Der Pakt des Lucifer von sarah 

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Kapitel Rocheforts Erzählung

Es begann bereits zu dämmern, als Athos in die Rue Férou einbog. Noch immer hatte er von d’Artagnan keine Spur entdeckt.
Als er den Freund am Abend zuvor nicht wie verabredet vor dem Hôtel de Rambouillet vorgefunden hatte, hatte er sich noch nichts besonderes dabei gedacht. Schließlich kannte er d’Artagnan und wusste, dass dem Freund kaum etwas mehr verhasst war als tatenloses Herumstehen und Warten. Als Athos ihn jedoch auch am nächsten Morgen nicht in seiner Wohnung in der Rue de Fossoyeurs antraf, und zudem von seinem Diener Planchet erfuhr, dass er von ihrer nächtlichen Mission nicht zurückgekehrt war, fing er an sich Sorgen zu machen. Zur Mittagszeit suchte er mit dem aufgeregten Planchet sämtliche Gasthäuser, in denen die beiden Freunde sonntags zu speisen pflegten, nach dem jungen Musketierleutnant ab. Ohne Erfolg. Nachdem sie sämtliche Freunde und flüchtige Bekannte d’Artagnans aufgesucht hatten ohne auch nur den kleinsten Hinweis auf dessen Verbleib zu finden, war Athos überzeugt, dass d’Artagnans Verschwinden mit dem neuen Mordfall in der Nacht im Zusammenhang stand. Er hatte gehofft am Tatort Spuren seines Freundes zu finden, wurde jedoch erneut enttäuscht: Vor dem Hauptportal von Saint-Eustache stieß er auf eine Volksmasse, die sich wie schon zwei Nächte zuvor versuchte Eintritt in die Kirche zu verschaffen. Doch diesmal blieben die Tore geschlossen. Sogar der Gottesdienst war ausgefallen. Der König hatte befohlen niemanden mit Ausnahme des Leichenarztes zu dem neuen Opfer vorzulassen.
Mittlerweile war Athos davon überzeugt, dass d’Artagnan etwas zugestoßen war. Doch wo sollte er noch nach ihm suchen?
Um seinen Freund zu finden, musste er das Rätsel des Mörders von Saint-Eustache lösen. Doch wo er auch ansetzte, was er bisher heraus gefunden hatte, ergab keinen Sinn. Die Marquise zu verdächtigen mit diesen Morden in Verbindung zu stehen, widerstrebte Athos. Seine Menschenkenntnis sagte ihm, dass diese Frau keine Mörderin war. Auch das mit ihrem Wappen bestickte Taschentuch war er bereit für ein falsches Indiz zu halten. Und doch... Weshalb hatte sie sich gerade um elf Uhr von ihren Gästen verabschiedet, eine Stunde bevor das Verbrechen begangen worden war? Weshalb hatten gleich mehrere Zeugen unabhängig voneinander ausgesagt, ihre Kutsche in beiden Nächten in der Nähe von Saint-Eustache gesehen zu haben? Und dann schließlich das seltsame Verhalten des Chevalier de Rochefort.
Ihr spielt ein gefährliches Spiel.
Was sollte das bedeuten? Und weshalb versuchte der Diener des Kardinals, der die Marquise doch vernichten wollte, diese zu schützen?
Vor seiner Wohnungstür wäre Athos beinahe mit Grimaud zusammengestoßen, der ihm entgegen gelaufen kam. Im Blick des Dieners spiegelten sich Wut und Empörung. Mit einer heftigen Armbewegung wies er auf die Wohnungstür und sprach mit der ihm eigenen Wortkargheit ein einziges Wort: „Eindringling!“
Athos runzelte die Stirn, legte die Hand auf den Degengriff und stieß ruckartig die Tür auf: Neben dem Fenster, gelassen an die Wand gelehnt und mit einem Weinglas in der Hand, stand ein hochgewachsener Edelmann
„Rochefort!“
„Athos.“ Mit provozierender Bedächtigkeit nahm Rochefort einen tiefen Schluck Wein. „Verzeiht, doch Euer überaus gesprächiger Diener war nicht gewillt mich zu bewirten, wie es sich bei einem halb verdurstenden Gast doch wohl gehört hätte. So habe es mir herausgenommen mich selbst zu bedienen... Er ist übrigens vorzüglich, Euer Anjou-Wein, Athos...“
Die Miene des Chevaliers war undurchdringlich wie eh und je. Und doch spürte Athos einen Hauch von Unsicherheit, der in dieser scheinbar so lockeren Begrüßungsrede mitschwang.
„Was wollt Ihr?“ fragte er eisig. D’Artagnan, der sich mit dem Stallmeister des Kardinals, nachdem er zu Anfang seiner Dienstzeit in Paris mehrere Male geschworen hatte ihn zu töten, mittlerweile öfter zum Kartenspiel als zum Duell traf, hatte Athos schon des öfteren versucht verständlich zu machen, dass der Chevalier garnicht so übel war wie er sich gab. Dennoch misstraute der Graf de la Fère Rochefort wie keinem anderen.
„Sagen wir, ich wollte mit Euch plaudern. Über die Ode des Monsieur de Racan an den Président d’Aurillac vielleicht? Oder lieber über die neuen Damastvorhänge der Madame de Rambouillet?“
Als Athos schwieg und nur ruhig Rocheforts herausfordernd-scharfen Blick erwiderte, stellte dieser sein Weinglas beiseite und trat einen Schritt auf den Musketier zu.
„Ihr habt Recht. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Ihr mögt Eure Gründe gehabt haben mir nachzuspionieren. Ich bitte Euch nur, pardon, Euch beim nächsten Mal weniger ungeschickt dabei anzustellen... Athos, ich brauche Euren Rat.“
Für einen Moment blickte Athos den Stallmeister des Kardinals – überrascht über diese seltsame Wende des Gesprächs – verwundert an. Dann fasste er sich wieder, forderte Rochefort mit einer Geste dazu auf, am Tisch Platz zu nehmen, und setzte sich ihm gegenüber.
Wortlos legte der Chevalier ein Schreiben auf die Tischplatte. Athos warf einen kurzen Blick darauf.
Ein Haftbefehl.
„Ihr habt die Marquise verhaftet?“
„Ich habe den Befehl dazu erhalten.“ erwiderte Rochefort mit einem bitteren Lächeln.
Zum zweiten Mal an diesem Abend gelang es dem Chevalier seinen Gesprächspartner aufs höchste zu erstaunen.
„Soll das bedeuten, Ihr habt ihn nicht ausgeführt? Einen Befehl des Kardinals?“
„In all den Jahren, die ich für Seine Eminenz arbeitete, ist es das erste Mal, dass ich mich ihm widersetze, ja.“ Rochefort sah an Athos vorbei und schüttelte leicht den Kopf. Vielleicht über sich selbst, vielleicht über den Kardinal. „Ich maße mir für gewöhnlich nicht an die Beschlüsse meines Dienstherrn anzuzweifeln... Jedoch bin ich kein Mann, der eine wehrlose Frau kaltblütig dem Henker oder dem Schafott übergibt.“ Bei diesen letzten Worten warf Rochefort Athos einen solch seltsamen düsteren Blick zu, dass diesem das Blut in den Adern gefror.
Weiß er davon? Wie könnte er...?
Nur mit Mühe gelang es Athos Rocheforts Blick standzuhalten.
„Sie hat sich keines Verbrechens schuldig gemacht.“
Sie? Welche „sie“?
Doch, das hat sie! Sie hat mir alles genommen, woran ich einst glaubte! Sie hat gemordet, sie hat betrogen sie hat... Selbst jetzt noch, nach all den Jahren, versucht sie mich zu zerstören – mich zum Schuldigen zu machen!
Endlich wandte Rochefort den Blick von Athos und fuhr fort. „Die Marquise hat keines der beiden Opfer getötet.“
Athos starrte an ihm vorbei.
„ Weder die Duchesse noch den Marquis. Dennoch lässt sie zu, dass man ihr den Mord anlastet. Vielleicht versucht sie, jemanden zu schützen.“
Endlich gelang es dem Musketier sich aus dem Sturm zu befreien, den Rochefort mit seinen versteckten Andeutungen in seinem Innern ausgelöst hatte.
„Wie könnt Ihr Euch Ihrer Unschuld so gewiss sein?“ fragt er hastig.
„Weil ich letzteren selbst umgebracht habe.... oder es zumindest vorhatte. “
Athos lehnte sich mit einem Stirnrunzeln in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Rochefort blickte ihm ruhig, beinahe kühl ins Gesicht und begann zu erzählen.
„Der Marquis war ein höchst ehrgeiziger und selbstgefälliger Mensch, der es sich offensichtlich in den Kopf gesetzt hatte zum höchsten Günstling und vertrautesten Berater des Kardinals aufzusteigen. Seit seiner Ernennung zum Gardeleutnant war er sich dessen Gunst sicher. Er hatte nur einen einzigen Nebenbuhler: mich. So wie ich keinen Hehl aus meiner Verachtung für diesem Emporkömmling machte, zeigte du Lû ganz offen seinen eifersüchtigen Hass auf mich und versuchte mich bei jeder sich bietenden Gelegenheit bei Seiner Eminenz schlechtzumachen. Da jedoch all seine Bemühungen fruchtlos blieben und er sich gezwungen sah zu härteren Mitteln zu greifen, fälschte er einen Brief, der mich als Spion der größten Feindin des Kardinals, der Königinmutter, denunzieren sollte. Wäre dieser Brief Seiner Eminenz je in die Hände gefallen, so hätte ich wohl meine Koffer packen und Paris auf Nimmerwiedersehen verlassen müssen. Glücklicherweise erfuhr ich jedoch von der Existenz dieses Schreibens bevor es soweit kommen konnte, da du Lû – von der Natur nicht gerade mit den größten Geistesgaben gesegnet – vor seinen Kampfgenossen mit seiner hervorragenden Idee geprahlt und sich die Neuigkeit in Windeseile verbreitet hatte.
So kam es also, dass ich vor drei Tagen den am Stadtrand gelegenen Palais des Marquis aufsuchte, um Satisfaktion zu fordern. Ich traf du Lû in der allerbesten Laune an, was entweder am Wein lag, dem er offensichtlich an jenem Abend sehr zugesprochen hatte, oder aber an seinen Glanzleistungen während eines Duells, dass am gleichen Tag zwischen Gardisten und Musketieren des Königs stattgefunden haben musste. Erwähnte er nicht sogar den Namen d’Artagnan? ... Wie dem auch sei, der Marquis war jedenfalls Feuer und Flamme als ich ihm ein kleines Duell in seinem ruhigen kleinen Vorgarten vorschlug. Aufgrund des Duellverbots des Königs verzichteten wir auf Sekundanten. Besoffen wie er war, war es mir ein leichtes meinen Gegner zu bezwingen. Schon nach fünf Minuten lag du Lû besinnungslos am Boden. In meinem Zorn hätte ich gewiss keinen Augenblick gezögert ihm den Gnadenstoß zu versetzten, hätte ich nicht gerade in diesem Moment die kalte Klinge eines Degens an meinem Hals gefühlt. Ich konnte das Gesicht des Unverschämten nicht erkennen, der es wagte mich hindern zu wollen: die Nacht und seine Kutte verbargen seine Identität. Ich hielt ihn für einen Freund des Marquis und hieb mit dem Degen auf ihn ein. Doch der Fremde besaß genug Geistesgegenwart sich durch einen Sprung nach hinten zu retten und so zerschnitt mein Degen nur den Ärmel seiner langen Kutte.“
„Was sagt Ihr da? Ihr habt mit dem Degen seinen Ärmel zerschnitten?“ unterbrach ihn Athos, der bis jetzt schweigend der Erzählung gelauscht hatte. Das Bild des Mannes , der ihm in der vorletzten Nacht vor der Kirche von Saint-Eustache aufgefallen war, tauchte wieder vor ihm auf. Ein Edelmann in einer an einem Ärmel zerrissenen Kutte... Plötzlich durchzuckte es Athos.
Die Haltung, die Nervosität in seinen Bewegungen, er...
Ja, er war es! Er musste es sein! Er... er durfte es nicht sein! Mit einem Ruck stand Athos vom Tisch auf und stellte sich ans Fenster.
„Erzählt weiter!“ bat er mit zittriger Stimme. Verwundert betrachtete Rochefort das angespannte Gesicht des Musketiers, das sich im nachtschwarzen Fensterglas spiegelte.

„Nun,...“ fuhr er fort, „Der Fremde beschwor mich den Marquis zu begnadigen. Er sprach davon, dass ich mich vor Gott schuldig mache (was mich wenig überzeugte) und vor dem König, der das Duell ja verboten hatte (was mich schon eher nachdenklich werden ließ). Immerhin war ich nicht besonders versessen darauf, wegen dieses verdammten du Lû auf der Place de la Grève am Galgen zu enden. Ich befolgte also den Rat des Fremden, der mir nahelegte mich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen ‚bevor sich Euer Gesicht meinem Gedächtnis so deutlich eingeprägt hat, dass ich es irgendwem beschreiben könnte, wenn er mich danach fragte‘ , wie er sich ausdrückte. Wie hätte ich wissen können, dass dieser Heuchler weitaus düstere Ziele verfolgte, als es den Anschein hatte? Nachdem ich gegangen war, muss er du Lû das Gift eingeflößt haben, an dem dieser letztendlich verreckt ist. Vor dem Tor des Palais sah ich die Kutsche der Marquise de Rambouillet – oder zumindest eine, die ihr Wappen trug. Darin muss du Lûs Leiche nach Saint-Eustache transportiert worden sein. “
„Aber weshalb hätte jener Mann Euch daran hindern sollen den Marquis umzubringen, um ihn dann selbst zu töten?“
„Nun, für die Zwecke des Täters musste der Marquis nun einmal durch Gift und nicht durch einen Degenstich zu Tode kommen. Schließlich sollte der Marquise de Rambouillet später der Mord angelastet werden und soweit ich weiß, beherrscht sie zwar eine Reihe von Künsten, jedoch nicht die des Fechtens...“
Athos blickte aus dem Fenster ohne etwas zu sehen. Seine Gedanken rasten.
„Ich muss gestehen...“ fuhr der Chevalier währenddessen fort, „dass ich das erste Mal in meinem Leben nicht weiß, wie ich mich weiter verhalten soll. Die meisten meiner Freunde sind Kardinalisten, ich konnte sie also schlecht in diese Angelegenheit einweihen, und d’Artagnan habe ich nicht gefunden. So bin ich auf Euch gekommen.“
„Rochefort!“ Abrupt wandte Athos sich um. Sein Gesicht war kreidebleich, „Nennt mir noch einmal den Namen des letzten Opfers!“
„du Val de Cy. Madame Hortense du Val de Cy... Athos, was habt Ihr?“
„du Val de Cy und du Lû!“ rief Athos aus ohne Rocheforts Frage zu beachten.
Nein. Er kannte sie nicht. Die Lösung des Rätsels des Lucifer. Er wusste nicht, was geschehen war... Doch er wusste, was geschehen würde. Es schien so verrückt, so absurd... Doch er konnte sich nicht irren.
„Heute Nacht um zwölf Uhr wird es eine neue Leiche in Saint-Eustache geben. Wartet um Mitternacht vor der Kirche....“ wies Athos Rochefort an. Dann wandte er sich wieder zum Fenster und zu sich selbst sprach er: „ Ich werde auch dort sein.“