Der Pakt des Lucifer von sarah 

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Kapitel Von geprellten Rippen und dicken Beulen

D’Artagnan war - um nicht zum Eiszapfen zu erstarren - ein wenig zwischen den Kutschen der Salonbesucher umhergewandert, die vor dem Tor standen. Vor einem Gefährt, das dort, mit eingespannten Pferden und wartendem Kutscher, bereitstand, blieb er erstaunt stehen. Täuschte er sich oder zeigte die Verzierung am Kutschenschlag tatsächlich das Wappen der Marquise de Rambouillet? Wohin mochte die Gastgeberin wohl zu so später Stunde noch fahren wollen – ganz zu schweigen davon, dass sie schließlich Besuch hatte, der bestimmt nicht vor zwölf Uhr nachts den Salon verlassen würde. War die gute Marquise womöglich garnicht so unschuldig, wie Tréville angenommen hatte? Auch wenn d’Artagnan, der noch keinen Menschen schlecht hatte reden hören über die berühmte Salonière, sie gewiss nicht für eine Mörderin hielt, so gehörte es sich für eine anständige Pariserin doch nicht mitten in der Nacht noch Kutschenfahrten zu unternehmen...
Im Grunde genommen hasste d’Artagnan Schnüffeleien jeglicher Art. Sie passten nicht in sein Bild eines Mannes von Adel und Ehre, der sich einem Gegner stellte, anstatt ihm heimlich nachzuspionieren. Andererseits hatte seine Neugierde bisher noch immer über seine Moral gesiegt und zudem war der Moment einfach zu günstig, als dass es ihn nicht geärgert hätte ihn ungenutzt verstreichen zu lassen. Kein Mensch war zu sehen und der Kutscher schien – in mehrere Decken gehüllt- auf dem Kutschbock eingeschlafen zu sein. Kurzentschlossen öffnete d’Artagnan den Kutschenschlag und schlüpfte hinein. Das Innere des Gefährts war ungewöhnlich geräumig, mit zwei Sitzbänken auf jeder Wagenseite, die mit weichen wärmenden Decken ausgestattet waren. D’Artagnan wusste nicht, wonach er eigentlich suchte, als er begann das Wageninnere zu inspizierten. Entsprechend erstaunt war er daher, als er einen äußerst interessanten Fund machte. Bereits unter der ersten Decke, die er anhob, nämlich, fand er ein kleines Schmuckkästchen, wie Frauen es wohl für alle möglichen Zwecke gebrauchten. Dass sie jedoch kleine Ampullen mit roter Flüssigkeit (und bei dieser handelte es sich gewiss nicht um Parfum!), darin aufbewahrten, war d’Artagnan neu. Und war nicht in dem Bericht des Kardinals die Rede davon gewesen, du Lû sei vergiftet worden?
Teufel, bin ich nicht hierher gekommen, um die Unschuld der Marquise zu beweisen? Verflucht, sie macht mir diese Aufgabe ja nicht gerade leicht!
Noch während D’Artagnan die Fläschchen in seiner Hand betrachtete, drangen plötzlich Schritte und Stimmengewirr von draußen an sein Ohr. Vorsichtig hob er den Vorhang vor einem der Kutschenfenster an und spähte hinaus.
Verdammt, die Gesellschaft bricht schon auf? Um elf Uhr?
Hastig versteckte er eines der Fläschchen unter seinem Wams und schob die Schachtel mit den übrigen unter die Decke zurück. Nach einer Weile wurde es wieder still. Die Gäste waren fortgefahren. Gerade war der Musketier im Begriff die Kutsche zu verlassen, als er erneut schnelle Schritte vernahm
„Wir sind spät dran. Es wird nicht leicht sein die Duchesse zu überlisten.“ vernahm d’Artagnan eine nervös flüsternde männliche Stimme, die ihn aufhorchen ließ.
„Euch wird gewiss etwas einfallen...“ erwiderte eine helle Frauenstimme ebenso leise. Dann rief sie etwas lauter: „Allez, Bonnet! Wach auf! Rue des Quatre Fils, Nr. 17.“ Vernahm d‘Artagnan eine helle Frauenstimme und stellte mit Entsetzen fest, dass die Aufforderung nur an den Kutscher „seiner“ Kutsche gerichtet sein konnte und dass ihm keine Zeit bleiben würde ungesehen zu verschwinden. In seiner Not legte sich der Musketier der Länge nach auf eine der beiden Sitzbänke der Kutsche, breitete die Wolldecke über sich aus und betete inständig, dass die Dame und der Herr, die kurz darauf einstiegen, sich auf der gegenüberliegenden niederlassen würde.
Offensichtlich wurden seine Gebete erhört. Und so begann für den jungen Gascogner die wohl seltsamste Kutschenfahrt, die er jemals erleben sollte.
Immer wieder spähte d’Artagnan unter der Decke hervor und versuchte einen Blick auf seine beiden Gegenüber zu werfen. Vergeblich. Seine Lage, sosehr er auch den Kopf verdrehte, ließ ihn nicht mehr erkennen als die engen zierlichen Schuhe, die die Dame trug, sowie die Lederstiefel ihres Gefährten. Sie schwiegen beide.
Nach einer – wie es dem Musketier erschien – unendlich langen Fahrt durch die holprigen Straßen von Paris hielt die Kutsche schließlich an. Der Herr öffnete den Kutschenschlag und sprang hinaus. Ungeduldig wartete d‘Artagnan darauf, dass auch die Dame aussteigen würde, damit er sich aus seiner unbequemen Lage befreien konnte, doch sie hatte offensichtlich nicht die Absicht das Gefährt zu verlassen. Lange Zeit geschah nichts. Dann – es war in etwa eine Dreiviertelstunde vergangen - vernahm d’Artagnan ein Geräusch, als schleife jemand etwas über die Straße auf die Kutsche zu, wobei dieses Etwas recht schwer sein musste, da die Schleifgeräusche von Zeit zu Zeit von heftigem Stöhnen unterbrochen wurden. Die Dame in der Kutsche ließ ein leises belustigtes Lachen vernehmen.
„Oh, mon pauvre amant, was müht Ihr Euch ab! Wartet, ich helfe euch!“
Und mit jugendlichen Eifer sprang sie auf und machte sich daran, dem Stöhnenden dabei behilflich zu sein seine Last in die Kutsche zu hieven.
Im nächsten Moment hätte d’Artagnan beinahe laut aufgestöhnt und sich damit verraten, wovor ihn nur ein Biss in die eigene Faust rettete. Tatsächlich bekam er nun die Last (es handelte sich um einen Gegenstand, der trotz seines enormen Gewichts erstaunlich weich war) die den Liebenden soviel Mühsal bereitet hatte, am eigenen Leibe zu spüren: Die beiden hatten die glorreiche Idee gehabt, sie e auf „seinem“ Sitz zu deponieren.
Die Kutsche fuhr an.
„Nun, ma fleur, das wäre geschafft.“
D’Artagnan zerbrach sich den Kopf darüber, weshalb ihm die Stimme des Mannes so bekannt vorkam. Wenn sie nur durch das Geräusch der Wagenräder und das Hufgetrappel der Pferde nicht so undeutlich an sein Ohr gedrungen wäre! Und wer war ma fleur? Nun, wenn es sich dabei tatsächlich um die Marquise handeln sollte, dann... Ein Schlagloch! Etwas schien d’Artagnans Brust zu zerquetschen. Die Anstrengung, die es ihn kostete nicht aufzuschreien, trieb ihm die Tränen in die Augen. Dass er es überhaupt fertig brachte, lag wohl nur daran, dass er die Vorstellung mit ein oder zwei gebrochenen Rippen nach Hause zu kommen nicht annähernd so entehrend fand, wie es ihm erschien, wie ein Fuchs, den man beim Gänsestehlen erwischt hatte, den beiden Insassen der Kutsche vor die Füße zu fallen.
Zum Teufel mit mir und meiner Neugierde! Athos wäre soetwas nie passiert!
Endlich hielt die Kutsche ein zweites Mal an. Schweigend hievten die Blume und ihr armer Geliebter die Last aus der Kutsche. Langsam entfernten sich ihre Schritte. Einige Minuten lang blieb d’Artagnan bewegungslos auf seinem Platz liegen; erstens, um sicherzugehen, dass die beiden sich weit genug entfernten und zweitens, weil er sich ohnehin nicht in der Lage fühlte aufzustehen. Als er es dann doch versuchte, kam er mehr unter der Decke hervor gefallen als gekrochen. Es gab einen dumpfen Schlag und im nächsten Moment registrierte der Musketier mit Schrecken wie der Kutschenschlag von außen geöffnet wurde. Der Kutscher! Sollte er etwa all die Strapazen über sich ergehen lassen haben, um im letzten Moment doch noch entdeckt zu werden? Dieu, war das vielleicht Gerechtigkeit!?
Jeder andere Kutscher wäre beim Anblick dieses Wilden mit der blutigen Schramme im Gesicht und dem zerzaustem Haar, der dort wie ein Betrunkener auf dem Boden lag, vor Schreck entweder erstarrt oder davongelaufen. Bonnet jedoch tat nichts dergleichen: Er begann bedächtig ins Innere der Kutsche zu steigen und vorsichtig die Sitze abzutasten.
„ Ma maîtresse! Ist Euch etwas geschehen?“
D’Artagnan starrte ihn verblüfft an. Dann endlich begriff er. Der Kutscher war blind! Er hatte ein Geräusch aus dem Innern der Kutsche gehört und glaubte nun, seine Herrin befinde sich noch dort und sei gestolpert. Ein blinder Kutscher? Nun ja, schließlich musste nicht er den Weg durch die Stadt finden, sondern die Pferde. Im übrigen mochte es sich gewiss als hilfreich erweisen, einen Blinden als Wagenlenker zu beschäftigten, wenn man Dinge – Dinge? – darin zu transportieren pflegte, die niemand sehen sollte...
Vorsichtig rollte d’Artagnan sich so zusammen, dass Bonnet nicht über ihn stolperte. Als dieser seine Herrin nicht in der Kutsche fand, zuckte er ein wenig verwirrt mit den Schultern und kletterte wieder auf seinen Kutschbock. Hastig stand d’Artagnan vom Boden auf und verließ die Kutsche ohne sich erneut durch ein Geräusch zu verraten.
Als der Musketier erkannte, wo er sich befand, riss er erstaunt die Augen auf. Die Kirche von Saint-Eustache! Eine böse Vorahnung beschlich ihn, als er die Treppe hinauf hechtete. Das Hauptportal war nicht verschlossen. Vorsichtig schlich er sich von Pfeiler zu Pfeiler durch den Langbau. Undeutlich konnte er zwei Gestalten erkennen, die sich im hinteren Teil des Altarraums zu schaffen machten. Ein kleiner, etwas rundlicher Mann in einem langen Gewand stand mit drei Kerzen in der Hand neben ihnen. Um den Hals trug er ein Messingkreuz. Das Metall reflektierte das Mondlicht. Zwar konnte d’Artagnan sein Gesicht nicht erkennen, doch war er sich sicher, dass es sich bei diesem Mann um den Küster von Saint-Eustache handelte.
So also waren die beiden nächtlichen Kutschenfahrer in die Kirche gelangt! Der Küster der Kirche war ihr Verbündeter und hatte sie eingelassen!
Plötzlich schien der Mond, der hinter der Wolke hervorkam, hinter der er sich den ganzen Abend lang versteckt hatte, voll und rund gerade in dem Augenblick durch das bunte Fensterglas, als d’Artagnan von einem zum nächsten Pfeiler huschte: Sein Schatten, wie ein langer verräterischer Zeigefinger, machte die drei auf den Verfolger aufmerksam. D’Artagnan vernahm einen Fluch und sah, wie die Dame und der Herr etwas großes langes vom Boden aufhoben und damit so schnell es ihnen möglich war auf den linken Seitenausgang der Kirche zuliefen, die der Küster ihnen hastig aufschloss.
Kaum waren sie mit ihrer Last aus der Kirche hinaus, hatte der Musketier sie bereits eingeholt. Der Edelmann stellte sich ihm mit gezücktem Degen in den Weg.
„Wie? Um zwölf Uhr nachts noch in die Kirche, Monsieur?“ d’Artagnan zog ebenfalls seinen Degen. „Nun, man kann es auch übertreiben mit der Frömmigkeit, meint Ihr nicht!“
Ein metallenes Klirren erklang, als ihre Klingen sich kreuzten. Derweil zog die Dame ihre Last in Richtung der Kutsche und rief nach Bonnet, der diese bereit halten sollte.
Die Nacht und die dunkle Kutte des Fremden verbargen dessen Gesicht. Er führte die Klinge geschickt, kraftvoll und zugleich grazil. Irgendwo hatte d’Artagnan diese Art zu fechten schon einmal gesehen. Er spürte, dass er hier einem würdigen Feind gegenüberstand, wusste jedoch ebenso sicher, dass er über kurz oder lang die Oberhand gewinnen würde. Dennoch hütete er sich davor, dem anderen zu viel von seinem Können preiszugeben. Dieser sollte das Gefühl bekommen seinem Gegner überlegen zu sein. Die Sicherheit das Duell zu gewinnen würde ihn davon abhalten zur Kutsche hinüber zu laufen. Doch schien der Fremde den Musketier zu durchschauen. Seine Angriffe kamen zögernder als zuvor, fast so als wundere er sich darüber, dass sein Gegner sich nicht geschickter verteidigte.
Er kennt mich! Er erkennt meine Fechtkunst!
Tatsächlich erreichte d’Artagnan mit seiner Taktik das Gegenteil dessen, was er bezweckte: Plötzlich tat sein Gegner einen großen Schritt nach hinten. Gleichzeitig rollte die Kutsche an. Nach zwei weiteren Schritten rückwärts hatte der Fremde den Kutschenschlag erreicht, der ihm von innen her geöffnet wurde. Im nächsten Augenblick rollte die Kutsche – für den Musketier unerreichbar - die Rue du Jour entlang.
Fluchend kehrte d’Artagnan zurück in die Kirche.
Er kennt mich!
Doch war er hier tatsächlich den beiden Mördern des Marquis auf die Schliche gekommen? Was könnten ihre Motive gewesen sein? Waren sie Anhänger eines Irrglaubens, einer Gruppe Satansverehrer, oder steckte mehr hinter diesen Morden? Und warum waren die Täter – wenn sie es denn gewesen waren - an den Tatort zurückgekehrt?
Zumindest die Antwort auf die letzte Frage erhielt d’Artagnan kaum dass er hinter den Altar getreten war. Die Leiche des Gardeleutnants, die man unter dem Kruzifix hatte liegen lassen – sie hätte erst am nächsten Morgen ins Leichenschauhaus überführt werden sollen – war verschwunden. An ihrer statt erblickte der Musketierleutnant schaudernd eine zweite Leiche: Der Mond beschien das bleiche schwammige Gesicht einer Dame mittleren Alters. Ihr korpulenter Körper war wie zuvor der des Marquis mit einem schwarzen Tuch bedeckt worden. Auch die Kerzen fehlten nicht und die weit geöffneten Augen des Opfers starrten unverwandt in Richtung der Kreuzinschrift: LUCIFER. D’Artagnan war das Opfer nicht unbekannt: Die Witwe des verstorbenen Duc du Val de Cy, einstmals Ehrenfräulein bei Maria von Medici, war bei Hofe für ihre Geschwätzigkeit berühmt-berüchtigt gewesen.
Mon Dieu, diese Frau war ein Koloss! Und wenn mich nicht alles täuscht war sie es, die mich auf dieser Kutschfahrt durch halb Paris fast erdrückt hätte! Wenn man bedenkt, dass ein Toter zweimal so schwer wiegt wie ein Lebender – meine armen Rippen – dann...
D’Artagnan schüttelte den Kopf über sich selbst .Wie konnte er nur zu allererst an seine armen Rippen denken?
Es war zum Verrücktwerden! Er war auf dem besten Weg gewesen diese düstere Mordserie aufzuklären. Er war mit den Tätern in ein und der selben Kutsche gefahren. Er hatte mit einem der beiden ein Duell ausgefochten... und noch immer kannte er nicht die Gesichter derer, die er jagte.
Plötzlich fiel sein Blick auf etwas, das die Dame aus der Kutsche womöglich in der Eile verloren hatte. Ein Taschentuch. D’Artagnan hob es auf und stöhnte leise auf: In der oberen Ecke des Seidentuches erkannte er das gestickte Wappen der Marquise de Rambouillet. Ausgerechnet diejenige, deren Unschuld er beweisen sollte, lieferte ihm nun schon den zweiten Beweis für ihre Schuld!
Plötzlich vernahm d’Artagnan das Geräusch hastiger Schritten hinter sich. Der Küster! Er hatte ihn völlig vergessen! Während des Gefechts hatte der Musketier ihn aus den Augen verloren. Erst jetzt wurde ihm blitzartig bewusst, dass er den Helfershelfer der beiden Mörder nicht in die Kutsche hatte einsteigen sehen.
Ruckartig wirbelte d’Artagnan herum. Im gleichen Moment nahm er wahr, wie ein großer rechteckiger Gegenstand –die Bibel?- auf seinen Kopf niedersauste. Ein dumpfer Schlag.
D‘Artagnans letzter Gedanke war, dass auf seinem Gesicht – schon durch du Lûs Degen und das Körpergewicht der Duchesse verunstaltet - nun auch noch bald eine schöne dicke Beule zu bewundern sein würde. Dann verlor er das Bewusstsein.