Auf Messers Schneide von Petalwing 

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Kapitel Die Herren von Paris

Die Herren von Paris

Ich habe an der großen, weißen Festtafel Platz genommen, so wie alle anderen. Zu meiner Rechten sitzt mein Meister, zu meiner Linken zu meiner Freude Hauptmann Tréville. Links neben ihm steht ein leerer Stuhl. Ich frage mich, wer dort noch Platz nehmen wird. Niemand hat ihn bisher angerührt, sicher kommt ihm irgendeine Bedeutung zu.

Wir sitzen sehr weit oben, in der Nähe der Stirnseite. Dort wartet ein reichverzierter Kirchenstuhl auf den einzigen, der jetzt noch nicht erschienen ist. Mein Meister sitzt dem Platz des Prinzen am nächsten, ihm gegenüber hat Mademoiselle Lenormand Platz genommen. Sehe ich geradeaus, blicke ich direkt in das Gesicht La Portes, er würdigt mich allerdings keines Blickes. Ich bin beeindruckt, wie gut es dieser Mann beherrscht, durch andere hindurchzusehen. Doch ich muss mich nur besinnen, dass er ein Höfling ist und mit der Übung, die ihm eine unnatürliche Lebenszeit verleiht, erscheint diese Perfektion nicht mehr so außergewöhnlich.

Neben ihm sitzt der Abbé, den Rochefort Atreus nannte. Er führt den Clan der Malkavianer an. Rochefort warnte mich vor den Angehörigen dieser Blutlinie. Ihr Erbe sei verflucht, denn der Herr habe sie allesamt mit Irrsinn geschlagen. Doch ich kann kein Zeichen der Verrücktheit an dem Abbé erkennen. Bis er mich ansieht. Oder vielmehr, durch mich hindurch sieht, aber auf eine, mir unbekannte, seltsam verstörende Weise, die nichts mit der Kühle La Portes zu tun hat. Sein Blick, so eigentümlich, ja fremd, als sähe er gar nicht mich, sondern etwas anderes, jagt mir einen Schauer durch die Glieder, obwohl ich mir größte Mühe gebe, nichts nach außen dringen zu lassen. Inwieweit mir das gelingt, kann ich nicht sagen. Wiederholt frage ich mich, ob er ein echter Abbé ist. Ein Gottesmann in dieser Gesellschaft der Verdammten? Bisher konnte ich mir dergleichen nicht vorstellen, aber sollte es möglich sein, ein Leben als Vampir und dennoch in Gottes Hand zu führen? Vielleicht sollte ich trotz dieses entsetzlichen Blickes einmal mit ihm sprechen, so sich die Gelegenheit ergibt. Vorausgesetzt, er ist kein Spötter, der soweit geht, den Herrn zu verhöhnen, indem er die Soutane zum Spaß trägt. Bevor ich jedoch in meinem Überlegungen weiter vorstoße, öffnet sich eine bisher verborgene Tür in der Wand, und unser Prinz tritt ein. Er muss es sein, so wie sich die Gestalten der Anwesenden unmerklich straffen. Mit kleinen Schritten trippelt er zur Tafel, nickt in die Runde, und setzt sich. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber sicherlich nicht das.
Er ist ein kleiner, untersetzter Mann, der zwar ein ebenmäßiges Gesicht besitzt, zugleich erscheint dieses Gesicht frei von jeglichen Besonderheiten, es ist gar von solcher Gewöhnlichkeit, dass sein Träger mit Sicherheit in beinahe jeder Menge untertauchen könnte. Er ist allein, kein Diener, kein Günstling, begleitet ihn. Trotz seiner vornehmen Kleidung erscheint er nicht wie ein Aristokrat, sondern viel eher wie ein Bürgerlicher. Ein wenig erinnert er mich an D’Artagnans Diener, denn das aufmerksame, gewitzte Funkeln der Augen, das einzige, das im Augenblick einen scharfsinnigen Geist verrät, ist mir bei diesem Planchet auch schon aufgefallen. Doch sehe ich keinen Grund, warum sich mein Erschaffer, der die Größe und Noblesse liebt, einem solchen Durchschnittsmenschen unterwerfen sollte. Er muss in der Tat große Macht besitzen, denn eine große Anziehungskraft kann nicht Quell seiner Herrschaft sein. Stumm warten wir, bis er Platz genommen hat.

Endlich sitzend blickt der Prinz einmal in die Runde.
„Seid gegrüßt, Damen und Herren von Paris.“
Er spricht ohne größere Regung, leise, aber immerhin so durchdringend, dass seine Stimme selbst am anderen Ende desRaumes noch gut zu vernehmen ist.
„Wie wir auf der jüngsten Primogenssitzung ankündigten, werden wir nun der Domäne einige Dinge bekanntgeben, die Aller Angelegenheiten betreffen.“
Eine gewisse Unruhe breitet sich aus wie ein Lauffeuer. Die Primogene schweigen, aber an den Händen der Mademoiselle Lenormand, die mit ihrem Weinpokal spielen, erkenne ich, dass diese Neuigkeiten keine leichte Kost sein werden. Mein Meister runzelt nur leicht die Stirn, Tréville tauscht einen vielsagenden einen Blick mit Focault, der neben Atreus sitzt. Seine prinzliche Hoheit ist jedoch anscheinend nicht gewillt, ihnen viel Zeit zur Verständigung zu lassen. Denn schon spricht er weiter.
„Punkt eins: Von diesem Augenblick an, gilt das unter dem Namen „Surat“ bekannte Kainskind als Ausgestoßener seines Clans. Weiterhin weisen wir ihm den Status des Anathema zu und die Blutjagd ist eröffnet. Wer einen Beweis seines Todes bringt, dem sei das Wohlwollen der Domäne gewiss.“

Diese Worte rufen erstaunlich unterschiedliche Reaktionen hervor. Weiter unten am Tisch wird mit einer Aufregung getuschelt, die ich nicht verstehe, da sich mir der Sinn dieser Order nicht erschließt. Die Primogene geben sich beherrschter, aber auch sie können oder wollen ihre Regungen nicht ganz verbergen. La Porte lächelt leicht, Mademoiselle Lenormand dreht den leeren Pokal in ihren schönen, zarten Händen, und starrt ihn dabei ganz versunken an, als sei sie fasziniert von seinem Muster. Kurze Blicke nach rechts und links enthüllen mir, dass Hauptmann Tréville zutiefst betroffen und besorgt scheint, wohingegen mein Sire nachdenklich die Stirn runzelt. Atreus blickt unverwandt den Prinzen an, Focault hingegen starrt vor sich auf den Tisch und murmelt leise ein paar Worte. So leise jedoch, dass man sie nicht versteht.

Plötzlich erhebt sich neben mir Tréville. Die Augen des Prinzen und die aller anderen ruhen auf ihm. Sofort kehrt wieder Ruhe ein. Einen Moment lang habe ich den Eindruck, dass er Worte des Protestes äußert wird, doch dann greift er zu dem Stuhl neben sich und wirft ihn nur mit der Berührung seines Zeigefingers um. Das Klappern dringt wie ein Paukenschlag durch das Schweigen.
„Die Blutjagd“, sagt er langsam mit de r Stimme eines Mannes, der gerade einen Freund beerdigt, „wir werden sie führen.“
„Gut gesprochen, Vogt“, antwortet der Prinz, dem das Schauspiel gefallen zu haben scheint. „Punkt Zwei“, fährt er fort, kaum dass Tréville sich gesetzt hat. „Der Hauptgang.“ Das sagt er eindeutig spöttisch.
Und wieder öffnet sich die Geheimtür und zwei schöne junge Männer treten hervor. Sie tragen einen alten Bekannten. Das Monster, das mich beinahe umgebracht hat. Jetzt ist es steif und leblos und ich erkenne einen schmalen Pflock, der direkt ins Herz getrieben wurde. Ohne erkennbare Anstrengungen heben die beiden den Körper, der doch schwer sein muss, zwischen uns auf den Tisch. Der Prinz lächelt amüsiert, als er die angewiderten Gesichter der Primogene bemerkt, besonders Mademoiselle scheint empört. Auch ich kann mein Erstaunen angesichts dieser Sitten nur schwer verbergen. Nur Atreus blickt, als ging ihn das nichts an. Wieder ist von weiter unten Flüstern und halblautes Murmeln zu hören.
„Ah, welch ein Genuss“, brummt mein Meister trocken. „Die Speisekarte wird ja von Mal zu mal erlesener.“ Diese Bemerkung bringt ihm ein Grinsen von Focault und ein verstohlenes Lächeln der Mademoiselle ein, die, ganz nach der Sitte vornehmer Damen, ein Taschentuch zückt und anmutig vor Mund und Nase hält.
„Das da ist ein gelöstes Problem“, erklärt der Prinz. „Es wurde vor kurzem aufgegriffen, als es sich in unsere Straßen wagte.“
Irre ich mich, oder streifen mich für Sekundenbruchteile einige versteckte Blicke?
„Nun, dies ist die Kriegserklärung des Sabbat, auf die wir seit langem warten und sie wird angenommen. Wir werden den Sabbat vernichten, und gründlicher, als dies früheren Herrschern gelungen ist.“ Jetzt sieht er unverhohlen zu meinem Meister hin. Er scheint dergleichen erwartet zu haben und lässt sich nichts anmerken.
„Seine Prinzliche Hoheit bringen ohne Zweifel die notwendige Weisheit und Entschlossenheit, aber auch Umsicht mit, die ein solcher Schritt erfordert“, erwidert er ruhig, die besondere Betonung des „ohne Zweifel“ kann nur dem geübtesten Höfling auffallen.
„Darauf verlasst Euch, Erstgeborener der Ventrue“, antwortet der Prinz spitz. Dann wendet er sich an Hauptmann Tréville.
„Vogt, wir wünschen, dass Ihr ihn an die höchste Turmspitze von Notre Dame hängen lasst, so mag er den Sonnenaufgang erwarten und der Sabbat hat die Antwort.“
Der Hauptmann nickt und erhebt sich. Der Prinz fährt fort.
„Von nun an herrscht Krieg. Ein jeder ist angehalten, sich um seine Sicherheit und die seiner Abkömmlinge zu sorgen.“
Diesmal bin ich sicher, dass er mich bei diesen Worten kurz ansieht.
„Der Sabbat ist bis aufs Blut zu bekämpfen. Gefangene werden Toten vorgezogen. Der Vogt wird in den nächsten Nächten entsprechende Order weiterleiten. Angesichts dieser gravierenden Entwicklungen werden alle weiteren Angelegenheiten verschoben.“
Eine dieser weiten Angelegenheiten bin vermutlich ich, oder vielmehr meine förmliche Vorstellung vor dem Prinzen. Dies allerdings kommt mir nur gelegen. Rochefort offensichtlich auch, denn er lächelt mir unauffällig zu.
“Nun steht es den Damen und Herren frei, sich wieder ihrem Vergnügen zu widmen. Gute Nacht.“ Mit diesem Worten erhebt er sich und verschwindet so wie er gekommen ist. Die beiden jungen Leute, die das Monster hereingeschleppt haben, verschwinden mit ihm.

Es bleibt offensichtlich Tréville überlassen, sich um das Corpus Delikti zu kümmern, eine Aufgabe, der er auch sofort nachkommt. Ich sehe ihn fragend an, biete ihm stumm meine Hilfe an, auch wenn mich die Gestalt auf dem Tisch noch immer abstößt. Er verneint lächelnd und winkt stattdessen zwei Herrn vom unteren Rand der Tafel, die jetzt herbeieilen und ich erkenne die Gesichter von Musketieren. Der eine zwinkert mir zu und schon fühle ich neue Zuversicht. Sie kennen mich noch! Gelegenheit zum Austausch für Höflichkeiten bleibt nicht. Ich mache Platz, sodass sie den Körper vom Tisch ziehen können, dann schaffen sie ihn fort. Im gleichen Augenblick fordert mich mein Meister leise zum Gehen auf, und ich folge ihm. Wir verabschieden uns mit angemessenen Verneigungen, aber nur mit dem Minimum an Floskeln, dann verlassen wir die Etage durch die große Flügeltür. Auch die anderen scheinen es recht eilig zu haben, denn wir sind nicht die Einzigen, die den Saal verlassen.

An der Tür bemerke ich den Blick zweier hasserfüllter, blauer Augen. Ich erwidere ihn ruhig. Sie wird mir keine Regung mehr entlocken. Jetzt weiß ich, mit wem ich es zu tun habe, ich bin gefasst und ihr Hass scheint mir nur natürlich. Er beruht auf Gegenseitigkeit. Also deute ich mit zwei Fingern an der Hutkrempe und einer unmerklichen Verneigung einen Gruß an, dann drehe ich mich endgültig um, und folge meinem Sire.

Erst als die Kutsche sich in Bewegung setzt, lehnt er sich zurück und spricht mehr zu sich selbst als zu mir.
„Arnaud, dieser Narr, er wird uns noch alle ins Unglück stürzen.“
Ich kann nur erraten, dass er mit Arnaud den Prinzen meint.
„Ein derart radikales Vorgehen. Nun gut, dass er auf Surat die Blutjagd ausruft, war abzusehen, aber auf die Provokation des Sabbats einzugehen, ist närrisch. Vielleicht ist ein solcher Krieg genau das was sie wollen, sie werden sich nicht verbergen und wir müssen ihre und unsere Spuren verwischen. Zur Hölle, ein wenig mehr Ruhe täte dieser Stadt gut.“
Ich lausche, kann aber dazu nichts annähernd Sinnvolles äußern. Einmal mehr fühle ich mich völlig unwissend. Erst durch mein Schweigen scheint Rochefort mich wieder wahrzunehmen.
„Für uns bedeutet das, wie er gesagt hat, erhöhte Vorsicht. Für dich sicher erfreuliche Nachrichten, mein lieber Freund. Ich werde dir in den nächsten Nächten die Grundlagen unserer Disziplinen beibringen, so stärkst du Deine Kräfte. Sobald du Fortschritte machst, und ich der Meinung bin, dass du auf dich aufpassen kannst, darfst du zurück zu den Musketieren, Tréville wird dann deinen Unterricht übernehmen, wenn ich es nicht kann, da jetzt sehr viel Arbeit auf mich zukommt. Ich ahnte bereits seit einigen Nächten, dass große Ereignisse und Gefahren unsere Aufmerksamkeit erfordern mögen und habe mit ihm gesprochen. Um deinetwillen ist er einverstanden. Du wirst dann auch offiziell deine alte Wohnung wieder beziehen, wir werden sie natürlich noch ein wenig sichern müssen. Dein Diener wird uns dabei eine nützliche Hilfe sein.“
Nach diesem Monolog versinkt er in Schweigen. Ich unterbreche es nicht, ich kann mein Glück kaum fassen. Zu den Musketieren? Zurück in meine Wohnung? Disziplinen erlernen? Neue Lebensgeister erfüllen meine Seele. Die Aussicht auf ein paar Nächte voller Taten, in denen ich nicht nur herumsitze und die Hoffnung, meine Freunde bald wiederzusehen, erfüllen mich mit einer Lebendigkeit, die ich in den letzten Tagen so schmerzlich vermisst habe.
Was für eine Nacht.
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PS: Hier noch was Nettes zum Thema passend: Credo