O du fröhliche Weihnachtszeit von Athelas
Durchschnittliche Wertung: 4.5, basierend auf 17 BewertungenKapitel Stille Nacht
Öhm, ich habe einen Überlegungsfehler gemacht, denn das dritte Kapitel kriegt ihr natürlich in einer Woche, am vierten Advent, nicht an Weihnachten, das ist ja erst in zwei Wochen. Ich hab da was durcheinander gebracht... Jedenfalls viel Spass beim Lesen!
2. Stille Nacht
Mit großem Appetit hatte d’Artagnan sein Mahl verschlungen, zahlte eilig und stand von seinem Platz auf. Das hübsche Dienstmädchen wartete bereits im hinteren Teil des Wirtshauses an der Treppe auf ihn.
Sie lächelte ihn verführerisch an und wollte ihn begrüßen, doch d’Artagnan kam ihr zuvor und zog sie in seine Arme, während sein Mund gierig den ihrigen suchte. Sie erwiderte den Kuss für einen Augenblick, dann stieß sie ihn auf Armeslänge von sich.
„Ihr seid aber stürmisch, Monsieur“, meinte sie, und ein spöttischer Zug lag um ihren Mund. „Wollt Ihr heute noch woanders hin? Zur Messe kann es ja kaum sein, die habt Ihr verpasst.“
D’Artagnan ging nicht auf ihre Spöttelei ein.
„Das kommt ganz auf dich an, meine Teuerste. Wenn du mir gefällst, dann bleibe ich bei dir.“
Nach diesen Worten zog er sie erneut an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Nacken. Ach, wie lieblich sie roch! Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, bevor sie langsam an seinem Rücken hinunterglitten. D’Artagnan musste ein Stöhnen unterdrücken, und er spürte, wie sein Verlangen stärker wurde.
Einander halb ziehend, halb stoßend kämpften sie sich eng umschlungen die Treppe hinauf bis in den ersten Stock, den das schwache Licht einer Laterne erhellte. Fest miteinander verflochten, lehnte sich das Paar an die Wand, um ihren rasenden Atem und Puls ein wenig zu beruhigen.
Sie küsste ihn erneut, dieses Mal zärtlicher und langsamer als zuvor, und d’Artagnan, die Augen schließend, ließ sich ohne Überlegung darauf ein. Seine Hand hatte sich in ihr Haar geschlichen und strich ihr sanft über die seidenen Strähnen. Sie fühlten sich weich und warm an. Schließlich öffnete d’Artagnan die Augen und blickte auf seine Hand, die noch immer mit ihrem wunderbaren Haar spielte. Selten zuvor hatte er so dunkles, richtig gehend schwarzes Haar gesehen. Er kannte nur einen Menschen, der...
D’Artagnans Hand verkrampfte sich in ihren Haaren, als er den Gedankengang gewaltsam unterbrach. Er stöhnte lauf auf, doch dieses Mal nicht aus Lust, sondern aus Frustration. Es war zum verrückt werden! Selbst wenn Athos gar nicht anwesend war, verdarb er ihm die schönsten Augenblicke.
„Au, passt doch auf, Ihr tut mir weh!“, beschwerte sich die junge Frau, und riss ihre Haare aus seinen Fingern.
„Ich bitte um Verzeihung. Ich hoffe, dass ich das Missgeschick wieder gutzumachen weiß“, flüsterte d’Artagnan an ihrem Ohr und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen, bevor er anfing, ihren Hals mit weiteren Küssen zu verwöhnen.
Doch der junge Musketier musste sich nach kurzer Zeit eingestehen, dass der Zauber des Augenblicks vorbei war. Immer wieder musste er an seinen Freund denken. Er hatte den toten Blick in Athos’ Augen gesehen, und der Gedanke daran ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Was wäre, wenn Athos irgendeine Dummheit anstellen würde und d’Artagnan nicht da wäre, um ihm wieder herauszuhelfen? Was wäre, wenn ein unbekannter Feind seinem Freund zu schaffen machte und Athos zwar in einer Misslage gefangen, jedoch zu stolz wäre, um nach Hilfe zu fragen? Oder was würde geschehen, wenn Athos irgendwo zwischen dem „Tannenzapfen“ und der Rue Férou betrunken zusammenbrach und im Schnee einschlief?
D’Artagnan fühlte, wie ein eisiges Schaudern über seinen Rücken kroch. Schnell stieß er die Hände des Serviermädchens weg, die sich an seiner Hose zu schaffen gemacht hatten, und löste sich eilig aus ihrer Umarmung.
„Was soll das?“, fragte sie, mehr überrascht als verärgert.
„Es tut mir leid“, antwortete d’Artagnan hastig. „Aber ich kann heute nicht, ich muss dringend nach einem Freund sehen. Entschuldigt mich.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürzte er die Treppe hinab und aus dem Wirtshaus hinaus auf die Strasse. Auf dem Weg zurück zum „Tannenzapfen“ malte d’Artagnan sich im Geiste alle möglichen Misslagen aus, in denen er seinen Freund vorfinden könnte, und beinahe panisch stürmte er durch die engen Gassen.
Du bist ein Narr, d’Artagnan, schalte er sich selbst in Gedanken. Du hast gemerkt, dass mit Athos etwas nicht stimmt, sonst hätte er in niemals derartig überreizt gesprochen und gehandelt. Aber was machst du, Dummkopf? Du lässt ihn im Stich, und das alles an Weihnachten!
Endlich war er beim gesuchten Wirtshaus angekommen, und als er mit bangem Gefühl die Türe aufstieß, erwartete er in seiner Vorstellung bereits ein Chaos von Tischen und die blutige Leiche seines Freundes in der Mitte. Doch nichts war, wie d’Artagnan es erwartet hätte. Der „Tannenzapfen“ war voll besetzt, jedoch relativ ruhig, außer ein paar betrunkenen Schweizern, die auf den Tischen aus vollem Halse Weihnachtslieder sangen. D’Artagnan sah auf den zweiten Blick, dass Athos nicht in seiner gewohnten Ecke saß, und dies erfüllte ihn mit noch mehr Beunruhigung. Schnell packte er einen der fröhlichen Schweizer, den er vom Sehen her kannte, am Arm.
„He, weißt du, wo der Musketier Athos sich aufhält?“
Der junge Schweizer grinste ihn schwankend an.
„Ah, lueg eys, dr Herr Lütnant! Grüessech! Dr Athos, jaja, dä hocket obe im Gängli u suuft wie gäng für Föifi vo üs, het äbä kes Plätzli meh gfungä hiä ungä“, sagte der Schweizer schleppend und im Rausch mit stark ausgeprägtem Dialekt.
D’Artagnan sah sein Gegenüber verwirrt an, aber als der andere schließlich eine unstete Hand in Richtung der Treppe ausstreckte, nickte der Musketier dankend und stieg die Stufen hoch. Im Halbdunkel des Ganges sah er eine zusammengesunkene Gestalt im Ecken sitzen, einige – höchstwahrscheinlich leere – Weinflaschen um sich herum aufgestellt. Als die Person dann auch noch unterdrückt zu husten begann, war sich d’Artagnan sicher, dass er Athos gefunden hatte. Langsam ging er auf ihn zu.
„Ich bin froh, Euch lebendig vorzufinden, mein Freund“, sprach d’Artagnan leise, und kniete sich vorsichtig vor Athos nieder. Der ältere Musketier hob mühsam seinen Kopf, und an seinen trüben Augen konnte d’Artagnan erkennen, dass dieser bereits mehr als nur ein oder zwei Gläschen über den Durst getrunken hatte. In Athos’ Blick flackerte es kurz auf, als er sein Gegenüber erkannte, dann legte sich die Trübheit wieder wie ein Schleier über seine Augen.
„Ach, Ihr seid es“, erwiderte Athos ungerührt und wandte sich dann erneut seinem Wein zu.
Diese einfache Bemerkung ließ d’Artagnan das Blut pochend in die Schläfen steigen, und für einen Augenblick sah er rot. Er hatte sich beinahe zu Tode geängstigt aus Sorge um seinen Freund, und dieser hatte nichts Besseres zu tun, als sich sinnlos zu betrinken und ihn mit einer herablassenden Bemerkung abzuspeisen. Bevor er überhaupt genauer darüber nachdenken konnte, hatte d’Artagnan Athos bereits am Kragen gepackt und an die Wand gedrückt.
„Jetzt hör mir einmal genau zu, Athos“, zischte d’Artagnan gefährlich leise. „Du denkst, dass es niemanden stört, wenn du dich um den Verstand trinkst und die ganze Welt in den schwärzesten Farben betrachtest, aber du verdirbst damit nicht nur dir selbst das Leben, sondern auch deinem Umfeld. Dein ganzes Selbstmitleid um deine Vergangenheit und diese Frau lässt jedes Fünkchen Lebenslust oder guter Laune im Keim ersticken! Aramis und Porthos ließen dich gewähren, weil sie zu viel Achtung vor dir hatten. Aber heute Abend, an diesem heiligen und besinnlichen Abend, hast du in meinen Augen selbst diese Achtung verloren. Wach endlich auf aus deiner Vergangenheit, und beginne das Leben zu genießen, dann würden vielleicht nicht mehr alle anderen Leute einen so grossen Bogen um dich schlagen, und es wäre mir erträglicher, mich in deiner Gesellschaft aufzuhalten.“
Athos ließ die zornigen Worte scheinbar gelassen an sich abprallen, doch in seinen Augen blitzte es auf. Er blickte demonstrativ auf d’Artagnans Hand an seinem Kragen, dann auf ihren Besitzer. In seinem Blick lag Todesverachtung.
„Ich habe Euch nie darum gebeten, mein Freund zu sein. Zudem wäre ich der Idee durchaus zugeneigt, dass Ihr Euch aus meiner Gegenwart entfernt, denn Ihr stinkt nach Weiberparfüm.“
D’Artagnan schlug zu, hart, ohne darüber nachgedacht zu haben oder sich auch nur im Klaren gewesen zu sein, was er tat. Athos steckte den Schlag ein, ohne einen Laut von sich zu geben, doch reagierte er blitzschnell und mit kalter Wut. D’Artagnan hörte noch das metallene Geräusch eines Dolches, der aus der Scheide gerissen wurde, dann spürte er bereits den eisigen Stahl unter seinem Kinn.
„Eine falsche Bewegung, mein Freund“, knurrte Athos, „und ich vergesse nicht nur meine zerstörte Vergangenheit, sondern auch die letzten vier Jahre unserer Freundschaft.“
D’Artagnan rührte sich nicht, denn er zweifelte keine Sekunde daran, dass Athos seine Drohung im derzeitigen Gemütszustand wahr machen würde. Noch nie hatte er Athos gleichzeitig so wütend und so... leblos gesehen. Keiner der beiden bewegte sich, und es bleibt ungewiss, wie die Sache geendet hätte, wäre da nicht in ebendiesem Augenblick der Wirt auf dem Gang erschienen.
„Schert euch aus meinem Haus, alle beide!“, polterte er wutentbrannt los, als er die blanke Klinge sah. „Ich will keine Scherereien in dieser Gaststube sehen, trollt euch gefälligst auf die Straße, mordieu, wenn ihr denn schon an Weihnachten Raufhändel beginnen wollt!“
Für einen Augenblick verharrten beide Musketiere noch in derselben Stellung und funkelten sich gegenseitig an, doch dann zog Athos mit einer ruckartigen Bewegung seinen Dolch zurück, so dass er beinahe d’Artagnans Hals streifte. Ohne ein Wort zu sagen kam Athos mühsam auf die Beine, aber er musste sich an der Wand abstützen, um nicht wieder zurückzusinken. Er zog den schuldigen Geldbetrag für den getrunkenen Wein aus einem Beutel und warf ihn dem Wirt verächtlich vor die Füße, um sich nur einen Augenblick später an der Wand festzuhalten, weil er so stark schwankte.
D’Artagnan packte den älteren Musketier kurz entschlossen am Arm und zog ihn mit sich zur Treppe. In der Berührung des jüngeren Mannes lag keine Wärme oder Freundschaft, seine Stütze diente einzig und allein dem Zweck, sie beide so schnell wie möglich aus dem Gasthaus und aus dem Blickfeld des Wirtes zu schaffen. Als sie durch den überfüllten Saal im Erdgeschoss gingen, warf ihnen niemand einen fragenden Blick zu, denn es war nicht das erste Mal, dass man Athos auf d’Artagnan gestützt das Wirtshaus verlassen sah. Kaum waren sie zur Türe hinausgetreten, da riss sich Athos bereits los und zog wortlos seinen Degen.
D’Artagnan fühlte, wie sich seine heiße Wut nach und nach abkühlte und stattdessen einem ungläubigen Entsetzen Platz machte. Er hatte gerade seinen besten Freund geschlagen und stand nun kurz davor, die Klinge mit ihm zu kreuzen! Viel schlimmer konnte der Abend eigentlich gar nicht mehr werden. Doch war er noch nicht gewillt, das Schicksal einfach so seinen Lauf nehmen zu lassen, ohne wenigstens versucht zu haben, den älteren Musketier von seinem Vorhaben abzubringen.
„Athos, mein Freund“, begann d’Artagnan vorsichtig und machte dabei keinerlei Anstalten, seinerseits den Degen zu ziehen. „Ich entschuldige mich in ehrlichster Form dafür, dass ich meiner Wut für einen Augenblick die Herrschaft überlassen und die Hand gegen Euch erhoben habe. Bitte besinnt Euch, es darf zu keinem Streit zwischen uns kommen, dafür schätze ich Euch zu sehr.“
Obwohl diese Worte mit dem für d’Artagnan üblichen Überschwang geäußert wurden, so konnte man doch eine Spur von Zögerlichkeit und Misstrauen daraus hören.
Athos blickte d’Artagnan lange und eingehend an, dann erwiderte er beinahe sanft: „Es war nicht der Schlag, der mich am meisten schmerzte, sondern Eure Worte.“
D’Artagnan dachte sofort, dass Athos nun auch noch eine Entschuldigung für seine Worte verlangte, doch war er nicht bereit, sie so bereitwillig zu äußern. Der Stolz und vor allem der Trotz des jungen Musketiers verboten es ihm, die zwar unklug formulierten, jedoch an sich nicht unwahren Anschuldigungen zurückzunehmen. D’Artagnan musste sich beherrschen, um nicht dem Drang nachzugeben, trotzig die Unterlippe vorzuschieben und stur den Kopf zu schütteln. Dies würde sich für einen Musketierleutnant schlecht schicken.
Als er Athos weiterhin schweigend anblickte, erkannte er auf dessen Zügen die Andeutung eines wissenden Lächelns, welches wie ein Schatten des einstigen Athos über das blasse Antlitz seines Gegenübers huschte. Es schien, als hätte der ältere Musketier d’Artagnans Gedanken erraten.
„Ach, mein junger Freund“, sprach Athos so leise, dass d’Artagnan es kaum verstehen konnte. „Ich wünsche Euch, dass Ihr niemals Eures gascognischen Überschwangs und Eurer erfrischenden Naivität beraubt werdet.“
Doch wenn d’Artagnan nun eine lange Versöhnungsszene erwartet hatte, so wurde er bitter enttäuscht, denn bereits zum dritten Mal an diesem Abend drehte sich Athos einfach um und ging davon, den Degen trotz seines schwankenden Ganges sicher in die Scheide einsteckend.
D’Artagnan wusste mit plötzlicher Klarheit, dass ihre Freundschaft einen unheilbaren Riss erhalten würde, ließe er jetzt Athos ohne Weiteres verschwinden. Ein Teil von ihm sträubte sich wie ein wildes Pferd gegen den Gedanken und wollte bereits zu Athos stürmen und diesen zur Rede stellen. Doch der größere, ruhigere Teil blieb regungslos. „Lass ihn ziehen“, schien er sagen zu wollen, und d’Artagnan rührte sich nicht von der Stelle. Athos hatte ihn von sich gestoßen und sich über ihn lustig gemacht, demnach schien seine Anwesenheit unerwünscht zu sein. D’Artagnan war weder ein Diener noch ein Hund, der sich trotz der Tritte an die Fersen seines Meisters heftete. Zudem hatte er die miserablen Launen des älteren Musketiers gewaltig satt. Es war an Athos, den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
Diesen Entscheid gefasst, schaute d’Artagnan äußerlich ruhig zu, wie sich Athos schleppend entfernte. Der ältere Musketier hatte beinahe die Straßenecke erreicht, als ein unbarmherziger Hustenanfall seine ganze Gestalt schüttelte und ihn schließlich zusammengekrümmt in die Knie zwang.
D’Artagnans Groll und seine Pläne, was das Meiden seines Freundes betraf, lösten sich im Nichts auf, als er Athos hilflos im Schnee knien sah. Ohne sein Zutun hatten sich seine Füße in Bewegung gesetzt und trugen ihn in Windeseile an die Seite seines Freundes. Der Hustenanfall hielt Athos noch immer fest im Griff, und d’Artagnan erkannte mit Schrecken, dass sein Freund kaum noch Luft bekam und gequält nach Atem rang. Was seine Sorge noch mehr in die Höhe trieb, war das kaum hörbare Rasseln, welches jeden gepeinigten Atemzug des Musketiers begleitete.
D’Artagnan überkam ein Anflug von Panik, da er nicht die geringste Ahnung hatte wie er Athos würde helfen können. Blutende Wunden konnte er verbinden und gebrochene Glieder schienen, doch was war zu tun, wenn sein Freund zu ersticken drohte?
Schließlich gab d’Artagnan seiner ersten Eingebung nach und zog Athos behutsam in seine Arme, während er die ganze Zeit leise auf ihn einredete.
„Nun komm schon, mein Freund, du wirst dich doch nicht tatsächlich von diesem nichtigen Husten bezwingen lassen. Ich kenne dich besser, als dass du mir so etwas antun würdest. Komm schon, versuche ruhig zu atmen, das geht doch sonst immer ganz einfach.“
Für d’Artagnan war es ein fremdes Gefühl, für einmal derjenige zu sein, der Trost spendete und dem anderen gut zuredete. Normalerweise waren ihre Rollen genau umgekehrt verteilt. Dies war schließlich Athos, der edle, unfehlbare und starke Athos, der Mann, den er wie einen Halbgott verehrte. Doch Habgötter lagen nicht vor Kälte und Schwäche zitternd im Schnee, um jedes bisschen Atem kämpfend.
D’Artagnan hielt seinen Freund weiterhin an sich gedrückt und merkte erleichtert, dass der Husten allmählich nachließ, und die Atmung wieder etwas ruhiger ging. Der junge Musketierleutnant war mehr als froh über die Wendung und fühlte sich auf einmal selber erschöpft.
„Du bist ein Narr, d’Artagnan“, flüsterte Athos plötzlich, und seine Stimme klang heiser und erschöpft. „Weshalb konntest du mich nicht einfach im Schnee zurücklassen?“
D’Artagnan fuhr auf, als habe ihn etwas gestochen.
„Dich liegen lassen? Bist du noch bei Sinnen? Du wärst in dieser Kälte erfroren!“
„Genau darum geht es ja“, sagte Athos müde.
D’Artagnan packte seinen Freund bei den Schultern und schüttelte ihn einmal heftig.
„Athos, komm wieder zu dir! Du bist zwar betrunken und krank, aber wenn du noch einmal eine solche Bemerkung von dir gibst, dann werde ich richtig wütend!“
Athos lächelte schwach, und d’Artagnan merkte selbst, dass seine Drohung nicht sehr überzeugend klang, doch war er viel zu aufgewühlt, um sich etwas Besseres einfallen zu lassen.
„Komm, ich bringe dich in deine Wohnung, damit du dich aufwärmen kannst“, meinte d’Artagnan schließlich und half Athos auf die Beine.
* * * * *
Der Weg bis zur Rue Férou kam d’Artagnan wie eine Ewigkeit vor, und noch länger schien es zu dauern, Athos die Treppen hinauf zu schleppen. Sei es aufgrund seines betrunkenen Zustandes, oder sei es aufgrund der Krankheit, jedenfalls konnte sich der ältere Musketier kaum noch auf den Beinen halten. D’Artagnan trug ihn am Ende eher, als dass er ihn stützte.
Erleichtert seufzend stieß der junge Leutnant schließlich die Türe zur Wohnung seines Freundes auf. Alles war dunkel und es brannte kein Feuer im Kamin. Vermutlich war der Diener bereits im Bett.
„He, Grimaud!“, rief d’Artagnan laut, aber niemand antwortete ihm. Fragend blickte er zu Athos, doch dieser schüttelte nur matt den Kopf, als Zeichen dafür, dass er nicht länger nach dem Diener suchen solle.
D’Artagnan half seinem Freund, sich auf dem Sofa im Wohnraum niederzulassen. Erneut begann Athos zu husten, und der junge Musketier begann sich zu fragen, ob er nach einem Arzt schicken sollte. Aber bevor er sonst etwas unternahm, musste er zuerst seinen Freund wieder aufwärmen. Schnell hatte er ein Feuer im Kamin entfacht und hängte sogleich einen mit Wasser gefüllten Topf in die Flammen, bevor er einige Decken aus Athos’ Schlafzimmer holte. D’Artagnan näherte sich damit seinem Freund, und er sah, dass dieser die Augen geschlossen hielt, aber seine ungleichmäßigen Atemzüge verrieten, dass er nicht schlief.
Behutsam legte er die Decken über Athos’ noch immer leicht zitternde Gestalt, und der ältere Musketier schlug bei der Berührung zögernd die Augen auf. Sein Blick war nicht mehr trüb wie vorhin, sondern ein fiebriger Glanz hatte die dunklen Augen überzogen. D’Artagnan streckte die Hand nach Athos’ Stirn aus und war nicht sonderlich überrascht, sie glühend heiß vorzufinden. Ein tiefer Seufzer kam über seine Lippen.
„Dies ist mehr als nur eine einfache Erkältung, mein lieber Athos“, bemerkte d’Artagnan besorgt. „Ich befürchte, Ihr habt Euch eine Lungenentzündung eingefangen.“
Athos nickte leicht, as habe er die Diagnose seines Freundes schon lange geahnt.
„Monsieur de Tréville wird nicht gerade begeistert sein“, meinte er nur beiläufig mit schwacher Stimme.
„Ist das alles, was Euch im Augenblick beschäftigt?“, fragte d’Artagnan aufgebracht. „Pardieu, Ihr könntet daran sterben! Mit einer Lungenentzündung ist nicht zu spaßen. Und verdammt noch mal, wo steckt eigentlich dieser Lump Grimaud? Er könnte sich nützlich machen und einen Arzt holen!“
„Beruhigt Euch, mein Freund“, sagte Athos heiser und legte eine Hand auf d’Artagnans Arm. „Ich benötige keinen Arzt, und Grimaud hat mich um Urlaub gebeten, um über die Feiertage seine Verwandten besuchen zu können.“
D’Artagnan schnaubte abschätzig, und stand dann auf, um den Topf mit heißem Wasser vom Feuer zu nehmen. Er ging in die kleine Küche und suchte ungeduldig nach Teekräutern, wurde jedoch nicht fündig. Schließlich schlug er den Deckel zu einer mit Wein gefüllten Kiste zu, und stürmte zurück ins Wohnzimmer.
„Bei Gott, Athos, habt Ihr denn keine Teekräuter im Haus?“
Sein Freund, der das Treiben nur still und amüsiert von seiner Liegestätte aus beobachtet hatte, antwortete gelassen: „Nein, wenn ich erkältet bin, trinke ich keinen dieser widerlichen Kräuteraufgüsse, die eher Übelkeit hervorrufen, als dass sie helfen, und Grimaud auch nicht. Aber Ihr würdet mir einen großen Gefallen tun, wenn Ihr mir etwas Rotwein erwärmen könntet, ich fühle mich tatsächlich durstig.“
D’Artagnan krallte seine Finger in den Stoff seines Mantels, atmete einmal tief durch und goss dann das heiße Wasser zum Fenster hinaus.
„Ich werde Euch bestimmt keinen Wein holen, mein Freund. Mir scheint, als ob Ihr heute Abend bereits genug getrunken hättet.“
Obwohl dies bestimmt der Fall gewesen war, merkte man Athos den Übergenuss an Wein nicht mehr an. Der ältere Musketier zuckte nur enttäuscht mit den Schultern und hustete dann erneut in seinen Ärmel. Der Anfall war nicht so schlimm wie der vorherige, aber es ging trotzdem lange, bis Athos wieder einigermaßen ruhig atmen konnte. Er war noch blasser geworden, und Schweiß stand ihm auf der Stirn. Völlig erschöpft ließ er sich wieder auf das Sofa zurücksinken und schien einfach nur das Gefühl zu genießen, Atem schöpfen zu können, und selbst das schien ihm Schmerzen zu bereiten.
D’Artagnan hatte die Mühen seines Freundes stillschweigend verfolgt und kam nun mit einem Becher kalten Wassers zurück. Er wollte ihn Athos in die Hand drücken, doch dieser zitterte erneut so stark, dass er die Hälfte des Wassers auf die Decken verschüttete.
„So wird das nichts, mein Freund“, meinte d’Artagnan kopfschüttelnd und setzte sich dann neben Athos auf die Liegestätte und flösste ihm vorsichtig das Wasser ein. Die ganze Prozedur schien seinen Freund zutiefst zu erniedrigen, doch ließ er es stillschweigend über sich ergehen, da ihm ganz einfach die Kraft fehlte, um sich zu beschweren. Als er fertig war, stellte d’Artagnan den Becher ab und betrachtete Athos seufzend. Es tat weh, eine solch noble Gestalt in einem derart armseligen Zustand zu sehen.
„Nun, da Ihr für den Moment ans Bett gefesselt seid und mir nicht mehr davonlaufen könnt“, begann d’Artagnan mit fester Stimme, „werdet Ihr mir Rede und Antwort für das Geschehene und Gesagte stehen. Ich gebe gleich am Anfang zu, dass mich selbst auch eine gewisse Schuld trifft, doch muss ich zum Ausdruck bringen, dass ich vor allem von Euch maßlos enttäuscht bin. Ihr, der Euch seit jeher als Edelmann und seit etwas kürzerer Zeit als mein Freund bezeichnet, habt mich heute mit Euren Worten tief verletzt. Pardieu, wir hätten beinahe die Klingen gekreuzt! Dabei habe ich nicht mehr getan, als Euch Eure eigene rabenschwarze Stimmung vor Augen zu führen. Ihr habt aber gleich reagiert, als wolltet Ihr mir die Freundschaft aufkünden! Was ist heute mit Euch los, Athos?“
Der ältere Musketier wusste, dass er – trotz seiner mehrmaligen Versuche an diesem Abend – der Frage nicht mehr aus dem Weg gehen konnte. Es war aber unmöglich, d’Artagnan die ganze Wahrheit über die Gründe seiner Niedergeschlagenheit zu berichten. Es war gefährlich, von der Vergangenheit zu sprechen, denn erzählen, das hieß, sich wieder genau zu erinnern. Sich genau zu erinnern hieß, das Vergangene im Geist noch einmal zu durchleben, und dies wiederum bedeutete großen Schmerz.
Athos wusste nicht, wie viel von diesem Schmerz er an diesem Abend noch ertragen konnte. Doch wollte er seinen Freund dennoch nicht anlügen, auch wenn ihre Freundschaft vielleicht nur noch einige Stunden oder Tage anhalten würde. Es war jedoch schlussendlich besser so für d’Artagnan, redete sich Athos immer wieder ein.
„Meine Vergangenheit war heute wieder einmal mit mir los“, antwortete der ältere Musketier langsam und bedächtig. „Es geschah etwas Schreckliches, genau heute vor vielen Jahren. Ihr wisst ja, dass ich an solchen Tagen schlecht auf alles anzusprechen bin. Doch war es falsch von mir, dafür Eure Gesellschaft aufzusuchen. Jedoch kann ich Euch nicht versprechen, dass es in Zukunft anders oder besser sein wird, deshalb rate ich Euch, so sehr es mich schmerzt, mir während solchen Zeiten fernzubleiben. Noch besser wäre es, wenn Ihr Euch ganz von mir distanzieren würdet, dann wäre es viel einfacher für Euch, Anschluss an Gruppen von jungen Männern in Eurem Alter zu finden.“
Athos zwang sich, die letzten zwei Sätze in einem ruhigen Tonfall auszusprechen, und er wagte es nicht, dabei d’Artagnan anzusehen. Der junge Musketierleutnant sagte vorerst gar nichts. Er starrte mit offenem Mund ins Leere und schien das Gehörte nicht wahrhaben zu wollen.
„Ihr beliebt zu scherzen?“, brachte er schließlich mühsam hervor.
Athos lächelte beinahe väterlich, als er diese Frage hörte.
„Nein, d’Artagnan, ich scherze nicht. Aber so begreift doch, wir haben uns seit diesem verhängnisvollen Tag, an dem wir Milady richteten, beide verändert. Ihr seid nun Leutnant, Ihr kennt Eure Pflichten und seid daran gewachsen. Ich dagegen bin geschrumpft, ich schaffe es kaum noch, meine Gedanken von der Vergangenheit zu lösen und meinen Aufgaben als Musketier nachzukommen. Wenn Ihr zu einem solchen Zeitpunkt bei mir seid, dann erlischt Euer Licht, Euer brillanter Verstand aus Mitleid gemeinsam mit dem meinigen. Ich ziehe Euch mit mir hinunter, und es läge mir nichts ferner, als Euer Leben so zu zerstören, wie man meines zerstört hat. Ihr habt etwas Besseres verdient.“
Es herrschte eine lange Stille, nachdem Athos geendet hatte. D’Artagnan saß in sich zusammengesunken auf einem Stuhl neben dem Sofa und schüttelte ganz leicht, beinahe unmerklich, den Kopf. Seine Augen hielt er lange geschlossen, bevor er sie wieder öffnete und aufstand. Für einen Augenblick erwartete Athos, dass der junge Musketier einfach das Zimmer verlassen würde, aber so einfach machte es ihm der junge Gascogner nicht. Nach einer Weile des Auf- und Abgehens wandte er sich schließlich abrupt Athos zu.
„Darum ging es also die ganze Zeit“, sagte d’Artagnan mit beängstigend ruhiger Stimme. „Ihr habt einfach so beschlossen, unsere Freundschaft zu beenden, zu meinem Besten, wie Ihr behauptet. Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir so viele Möglichkeiten gegeben habt, mich selbst darüber äußern zu dürfen, denn schließlich betrifft die ganze Sache auch mich, wie Ihr unmöglich übersehen konntet. Darüber hinaus möchte ich Euch gratulieren, Athos, Ihr habt es geschafft, auch noch das bisschen Respekt zu verlieren, das ich nach dem heutigen Tag noch vor Euch hatte. Ihr opfert großzügig unsere Freundschaft, ohne je einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es noch andere Auswege aus dieser Lage geben könnte. Wie wäre es, wenn Ihr Euch Eurer Vergangenheit endlich stellen und mit Kämpfen beginnen würdet? Aber nein“, fuhr d’Artagnan ungerührt und in bitterem Tonfall fort, „Ihr haltet es für besser, für immer vor Euren Gespenstern davonzulaufen. Ihr habt den Weg des Feiglings gewählt, nicht den des Edelmannes. Dabei denkt Ihr gar nicht daran, was eine solche Entscheidung wie die Auflösung unserer Freundschaft für mich zur Folge haben wird. Ihr merkt gar nicht, wie viel Ihr mir trotz allem noch bedeutet, und wie tief Ihr mich mit einer solchen Entscheidung überhaupt verletzt.“
Bei den letzten Worten schnürte es d’Artagnan beinahe den Hals zu, und Athos sah, dass sich der junge Musketier am liebsten aus diesem Zimmer, ja aus ganz Paris gewünscht hätte. Athos selbst ging es nicht viel anders. Jedes Wort seines Freundes schnitt noch ein wenig tiefer in die klaffende Wunde. Sein Herz, sein Stolz und sein Gewissen bluteten heftig unter d’Artagnans Anschuldigungen, doch erkannte er mit plötzlicher Klarheit, dass sein junger Freund Recht hatte.
Und dennoch, die Erkenntnis änderte nichts an seiner Lage. Er war zu müde, zu schwach, um jetzt noch mit Kämpfen zu beginnen. Athos fühlte, dass sowohl sein Körper, als auch sein Geist erschöpft waren. Die Krankheit verschlang seine körperlichen Reserven in Windeseile, und ließ seine ganze Gestalt in einem derart desolaten Zustand zurück, dass sie bestens zu seiner ausgehöhlten Seele passte.
Es wäre nun so leicht, sich einfach zu ergeben. Es würde keine Anstrengung benötigen, nur ein simples Aufgeben und sich Fortziehen lassen. Seine Feinde hätten wohl bei der Ironie der ganzen Sache laut aufgelacht: Er, der auf dem Kampffeld kaum zu schlagen war und sich durch nichts einschüchtern ließ, stand kurz davor, einfach aufzugeben. Forfait.
„Mein lieber Athos“, fuhr d’Artagnan unerwartet fort, und es lag ein seltsames Glitzern in seinen Augen, welches Athos gar nicht geheuer war, denn es bedeutete meistens, dass der junge Gascogner etwas im Schilde führte. „Ich werde nicht versuchen, Euch von Eurer Haltung abzubringen, denn Ihr habt Euch entschieden. Ihr kündet mir die Freundschaft, um in Ruhe zu sterben, so sei es, ich werde es respektieren. Doch“, fuhr d’Artagnan fort und das Glitzern in seinen Augen verstärkte sich, „erwarte ich von Euch eine Erklärung. Zumindest das schuldet Ihr mir, um unserer alter Zeiten willen. Ich werde Euch nicht eher in Ruhe lassen, bevor Ihr mir nicht erzählt habt, was heute vor so vielen Jahren geschehen ist.“
Athos schaute d’Artagnan zuerst nur verblüfft an. Allmählich begriff sein müder Verstand, dass dieser schlitzohrige Gascogner ihn in eine Falle gelockt hatte. D’Artagnan hatte ihm vorgespielt, dass er seinen Freund würde gehen lassen und während Athos sich in Sicherheit gewähnt hatte, war der junge Musketier dazu übergegangen, ihm den Kampf mit seiner Vergangenheit aufzuzwingen. Denn der ältere Musketier wusste, dass d’Artagnan tatsächlich nicht eher von seiner Seite weichen würde, bevor ihm Athos nicht seine Geschichte erzählt hatte.
Es war für Athos unumgänglich geworden, der Vergangenheit aus dem Weg zu gehen, das letzte Bisschen Ehre, welches er noch besaß, verbat es ihm, seinem Freund diese Bitte abzuschlagen. Er schaute stirnrunzelnd zu d’Artagnan, und an dem kleinen, triumphierenden Lächeln seines jungen Freundes erkannte er, dass dieser dasselbe erkannt hatte. Athos konnte es ihm nicht einmal verübeln, denn d’Artagnans Motive hätten edler nicht sein können: eine große Liebe ihm gegenüber, eine unendliche Loyalität und vor allem die Hoffnung, dass Athos noch nicht verloren war.
„Ihr macht Eurem Ruf wieder einmal Ehre, mein spitzfindiger Freund“, sagte Athos leise, und erlaubte schließlich, dass sich ein feines Lächeln auf seine Lippen schlich, auch wenn ihm beim Gedanken an das Erzählen seiner Vergangenheit beinahe schlecht wurde. „Euer brillanter Verstand hat mich in die Ecke getrieben, und Eure Treue und Freundschaft mir gegenüber ist lobenswert. Ich werde versuchen, Euch meine Geschichte zu schildern.“
D’Artagnan nickte ihm aufmunternd zu und setzte sich dann wieder auf den Stuhl neben dem Sofa. Athos versuchte, seinen schwindenden Mut zu sammeln und nahm einen tiefen Atemzug, der aber sogleich seine gepeinigten Lungen reizte und einen neuerlichen Hustenanfall auslöste. Die Schmerzen in seiner Brust und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, wurden von Mal zu Mal stärker. Doch war er diesmal froh um die Unterbrechung. Als er seine Atmung wieder unter Kontrolle hatte, zitterte er am ganzen Körper, doch war weder die Krankheit noch die Erschöpfung der Grund dafür.
Er hatte Angst, vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben. Es war eine lähmende, übermächtige Angst, die sein Inneres zusammenkrampfen ließ, so dass ihm ganz übel wurde. Er hatte Angst, sich im Schmerz zu verlieren, vollkommen zusammenzubrechen und den Weg zurück nicht mehr wiederzufinden. Er hatte Angst davor, den Verstand zu verlieren und den Rest seiner Tage bibbernd und wimmernd seinem Freund zur Last zu fallen, weniger als der Schatten eines Mannes.
„Beruhigt Euch doch, Athos“, bat d’Artagnan leise, und zog den älteren Musketier behutsam in seine Arme. „Ihr werdet nicht alleine sein, ich bin hier, um Euch zu helfen. Ihr müsst mir vertrauen.“
Athos schämte sich abgrundtief für seine Schwäche, doch konnte er die Angst nicht einfach so abstellen. Mit eisernem Willen zwang er sich zur Ruhe. Das Zittern verschwand, und endlich fühlte er sich stark genug, um zu sprechen.
„Es ist vor genau acht Jahren geschehen“, begann Athos leise und unsicher. „Ich wohnte damals auf unserem Gut La Fère im Berry. Ich... ich verstand mich sehr gut mit meinen Eltern. Da ich keine Geschwister hatte, wurde ich mit größter Sorgfalt erzogen. Mir gehörte der ganze Stolz meines Vaters, Arnaud de la Fère, und ich erhielt all die Liebe meiner Mutter, Marie de Montferrier aus dem Languedoc.“
Hier machte Athos eine Pause, denn bereits bei der Nennung der Namen seiner Eltern fühlte er seine Selbstbeherrschung gefährlich wanken. D’Artagnan drückte seine Hand, und er fuhr zögernd fort.
„Einige Wochen zuvor hatte ich Anne de Breuil kennengelernt, und ich wollte Weihnachten mit ihr verbringen. Wir waren zwar damals noch nicht verheiratet, doch hatten wir uns bereits ewige Liebe geschworen, und ich war der festen Überzeugung, sie zu meiner Frau machen zu wollen, ich Narr. Meine ehrwürdigen Eltern waren gegen unsere Liebe und eine Hochzeit gewesen, denn ich war schon seit Kindesbeinen mit der Tochter eines Freundes meines Vaters verlobt gewesen. Dieser Freund hatte ebenfalls als Offizier in der Kavallerie gedient, genau wie mein Vater, und war zudem ein entfernter Verwandter des Königs.“
D’Artagnan riss überrascht die Augen auf, und Athos nickte nur traurig.
„Ja, mein Freund, hätte ich damals auf meine Eltern gehört, würde ich heute wohl kaum als Musketier dienen. Ich hätte eine gute Partie gemacht. Aber zu dem Zeitpunkt hatte ich nur Augen für Anne. Ich hatte meinen Eltern am Vortag zu Weihnachten eröffnet, dass ich das Fest mit Anne verbringen wollte, und es wird Euch wohl kaum überraschen, zu erfahren, dass meine Eltern nicht sehr... angetan von meiner Idee gewesen waren. Ach, weshalb schere ich mich eigentlich um schöne Worte? Es war der wüsteste Streit, den ich je erlebt habe. Meine Eltern waren gerade dabei gewesen, sich für eine Reise bereit zu machen, denn sie hatten vor, Weihnachten bei Verwandten in Paris zu verbringen. Mein Vater hatte getobt, und meine Mutter hatte geweint. Ich selbst war damals auch weit davon entfernt gewesen, ruhig und überlegt zu argumentieren, denn ich empfand es als Frechheit, Anne wieder auszuladen, obwohl meine Eltern nicht einmal zu Hause sein würden.“
Athos unterdrückte ein Husten, und d’Artagnan reichte ihm einen Becher mit Wasser. Dankbar nahm ihn der ältere Musketier entgegen, während d’Artagnan ihn nachdenklich anblickte. Schließlich warf dieser vorsichtig ein: „Verzeiht die unwichtige Frage, aber warum entschieden Eure Eltern nicht einfach über Euren Kopf hinweg, dass Ihr sie begleiten solltet? Sie hätten ja durchaus die Autorität dazu besessen.“
Athos lächelte leicht, doch seine Augen blieben dabei so kalt und bitter, dass es ein erschreckender Anblick war.
„Ihr seid sehr aufmerksam, mein Freund. Ich hätte tatsächlich mitgehen sollen, hätte ich mir nicht ein paar Tage zuvor eine schwere Erkältung geholt, als mein Pferd im Eis am Fluss eingebrochen war und mich ins Wasser geworfen hatte. Doch so war ich nicht fähig für die lange Reise in der Kutsche durch Schnee und bitterkalten Wind.“
D’Artagnan nickte, und Athos verweilte einen Moment in Gedanken über die weiterführenden Ereignisse. Der härteste Teil stand ihm noch bevor, und bereits jetzt schien ihm überall die Kraft zu fehlen. Athos war versucht, einfach die Augen zu schließen, und sich von der Erschöpfung und vom Fieber in die Tiefe ziehen zu lassen, doch holte ihn unbarmherzig d’Artagnans Stimme aus seiner Überlegung.
„Wie ging es weiter, mein Freund? Wie endete der Streitt?“
Athos rang nach Luft und Fassung.
„Mein Vater schlug mich, das erste Mal überhaupt“, brachte er schließlich mühsam hervor, und er sah, dass d’Artagnan erblasste. Der junge Mann schien endlich den schrecklichen Zufall und die Übereinstimmung der Geschehnisse vor so vielen Jahren und dem jetzigen Abend zu begreifen. „Mein Vater verwünschte mich, nannte mich undankbar, dem Sohn eines Edelmannes unwürdig und drohte schlussendlich, mich zu verstoßen, falls ich Anne de Breuil heiraten würde. Meine Mutter, immer die gute Seele, versuchte zu schlichten, aber ich war ebenfalls außer mir. Noch während sie in die Kutsche einstiegen, schrie ich ihnen nach, dass der Teufel sie holen solle, und dass ich glücklich wäre, wenn sie in der Kälte verreckten...“
Athos konnte nicht mehr weiterreden. Alles, seine ganzen verdrängten Erinnerungen, sogar sein tief vergrabener Hass loderten wieder auf, als wäre dies alles erst gestern geschehen. Er kämpfte erneut um Atem, doch eine riesige Faust schien seine Brust mit eiserner Kraft zusammenzupressen. Wie aus weiter Ferne spürte er eine Hand auf seinem Rücken, die ruhige Kreise beschrieb.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, in der er um Atem rang, bis sich die Faust ein klein wenig öffnete. Athos schnappte krampfhaft nach Luft. Einmal, dann zweimal, und jedes Mal löste sich der Druck etwas mehr. Schließlich wurde sich Athos bewusst, dass er hoffnungslos schluchzte.
Tränen, die er so oft gefürchtet und doch herbeigewünscht hatte, liefen ihm über die Wangen und tropften ins Nichts. Nach all den Jahren hatte er es für unmöglich gehalten, dass er noch zum Weinen fähig war. Er nahm d’Artagnan kaum wahr der ihn in den Armen hielt, und ihm leise zusprach. Es existierte nur noch die Vergangenheit und der Schmerz.
Wie aus weiter Ferne vernahm er schließlich d’Artagnans Stimme: „Mein Freund, ich bitte Euch, sprecht zu Ende. Erzählt mir die ganze Geschichte, erst dann dürft Ihr Euch dem Schmerz hingeben.“
Athos wusste später nicht mehr, wie er es zustande gebracht hatte, aber er schaffte es tatsächlich, seine Geschichte zu Ende zu erzählen.
„Was denkt Ihr, was geschehen ist?“, flüsterte Athos tonlos. „Mein Wunsch ging in Erfüllung, meine Eltern starben an Weihnachten vor acht Jahren. Eine Diebesbande hatte sie überfallen und ausgeraubt. Man stahl sogar ihre Kleidung. Bauern fanden zwei nackte, steifgefrorene Körper, die eng beieinander lagen, als hätten sie versucht, sich gegenseitig warm zu halten. Ich hatte mich unterdessen mit Anne vergnügt und sie trotz des tragischen Todes meiner Eltern zwei Wochen später geheiratet...“
Athos hörte noch, wie seine Stimme immer schwächer und leiser wurde und dann ganz verstummte. Es blieb ihm nicht einmal mehr Zeit, um einen kurzen Blick auf seinen Freund zu werfen, als ihm bereits die Sinne schwanden. Das Letzte, was er noch fühlte, war ein Gefühl des Bedauerns, d’Artagnan ganz alleine zurückzulassen, jetzt, da er sich ihm endlich anvertraut hatte. Dann vermischten sich Töne, Bilder und Erinnerungen zu einem einzigen zähen Brei, und er verlor das Bewusstsein.