Sébastian de Bélier von andrea
Durchschnittliche Wertung: 4, basierend auf 1 BewertungenKapitel Ein unfaßbares Ereignis
Die Zeit heilt die Wunden, wenn sie auch kaum sichtbare Narben hinterläßt und nach einem Monat hatte d'Artagnan die Hinrichtung überwunden und seine frühere Fröhlichkeit wiedergewonnen. Es blieb für ihn auch kaum Zeit zum Nachdenken, denn der Abschied von seiner Heimat stand kurz bevor. Doch welcher Abschied ihm noch kurz bevor stehen sollte, konnte er nicht ahnen.
Eine neue Beschäftigung, welche die beiden Freunde sich ausgedacht hatten, war das Wettreiten. Auf kurzen Strecken wurden den Pferden die Zügel gelassen und sie galoppierten um die Wette bis ins Ziel. Dieses Spiel machte beiden viel Freude, obwohl Sébastian, der eindeutig bessere Pferde besaß, meist der Erste war. So war es auch an einem Tag im August gewesen und da die Sonne auch jetzt noch um die Mittagszeit unerbittlich schien, hatten die Freunde ihre Reitstrecke von der geraden Landstraße zwischen Artagnan und Bélier in ein kleines Wäldchen verlegt, in dem die Bäume Schatten auf die Straße warfen, welche jedoch kurz vor dem Ziel eine kleine Kurve beschrieb.
Schon kurz nach dem Start lag d'Artagnan zwei Längen hinter Sebastian, was ihn jedoch nicht störte, seinen Weg im gestreckten Galopp fortzusetzen. Was ihn störte, war nur ein etwas herunter hängender Ast, der ihm beim durchreiten den Hut vom Kopf fegte. Der junge Mann gab sich geschlagen, zügelte sein Pferd und sah noch zu, wie die Staubwolke, die Sébastians Araber beim Lauf aufwirbelte, hinter der Kurve verschwand. Dann stieg er ab und ging zurück, um seinen Hut von der Straße aufzuheben, als sich plötzlich nicht weit entfernt ein Schuß löste, bei dessen Krachen Vogelschwärme aus den Bäumen herausflogen. Der Schuß war noch nicht verhallt, als d'Artagnan sich schon aufs Pferd schwang und im gestreckten Galopp um die Kurve jagte, hinter der Schuß ertönt war.
Sébastian stand mit gezogenen Degen, welchen er jedoch in der linken anstatt in der rechten Hand hielt, auf der Straße. Sein rechter Arm hing ausgekugelt und unbrauchbar von seiner Schulter herab. Doch der junge Mann schien die Schmerzen, die ihm dieser Arm bereiten mußte, gar nicht zu bemerken. Er hatte nur Augen für sein Pferd, das regungslos zu Füßen seines Besitzers lag.
Dieser Anblick bot sich d'Artagnan als er seinen Freund erreichte. Er stieg ab und wollte gerade zu sprechen anfangen, als Sébastian das Wort ergriff. "Mein Pferd, die haben mein Pferd erschossen."
D'Artagnan hörte diese Worte und den begleitenden verständnislosen Blick seines Freundes mit großer Sorge. "Wer hat dein Pferd erschossen?"
"Mein schönstes Pferd, und sie haben es einfach erschossen, d'Artagnan."
Dieser begriff den Schockzustand Sébastians und wiederholte daher nochmals sehr eindringlich seine Frage, indem er heftig an der Schulter des jungen Mannes rüttelte. Und wirklich schien dieser aus seinem Trancezustand zu erwachen. "Vier Männer waren es. - Der Schuß kam für mich vollkommen unvermittelt und als mein Pferd stürzte, schlug ich mit auf den Boden auf. Dann kamen sie aus dem Gebüsch hervor - und drangen auf mich ein. Sie hatten vielleicht nicht erwartet, daß ich mich noch zur Wehr setzen würde. Zwei sind auf der Strecke geblieben, die anderen geflohen."
Wirklich sah d'Artagnan zwei der Wegelagerer tot in ihrem Blut auf der Straße liegen. Doch seine Aufmerksamkeit wurde bald wieder von den beiden abgelenkt, denn eben krümmte sich Sébastian in einen heftigen Hustenanfall. Besorgt legte d'Artagnan seine Hand auf die Schulter des Freundes, zog sie aber sofort wieder zurück und starrte sie an. Seine Hand war rot vor Blut, welches die dunkle Reitweste Sébastians vollkommen durchnässt hatte. Dieser hatte zu husten aufgehört und war sehr blaß geworden. D'Artagnan sah die Gefahr und kam gerade noch rechtzeitig, um den jungen Mann zu stützen, der schwer in die Arme seines Freundes sank.
D'Artagnan legte ihn auf das Moos am Straßenrand und bemühte sich inständig, Sébastian wieder zu Bewußtsein zu bringen, was ihm auch gelang, denn nach einigen Minuten schlug dieser die Augen auf und blickte fragend um sich. "Was, was ist denn passiert?"
"Du bist verwundet, mein Freund, aber sei guten Mutes, die Wunde kann so schlimm nicht sein."
Sébastian lachte kurz auf, obwohl das Lachen von einem erneuten Husten begleitet wurde und setzte sich keuchend auf. "Das nennt man Ironie, d'Artagnan, du zitierst Shakespeare. Und weißt du, welche Szene? Die Szene von Mercutios Tod."
D'Artagnan überging diese Bemerkung, obwohl es ihm bei dem Wort "Tod" seines Freundes kalt den Rücken herunter lief. "Es ist jetzt keine Zeit für Poesie, wir müssen den Blutfluß stoppen." Mit diesen Worten begann er, die Weste Sébastians aufzuknöpfen. Doch dieser hielt ihn zurück. "Laß, es hat keinen Zweck."
"Aber..."
"Es hat keinen Sinn", sagte Sébastian eindringlich und zeigte d'Artagnan seine blutverschmierte Hand. "Siehst du das? Wenn ich huste, spucke ich Blut, verstehst du? Die Lunge ist verletzt", setzte er mit einem bitteren Lächeln hinzu. "Selbst wenn du die Wunde verbändest, würde ich innerlich verbluten." Dann schloß er die Augen und ließ sich seufzend zurückfallen.
D'Artagnan, der den Tränen nahe war, ergriff plötzlich die Angst, daß dies der letzte Seufzer seines Freundes gewesen sein könnte und fing deshalb an, heftig an ihm zu rütteln. "Großer Gott, Sébastian, ich beschwöre dich, du darfst jetzt nicht sterben. Laß mich nicht mit der Gewißheit allein, daß ich an deinem Tod schuld bin."
Durch die verzweifelten Worte seines Freundes belebt, schlug dieser noch einmal die Augen auf. "Wieso solltest du an meinem Tod schuld sein?" fragte er mit schwacher Stimme.
"Ich war nicht da, um dir zu helfen, ich..."
"Schsch, ganz ruhig, mein Freund. Du darfst dir keine Schuld einreden. Gott will mich im Himmel sehen und ich werde dahin gehen. Aber weißt du, was du tun wirst, d'Artagnan? Du gehst nach Paris und wirst Musketier, so wie ich Musketier werden wollte. Versprich es mir!"
"Nein, nein, Sébastian", erwiderte d'Artagnan in der höchsten Verzweiflung, "nein, du wirst nicht sterben, du wirst wieder gesund und wir gehen beide nach Paris..."
"Versprich es mir!" sagte Sébastian fest.
D'Artagnan schluchzte. "Ich verspreche es."
"Gut, dann laß uns jetzt ein wenig plaudern", meinte der Sterbende, dessen Ruhe den jungen Mann erschreckte. "Weißt du, d'Artagnan, meine Mutter erwartet mich dort oben. Sie ist bei der Geburt meiner Schwester gestorben. Das Kind, das sie gebar, war vollkommen entstellt. Mein Vater hatte sie noch während der Schwangerschaft mit dem Stock geprügelt. Ich war damals ein siebenjähriger Knabe und konnte ihr nicht helfen. Sie wird sich trotzdem freuen, mich zu sehen, ganz bestimmt." Nach diesen Worten schlossen sich seine Lippen, und die zum Himmel gerichteten Augen erstarrten.