches sich gerade darum bemühte, den kühlen Blick einer Hofdame aufzusetzen und auf diese Weise den frechen Kavalier vor ihr abschätzend musterte. Schließlich schien Francoise zu entscheiden, dass ihr der Herr ganz sympathisch und eine Antwort wert war.
"Armand und Henri-Josèphe benehmen sich unmöglich. Ihr dummer Streit hindert mich daran, zu schlafen", meinte die junge Dame mit einem wohlberechneten, herzerweichenden Unschuldslächeln und einem naiven Augenaufschlag, für den dereinst noch so mancher junger Mann seine poetische Seite entdecken würde. Ihr Vater fiel darauf allerdings nicht herein. "So, schlafen wolltest du? Ich nehme nicht an, in deinem besten Kleid, mit tadelloser Frisur und Haltung, nicht wahr?"
Eine leichte Verlegenheitsröte legte sich über Francoises Wangen und ertappt sah sie zu Boden. Der Vorwand, ihren Vater davon zu überzeugen, gemeinsam mit den Eltern auf dieses Fest zu gehen, war leicht zu durchschauen gewesen - auch das war volle Absicht. Keine Geste, auch nicht ihre jetzt gut gespielte Zerknirschtheit war nicht irgendwie geplant. Tréville schüttelte andeutungsweise den Kopf und musste sich gleichzeitig ein stolzes Lächeln wegen seiner allzu schlauen Tochter verkneifen. Er verwandelte es gerade so in den milden und verstehenden Blick eines Vaters, der, selbst einmal in diesem Alter, ebenso gerne auf ein Fest mitgekommen wäre und es doch nicht durfte, weil die strenge, elterliche Hand es ausdrücklich verbot.
Der Lärm von oben hatte abrupt aufgehört, wie Tréville am Rande seiner Aufmerksamkeit bemerkte und dies veranlasste den Hauptmann zu einem erleichterten Schulterzucken, was seine Tochter wiederum auf sich selbst bezog. Als Francoise erkannte, dass weder ein besonders braver und erwachsen wirkender Eindruck, noch langes diskutieren zum Erfolg führen würden, zog sie eine Schnute und schien sich innerlich trotzdem auf ein Widerwort vorzubereiten, sobald ihr Vater das "Nein" laut ausspräche.
Nicht länger vom Lärm der beiden Raufbolde über diesem Zimmer abgelenkt und sich fragend, ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, trat Tréville zu seiner Tochter und gab ihr einen raschen Kuss auf die Stirn - Verbot und Entschuldigung in Einem. Francoise schien darüber eher enttäuscht, als verwirrt. Anscheinend hatte sie tatsächlich noch auf Zustimmung oder wenigstens einen gütlichen Kompromiss gehofft. Aber jetzt hatte sie nur einen Korb bekommen und war - mit Sicherheit - einmal mehr davon überzeugt, dass ihr Vater nicht die geringste Ahnung hatte, was es bedeutete, kein Kind mehr zu sein und trotzdem nicht wie ein Erwachsener behandelt zu werden. Nein, Monsieur de Tréville amüsierte sich, Madame de Tréville amüsierte sich, Francoise Brüder scherten sich nicht - nur ihr selbst wurde wieder nichts erlaubt!
Zu Recht, wie ihr Vater nun einmal mehr befand, während er an der fast schon beleidigt dreinsehenden Francoise vorbei das Zimmer verließ, um nach den Messieurs de Tréville fils zu sehen, die in der Tat verdächtig ruhig geworden waren. Als er gerade den Fuß auf die unterste Treppenstufe hinauf in den zweiten Stock gesetzt hatte, kam ihm von oben, recht unerwartet, die Dame des Hauses entgegen. Zwei Stufen vor ihm blieb sie stehen und musterte ihren Gatten streng. Wortlos streckte sie die Hände aus und rückte ihm den Kragen zurecht, um sein Erscheinungsbild soweit zu korrigieren, dass sich Monsieur de Tréville auf dem Fest neben seiner Ehefrau zeigen konnte, ohne dass sich noch jemand wundern würde, warum die bezaubernde Anne des Essarts damals diesen vorlauten Gascogner einem Baron de Jallabert vorgezogen hatte.
Nach einigem Zupfen schien Madame zufrieden mit dem Kragen und der Kleiderwahl ihres Gatten im allgemeinen zu sein, der dankbar lächelte. "Francoise war eben bei mir", meinte Tréville mit einem kurzen Blick in Richtung der nur angelehnten Zimmertür, hinter welcher wahrscheinlich noch immer Francoise auf ein kleines Wunder wartete oder sich schmollend auf das Bett ihres Vaters gesetzt hatte, um von dort missmutig die Wand anzustarren. ‚Eine Gefangene im goldenen Käfig', so hätte sie sich nun sicher theatralisch bezeichnet, Madame de Tréville sah das ihrerseits sehr viel nüchterner. "Sie ist zu jung", hob sie abwehrend eine Hand und trat an ihrem Mann vorbei die Treppe hinunter, bevor sie sich noch einmal umwandte. "Clodine sollte bald zurückkommen."
"Ich werde nach den beiden jungen Herren sehen", seufzte Tréville leicht und fügte in sehr ironischem Tonfall hinzu: "Sie scheinen sich gestritten zu haben." Weder der übrigen Familie, noch der Dienerschaft konnte der Lärm aus dem Obergeschoss entgangen sein. Madame nickte verstehend und lächelte aufmunternd. "Sie werden sich zu benehmen wissen, seid also nicht zu streng."
Tréville erwiderte das Lächeln halb und hob kurz die Schultern. "Richard ist als Kindermädchen nicht sonderlich geeignet, ich weiß. Aber ich würde die Kinder niemandem sonst aus der Dienerschaft anvertrauen wollen. Ja, sie werden sich zu benehmen wissen", und während sich Madame de Tréville nun dem Zimmer zuwandte, in dem ihre - zwar nicht liebliche, aber ebenso liebgewonnene Tochter - ein wenig Trost brauchte, stieg der Hauptmann selbst die Treppe in den zweite Stock hinauf.
Er hatte gerade den obersten Treppenabsatz erreicht und wollte sich auf dem Flur nach rechts, dem Zimmer seiner Söhne zuwenden, als die Tür eben jenes Zimmers aufgerissen wurde und eine kleine Holzfigur, das Abbild eines berittenen Soldaten herausflog und an die gegenüberliegende Wand prallte. Das Spielzeug hatte schon viele turbulente Situationen überstanden, aber diese ruppige Behandlung war nun doch zuviel! Dem Pferd brach ein Bein, der Reiter verlor seinen Kopf und die Handwerkskunst eines teuer bezahlten Tischlers war ruiniert.
Noch während die Bruchstücke über den Boden schlitterten, stürzte mit einem langgezogenen Schluchzer eine kleiner, braungelockter Junge aus dem Zimmer und kniete vor den Resten seines Lieblingsspielzeuges nieder. Keinen Augenblick später bemerkte Henri-Josèphe seinen Vater, der kopfschüttelnd das ihm vor die Füße gerutschte Bein des Pferdes aufhob und mehr fragend als vorwurfsvoll seinen Sohn ansah. Aus den Augenwinkel bemerkte Tréville noch Armand im Türrahmen stehen, der sich nun jedoch abrupt umwandte und ins Zimmer zurücktrat.
Der Fall schien offensichtlich, trotzdem störte das, von zwei feuchtglänzenden Augen begleitete, triumphierende Aufflackern in der Miene seines Jüngsten die erste Schlussfolgerung des Hauptmanns. Mit einem Stirnrunzeln folgte er Armand ins Zimmer und strich im Vorbeigehen Henri-Josèphe über die zersausten Haare, der daraufhin noch um einiges wehleidiger und überhaupt wie das unschuldige Opfer dreinblickte; für immer untröstlich über den Verlust der geliebten Holzfigur und auf der Suche nach Gerechtigkeit. Zweifelsfrei einer Gerechtigkeit, die ihm zum Vor- und seinem älteren Bruder zum Nachteil gereichen würde.
Armand stand am Fenster und blickte hinunter in den, am Abend wie ausgestorben wirkenden Hof des Hôtels. Für seine zehn Jahre war er ein recht hoch aufgeschossener Junge, bereits geschickt im Umgang mit dem Kurzdegen und auch sonst nicht minder gewitzt wie sein kleiner Bruder, dabei allerdings sehr viel ungestümer. Es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er in Wut eine Reiterfigur zerstörte, die früher auch sein eigenes Lieblingsspielzeug gewesen war und die er großzügig Henri-Josèphe überlassen hatte, als er sich selbst zu alt für solchen Kinderkram und seinem jüngeren Bruder überlegen fühlte.
Das war es auch, was in letzter Zeit zu kleinen Streitereien, sogar Balgereien geführt hatte: Armand wollte Henri-Josèphe ein Vorbild sein und zeigen, was er als der ältere schon alles durfte und konnte - was nur unwesentlich mehr war. Im Grunde lag sein Vorteil nur darin, dass Armand ein etwas aufbrausendes Temperament hatte, was ihm vor seinem Bruder manchmal besonders mutig erscheinen ließ. Eine kleine Bewunderung, die der Zahnjährige immer dann verspielte, wenn er den gutmütigeren Henri-Josèphe direkt herausforderte.
In der Regel waren die beiden ein gutes Gespann wenn es darum ging, von Clodine noch eine halbe Stunde mehr vor dem Schlafengehen zu bekommen, Streiche gegen Richard auszuhecken und dann ganz unschuldig ihren Vater davon zu überzeugen, dass der Diener einfach nur zu ungeschickt gewesen war, da die Brüder sich in übereinstimmender Aussage zur fraglichen Zeit eines solchen Missgeschicks an einem ganz anderen Ort aufgehalten hatten. Aber es war vorbei mit der verschworenen Einigkeit, wenn Armand der Meinung war, dass ihm Henri-Josèphe aufs Wort zu gehorchen hatte, weil er der Ältere war. Ansonsten ließ sich Trévilles Jüngster sehr leicht in die Abenteuer mit hineinziehen, die sich Armand überlegt hatte und es gefiel ihnen beiden, wie die Kletten aneinander zu hängen - und die einzige Person, auf welche die beiden Brüder immer sofort und ohne Widerspruch hörten, das war Francoise.
Die große Halbschwester kommandierte die Jungen nicht offensichtlich, aber trotzdem war sie es, die in den gemeinsamen Unternehmungen den Ton angab. Ihre Brüder hatten einen ordentlichen Respekt vor Francoise und meistens kamen die Geschwister sehr gut miteinander aus. Wie Pech und Schwefel schienen sie, wenn es galt, die elterlichen Anweisungen zu umgehen und ein lustiges Leben zu führen.
Im Augenblick trug Armand allerdings einen sehr verkniffenen Gesichtsausdruck, als sein Vater neben ihn an das Fenster trat und selbst hinausschaute. Es gab nichts zu sehen, außer vielleicht ein wenig vom kalten Herbstwind aufgewirbeltes Stroh aus den Ställen, das von der nächsten Bö haltlos mitgerissen wurde und irgendwo in der Dunkelheit verschwand. Trotzdem starrten sie beide nun mit aller Anstrengung in den dunklen Hof hinab, während hinter ihnen Henri-Josèphe leise in das Zimmer schlüpfte. Tréville beachtete seinen Jüngsten absichtlich nicht, sondern suchte weiterhin mit den Augen so konzentriert die Umgebung hinter dem Fenster ab, wie es Armand tat. Dem schien die anhaltende Stille allerdings mit der Zeit unbehaglich zu werden. Ein schweigsamer Tréville war manchmal unangenehmer für seinen Gegenüber, als ein aufs schönste fluchender und sehr plötzlich platzte es aus Armand: "Es war meiner!"
Monsieur de Tréville père hob leicht eine Augenbraue und wandte seine Aufmerksamkeit dem Sohn zu, der sich offensichtlich mühte, nicht zu Boden zu sehen sondern dem Blick seines Vaters standzuhalten. Es gelang ihm nicht besonders gut, besonders als Tréville nun sehr ruhig meinte: "In der Tat, dieser Reiter war einst in deinem Besitz. Du hast ihn deinem Bruder geschenkt." Im Rücken konnte der Hauptmann seinen Jüngsten breit grinsen spüren, doch er machte Henri-Josèphe einen Strich durch die Rechnung, indem er fortfuhr: "Von daher braucht es dich nicht zu kümmern, ob Henri-Josèphe ihn gegen die Wand wirft."
Er wandte sich um, gerade rechtzeitig um den erschrockenen und ertappten Gesichtsausdruck des Achtjährigen zu sehen. Strafe für den Ersten. "Aber du hast ebenso kein Recht, Armand, über den Besitz eines anderen frei verfügen zu können, auch und gerade, wenn es einmal dir gehört hat und weitergegeben wurde."
Jetzt schaute Armand ertappt. Strafe für den Zweiten. Für einen heftig ausgetragenen Streit waren diese Mahnungen sehr schnell vorbeigegangen und hatten Wirkung gezeigt. Es war schlimmer, bei einer Lüge erwischt zu werden und ganz genau zu wissen, dass man viel härter hätte bestraft werden müssen, anstatt nun so einfach davonzukommen, dass das schlechte Gewissen - und vor allem das Wissen darum, dass der Vater sehr genau bescheid wusste - einen noch lange beschäftigen konnte. Es sei denn, man sah seinen Fehler ein, vertrug sich mit dem Bruder und gewann dadurch das Wohlwollen des Vaters zurück. Ohne, dass Tréville noch etwas hinzufügen musste, trat Armand zu seinem Bruder und umarmte ihn kurz, der die Geste mit seinem typisch gutmütigen Lächeln erwiderte.
Das kaputte Spielzeug lag noch immer draußen vor der Wand und mimte den stummen Zeugen. Es gab sicher eine Möglichkeit, die Holzfigur zu reparieren, genauso wie auch schon andere Dinge im Zimmer der jungen Messieurs de Tréville geflickt worden waren.
Tréville nickte zufrieden über die Versöhnung zwischen den Brüdern, aber so ganz ungestraft durften sie nun auch nicht davonkommen. Außerdem gab es keinen besseren Vorwand, sie früh ins Bett zu schicken und dadurch Richard, sobald er zurückkehrte, etwas weniger Arbeit mit zwei, manchmal zu cleveren Plagegeistern zu machen. Nicht, dass der Hauptmann besondere Rücksicht auf den langjährigen Diener nehmen musste, aber vielleicht ersparte ihm das selbst weiteren Ärger mit dumme Jungen Streichen nach einer zu kurzen Nacht, wenn dieses Fest so lange und so überflüssig lästig sein würde, wie das letzte.
Also kommandierte Tréville seine beiden Söhne nun mit knappen Worten in die Betten, die das mit dem erwarteten Unmut, aber eingedenk der Szene von vorhin auch ohne großes Murren befolgten. Das Licht war bald gelöscht und ohne noch einmal mahnen zu müssen, zog Tréville die Tür auf dem Flur hinter sich zu. Er hob von der gegenüberliegenden Wand die Holzfigur auf und ging die Treppe wieder hinunter. In einigen Minuten würde Richard zurückkehren, dann wurde es Zeit, selbst aufzubrechen.
Tréville ging weiter, vorbei an seinem eigenen Zimmer, in dem sich nicht länger die zwei Damen des Hauses aufzuhalten schienen, denn es war weder das leise Murmeln eines Gespräch zu hören, noch fiel Licht unter der Türritze hindurch in den Flur. Wahrscheinlich wartete Madame bereits an der Kutsche auf ihren säumigen Gatten, doch einige Schritte weiter, als der Hauptmann gerade um die Flurecke bog, um zu dem weitläufigen Treppenaufgang, hinunter in die Eingangshalle und schließlich in den Hof zu gelangen, wurde Tréville noch einmal aufgehalten.
Vom Erdgeschoss aus gesehen, wenn man an der Treppe stand, kam Tréville im ersten Stock von der rechten Seite, dort, wo der Flur zu den privaten Räumen führte, wo bis auf die Bewohner des Hauses niemand etwas zu suchen hatte, und sei es auch im größten Trubel, der hier Tagsüber im Hauptquartier eigentlich immer herrschte. Linker Hand hingegen befand sich das Arbeitszimmer hinter dem Vorraum - und vor der Tür eben dieses Vorraums stand nun der Leutnant der Musketiere und machte ganz den Eindruck, schon länger auf das Erscheinen des Hauptmanns gewartet zu haben, denn d'Artagnan hielt sich nicht mit umständlichen Begrüßungsfloskeln auf, sondern trat gleich zu Tréville, um nach einem kurzen, respektvollen Kopfneigen sofort zum Grund seines Hierseins noch zu dieser späten Stunde zu kommen: "Es gab einen Zwischenfall in der Rue du Temple. Eine Schlägerei zwischen den Besuchern des Wirtshauses "Tänzelndes Einhorn", in die wohl auch einige Musketiere des Königs und Gardisten seiner Eminenz verwickelt waren", berichtete der Leutnant in knappen Worten, was sich vor nicht allzu langer Zeit zugetragen haben musste. "Ich habe es eben erfahren", schloss d'Artagnan und aus seiner recht ungeduldig klingenden Stimme war leicht herauszuhören, was von diesem Vorfall zu halten war: Viele Scherereien um eine Nichtigkeit und eine Audienz bei seiner Majestät am nächsten Morgen.
"Welchen Ausgang hat diese Rauferei genommen?" fragte Tréville darum auch im eher müden als interessierten Tonfall nach und drehte die lädierte Holzfigur in den Händen. Wahrscheinlich würde der Hauptmann nicht einmal bis zum nächsten Morgen verschont bleiben, wenn sich doch die wichtigsten Damen und Herren der Stadt heute Abend im Rathaus einfanden. So bekam das Fest wohl auch ein Gesprächsthema...
"Keine schlimmeren Verletzungen, beleidigter Stolz und Prellungen. Hinzu kommen die gegenseitigen Anklagen, wer die Schuld an diesem Zwischenfall trägt."
"Das Übliche also. Und wer trägt die Schuld?"
"Wahrscheinlich der Wein, mon capitaine", zuckte der Leutnant mit den Schultern und überließ es Tréville, sich den genauen Ablauf der Ereignisse auszumalen. Das fiel auch nicht weiter schwer. "Ich nehme an, zur Ausnüchterung hat die Stadtwache alle Beteiligten für diese Nacht ins Gewahrsam genommen?"
"Ja, mon capitaine", grinste d'Artagnan ein wenig schief über den Galgenhumor seines Hauptmanns. Wenn man gerade dachte, es konnte nicht schlimmer kommen...
"Gut, dort sind sie vorerst auch bestens aufgehoben", beschloss Tréville nach einem kurzen Moment des Schweigens, die Bestrafung seiner Musketiere heute Abend einmal dem Kommandanten der Nachtwache zu überlassen und sich erst am nächsten Tag auf ein gewaltiges Donnerwetter vorzubereiten, das dann noch zusätzlich über die Missetäter hereinbrechen würde - sobald er die Herren beim König entschuldigt und wieder auf freien Fuß gesetzt hatte. Apropos Fuß... Das kleine Holzpferd würde ab heute wohl für immer nur drei Beine haben, zumindest folgerte es der Hauptmann so, als er nun das abgebrochene Bein an den Rumpf des Spielzeuges hielt.
"Der Kopf fehlt..."
Tréville sah von dem Spielzeug auf und es dauerte einen Augenblick, bis seine Gedanken soweit ins hier und jetzt zurückgekehrt waren, dass er die Bemerkung seines Leutnants richtig verstanden hatte. Dann jedoch nickte er knapp zu der nicht ganz so klugen Feststellung seines Untergebenen, der nach all dem Ärger wohl nur höflich sein wollte. "Er wird sich schon wiederfinden und flicken lassen. War das alles, Monsieur le lieutenant?"
"Noch nicht ganz." Das Öffnen der Dienstbotenpforte unten in der Eingangshalle unterbrach d'Artagnan allerdings, bevor er weiter erklären konnte. Hereintrat eine hagere Gestalt, die der Hauptmann sofort als Richard wiedererkannte, der sich kurz umblickte und sich auf den Weg die Treppe hinaufmachte, sobald er seinen Herrn dort stehen gesehen hatte. Mit einer knappen Geste bedeutete Tréville seinem Leutnant sich einen Moment zu gedulden, während Richard nun auf dem obersten Absatz anlangte, sich höflich verneigte und meinte: "Monsieur de Dupré hat den Brief erhalten und lässt ausrichten, dass Ihr morgen mit einer Antwort rechnen könnt, Herr."
"Danke, Richard", nahm der Hauptmann die Nachricht entgegen. Wenigstens eine gute Neuigkeit gab es also doch neben all den Ärgernissen. "Sieh nach den Kindern. Sie sollten schon schlafen", schickte Tréville den Diener nun weiter in den nächsten Stock und wandte sich dann wieder seinem Leutnant zu. "Was gibt es noch Wichtiges?"
"Dank dieser Schlägerei", nahm d'Artagnan seinen verlorenen Faden wieder auf, "und einer Nacht im Gefängnis werden wohl einige Musketiere morgen nicht pünktlich ihren Dienst versehen können. Das macht eine Änderung in der Wachliste nötig."
Natürlich, das kam auch noch hinzu - und war angesichts einer sicher schon ungeduldig auf ihren Gatten wartenden Madame de Tréville ein besonders lästiges Detail, um das sich zu kümmern der Hauptmann nun gerne seinem Untergebenen überließ. "Dann nehmt diese Änderungen vor und hängt den neuen Dienstplan aus, Leutnant. Morgen-"
Ein langgezogener, schmerzerfüllter Schrei und ein Poltern von der Treppe her unterbrach Tréville sehr abrupt und sein Leutnant folgte ihm auf den Fuße, als der Hauptmann nicht zögerte, über den Flur in die Richtung der Privaträume zu laufen. Kaum um die Ecke gebogen, erkannte Tréville auch schon die Ursache für den Lärm und drückte seinem Leutnant das Holzspielzeug in die Hände, bevor er sich an den unteren Absatz neben Richard niederkniete, der sich stöhnend den Kopf hielt. Der Hauptmann half dem Diener, sich halbwegs aufzurichten. Richard verzog das Gesicht, anscheinend hatte nicht nur sein Kopf bei dem Sturz etwas abbekommen und Tréville gab darauf acht, einer vielleicht gebrochenen Rippe durch schlechte Hilfe nicht noch eine zweite hinzuzugesellen. "Was ist geschehen?"
Oben wurden zwei Türen aufgerissen und bald schon blickten drei recht bleiche Kindergesichter über das Geländer, während Richard stöhnte: "Bin... gestolpert."
"Wahrscheinlich deswegen", mischte sich von hinten nun auch noch d'Artagnan ein, der sich nach einer kleinen, runden Kugel aus Holz bückte, die gegen die Wand gerollt war. Der Kopf der Reiterfigur.
"Geht wieder in eure Betten", schickte Tréville seine Kinder zurück in die Zimmer und ausnahmsweise gehorchten die drei einmal prompt. Francoise legte tröstend einen Arm um ihren kleinsten Bruder und strich ihm über die Wange, denn Henri-Josèphe sah schon wieder ganz den Tränen nah aus, während Armand seinerseits die beiden Geschwister mit sanfter Gewalt vor sich her zurück in das Zimmer der Brüder schob. Noch bevor die Kinder die Tür hinter sich geschlossen hatten, wandte sich Tréville wieder an seinen Leutnant. "Helft mir, ihn zu seiner Kammer zu bringen."
Gemeinsam zogen die beiden Musketiere Richard auf die Füße und stützten den unglücklichen Diener, der sich humpelnd zu seiner Kammer am Ende des Flures bringen ließ und dabei ein ums andere Mal einen leisen Fluch zwischen zusammengepressten Zähnen ausstieß, den er nur von seinem Herrn gelernt haben konnte. In dem kleinen Raum des Dieners angekommen, wurde Richard zu seinem Bett gebracht und einer ersten, notdürftigen Verarztung unterzogen, die darin bestand festzustellen, was sich der Lakai bei seinem Sturz getan hatte. Nach einigen Augenblicken stellte sich dabei heraus, dass sich Richard zum Glück keinerlei Knochenbrüche zugezogen zu haben schien, sich aber heftig die Rippen geprellt und den Kopf gestoßen haben musste, wie zwei allmählich größer werdende und in den interessantesten Farben schimmernde Blutergüsse bewiesen.
"Verzeiht, Monsieur", beklagte Richard sein eigenes Ungeschick und wollte sich schon wieder aufrappeln, doch Tréville hielt seinen Diener entschieden davon zurück. "Nein, du bleibst hier schön liegen und ruhst dich aus. Wenn es dir morgen noch nicht besser geht, werde ich nach einem Arzt schicken lassen, aber solange wirst du keine Dummheiten mehr anstellen."
"Aber, die Kinder..." wandte der Lakai nur halbherzig tapfer ein. "Ihr werdet schon im Rathaus erwartet und jemand muss doch auf sie aufpassen. Sonst sind sie ganz allein."
"Nein, Monsieur d'Artagnan wird auf sie Acht geben, verstanden Richard? Kein Widerwort mehr."
"Ja, Herr", schloss Richard erschöpft und erleichtert zugleich die Augen und war schon in einen erholsamen Schlaf gefallen, bevor die beiden Musketiere die Kammer verlassen und Tréville die Tür leise geschlossen hatte.
D'Artagnan sah recht beunruhigt drein und dies schien nicht damit zusammenzuhängen, dass sich einige Musketiere betrunken und einen Streit angezettelt hatten, noch brachte der unglückliche Sturz Richards den Leutnant sonderlich aus der Ruhe. Auf leisen Sohlen kehrten Hauptmann und Leutnant zurück zur Treppe und erst dort fragte Tréville, mit einen kurzen Blick hinauf in den oberen Stock: "Würdet Ihr mir diesen Gefallen erweisen? Ich werde mich sobald es möglich ist von diesem Fest verabschieden und zurückkehren. Nur lass ich die Kinder bis dahin ungern allein."
In der Miene des Leutnants spiegelte sich zweierlei wieder: Einmal das Wissen, hier nur für wenige Stunden bleiben zu müssen und damit seinem Hauptmann aushelfen zu können und andererseits die Erkenntnis, dass d'Artagnan zwar nicht wenig Erfahrung darin hatte, einige Musketiere auf Trab zu halten, aber reichlich ungeübt im Umgang mit Kindern war. Tréville war allerdings in diesem Moment der Meinung, dass sich Umgang schnell lernen ließ, dass in dieser Hinsicht sein Leutnant recht zuverlässig war und dass er selbst gleich noch einmal den Kragen zurechtgezupft bekommen würde. "Bis dahin werdet Ihr sicherlich die Wachaufstellung geändert haben. Die alte Liste liegt noch im Arbeitszimmer."
"Ja, mon capitaine", gab sich d'Artagnan schließlich geschlagen und Tréville nickte zufrieden. "Gut. Dann werde ich nun noch die Kinder jedes in sein richtiges Zimmer bringen und ihnen sagen, dass sie in guten Händen sind", schmunzelte der Hauptmann angesichts des wenig begeisterten Gesichtsausdrucks seines Leutnants und fügte noch hinzu: "Sie werden schlafen, doch mir ist sehr viel wohler, wenn ich weiß, dass jemand verlässliches anwesend ist, solange Madame und ich außer Haus sind."
"Ja, mon capitaine", wiederholte d'Artagnan und rang sich zu einem halbgequälten Lächeln durch. "Ich werde im Arbeitszimmer sein."
"Danke", nickte Tréville seinem Leutnant zu und stieg die Treppe hinauf, während sich d'Artagnan tatsächlich in Richtung des Arbeitszimmers trollte, noch immer die Einzelteile der Reiterfigur in der Hand und offensichtlich wenig begeistert darüber, womit er den Rest den Abends verbringen sollte... Der Leutnant durchquerte den verwaisten Vorraum und trat ins Arbeitszimmer ein. Mit drei Schritten hatte er den Schreibtisch erreicht und legte das kaputte Spielzeug zwischen einem Stapel von Papieren und einem Kästchen mit Schreibutensilien ab, bevor er Hut und Mantel wenig elegant über einen Stuhl warf. Etwas umständlich zündete er eine Kerze an und ließ sich dann seufzend in den Sessel des Hauptmanns sinken. Zwei oder drei Minuten saß d'Artagnan nur so da, dann jedoch machte er sich daran, auf dem Schreibtisch diejenigen Unterlagen ausfindig zu machen, welche sich mit der täglichen Routine in der Kompanie beschäftigten. Er fand die Wachaufstellung schließlich direkt unter der Soldlist wieder.
Bevor der Leutnant sich daran machte, in dem schlechten Licht nur einer einzigen, flackernden Kerzenflamme die nötigen Änderungen vorzunehmen, lauschte er in den ungewohnt stillen Raum hinein. Nichts rührte sich. Sogar die Wanduhr schien etwas leiser zu ticken als sonst und bis auf das gelegentliche Rütteln und Heulen des Windes am Fenster war nicht der geringste vertraute Laut zu hören. Es fehlte das beruhigende Knistern der Holzscheite im Kamin, die Geräusche von wartenden Menschen draußen im Vorzimmer, Schritte oder Stimmen, selbst das Kratzen eines Federkiels über ein Schriftstück. Die halbdunklen Ecken schienen näher zusammenzurücken und die Gegenstände auf dem Schreibtisch warfen tanzende Schatten, als führten sie ein heimliches Eigenleben zu einer Zeit, in der üblicherweise alle Bewohner des Hauses schliefen, denn nur dann waren die Dinge unbeobachtet.
Stirnrunzelnd verscheuchte d'Artagnan diesen letzten Gedanken und stellte dabei fest, dass er unmerklich den Atem angehalten hatte. "Was für ein Unsinn", murmelte der Leutnant leise und zuckte doch bei dem plötzlichen Knallen einer Peitsche zusammen. Keinen Augenblick später hörte man aus dem Hof eine Kutsche davon rumpeln und irgendwer schloss das große Tor hinter dem Gefährt. Dumpf vielen die Flügel ins Schloss und verschluckten das letzte Geräusch der sich entfernenden Kutsche. Das Hôtel blieb allein zurück.
Mit ein wenig erzwungener Gelassenheit griff d'Artagnan nach den Schreibutensilien und tunkte die Feder in Tinte ein. Er studierte sehr konzentriert die Wachliste und beschloss, sich nicht länger von einem reichlich einsam wirkendem Raum ablenken zu lassen. Ganz so verlassen war das Arbeitszimmer schließlich nicht und bald schon erfüllte wieder das gewohnte Kratzen eines Federkiels auf Papier die Stille.
Der Leutnant hatte gerade erst wenige Zeilen niedergeschrieben, als ein kalter Luftzug die Kerzenflamme heftig aufflackern, und beinahe verlöschen ließ. Die Tür zum Arbeitszimmer knarrte und fiel wieder zurück ins Schloss - im gleichen Moment ließ auch der Luftzug von der Kerze ab und eine kleine, in ein weißes Nachthemd gekleidete Gestalt stand unmittelbar vor dem Schreibtisch. Große Augen starrten unter einer wirren Lockenpracht zu d'Artagnan empor und schienen ihm stumm etwas mitteilen zu wollen.
Eine ganze Weile starrte der Leutnant nur zurück, bevor er sich wieder einigermaßen gefasst hatte. Indem er den Federkiel sehr behutsam beiseite legte und auch sonst keine allzu hastige Bewegung machte, um den kleinen Henri-Josèphe nicht noch weiter zu verunsichern, fragte er: "Ja?" mit eher gedämpfter als sanfter Stimme und musste sich ein wenig vorbeugen, um die beinahe tonlos geflüsterte Antwort des Jungen verstehen zu können, der bis auf sein Nachthemd nur noch ein paar wollene Socken an den Füßen trug. "Ich habe Durst."
Erleichtert, dass Henri-Josèphe nicht aus irgendeinem ernstlicheren Grund sein Bett verlassen hatte, zwinkerte d'Artagnan dem Jungen aufmunternd zu. "Dann wollen wir doch etwas dagegen unternehmen", erhob er sich von seinem Platz und schritt Richtung Tür des Arbeitszimmers. Fast ohne einen Laut auf seinen Strümpfen zu verursachen, folgte Henri-Josèphe dem Leutnant dicht auf und überrascht stellte d'Artagnan fest, dass er den Jungen bei der Hand genommen hatte, bevor sie beide die weitläufige Aufgangstreppe erreicht hatten.
Die Lichter waren in der Halle noch nicht gelöscht worden, wohlwissend, dass sich noch mindestens eine wache Person im Hôtel befand. Die Wirtschaftsräume befanden sich im Erdgeschoss und d'Artagnan schlug den Weg zur Küche ein, in der Hoffnung, dort schon irgendetwas trinkbares für den Jungen auftreiben zu können. Natürlich lag die Küche selbst in völligem Dunkel, darum löste der Leutnant einen Kerzenhalter von der Wand, bevor sie den Raum betraten und dort übernahm dann zielsicher Henri-Josèphe die Führung. Auf einem Tisch im hinteren Teil des Raumes stand eine Kanne und als d'Artagnan ihren Deckel hob und hineinsah, erkannte er die letzten Rest der frischen Milch von heute Morgen. Zumindest musste sie vom Morgen sein, denn die Milch roch nicht verdorben und in einem Schrank fand sich schließlich auch noch ein Becher für Henri-Josèphe, der erst jetzt die Hand des Musketiers losließ und sich an den Tisch setzte.
Der Junge trank in kleinen Schlucken und geduldig wartete d'Artagnan, bis der Becher geleert war. Es hieß, Milch beruhige und danach könne man besser schlafen. Für diese vorgerückte Stunde schien Henri-Josèphe noch sehr munter zu sein und Beine baumelnd sah er sich in der Küche um, aus der sich tagsüber die herrlichsten Düfte im ganzen Haus verteilten. "Clodine gibt uns manchmal einen Kanten frisches Brot", meinte der Junge unvermittelt, "und dazu macht sie uns eine heiße Schokolade. Wisst Ihr, wie heiße Schokolade schmeckt?"
"Nein. Wie schmeckt sie denn?" ließ sich der Leutnant auf dieses Spiel mit ein und lehnte sich gegen den Tisch.
"Bitter. Und gleichzeitig süß. Ist das nicht eigenartig? Mein Vater sagt, Clodine macht die beste heiße Schokolade auf der ganzen Welt."
"Das will ich gerne glauben", schmunzelte d'Artagnan amüsiert. "Sie hat sicherlich ein besonderes Rezept."
"Ohja!" freute sich Henri-Josèphe offensichtlich darüber, dass ihm ernsthaft zugehört wurde. "Sie mischt immer Sahne mit herein und streut etwas zerriebene Schokolade darüber. Das schmeckt soooo gut." Der Junge breitete die Arme aus, um ganz genau zu zeigen, wie gut das Getränk schmeckte, damit sich der Leutnant auch eine Vorstellung machen konnte.
"Ich fürchte, mein Bruder übertreibt, Monsieur."
Unbemerkt vom Leutnant und dem Jungen, hatte Armand die Küche betreten, selbst nur im Nachthemd, über das er einen Morgenrock gestreift hatte, und Pantoffeln, und schlängelte sich nun an den übrigen Tischen und Bänken vorbei zu den beiden Überraschten. "Solltet Ihr nicht schon längst wieder im Bett sein, statt hier zu plaudern, mon frère?"
"Ach, spiel dich nicht so auf, Armand!" gab Henri-Josèphe recht patzig zurück und d'Artagnan sah sich gezwungen, einzugreifen. "Mir scheint, die jungen Herren sollten sich beide nicht mehr hier aufhalten."
Armand streifte den Leutnant mit einem kühlen und hochmütigem Blick, hob dann aber die Schultern. "Ich wollte nur nach dem Lärm aus der Küche sehen, denn normalerweise sollte sich niemand hier aufhalten."
D'Artagnan verbiss sich die Bemerkung, was denn der tapfere Monsieur de Tréville fils nun gedachte zu unternehmen, da er doch zwei Unruhestifter in seiner Küche dingfest gemacht hatte, doch ermahnte sich der Leutnant gerade rechtzeitig, es hier nur mit einem Kind zu tun zu haben, das seine Grenzen bei einem neuen... Aufpasser - der noch dazu der Untergebene seines Vaters war - auskundschaftete. Aus diesem Grund nickte d'Artagnan dann auch nur und meinte: "Sehr Recht. Zurück in die Betten mit euch!"
Henri-Josèphe rutschte gehorsam von seinem Stuhl und auch Armand schien zu erkennen, es hier nicht mit Richard, sondern einem Mann zu tun zu haben, dessen Befehlen besser gehorcht werden sollte. Trotzdem gab sich der ältere der beiden Brüder ganz als Herr der Lage und schritt stolz erhobenen Hauptes voran, als führe er nun zwei Missetäter zurück. Der Leutnant schüttelte nur leicht den Kopf, ließ Armand jedoch gewähren, solange die Kinder nur wieder in ihre Zimmer zurückkehrten und er selbst dann diese Wachliste zu Ende bringen konnte.
Oben im Haus war es schon dunkel, darum stellte d'Artagnan den Kerzenhalter nicht zurück an seinen angestammten Platz, sondern nahm ihn mit nach oben. Henri-Josèphe trottete brav hinter seinem Bruder her und endlich im Zimmer angekommen, kletterte er zurück in sein Bett. Armand übernahm es, seinen Bruder gut zuzudecken und wandte sich dann zu dem Leutnant um, als wolle er ihn jetzt höflich, aber bestimmt verabschieden. "Was machst du hier?" fragte er allerdings eher entgeistert an d'Artagnan vorbei irgendwo in die Dunkelheit des Flures hinein.
"Ich will nur sehen, warum meine Herren Brüder um diese Zeit noch nicht schlafen, sondern durch das Haus schleichen", antwortete eine helle Stimme und Francoise trat in den Lichtkegel der Kerze. Sie begrüßte den Leutnant mit einem freundlichen Lächeln und schlüpfte an ihm vorbei ins Zimmer der Jungen. Dort sah sie sich prüfend um, als gäbe es irgendein Geheimnis zu entdecken und schließlich meinte sie entschuldigend zu d'Artagnan: "Ich hoffe, die beiden haben Euch keine Unannehmlichkeiten bereitet, Monsieur. Nur nehmen sie es mit dem Gehorsam nicht immer so genau."
"Solltest du nicht in deinem eigenen Zimmer sein?" knurrte Armand, doch seine Schwester lachte nur leise. "Eigentlich sollte ich heute Abend gar nicht hier sein, doch Mutter meinte, ich müsse auf meine Brüder aufpassen. Sie sind doch noch so klein."
"Du darfst nicht mit auf den Ball, du bist ja selbst noch zu klein", mischte sich nun noch Henri-Josèphe von seinem Bett aus ein und seine Schwester hob tadelnd eine Hand. "Ich bin auf jeden Fall alt genug, so vernünftig zu sein und zu erkennen, dass ich unsere Eltern erst auf das nächste Fest begleiten darf, während ihr beide schön behütet bei Clodine bleibt."
"Clodine ist nicht hier", fauchte Armand seine Schwester an und ein weiteres Mal innerhalb weniger Minuten sah sich d'Artagnan gezwungen, einen geschwisterlichen Streit zu beenden. "Jetzt ist genug! Marsch zurück in eure Betten, bevor ich eurem Vater hiervon erzählen muss. Er wird nicht sehr erfreut sein, wenn seine Kinder noch nach Mitternacht durch die Räume geistern."
Leider schienen diese Worte nicht eben sehr einschüchternd oder gar überzeugend auf die drei Angesprochenen zu wirken, sondern eher ihren Trotz zu wecken. "Wir geistern nicht durch die Räume, sondern gehen lediglich durch unser Haus", widersprach hochmütig Armand und Francoise fügte hinzu: "Wenn Henri-Josèphe doch durstig ist, warum sollte er da nicht aufstehen und sich etwas zu trinken holen dürfen?" und auch der Jüngste der Trévilles stimmte gleich seiner Schwester zu, indem er laut "Genau, genau!" rief.
D'Artagnan seufzte lautlos. Natürlich, Einigkeit der Geschwister gegen den Feind. Hatte ihr Vater nicht versprochen, die Kinder würden friedlich schlafen? Anscheinend eine weitere Kriegslist... "Bist du noch durstig, Henri-Josèphe?" fragte der Leutnant mit erzwungener Ruhe und der Achtjährige schien einen Moment angestrengt zu überlegen, sah zu seinen Geschwistern und wieder zurück zum Leutnant, bevor er dann leicht den Kopf schüttelte.
"Gut", nickte d'Artagnan und wandte sich dann an Francoise. "Mademoiselle, wie Ihr seht, müsst Ihr Euch nicht um Euren Bruder sorgen, sondern könnt beruhigt in Euer Zimmer zurückkehren. Was nun das Gehen durch Euer Haus betrifft, Armand, so werdet Ihr sicher meiner Meinung sein, dass es zu dieser nachtschlafenden Zeit für Euch keine wichtigen Dinge mehr zu erledigen gibt, um die sich nicht auch am nächsten Morgen gekümmert werden könnte. Ich werde gleich die Lichter löschen und in einem dunklen Haus gibt es ohnehin nichts interessantes zu sehen."
Einen Moment lang herrschte sprachlose Stille im Zimmer, doch gerade, als d'Artagnan erleichtert glaubte, nun endlich ein unumstößliches Machtwort gesprochen zu haben, meinte Armand ein wenig unsicher: "Ihr könnt die Lichter nicht löschen."
"Ja, Ihr dürft es nicht", fügte Francoise bekräftigend hinzu und der Leutnant hob verwundert eine Augenbraue. "Warum dürfte ich das nicht?"
"Weil es dann im Haus ganz dunkel ist", piepste Henri-Josèphe von seinem Bett her. "Es soll nicht ganz dunkel sein."
"Er hat Angst im Dunkeln", machte Armand eine wegwerfende Handbewegung, doch Francoise spöttelte: "Ihr etwa nicht, mon frère?"
"Nicht im Mindesten!" gab der Zehnjährige bestimmt zurück und beinahe wäre es zu einem weiteren Streit zwischen den Geschwistern gekommen, wenn d'Artagnan nun nicht gesagt hätte: "Aber hier im Zimmer ist es doch auch dunkel."
"Hier sind wir aber zu Zweit und ich beschütze meinen Bruder", erklärte Armand, indem er zu Henri-Josèphes Bett trat und sich auf die Kante setzte. "Aber wenn er nun noch einmal Durst bekommt? Oder wenn er aus einem anderen Grund raus muss? Dann wird er im Bett liegen bleiben bis die Sonne wieder aufgeht."
"Ja, das könnt Ihr doch nicht verantworten. Wenn Vater davon erfährt..." unterstützte Francoise ihren Bruder und d'Artagnan war einmal mehr davon überzeugt, es hier mit einem gefährlich schlauem Trio zu tun zu haben, dem er nicht recht gewachsen war. "Dann bleiben die Lichter eben an, aber nur, wenn ihr jetzt zurück unter eure Decken kriecht."
Armand hob kurz die Schultern, tat dann aber, was von ihm verlangt wurde, während Francoise zu Henri-Josèphe hinüberging und ihrem kleinen Bruder ein wenig das Haar verwuschelte. "Du musst keine Angst haben, ja?"
"Erzählst du mir noch eine Geschichte? Dann hab ich keine Angst-"
"Ich weiß nicht... Ich muss doch zurück in mein Zimmer. Aber vielleicht erzählt dir Monsieur d'Artagnan noch eine Geschichte zum Einschlafen?" Fragend, beinahe vorwurfsvoll sah Francoise zum dem Musketier, der sich endgültig geschlagen gab. "Ich bin nicht sehr gut, im Märchen erzählen."
"Oh, das macht nichts. Ich helfe Euch", klatschte Francoise vergnügt in die Hände und schlüpfte zu ihrem kleinen Bruder unter die Decke, während von der anderen Seite des Raumes ein entnervtes Seufzen Armands zu hören war. Doch schwieg der Zehnjährige, vielleicht war er selbst neugierig darauf, was der Leutnant nun zum Besten geben und ob er sich lächerlich machen würde.
Ein weiteres Mal sah sich d'Artagnan von den Kindern überrumpelt, doch blieb ihm nichts anderes übrig, als das Beste aus dieser Situation zu machen und zu hoffen, dass dann endlich wieder Ruhe herrschen würde. Also stellte er die Kerze auf der Fensterbank ab und rückte sie ein Stück vor. Der Wind draußen hatte noch an Stärke gewonnen und musste eine Ritze im Holz entdeckt haben, denn zu dicht an der Glasscheibe flackerte die Flamme unruhig. Sich selbst ließ der Leutnant in einem Sessel nieder und drei Augenpaare sahen gespannt zu d'Artagnan, der sich ein wenig verlegen räusperte und dann versuchte daran zu erinnern, was ihm in seiner Kindheit selbst für Geschichten erzählt worden waren. Bis auf verschiedene Titel fiel ihm allerdings nichts ein, die Inhalte der Märchen hatten nur gemeinsam, dass eine holde Prinzessin von einem tapferen Prinzen gerettet wurde und sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage waren. Wenn sie nicht gestorben sind, hieß das. Und alle fingen mit den gleichen Worten an. "Es war einmal in einem Königreich-"
"Wann?" fragte Henri-Josèphe und seine Schwester stupste ihn an. "Das ist doch nicht wichtig. Vor langer, langer Zeit in einem Königreich."
"Welches Königreich."
"Ein Königreich weit, weit entfernt von hier."
"Oh", staunte Henri-Josèphe über das Wissen seiner Schwester und aus der Richtung von Armands Bett war ein unterdrücktes Kichern zu hören. Unbeeindruckt fuhr d'Artagnan fort: "Es war einmal vor langer, langer Zeit in einem Königreich weit, weit entfernt von hier, da lebte eine hübsche Prinzessin-"
"Wie hieß sie?" unterbrach erneut der Achtjährige nach und diesmal war es Armand, der antwortete: "Wahrscheinlich Annabelle."
"Bestimmt nicht. Eine Prinzessin heißt nicht Annabelle."
"Sicher hieß sie auch nicht Francoise!"
"Woher willst du das wissen, erzählst du die Geschichte?" zischte das Mädchen zurück. "Sie heißt bestimmt Francoise! Das ist doch so, oder Monsieur d'Artagnan?"
"Ha, wahrscheinlich hieß der Drache, der die Prinzessin entführt hat Francoise", rief Armand und seine Schwester warf ihm empörte Blicke zu. "Und der Prinz, der die Prinzessin retten wollte, hieß wahrscheinlich Armand. Aber der Drache hat ihn gefressen."
"Stimmt das?" fragte Henri-Josèphe an den Leutnant der Musketiere gewandt, der sich mit einem Schlage sehr, sehr müde fühlte. "Ja, wahrscheinlich stimmt das..."
"Dann ist es eine dumme Geschichte", befand der jüngste Tréville und seine Geschwister nickten zustimmend.
"Langweilig ist sie noch dazu", entschied Armand. "Damit beeindruckt man nur kleine Kinder."
"Heute ist doch der 31. Oktober. Geisternacht. Erzählt uns eine Gruselgeschichte!" bat Francoise und ihre Brüder nickten zustimmend.
"Eine Gruselgeschichte? Ich glaube nicht-", versuchte d'Artagnan, sich irgendwie aus seiner prekären Lage zu befreien, doch ließ man ihn erneut nicht ausreden. "Aber eine wahre Geschichte!" verlangte Armand. "Mit Spuk, Furcht, Angst und Schrecken. Leichen, Mördern und Geistern..."
"Es gibt keine Geister", wies Francoise ihren Bruder zurecht, aber diesmal war es Henri-Josèphe, der widersprach. "Natürlich gibt es Geister. Ich habe schon mal einen gesehen."
"Ach? Hat er auch mit den Ketten gerasselt und "buh!" gerufen?" spöttelte Armand und sein kleiner Bruder schüttelte bestimmt den Kopf. "Natürlich nicht! Aber er hat mich ganz traurig angeguckt."
"Henri-Josèphe hat Recht."
Schlagartig wurde es still im Zimmer und wieder richteten sich drei Augenpaare auf d'Artagnan, der sich bequem im Sessel zurücklehnte, aller Aufmerksamkeit der Kinder sicher. Draußen heulte der Wind und drückte gegen die Fensterscheibe, als wäre er verärgert darüber, dass all sein Toben nicht ausreichte, Schabernack mit der Kerzenflamme zu treiben. Der Leutnant ließ sich Zeit damit, weiterzusprechen und als er es Tat, hatte seine Stimme einen dumpfen Ton angenommen, als wollte er es vermeiden, dass man ihn hörte. "Ja, Henri-Josèphe hat einmal einen Geist gesehen. Hier im Haus, nicht wahr?"
Der Achtjährige nickte stumm und kuschelte sich näher an seine Schwester. Kein Wort fiel von Seiten der Kinder und so fuhr d'Artagnan langsam fort. "Habt Ihr Euch denn nie gewundert, was über dem zweiten Stock in diesem Haus geschieht?"
"Über uns gibt es keine weitere Etage", gab Armand zurück, doch mit unsicherer Stimme.
"Nein, natürlich nicht", grinste der Leutnant humorlos. "Nur scheint ihr auch noch nicht bemerkt zu haben, dass das Dach von der Straße aus gesehen sehr viel höher ist, als die Decke des zweiten Stockwerkes reicht."
"Das stimmt", flüsterte Francoise ihren Brüdern zu. "Es wäre genügend Raum, um noch ein weiteres Stockwerk anzufügen."
"Aber es müsste doch eine Treppe nach oben geben", vermutete Armand und sah fragend zu d'Artagnan, der lange Augenblicke zögerte, bevor er schließlich nickte. "Die gibt es auch. Am Ende dieses Flures, ihr müsstet nur nach oben blicken. Normalerweise ist die Treppe unsichtbar und versiegelt. Aber heute ist der 31. Oktober..."
"Geisternacht..." kam es wie aus einem Mund von den drei Kindern.
"Hat euer Vater euch nicht verboten, in die hinteren Teile des Hauses zu gehen?"
"Nein."
"Aber direkt erlaubt hat er es uns auch nicht", gab Armand zu bedenken. "Dort hinten sind nur ein paar ungenutzte Gästezimmer, da gibt es nichts interessantes."
"Darum gehen wir fast nie bis zum Ende des Flures", nickte Francoise und der Leutnant brummte verstehend. "Dort gibt es in der Tat nichts interessantes. Aber nun ist es schon Mitternacht und bis um ein Uhr ist Geisterstunde. Es gibt eine Etage über dieser hier. Nur wird sie nie betreten, denn dieses Hôtel war nicht immer im Besitz eurer Familie. Dort oben lagern die letzten Gegenstände der alten Bewohner. Oh doch, es gibt Geister. Und sie lieben es nicht, wenn man ihren letzten Besitz betritt. Ihr dürft hier wohnen und sie lassen euch in Ruhe, wenn ihr sie in Ruhe lasst. Nur einmal... einmal hat euer Vater, es ist schon einige Jahre her, diese Treppe gefunden. Er war neugierig, wohin sie wohl führte, denn es war der 31. Oktober, eine stürmische Herbstnacht. Alle Lichter waren schon gelöscht worden, nur euer Vater trug noch eine Kerze mit sich und er sah nach oben. Er sah die Treppe und er stieg sie hinauf..."
"Was ist dann passiert?" fragte Francoise beinahe tonlos.
"Er fand das verschwundene Stockwerk. Seit Jahren hatte es niemand mehr betreten, überall lag Staub, die Luft roch stickig. Im schwachen Licht der Kerze war nur wenig zu erkennen. Aber an diesem Abend hat Henri-Josèphe einen Geist gesehen..."
Der Achtjährige kauerte sich tiefer in seine Decke und seine Schwester strich ihm beruhigend über die Wange. D'Artagnan sah in Richtung des Fensters, ohne wirklich hinauszublicken und erzählte leise weiter: "Es war der Geist des früheren Hausherrn, der in seiner Ruhe gestört worden war. Wie euer Vater seine Familie aufschreckte, indem er dieses Stockwerk betrat, kam der Geist wie ein Schatten hinunter zur Familie des Monsieur de Tréville..."
"Was hat er getan?"
"Er hat sich umgesehen. Er wollte wissen, wer die Eindringlinge in seinem Haus sind. Und er fand Henri-Josèphe. Ein unschuldiges Kind von wenigen Jahren, dass sich in das Zimmer seines Vaters geschlichen hatte, weil er einen bösen Traum hatte und etwas Trost suchte", wandte sich der Leutnant wieder seinen Zuhörern zu. "Das war ein großes Glück. Der Geist sah blass aus, nicht wahr, Henri-Josèphe?"
Erneut nickte der Junge. "Er war ganz bleich. Ich habe ihn nicht direkt gesehen, aber sein Bild im Spiegel. Ich habe ihn angeguckt und er hat zurückgesehen. Und dann verschwand er! Papa kam ins Zimmer und dann verschwand er."
"Er ist wieder zurück in seine eigene Etage gegangen, nachdem euer Vater sie verlassen hatte. Du hast den Geist im Spiegel gefangen, Henri-Josèphe, solange, bis er zurückkehren konnte. Und darum sollt ihr heute Nacht schlafen, bis die Geisterstunde vorüber ist. Dann geschieht nichts, denn wer schläft, kann nicht bis zum Ende des Flures gehen und nach oben sehen..."
Allein das Pfeifen des Windes, der sich in einer Ritze am Fenster verfangen haben musste, war in dem Zimmer zu hören. Als erstes löste sich Armand mit einem kleinen Schaudern aus seiner Erstarrung. "Das ist doch Unsinn", behauptete er. "Woher wollt Ihr das wissen?"
"Weil ich dabei war", hob der Leutnant kurz die Schultern. "Es war ein später Abend, so wie jetzt und wie heute, so gab es auch vor einigen Jahren noch eine Änderung vorzunehmen, die nicht bis zum Morgen warten konnte. Ich habe den Hauptmann der Musketiere gesucht und ihn erst gefunden, als er die Treppe wieder hinunter kam." D'Artagnan schüttelte kurz den Kopf, als wolle er eine unangenehme Erinnerung auf diese Weise vertreiben. Wie für sich selbst murmelte er: "Ich habe Monsieur de Tréville noch nie so erschrocken gesehen und er lief fast, um zu seinem Zimmer zu gelangen. Dort fand er Henri-Josèphe und es dauerte lange, bis er ihn wieder beruhigt hatte. In dieser Nacht wurden keine Änderung mehr vorgenommen..."
Das Schweigen im Zimmer dauerte an, doch schließlich erhob sich der Leutnant aus dem Sessel. "Nun, wie auch immer. Es ist schon spät, ihr solltet endlich schlafen."
"Kann Francoise heute Nacht hier bleiben?" flüsterte Henri-Josèphe und hielt die Hand seiner großen Schwester, um sie nicht gehen zu lassen. Zum ersten Mal fragte sich d'Artagnan, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war, diese Schauergeschichte den Kindern zu erzählen. Tréville würde ihm den Kopf abreißen, wenn seine Kinder heute Nacht nur noch von Alpträumen geplagt wurden, also lächelte der Leutnant beruhigend. "Natürlich. Ich lasse euch die Kerze hier, sie sollte noch bis morgen früh brennen oder ihr löscht sie, wenn das Licht euch stört. Ich werde im Arbeitszimmer sein", verabschiedete sich d'Artagnan an der Tür und verließ den Raum leise.
Die Kinder lauschten, wie die Schritte des Leutnants ihn den Gang zurück nach unten und über die Treppe zum Arbeitszimmer führten. Erst, als dort die Tür schlug, sahen sich die Geschwister an. "Also, wer kommt mit, um nachzusehen?" fragte Francoise betont fröhlich und unbekümmert in die Runde hinein. "Was nachzusehen?" piepste Henri-Josèphe an ihrer Seite und Armand schnaubte ungeduldig. "Du glaubst diesen Unsinn doch nicht etwas, Francoise!"
"Natürlich glaube ich ihn nicht! Aber ich bin neugierig. Ich werde sehen, ob es da tatsächlich eine Treppe gibt." Entschlossen schwang das Mädchen die Bettdecke beiseite und stand auf. Ungewollt zog sie dabei ihren kleinsten Bruder mit, der noch immer nicht ihre Hand losgelassen hatte und sich nun an ihr Nachthemd klammerte, als könne er seine Schwester so von ihrem Plan abbringen. Sie ging allerdings unbeirrt zur Zimmertür und Henri-Josèphe folgte ihr widerstrebend. Eine Hand schon auf der Klinke, wandte sie sich Armand noch einmal zu. "Du kannst ja hier bleiben, wenn du zuviel Angst hast."
"Pah!" rief Armand und schwang die Beine aus dem Bett. Er schlüpfte in seine Pantoffel und trat dann an seiner Schwester vorbei als erstes hinaus auf den dunklen Flur. Das Licht von der Eingangshalle war hier nur noch schwach zu sehen und es dauerte einen Augenblick, bis sich die Augen des Jungen an die schlechte Sicht gewöhnt hatten. Er lauschte in den Gang hinein, doch alles blieb still. Hinter ihm standen seine Geschwister und warteten darauf, dass er losgehen würde. "Einen Moment", flüsterte er und kehrte ins Zimmer zurück. Als er wieder herauskam, hatte er den Kerzenhalter in der Hand und leuchtete den Flur hinunter.
"Es sieht alles normal aus", flüsterte Francoise hinter ihm und Armand beschloss, mutig voranzuschreiten, statt zu antworten. Seine Geschwister folgten ihm dicht auf, Henri-Josèphe an der Hand seiner großen Schwester, den Flur hinunter, der sich lang und länger nach hinten erstreckte. Mit dem Kerzenlicht konnten die Kinder nur zwei oder drei Schritte weit sehen und der sonst so vertraute Gang schien etwas bedrohliches zu gewinnen, während die Geschwister von Tür zu Tür an den Gästezimmern vorbeischlichen, hinter denen ebenfalls nichts anders als stille Dunkelheit lauerte.
"Hier ist er zu Ende...", hielt Armand plötzlich an und deutete nach vorne, wo das Kerzenlicht auf eine holzvertäfelte Wand fiel. Seine Schwester legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte ihn kurz. "Oben also..." flüsterte sie und Henri-Josèphe wimmerte leise.
"Sei kein Hasenfuß!" fuhr Armand seinen Bruder an, doch schlug auch ihm das Herz nicht allein vor Wut bis zum Hals. "Dann schau doch!" schimpfte Henri-Josèphe zurück und vergaß für einen Moment seine Ängstlichkeit.
"Ja, das werde ich auch tun", gab Armand zurück und starrte weiterhin die Wand an.
"Du musst die Kerze etwas höher halten, ich kann nichts sehen", meinte Francoise und der Zehnjährige zuckte erschrocken zusammen. Er wandte sich zu seiner Schwester um, die angestrengt nach oben an die Decke starrte und folgte ihrem Blick. Tatsächlich, es war zu dunkel.
"Ob vielleicht ein Uhr schon vorbei ist?" fragte Henri-Josèphe gedankenverloren und bekam keine Antwort, denn Armand hatte den Kerzenleuchter mit weit ausgestrecktem Arm über seinen Kopf gehoben und musterte interessiert die Decke.
"Ich glaube nicht..." murmelte Francoise und nahm ihrem Bruder das Licht ab. "Bitte halte das, Henri", drückte sie dem Bruder die Kerze in die Hand. "Ich mache Räuberleiter."
Armand nickte und stellte einen Fuß in die gefalteten Hände seiner Schwester. Mit ein wenig Schwung und etwas Hau-Ruck wurde er in die Höhe gestemmt. "Du musst das Licht höher halten, Henri-Josèphe, ich kann nichts erkennen."
Der Achtjährige tat, wie ihm geheißen und starrte selbst nach oben, doch mehr, als das sein großer Bruder an der Deckte irgendetwas herumfingerte, konnte er nicht sehen. Nach einigen Augenblicken schließlich rief Armand: "Ich hab es!" und zog mit einem kräftigen Ruck etwas aus der Decke. Für Francoise war dieser Ruck jedoch eine Anstrengung zuviel gewesen und ihr Hände lösten sich. Mit einem erschrockenen Schrei fiel Armand nach unten und riß seine Geschwister gleich mit sich zu Boden, während über ihnen die Decke rumpelte und dann einstürzte.
Erst nach einigen, atemlosen Augenblicken wagte es Armand, wieder aufzusehen. Die Kerze war ausgegangen und wenn es auch nicht stockduster war, so brauchte es doch eine ganze Weile, bis der Junge soweit die Umrisse erkennen konnte, dass er beruhigt aufatmete. "Alles in Ordnung", raunte er seinen Geschwistern zu, die sich auch nach und nach wieder aufrappelten. Armand lauschte ein weiteres Mal in den Gang hinein, doch anscheinend hatte d'Artagnan den Lärm nicht gehört, zumindest eilten keine Schritte durch das Haus zu den Kindern. "Es war nur die Treppe."
Erst jetzt wurde ihm klar, was er gesagt hatte. Sie hatten tatsächlich die Treppe gefunden! Nunja, vielmehr war es eine Leiter, die sich ausgeklappt hatte, nachdem Armand den Riegel von der Decke gelöst hatte.
"Wir haben sie tatsächlich gefunden", flüsterte Francoise begeistert und umarmte spontan den kleinen Henri-Josèphe, der nicht sonderlich glücklich dreinsah. "Was ist, wenn jetzt der Geist wiederkommt und dieses Mal nicht verschwindet?"
"Red nicht so dumm daher", ermahnte Armand ihn. "Es gibt keine Geister und was du damals gesehen hast, das hast du dir nur eingebildet nach deinem Alptraum. Ich hätte ihn ja auch sehen müssen und Francoise auch."
"Aber ich hatte ihn doch im Spiegel gefangen", erwiderte Henri-Josèphe unsicher und sein Bruder schüttelte den Kopf. "Es war nur eine Geschichte, ein Schauermärchen. Und nicht einmal eine besonders gute."
"Kommt ihr beiden nun, oder unterhaltet ihr euch noch den Rest der Nacht?" fragte Francoise ungeduldig von oben. Sie hatte bereits ein gutes Stück der Leiter erklommen und es fehlten nur noch zwei Sprossen, bis sie den Kopf durch die Öffnung in der Decke stecken konnte.
"Siehst du etwas?"
"Heute ist zwar eine stürmische, aber wolkenlose Nacht, Armand. Der Mond scheint hier heller in den Raum, als es eine Kerze könnte."
"Klettere weiter, ich will es auch sehen!"
"Bitte, geht nicht da rauf", flehte Henri-Josèphe leise von unten, als Francoise sich an den Kanten hochzog und auf den Rand setzte. "Hier ist nichts gefährliches, Henri. Nur ein muffiges, altes Dachgeschoss voller Gerümpel. Aber du kannst ja Wache halten."
Der Achtjährige nickte langsam und kauerte sich dann gegen die Flurwand, während nun auch noch sein Bruder die Leiter erklomm und über dem Rand der Öffnung verschwand.
Armand staunte nicht schlecht, als er sich in dem weitläufigem Raum wiederfand. "Sind wir direkt unter dem Dach?"
"Es scheint so", merkte Francoise an, indem sie noch ein paar Schritte weiter ging und sich staunend umsah. "So würde es wohl bei uns unten aussehen, wenn wir keine Wände hätten. Ist das groß!"
"Nur, das wir keine schrägen Fenster haben", scherzte Armand und fröstelte etwas. "Es ist kalt hier oben. Und es zieht."
"Hier kann wirklich schon lange niemand mehr gewesen sein", gab Francoise leise zurück und wischte mit einem Finger über einen rundlichen Gegenstand, von dem sie nicht genau sagen konnte, was er darstellen sollte. Dunkler, schmieriger Staub blieb auf ihrer Fingerkuppe zurück und das Mädchen verzog angewidert das Gesicht. "Das ist wirklich nur eine große Rumpelkammer."
"Was wohl dahinten unter den Tüchern ist?" lief Armand schon in die Richtung, in die er gedeutet hatte und etwas langsamer folgte ihm seine Schwester. "Kommt dir der Dachboden nicht auch viel zu groß vor?" fragte sie ihren Bruder, als sie ihn eingeholt hatte, doch der hob nur kurz die Schultern. "Das bildest du dir ein. Hilf mir lieber."
Gemeinsam zogen und zerrten die Geschwister an den weißen Tüchern, die, wahrscheinlich zum Schutz vor dem allgegenwärtigen Staub über die Gegenstände gelegt worden waren. Dreck wirbelte auf und die Kinder husteten unterdrückt, während sie Tuch um Tuch herunterzogen und jedes Mal neue Schätze entdeckten. Am Ende traten sie beide staunend einen Schritt zurück.
"Damit könnte man eine Wohnung einrichten", flüsterte Armand und betrachtete Sessel, Sofas, Kerzenhalter, Bilder, Spiegel, Schränke, Regale, andere alte Gegenstände und Tische, die unter den Tüchern zum Vorschein gekommen waren.
"Vielleicht sind das die Dinge, die den Leuten gehört haben, die vor uns hier gewohnt haben", überlegte Francoise und schritt die lange Reihe der Dinge hinunter. Vor einem Spiegel blieb sie schließlich stehen. Trotz der Tücher war das Glas milchig vor Staub und mit einer Hand wischte Francoise über die Fläche. Mit einem Aufschrei sprang sie zurück und stolperte ein paar Schritte rückwärts. "Da ist was, im Spiegel!"
"Was?" lief Armand zu seiner Schwester, totenbleich im Gesicht.
"Na dort, im Spiegel! Ein Gesicht, ganz bleich und-"
Ängstlich klammerte sich Francoise an den Arm ihres Bruders, der sich langsam, Schritt für Schritt, zwischen Neugier und Furcht dem Spiegel näherte. Armand streckte zitternd die Finger aus und berührte das kalte Glas nur mit den Kuppen. Vorsichtig und mit klopfendem Herzen wischte er ein wenig Staub fort, dann ein wenig mehr... und schließlich trat er an den "Spiegel" heran und wischte mit dem Hemdsärmel den restlichen Staub ab. Anschließend wandte er sich zu seiner Schwester um und grinste triumphierend. "Das ist kein Spiegel. Das ist ein Portrait hinter Glas."
"Achja? Und warum haben sich seine Augen gerade bewegt und starren dich an?"
Wie von der Schlange gebissen sprang Armand einen Satz nach vorne und wirbelte herum. Einen Augenblick später schoss ihm auch schon das Blut ins Gesicht, als er das glockenhelle, vergnügte Lachen seiner Schwester hörte. "Reingefallen."
Armand kam allerdings nicht dazu, irgendetwas zu erwidern, denn von der Luke auf den Dachboden war plötzlich ein leises Wimmern zu hören und eine helle Stimme rief: "Francoise! Armand!"
"Henri, wir sind hier!" rief Francoise zurück und lief in die Richtung, aus der sie die Stimme ihres Bruder gehört hatte. Aus dem Boden schob sich ein braungelockter Kopf mit schreckensgeweiteten Augen und auch Armand nahm nun die Beine in die Hand, um zu seinem Bruder zu gelangen. Gemeinsam zogen er und Francoise Henri-Josèphe von der Leiter auf den Boden und tröstend strich ihm die Schwester über die Wange. "Was ist denn nur, Henri?"
"Ich habe ihn gesehen, ich habe ihn gesehen..." stammelte der Achtjährige und vergrub sein Gesicht in Francoise Nachthemd. "Wen denn gesehen?"
"Den Geist. Den Geist von damals. Er ist wieder da! Bitte, kommt zurück."
"Wo willst du einen Geist gesehen haben?" fragte Armand und versuchte, seine Stimme möglichst fest klingen zu lassen.
"Na unten, unten im Gang. Er kam ganz dicht heran und ich habe mich an die Wand gedrückt. Es war dunkel und er hat mich nicht gesehen, aber ich habe ihn gesehen. Er ging vorbei. Jetzt ist er bestimmt in unseren Zimmern. Und dann wird er weitergehen. Kommt wieder herunter", schluchzte Henri-Josèphe völlig aufgelöst und Francoise wiegte ihn ein wenig. "Ja, wir kommen wieder. Wir gehen nach unten, in Ordnung? Armand klettert zuerst, dann du und dann komme ich nach, einverstanden?"
Der Achtjährige nickte ein wenig und Armand tat, was seine Schwester bestimmt hatte. Flink war er die Leiter hinuntergeklettert und half seinem Bruder, Sprosse für Sprosse nach unten zu gelangen, bis auch schließlich seine Schwester nachkam.
"Wir sollten die Luke wieder schließen", meinte Francoise, doch es blieb bei dem Vorhaben. Selbst mit vereinten Kräften schafften es die Geschwister nicht, die Leiter soweit nach oben zu stemmen, dass sich der Weg auf den Dachboden wieder schließen ließ.
"Oh nein, oh nein, oh nein", stammelte Henri-Josèphe. "Was machen wir jetzt nur? Der Geist wird nicht verschwinden, wenn die Luke offen bleibt."
"Dann müssen wir eben Monsieur d'Artagnan bitten, sie zu schließen", tröstete Francoise ihren Bruder. "Wir bekommen schon keinen Ärger, weil wir die Betten verlassen haben, wenn wir es ihm erklären."
Ohne die Antwort ihrer Brüder abzuwarten, ging Francoise den Gang hinunter und hastig folgten ihr Armand und Henri-Josèphe, die offensichtlich nicht allein bei der Leiter zurückbleiben wollten. "Sei vorsichtig, Francoise", flüsterte der Jüngste seiner Schwester zu. "Wir müssen an unseren Zimmern vorbei, vielleicht ist der Geist noch dort drinnen."
"Hoffen wir, dass er dort drinnen ist, dann wissen wir, wo er ist."
Fast wäre Armand, kaum dass er diese Worte ausgesprochen hatte, in Francoise hineingelaufen, die urplötzlich angehalten hatte und sich nun auf den Boden kauerte. Ihre Brüder taten es ihr sofort nach und mit einigem Entsetzen musste Armand erkennen, was Francoise so erschreckt hatte. Da vorne war der Geist! Er kam gerade aus dem Zimmer der Brüder, bleich, schwankend und mit einem grauenvollen Stöhnen. Vielleicht lag es an der Dunkelheit im Gang, aber mehr als eine umrisshafte Gestalt konnte Armand nicht erkennen, die den Gang durchquerte und dann ins Zimmer von Francoise eintrat.
"Jetzt, jetzt, los, beeilt euch!" Francoise war schon wieder auf die Füße gesprungen und lief hastig den Gang hinunter, an ihrer Zimmertür vorbei und weiter, bis zur Treppe. Dabei zog sie Henri-Josèphe an der Hand einfach mit sich und Armand folgte ihr so schnell es ging. Eine Tür schlug hinter den Kindern und wieder war dieses Stöhnen zu hören, vielleicht Worte, vielleicht ein enttäuschter Schrei? Waren das humpelnde Schritte, die sie verfolgten? Keiner der Geschwister wollte zurücksehen, um sich zu vergewissern, stattdessen liefen sie weiter und liefen. Die Treppe hinunter in den ersten Stock, vorbei an dem Treppenaufgang der Eingangshalle und geradewegs bis zur Tür des Vorzimmers. Atemlos riss Francoise sie auf und stolperte weiter bis zum Eingang des Arbeitszimmers.
Armand drängte seine Schwester geradezu hinein in den Raum - der verlassen war. Die Kerze brannte noch, ein Federkiel, an dessen Spitze noch Tinte glänzte, lag schreibbereit neben einem Blatt Papier. Nur vom Leutnant war keine Spur. Stattdessen flackerte an der Wand der grauenvolle Schatten eines kopflosen Reiters. Francoise stieß einen spitzen Schrei aus, als sie den Schatten sah und hielt ihrem kleinsten Bruder die Hände vor die Augen. Armand drehte sich langsam in die Richtung, in der sich die Ursache für diesen Schatten befinden musste. Erleichtert atmete er auf, als er ihn auf dem Schreibtisch entdeckte. "Es ist nur das Spielzeug, nur unser kaputtes Spielzeug", beruhigte er Francoise und Henri-Josèphe.
Etwas polterte draußen vor dem Vorzimmer und knarrend öffnete sich dort die Tür. Ohne weiter zu überlegen, liefen die Kinder zum rückwärtigen Teil des Arbeitszimmers, wo hinter einem Wandteppich ein geheimer Ausgang verborgen war. Armand öffnete diese Tür und ließ Francoise und Henri-Josèphe zuerst in den Gang dahinter laufen. Er verschwendete keine Zeit darauf, zurückzusehen, als die Klinke zum Arbeitszimmer heruntergedrückt wurde, sondern warf stattdessen die eigene Tür hinter sich ins Schloss. Gemeinsam hasteten die Kinder weiter durch den dunklen Gang, von dem sie wussten, dass er sie direkt ins Schlafzimmer ihres Vaters führen würde.
So war es dann auch und hinter einem weiteren Wandteppich stolperten die Geschwister in das Schlafzimmer. Armand bedeutete seiner Schwester, ihm zu helfen, die Kommode vor die Tür zu schieben, doch so sehr die Kinder auch zerrten, sie konnten das schwere Möbel nicht einen Deut bewegen. "Dann verstecken wir uns", keuchte Francoise ein wenig atemlos und deutete auf das Bett. "Hier drunter."
Der Überwurf hing bis zum Boden und als Francoise ihn hoch hob, konnten ihre Brüder bequem unter das Bett kriechen. Sie selbst folgte in dem Moment, als humpelnde Schritte vor der eigentlichen Zimmertüre laut wurden und plötzlich erstarben. Langsam schwang die Tür auf und unter der Ritze zwischen Überhang und Boden konnten die Kinder nackte Füße sehen, die in den Raum traten. Henri-Josèphe drückte sich an seine Schwester, die beschützend einen Arm um ihren Bruder legte. Keines der Kinder, wagte zu atmen. Armand drehte ein wenig den Kopf und sein Blick fiel auf den großen Spiegel im Zimmer. Ein Gesicht war darin. Bleich und gespenstisch. Erschrocken sah Armand fort, doch es war zu spät. Das Gespenst hatte ihn ebenfalls entdeckt.
Mit zwei humpelnden Schritten war es am Bett heran und zog den Überhang fort. Erschrocken kreischten die Kinder auf und krochen in die andere Richtung davon. Der Geist war zu langsam, um sie packen zu können und so flüchteten die Kinder auf die noch offenstehende Tür zu. Armand lief voran und wagte es, einen kurzen Blick zurückzuwerfen. Hätte er es doch besser nicht getan, denn so bemerkte er nicht, dass sich in diesem Moment eine weitere Gestalt in die Tür geschoben hatte, gegen die der Junge nun geradewegs prallte. Sein Schwung reichte aus, die Gestalt ein wenig zurückweichen zu lassen, ohne dass sie stolperte. Allerdings hörte Armand sie noch einen deftigen Fluch rufen, bevor seine Schwester und Henri-Josèphe auf ebenso abrupte Weise angehalten wurden, indem sie in ihren Bruder hineinstolperten.
"Mordioux, was macht ihr hier, Kinder?"
Mit einer Erleichterung, von der Armand nicht gedacht hätte, dass er sie einmal so empfinden würde, erkannte er in der Gestalt den Leutnant der Musketiere wieder, der reichlich verärgert die Geschwister musterte. Henri-Josèphe versteckte sich hinter seiner Schwester und rief: "Das Gespenst, das Gespenst! Es ist wieder da, es ist im Zimmer!"
D'Artagnan runzelte verwundert die Stirn und warf dann einen Blick auf das angebliche Gespenst, das humpelnd gerade den Türrahmen erreichte. "Meinst du vielleicht Richard, Henri-Josèphe?" fragte der Leutnant mit einem kleinen Lächeln und deutete auf den armen Diener, der sich erschöpft in den Türrahmen lehnte.
"Richard?" riefen die Kinder wie aus einem Munde und wandten sich zu dem Lakai um, der eine leichte Verneigung andeutete. "Ich soll ein Gespenst sein?"
"Aber wir haben es gesehen!" beharrte Henri-Josèphe. "Ich habe es auf dem Gang gesehen und dann kam es aus unserem Zimmer und ist in Francoises gegangen. Bis zum Arbeitszimmer hat es uns verfolgt!"
"Auf dem Gang, das war ich", nickte der Diener. Ich wollte nachsehen, was der Lärm zu bedeuten hatte und ich entdeckte die Leiter. Nur leider, ich kann im Augenblick nicht klettern, also bin ich zurückgegangen und habe dabei einen Blick in eure Zimmer geworfen. Ihr wart nicht da, also vermutete ich euch auf dem Dachboden. Aber dann seid ihr an mir vorbeigelaufen und ich bin euch gefolgt. Im Arbeitszimmer war ich hingegen nicht, sondern bin hierher gekommen, weil ich doch weiß, wo sich Kinder verstecken, wenn sie Angst haben: Bei ihren Eltern."
"Im Arbeitszimmer, das werde dann ich wohl gewesen sein. Ich hatte es kurz verlassen, um zu sehen, ob ihr auch wirklich gehorcht und in euren Betten bleibt. Allerdings musste ich nicht bis dorthin gehen, denn ich hörte einen spitzen Schrei und kam zurück. Als ich eintrat, war niemand da, doch ich hörte euch in diesem Zimmer toben und bin geradewegs hierher gekommen", schloss sich der Leutnant an und schüttelte leicht den Kopf. "Hier gibt es keine Gespenster, das war nur eine Geschichte. Kommt, Richard hatte heute schon genug Anstrengung und ihm ist ebenso befohlen worden, im Bett zu bleiben."
Die Kinder nickten stumm. Trotz der Erklärung schien ihnen die Angst noch in den Knochen zu stecken und das schlechte Gewissen des Leutnants regte sich einmal mehr. "Ich werde die Luke zum Dachboden schließen, Richard bleibt solange bei euch und passt auf."
"Aber Richard ist doch verletzt", piepste Henri-Josèphe hinter dem Rücken seiner Schwester. D'Artagnan seufzte leise. "Dann gehen wir alle zusammen und schließen die Luke, einverstanden?"
"Ich will nicht dahin zurück. Ich will nicht noch einmal auf den Gang", lehnte Henri-Josèphe vehement diesen Vorschlag ab und ohne ein Wort hinzuzufügen, schienen ihm seine Geschwister zuzustimmen, indem sie näher zusammenrückten.
"Eure Zimmer befinden sich auf dem Gang", meinte d'Artagnan ein wenig hilflos, doch stieß er nur auf taube Ohren.
"Das ist mir ganz gleichgültig! Heute Nacht gehe ich dort nicht mehr hin, nein, nein, nein! Und Richard kann nicht auf uns aufpassen, er ist krank!"
"Nun, da kann man wohl nichts machen", hob Richard beschwichtigend eine Hand und rückte im Türrahmen etwas beiseite, "und mir scheint, ihr Kinder habt bereits eine Lösung gefunden..."
*~*~*~*
Wie es zu erwarten gewesen war, hatten sich die Minuten auf dem Fest endlos dahingezogen und zu Stunden ausgedehnt. Dergestalt schien es Monsieur de Tréville, als die Kutsche endlich wieder auf den Hof des Hôtels rollte, als wäre er nicht für wenige Stunden, sondern gleich ganze Tage von zu Hause fort gewesen. Endlich kamen die Pferde zum Stehen.
Seine Frau schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, als er ihr aus der Kutsche half, doch brachte er selbst nicht mehr als ein müdes Grinsen zustande. Natürlich war das Gesprächsthema auf dem Fest heute das absolut unmögliche, raufboldenhafte Benehmen trunksüchtiger Soldaten gewesen und besonders ein gewisser Baron de Jallabert gab Spitze um Spitze seiner wenig amüsanten Bemerkungen von sich. Das würde Morgen bei seiner Majestät noch heiter werden...
Während Madame de Tréville bereits ins Haus trat, wartete ihr Gatte noch, bis die Pferde abgeschirrt waren, bevor er selbst das Hôtel betrat. Mit einigem Bedauern stellte er fest, während er die Stufen der Aufgangstreppe hinaufstieg, dass ‚Morgen' bereits ‚Heute' war und nur noch wenige Stunden den Tag von der Nacht trennten. Dementsprechend wenig froh gestimmt, schlug der Hauptmann den Weg zum Arbeitszimmer ein, um seinen Leutnant nach Hause zu schicken. Im Haus war alles still und friedlich, was darauf hindeutete, dass die Kinder brav schliefen und d'Artagnan gut auf sie aufgepasst hatte.
Darum beunruhigte es Tréville auch nicht wenig, als er sein Arbeitszimmer verwaist und eine unfertige Wachliste auf seinem Schreibtisch vorfand. Stirnrunzelnd begab sich der Hauptmann zu den Zimmern seiner Kinder, doch auch sie waren verlassen. War Tréville eben noch so müde gewesen, dass er auf der Stelle hätte einschlafen mögen, war er nun mit einem Schlage wieder wach genug, sich reichlich Sorgen um seine Kinder zu machen und mit eiligen Schritten begab er sich zu seinem eigenem Zimmer. Er riss die Tür beinahe auf und sah sich hastig um.
Erleichtert atmete Tréville auf, als er die Kinder in sein Bett gekuschelt entdeckte, Henri-Josèphe in der Mitte und jeweils einen Arm von Armand und Francoise um sich geschlungen. Sie schliefen friedlich - auch welche Weise es auch immer sie angestellt hatten, d'Artagnan, der es sich in einem Sessel in der Ecke bequem gemacht hatte und zufrieden vor sich hinschnarchte, zu überreden, heute Nacht ihrem Vater das Bett zu stehlen.
Mit einem leisen Lächeln und einem belustigtem Kopfschütteln betrachtete Tréville die friedliche Szene noch etwas länger. Bevor er sich entschließen konnte, seinen Leutnant zu wecken und ihn anzuweisen, ihm zu helfen die Kinder in ihre Zimmer zu tragen, legte sich ihm eine Hand auf die Schulter. "Lasst sie schlafen, sie scheinen heute alle einen anstrengenden Tag hinter sich zu haben", flüsterte Madame de Tréville ihrem Mann ins Ohr, der lausbubenfrech grinste und zurückflüsterte: "Und wo soll ich heute schlafen?"
Anne lächelte nur vielsagend und Arnaud schloss leise die Tür.
Ende