O du fröhliche Weihnachtszeit von Athelas 

  Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 17 Bewertungen

Kapitel Menschen, die ihr wart verloren

3. Menschen, die ihr wart verloren

Der Arzt ließ auf sich warten.
Unruhig ging d’Artagnan im Zimmer auf und ab und warf alle paar Sekunden einen Blick auf die reglos daliegende Gestalt seines Freundes. Nur ab und zu bewegte Athos leicht den Kopf und seufzte leise, doch hatte er das Bewusstsein nicht wieder erlangt.
D’Artagnan, so schockiert und betroffen er von der Geschichte seines Freundes gewesen war, hatte rasch gehandelt, als dieser ohnmächtig zusammengesunken war. Er war aus der Wohnung geeilt und hatte mit lautem Klopfen die Vermieterin geweckt, der er eindringlich klar gemacht hatte, dass sie auf der Stelle nach einem Arzt schicken sollte. Danach war er die Treppe wieder hinaufgestiegen, hatte Athos’ schmale Gestalt mitsamt den Decken in seine Arme gezogen und hatte ihn im Schlafgemach in sein Bett gelegt.
Dann hatte er sich ans Fenster gestellt und ungeduldig die Ankunft des Mediziners erwartet. Doch dieser schien an Weihnachten andere Dinge zu bevorzugen, als sich für einen Krankenbesuch zu beeilen.
D’Artagnan schaute bereits zum zehnten Male auf die Uhr und trat dann zu Athos ans Bett. Dessen Gesicht war nicht mehr fahl, wie noch vor einer Weile, sondern vom Fieber leicht gerötet. Der junge Musketier streckte die Hand aus, um die Stirn seines Freundes zu berühren. Besorgt bemerkte er, dass Athos’ Stirn regelrecht glühte, und dass das Fieber noch mehr in die Höhe geschossen war.
„Das kannst du mir nicht antun, mein Freund“, sprach d’Artagnan leise und strich Athos einige Strähnen des schweißnassen Haares aus dem Gesicht. „Hätte ich gewusst, was dich bedrückt, dann hätte ich niemals derart ungehalten reagiert. Ich hätte dich aber auch nicht mit deinen Sorgen allein gelassen, im Gegenteil, ich hätte dich bereits viel früher zur Rede gestellt. Doch wissentlich um deine Sturheit und Verschlossenheit, brauchte es vielleicht diese vermaledeite Krankheit, um dich endlich genügend zu zermürben, dich mir anzuvertrauen. Nur komm jetzt nicht auf die Idee, ich wäre genug Edelmann, um meinen Teil der Abmachung einzuhalten und dich in Ruhe sterben zu lassen! Schlag dir das sofort wieder aus dem Kopf und schaue lieber, dass du wieder gesund wirst, etwas anderes würde ich dir nie verzeihen.“
Während d’Artagnan so auf den Kranken einsprach, merkte er zuerst gar nicht, dass der Arzt eingetreten war. Erst als die Türe laut ins Schloss fiel, wirbelte der junge Musketier überrascht herum und fand sich unvermutet einem dürren, älteren Mann gegenüber. Einzig und allein die mitgeführte Ledertasche, die äußerst seltsam roch, und der nur milde interessierte Blick, den er Athos zuwarf, zeichneten ihn als Mediziner aus.
„Man hat nach mir gerufen“, stellte er beinahe gelangweilt fest, und man sah ihm an, dass er Tausend andere Orte kannte, an denen er Weihnachten lieber verbracht hätte.
D’Artagnan ließ sich davon jedoch nicht beirren und erklärte stattdessen, was vorgefallen war. Der Arzt trat an Athos’ Bett und begann seine Untersuchungen. Der junge Musketier sah angespannt zu, wie der Mediziner sowohl den Puls maß, wie auch das Fieber abschätzte, dem Kranken kurz den Mund öffnete und hineinblickte und schlussendlich sein Ohr auf dessen freie Brust drückte.
D’Artagnan verfolgte das ganze Vorgehen mit beinahe mütterlichem Argwohn, war er doch froh, dass sein stolzer Freund bewusstlos war und sich deshalb nicht beschweren konnte.
Am Schluss drehte der Arzt Athos auf die Seite und wandte sich dann ruhig d’Artagnan zu.
„Nun?“, fragte der junge Musketier ungeduldig.
„Nun“, antwortete der ältere Mann langsam. „Wie Ihr richtig erraten habt, leidet Euer Freund an einem ernsten Fall von Lungenentzündung. Schleim hat sich in und um die Lungen festgesetzt und erschwert ihm die Atmung. Dazu hat er hohes Fieber und erscheint mir allgemein in geschwächtem Zustand. Er trägt diese Krankheit wohl nicht erst seit heute mit sich herum.“
Der Mediziner warf d’Artagnan einen vorwurfsvollen Blick zu und dieser fühlte sich augenblicklich getadelt, zu Recht, wie ihm schien. Doch hielt ihn dies nicht davon ab, in seiner typischen gascognischen Art bereits nach Lösungen zu diesem Problem zu suchen.
„Wie kann man ihm helfen?“, fragte er besorgt.
„Zuerst einmal müsst Ihr dafür sorgen, dass er genügend trinkt. Habt Ihr Teekräuter im Haus?“, fragte der Arzt.
D’Artagnan schüttelte den Kopf und war für einen Augenblick versucht, den Mediziner zu fragen, ob statt des Kräuteraufgusses auch erwärmter Rotwein in Frage käme. Denn in diesem Fall würde Athos bestimmt genug trinken. Aber als den jungen Musketier erneut ein missbilligender Blick traf, hielt er es für besser, den Mund zu halten.
„Nun“, fuhr der Arzt fort und hielt seine Augenbrauen erhoben, „ich werde Euch einige Kräuter hier lassen, die eine fiebersenkende und schmerzlindernde Wirkung besitzen. Einen Aufguss davon flösst Ihr dann Eurem Freund in regelmäßigen Abständen ein. Es ist wichtig, dass das Fieber ihn nicht völlig austrocknet.“
D’Artagnan nickte und wartete unruhig auf weitere Anweisungen, doch der ältere Mann schwieg beharrlich.
„Ist dies alles?“, fragte d’Artagnan schließlich.
Ein strafender Blick traf ihn sogleich.
„Nein, natürlich ist dies nicht alles, ansonsten hättet Ihr ein Kräuterweib zu Rate ziehen können, anstatt einen Kundigen, der sich jahrelang in den Wissenschaften der Medizin geschult hat.“
D’Artagnan biss sich auf die Lippen und zählte innerlich bis zehn. Der Arzt machte erneut eine ausschweifende Pause, wahrscheinlich um das Gesagte gebührend wirken zu lassen, und fuhr dann schließlich in bedächtigem Tonfall fort.
„Ihr müsst ihm zudem kalte Wickel anlegen, am besten an der Stirne und um die Waden, um das Fieber zu senken. Außerdem sollte er so viel wie möglich husten. Nur so kann sich der Schleim lösen, der sich in seinen Lungen angesammelt hat. Aus diesem Grund habe ich Euren Freund auf die Seite gelegt, damit er nicht an seinem eigenen Schleim erstickt. Ihr werdet ihn beim Husten stützen und dafür schauen müssen, dass er den Auswurf von sich geben kann.“
D’Artagnan musste sich beherrschen, um nicht angewidert das Gesicht zu verziehen. Dieses Weihnachtsfest wurde immer besser: ein trübsinniger Athos, die Vorstufe zu einem Duell, ein heftiger Streit, ein kranker Athos, eine erschütternde Geschichte, ein bärbeißiger Arzt und nun eine ekelhafte Angelegenheit. Womit hatte er das alles nur verdient?
„Dann, als letzte Maßnahme“, fuhr der Mediziner ungeachtet der Gedankengänge seines Gegenübers fort, „müsst Ihr dafür sorgen, dass Euer Freund unbedingt die strenge Bettruhe einhält, bis ich es anders sage. Er soll sich weder groß bewegen noch sich aufregen noch sonst irgendetwas tun, außer sich ausruhen.“
Der Arzt schien alles gesagt zu haben, was wichtig war, und wandte sich von d’Artagnan ab, um zu gehen. Der junge Musketier packte ihn am Ärmel.
„Aber wird er durchkommen?“, fragte er eindringlich.
„Wer weiß das schon?“, erwiderte der Arzt ungehalten und riss seinen Ärmel los. „Das werdet Ihr schon früh genug wissen. Wenn Euer Freund morgen noch atmet, dann lebt er noch, so einfach ist das. Ihr werdet wohl kaum einen Mediziner brauchen, um das festzustellen.“
Der Arzt wollte erneut gehen, aber d’Artagnan ließ nicht locker.
„Könnt Ihr denn nicht wenigstens sagen, was wahrscheinlicher ist?“
„Ihr seid aber einer der besonders ungeduldigen Sorte, Monsieur“, erwiderte der Mediziner ärgerlich. „Ich weiß nicht, ob er durchkommen wird, und wenn Ihr mich noch einmal mit einer Frage belästigt, dann verdopple ich das Honorar. Wenn es etwas gibt, das ich nicht ausstehen kann, dann ist es Ungeduld.“
„Ich werde Euch daran erinnern, wenn Euer Honorar fällig ist“, entgegnete d’Artagnan hitzig, denn seine Geduld war in der Tat erschöpft.
„Ich mag Euren Ton nicht, mein junger Herr“, sagte der Arzt mit einem Stirnrunzeln.
„Das trifft sich gut, denn ich mag Eure Art nicht. Ihr braucht also nicht zu befürchten, dass ich Euch zu einem Glas Wein einladen werde. Ich frage mich, wo in aller Welt die Vermieterin einen solch einschläfernden Wichtigtuer wie Euch hatte auftreiben können.“
Der Mediziner ließ sich durch die Beleidigung nicht reizen, sondern rief ungerührt über seine Schulter: „Das kann ich Euch sagen, ich bin ihr Onkel.“
Nach diesen Worten schlug er die Türe hinter sich zu, und d’Artagnan war wieder mit Athos alleine. Langsam ging er auf seinen Freund zu und setzte sich dann müde an die Wand neben dem Bett.
„Du schuldest mir etwas, mein Freund“, sprach er ganz leise. „Nicht weil ich dich vor größerem Unheil bewahrt habe oder weil ich um dein Seelenheil kämpfe, sondern lediglich aus dem Grund, dass ich diesen unausstehlichen Bock von Arzt ertragen musste.“
Doch wie erwartet gab Athos keine Antwort.
* * * * *
Die Nacht schien ewig zu dauern.
D’Artagnan verbrachte sie damit, Wickel anzulegen, Tee aufzukochen und einzuflössen, Athos gut zuzureden und ihn zu stützen, wenn dieser anfing zu husten. Der Arzt sollte Recht behalten haben, und ab der Mitte der Nacht hustete der ältere Musketier erhebliche Mengen an blutigem Schleim und Eiter hoch, und d’Artagnan hatte die große Ehre, ihm eine Schale hinhalten zu dürfen. Während solchen Augenblicken wünschte sich der junge Gascogner sonst wohin, und mit einem selbstmitleidigen Seufzer wanderten seine Gedanken zu dem schönen Serviermädchen und seinen Vorstellungen, was er alles mit ihr hätte machen können.
Athos war noch immer ohne Bewusstsein. Er verbrachte die meiste Zeit in einer Art fiebrigen Dämmerzustandes und regte sich kaum. Von Zeit zu Zeit packte ihn eine große Unruhe und er warf sich auf dem Lager hin und her. Wieder andere Male redete er wirres Zeug aus seiner Vergangenheit; oft sprach er zu seinen Eltern, manchmal zu d’Artagnan unbekannten Personen. Doch die meiste Zeit sprach er zu Anne, seiner geliebten, wundervollen Anne.
Zu solchen Zeitpunkten zerriss es d’Artagnan fast das Herz, und er begriff erst in jener Nacht das volle Ausmaß der Seelenpein, in der sein Freund sich seit Jahren befinden musste. Er versuchte, Athos gut zuzureden und ihn zu beruhigen, doch dieser schien zu weit weg zu sein um ihn zu verstehen.
Trotz aller Bemühungen d’Artagnans und der strikten Befolgung der ärztlichen Ratschläge blieb das Fieber gefährlich hoch und brach nicht. Manchmal fragte sich der junge Musketier, ob Athos tatsächlich einfach aufgegeben hatte. Es schien, als ließe er sich widerstandslos davontreiben.
Gegen den frühen Morgen hin war d’Artagnan am Ende seiner Kräfte. Er flehte Athos an, endlich zurückzukommen, den Kampf aufzunehmen; er schrie und betete, er weinte und tobte, er lockte und drohte. Doch es schien alles umsonst zu sein, wo immer sein Freund auch war, er schien nicht zuzuhören.
Die Sonne ging allmählich über einem verschneiten Paris auf, als d’Artagnan den leeren Teebecher schließlich frustriert in eine Ecke des Zimmers warf. Dieser zerbrach mit einem lauten Klirren, und der junge Musketier ließ sich vor dem Bett zu Boden sinken.
„Ich kann nicht mehr, Athos. Was versuche ich überhaupt, an einem Felsen zu rütteln? Dein Schädel ist so dick wie die Mauern von Paris, und wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, dann bringt dich auch der Tee des lieben Doktors nicht mehr davon ab, Ach, Athos, so entscheide dich doch wenigstens, es schmerzt mich zu sehr, dich länger in einem solchen Zustand zu sehen.“
Der Kranke seufzte tief, wie als Antwort auf das Gesagte, und d’Artagnan lächelte ein wenig. Behutsam strich er seinem Freund die dunklen Strähnen aus dem Gesicht... und da geschah es, dass er es bemerkte. Aufgeregt und kaum fähig zu atmen, legte der junge Musketier Athos – wie bereits unzählige Male zuvor während der letzten Stunden – die Hand auf die Stirn. Und tatsächlich! Die Stirn war zwar noch immer warm, aber längst nicht mehr so glühend heiß wie zuvor. Das Fieber war gebrochen.
D’Artagnan hätte vor Freude laut aufgelacht, wäre er dafür nicht viel zu müde gewesen. Stattdessen schickte er ein gemurmeltes „Danke“ gen Himmel und küsste Athos auf die Stirn.
Wissend, dass sein Freund das Schlimmste überstanden hatte, ließ d’Artagnan den Kopf auf seine auf dem Bettrand gestützten Arme sinken und schlief ein.
* * * * *
Irgendetwas hustete.
Immer noch müde und träge vom Schlaf versuchte d’Artagnan, seinen Kopf weiter im Kissen zu verbergen und das Geräusch zu verdrängen. Doch, halt, seine Kopfunterlage war viel zu hart, als dass es ein Kissen hätte sein können, und als er sein Haupt verwirrt etwas anhob, fuhr ein stechender Schmerz durch seinen verkrampften Nacken. D’Artagnan schnitt eine Grimasse und versuchte, seinen vernebelten Verstand zu wecken und herauszufinden, wo er war.
Die fahle Nachmittagssonne schien ins Zimmer, welches dem jungen Musketier unheimlich bekannt vorkam. Schließlich drehte er seinen Kopf in die Richtung des Hustens, das ihn geweckt hatte.
„Athos!“, rief er laut aus, und sofort kam ihm das Geschehene wieder in den Sinn. Sein Freund lag noch immer auf der Seite, die Augen fest zugepresst, und hustete schwach.
D’Artagnan sprang sofort auf, was sein ebenfalls schmerzender Rücken nach zu langer Zeit in einer sitzenden Haltung nicht gerade schätzte, und beeilte sich, das Feuer wieder zu entfachen, welches in der Zwischenzeit verwahrlost hinuntergebrannt war. Schnell hängte er einen neuen Topf mit Wasser in die Flammen und kehrte dann zu seinem Freund zurück.
Athos hustete immer noch, und d’Artagnan hörte, dass sich erneut Schleim in dessen Brust löste. Der junge Musketier griff zu der bereitstehenden Schale und hob dann sachte Athos’ Kopf, so dass dieser den Auswurf loswerden konnte. Der Kranke dachte aber gar nicht daran, irgendetwas auszuspucken und schlug stattdessen zögernd die Augen auf, als er die Berührung von vertrauten Händen spürte.
„Athos, Ihr seid endlich wach!“, bemerkte d’Artagnan freudig und zog seinen noch etwas neben sich stehenden Freund in seine Arme. „Ich befürchtete bereits, dass ich Porthos und Aramis eine traurige Nachricht zu überbringen hätte, doch ich sehe, dass Ihr Euch schlussendlich doch für den Weg eines Mannes, nicht den eines Feiglings entschieden habt.“
Athos schien der Rede seines Freundes nur halbwegs gefolgt zu sein, denn er blickte d’Artagnan nur müde und verwirrt an. Dann fing er erneut an zu husten, weigerte sich aber standhaft, die noch immer hingehaltene Schale zu benutzen.
„Nun kommt schon, mein Freund“, meinte d’Artagnan fröhlich. „Spuckt den Schleim endlich aus, der Herr Doktor will es so.“
Doch Athos schüttelte schwach den Kopf.
„Das ist ekelhaft“, brachte er schließlich mühsam und mit matter Stimme hervor, doch hatte sich die übliche Falte in seine Stirn gegraben, die einen Anflug von Hartnäckigkeit andeutete.
D’Artagnan konnte nicht anders und lachte laut auf. Es tat gut zu sehen, dass sein Freund wohl trotz der schweren Krankheit der Alte geblieben war.
„Das ist nicht lustig“, beschwerte sich Athos leise, doch ein weiterer Hustenanfall verdarb ihm den Auftritt. Er verzog das Gesicht, ob vor Schmerz oder vor Ekel, das sei einmal dahingestellt.
„Mein Freund“, begann d’Artagnan und versuchte, trotz der überschwänglichen Freude, ernst zu bleiben. „Ihr habt die ganze Nacht lang in diese Schale gespuckt, und es hat Euch kein einziges Mal gestört. Nun habt Euch nicht so, es gibt wohl nichts mehr in Euch drinnen, was ich noch nicht gesehen hätte.“
Diese doppeldeutige Bemerkung schien Athos schließlich zu überzeugen und nach einem neuerlichen Hustenanfall bückte er sich über die Schale und spuckte eine große Menge blutigen Schleims aus. D’Artagnan grinste nur breit, als er das angeekelte Gesicht seines Freundes sah. Die vergangene Nacht hatte ihn selber unempfindlich gegen die Widerwärtigkeit der ganzen Sache gemacht.
Fröhlich pfeifend stand er auf und holte das heiße Wasser aus dem Feuer und bereitete seinem Freund einen Krug des Kräutertees zu. Er holte einen neuen Becher – der alte lag noch immer zerbrochen in der Ecke – und ging damit zu Athos’ Bett zurück. Er klopfte das Kissen auf und half dann seinem Freund, sich behutsam etwas aufzusetzen.
Als d’Artagnan Athos den Becher in die Hand drückte, rümpfte dieser die Nase.
„Ihr glaubt nicht im Ernst, dass ich diese Brühe trinken werde“, sagte Athos ruhig.
„Und ob Ihr das trinken werdet“, entgegnete d’Artagnan, nicht ohne eine gewisse Schadenfreude. „Ihr habt Euch letzte Nacht kein einziges Mal darüber beschwert, und der Tee hat seine Wirkung hervorragend getan. Glaubt nicht, dass ich Euch auch nur an ein Gläschen Wein heranlasse bis Ihr wieder auf den Beinen seid, deshalb gewöhnt Euch besser augenblicklich an den Tee.“
„Ihr beliebt zu spaßen.“
„Nicht im Geringsten.“
„Dann besitzt Ihr definitiv eine teuflische Ader.“
„Das könnte schon sein, mein Freund“, erwiderte d’Artagnan mit einem breiten Grinsen. „Doch denkt immer schön daran, dass Ihr Euch diese Schwierigkeit selber aufgehalst habt. Und nun lenkt nicht vom Thema ab“, tadelte er mit gespielter Strenge. „Ihr habt noch die Brühe zu trinken.“
Athos seufzte, doch wusste er, wann er ertappt war. Es kostete ihn Überwindung, den Tee zu trinken, aber d’Artagnan beobachtete ihn mit Argusaugen und es war unmöglich, den Aufguss unbemerkt wieder auszuspucken.
„Das ist ekelhaft“, meinte der ältere Musketier schließlich mit einer Grimasse und reichte d’Artagnan den leeren Becher zurück. Dieser war versucht, gleich wieder nachzufüllen, doch wollte er es nicht übertreiben.
„Eure Wortwahl ist heute eindeutig beschränkt, ich werde es einmal der Krankheit zuschreiben“, erwiderte d’Artagnan mit leichtem Spott, und fing sich einen bösen Blick ein.
Dies hinderte ihn aber nicht daran, noch etwas weiter zu sticheln.
„Betrachtet den Schleim und diesen Tee doch einfach als Bestrafung für den elenden Zustand, der Euer Körper erleiden musste, und für die entsetzlichen Erfahrungen, die mir zuteil geworden sind.“
Auf Athos’ Gesicht zeigte sich Verwirrung.
„Euch?“
„Ja, mir“, antwortete d’Artagnan und legte eine dramatische Pause ein. „Wegen Euch habe ich mein schlimmstes Weihnachtsfest erlebt. Ich werde diesen heiligen Abend von nun an nie mehr mit der gleichen kindlichen Freude betrachten können wie vorher.“
Bei der Theatralik des jungen Musketiers schlich sich nun auch ein feines Lächeln auf Athos’ Lippen, und d’Artagnan bemerkte es mit großer Freude.
„Weshalb denn das?“, fragte der ältere Musketier.
„Ihr könnt auch noch fragen warum? Mein lieber Athos, vielleicht feiert man in Euren hochadligen und merkwürdigen Familienkreisen Weihnachten auf diese Art, aber ich bevorzuge, den Heiligen Tag mit gutem Essen und einer Andacht zu feiern, anstatt mich mit meinem besten Freund zu streiten, ihn vom Selbstmord abzuhalten und ihn dann schließlich von der Schwelle zum Jenseits zurückzuholen. Ganz zu schweigen von dem Besuch dieses fürchterlichen Arztes! Ihr müsst einmal ein Wörtchen mit Eurer Vermieterin über den Umgangston ihrer Verwandten reden.“
Doch Athos schien dem letzten Teil gar nicht mehr zuzuhören und starrte stattdessen nachdenklich aus dem Fenster. Es war unschwer zu erraten, dass es seine Gedanken erneut in die Vergangenheit und das Gespräch des vergangenen Abends zog.
D’Artagnan fragte sich bereits, ob er das Thema wohl zu früh angeschnitten hatte, doch war er nicht gewillt, das Gehörte totzuschweigen.
„Athos, Ihr könnt nicht Euer ganzes Leben in Reue und Selbstmitleid über das Vergangene verbringen“, sprach d’Artagnan leise und vorsichtig, halb in Erwartung, einen neuen Streit vom Zaun zu brechen und doch unfähig zu schweigen. „Es ist schrecklich, was Euch zugestoßen ist, aber Ihr könnt es nicht mehr ändern, auch wenn Ihr Euch tagtäglich dafür bestraft. Ihr habt viele Fehler gemacht, doch war der Tod Eurer Eltern gewiss nicht Eure Schuld. Ich kann gut verstehen, dass Ihr Eure Worte und Taten bereut, aber was geschehen ist kann man nicht mehr rückgängig machen. Es wäre Euch würdiger, wenn Ihr nicht die Vergangenheit zurechtzubiegen versuchtet, sondern die Zukunft so gut wie möglich schmiedet, für Euch und Euer Umfeld. Ihr habt so viel zu geben, Athos, vergeudet es nicht so unnötig und frühzeitig an den Tod.“
D’Artagnan hatte geendet und es herrschte Ruhe im Zimmer. Athos starrte noch immer aus dem Fenster, und der jüngere Musketier war sich nicht sicher, ob ihm sein Freund überhaupt zugehört hatte. Doch schließlich drehte ihm der ältere Musketier den Kopf zu, und seine Gesichtszüge waren ruhig wie immer.
„So weit ich weiß, haltet Ihr Euren Teil der Abmachung nicht ein“, sagte Athos ruhig und ernst. „Ich kann mich daran erinnern, dass Ihr mir Euer Wort gegeben habt, dass Ihr mich in Ruhe ließet, wenn ich Euch nur den Grund erzählen würde, weshalb ich des Lebens müde bin. Ich habe meinen Teil der Abmachung eingehalten.“
D’Artagnan spürte, wie ihm bei Athos’ Worten das Blut in den Adern gefror. Dann sollte alles umsonst gewesen sein? So blieb sein Freund nun dabei, ihn von sich zu stoßen und sein Leben so schnell es ging zu beenden? Der junge Musketier spürte Wut, Trauer, Ohnmacht, doch am meisten von allem, Enttäuschung. Er war sich so sicher gewesen, Athos gerettet zu haben!
„Ihr habt Recht, Graf“, versetzte d’Artagnan kalt. „Wie hatte ich auch vergessen können, dass ein Edelmann wie Ihr ein gegebenes Wort höher achtet als das Leben eines Freundes? Verzeiht mir bitte meine Dummheit.“
D’Artagnan hatte bereits seinen Mantel gepackt und wollte aus dem Zimmer eilen, als ihn Athos’ Stimme zurückhielt.
„Nun, ich würde es nicht unbedingt Dummheit nennen, wohl eher Voreiligkeit oder jugendliche Verblendung.“
Die Stimme des älteren Musketiers klang leise amüsiert und überaus trocken, und als d’Artagnan sich umdrehte und das schelmische Lächeln auf dem blassen Gesicht seines Freundes sah, wurde ihm klar, dass dieser mit ihm gespielt hatte.
„Ihr seid ein Schuft, Athos!“, rief d’Artagnan aus, irgendwo zwischen Empörung, Unfassbarkeit und einer tiefen Erleichterung gefangen. „Über so etwas macht man keine Witze! Ich habe tatsächlich befürchtet, dass Ihr es ernst meint.“
Athos lächelte immer noch, doch wurde das Lächeln eine Spur ironischer.
„Verzeiht meinen Mangel an Taktgefühl, mein Freund, ich war nur gespannt, wie lange es dauern würde, bis Ihr mir tatsächlich die Freundschaft gekündet hättet. Ihr habt eine bemerkenswerte Ausdauer gezeigt, doch war es beruhigend zu sehen, dass selbst Eure Geduld mit mir Grenzen besitzt. Nur damit ich weiß, wie ich Euch loswerden könnte, falls ich Eurer überdrüssig werden würde. Betrachtet es zudem als süße Rache für Eure übermäßige Schadenfreude von vorhin, was diesen... Schleim und den Tee betrifft. Ich werde Euch für Eure frechen Worte in der nächsten Zeit wohl kaum bei einem Duell den Hintern versohlen können, deshalb muss diese verbale Rache reichen.“
D’Artagnan schwieg und unterdrückte ein Lächeln. Er nahm die Worte hin, auch wenn er sich an einem anderen Tag wohl mit einem Schrei auf Athos gestürzt hätte, aber heute war es einfach nur schön zu sehen und zu hören, dass wieder Lebensmut und Redseligkeit in seinen Freund zurückgekehrt waren. Auch wenn diese Runde auf seine Kosten gegangen war.
„Ich verhalte mich ungerecht, ich weiß“, begann Athos, doch dieses Mal mit der gewohnten Ruhe und Ernsthaftigkeit. „Ich habe Euch viel zu verdanken, d’Artagnan, mehr wohl als dass ich meine Schulden jemals wieder begleichen könnte. Euch das Leben zu retten käme nicht einmal annähernd in die Nähe der Mühe, welche Ihr unternommen habt, um mich zu retten. Ich habe Euch gehört, mein Freund, als ich im Fieber gelegen bin, und Ihr wart es, der mich zurück geholt hat. Weniger Eure Worte als Eure Freundschaft hat mich wieder kämpfen lassen. Denn was Ihr mir gesagt habt, das wusste ich insgeheim schon lange, nämlich dass ich nicht ewig vor der Vergangenheit würde fliehen können. Doch es fehlte mir an Kraft, Willen und einem Ziel, mich gegen sie aufzulehnen. Letzte Nacht wurde mir klar, dass dieses fehlende Ziel unsere Freundschaft ist, die abwesende Kraft wart und seid Ihr selber und der mangelnde Wille war, dass ich nicht als Feigling in Euren Augen sterben wollte. Eure Anschuldigung, gerechtfertigt, weckte meine Willenskräfte und meinen Trotz. Ein Edelmann sollte sich besser zu benehmen wissen, als ich es getan habe. Verzeiht mir.“
D’Artagnan lächelte warm, als er das kämpferische Funkeln in Athos’ Augen sah. Schlussendlich funktionierte sein Freund doch recht einfach, man brauchte nur seine Ehre anzustacheln, und schon waren die Lebensgeister wieder geweckt. Er hätte eigentlich früher daran denken sollen.
„Es gibt nichts zu verzeihen, denn ich weiß, dass Ihr dasselbe und noch viel mehr für mich getan hättet, wären die Umstände anders gewesen. Und ich muss nur noch einmal erwähnen, dass es mein Herz erfreut, Euch wieder unter den Lebendigen zu wissen“, sagte d’Artagnan zufrieden. Er hielt seinem Freund erneut die Schale hin, als dieser zu husten begann. Athos wehrte ihn aber ab und schöpfte Atem, um zu sprechen.
„Trotz allem, trotz dieser Nacht und meinen Worten, die ich überaus ernst und ehrlich meine, kann ich Euch nicht versprechen, dass ich die Vergangenheit nun ohne Weiteres hinter mir lassen kann. Es schmerzt noch immer, wie eine alte Verletzung, die schlecht verheilt ist, und mich je nach Wetter mehr oder weniger peinigt. Bei Gott, ich höre immer noch die wütende Stimme meines Vaters im Ohr... Es wird vielleicht wieder eine Zeit geben, wo diese Erinnerungen stärker werden, auch wenn ich mich nicht mehr derart übermannen lassen will und dass ich kämpfen werde. Aber dieses Mal hat meine Kraft nur knapp ausgereicht, ein nächstes Mal wird...“
„Sagt so etwas nicht, ich bitte Euch“, unterbrach ihn d’Artagnan heftig, denn er wollte wirklich nicht an ein solches Ereignis denken.
Athos nickte und schloss für einen kurzen Augenblick seine müden und brennenden Augen. D’Artagnan sah die Bewegung, und die zusammengesunkene Haltung seines Freundes erinnerten ihn wieder an dessen angeschlagenen Zustand. Das lange Gespräch musste Athos erschöpft haben.
„Wie auch immer die ferne Zukunft aussehen wird steht in den Sternen geschrieben“, meinte d’Artagnan und half seinem Freund, sich wieder ganz hinzulegen. „Die nahe Zukunft hingegen ist einfach genannt: strikte Bettruhe, bis es der liebe Herr Doktor anders sagt. Mein Gott, versprecht mit aber, dass Ihr Euch das nächste Mal einen anderen Arzt aussuchen werdet!“
Athos musste unwillkürlich lachen, als er das entgeisterte Gesicht seines Freundes sah, aber das Lachen verwandelte sich schon bald in einen heftigen Hustenanfall.
„Bitte macht keine Scherze mehr, d’Artagnan“, bat Athos außer Atem, „das Husten tut höllisch weh. Aber Ihr müsst mir schon verraten, was es mit Eurer Abneigung gegen diesen Arzt auf sich hat, ich kann mich an keine andere Person außer Euch erinnern. Was ist geschehen?“
Doch d’Artagnan blickte Athos nur mit gehobenen Augenbrauen an.
„Mein Freund, dies ist eine Vergangenheit, die zur Abwechslung ich verdrängen möchte. Vielleicht erzähle ich Euch die ganze Geschichte einmal über einer guten Flasche Wein und bis dahin rate ich Euch, Eure Vermieterin zu meiden.“
Der ältere Musketier starrte ihn nur verständnislos an, doch d’Artagnan winkte ab. Athos wollte nicht länger auf seiner Frage beharren, denn er spürte, wie der Schlaf an seinen Gedanken und an seinem Körper zog. Es wurde immer schwieriger, die müden Augen offen zu halten, und seine Glieder wurden schwer.
Bevor er seiner Erschöpfung nachgab, hörte er noch d’Artagnans Stimme murmeln: „Pardieu, Athos, versprecht mir einfach, dass nicht jede weiße Weihnachten mit Euch derart anstrengend ist oder ich werde alsbald eine gleiche Abneigung gegen den Schnee entwickelt haben wie Ihr!“
Ein feines Lächeln schlich sich auf Athos’ Lippen, und er schlief friedlich ein.