Der Pakt des Lucifer von sarah
Durchschnittliche Wertung: 4, basierend auf 5 BewertungenKapitel Lu-ci-fer
Seine Frau hatte ihn vor die Tür gesetzt.
Es war bereits zehn Uhr abends und ein eisiger Wind pfiff durch die verlassene Gasse am Rande der Stadt. Eine Geistergasse, die Straße gesäumt von leeren Steinbaracken und Hausruinen. Ein einziger Reiter passierte die Gasse. Mit seinem farbenfrohen Samtmantel nach der allerneusten Mode und dem eleganten Hut mit dem pompösen Federgesteck bildete er einen seltsamen Kontrast zu der tristen grauen Umgebung. Der Reiter war von kräftiger Statur und seine riesigen Hände sprachen von der ungeheuerlichen Kraft, die in ihm wohnte. Er schien in tiefes Nachdenken versunken und von zeit zu zeit seufzte er tief und zwirbelte seinen imposanten Schnurrbart.
Vor die Tür gesetzt!
Anlass für den folgenreichen Streit zwischen ihm und seiner Gattin war – wie schon so oft in den drei Jahren ihrer Ehe – seine große Leidenschaft, das gute und reichliche Essen, gewesen. Nun, es gab gewiss viele Gründe, die ihn dazu bewogen hatten Madame du Vallon, einstmals die Witwe des Sachverwalters Coquenard, zu heiraten, nicht zuletzt natürlich die achthunderttausend Pfund, die der Geldschrank ihres ersten Mannes beinhaltete. Ihr entsetzlicher Geiz und die daraus resultierende Unfähigkeit einen fähigen Koch einzustellen dagegen, brachten Monsieur du Vallon - einen wahren Gourmet (obwohl seine Frau eher dazu neigte ihn als Gourmand zu bezeichnen...) – immer wieder an den Rand der Verzweiflung! Der letzte Mensch in seinem Haus, der die Unverschämtheit besessen hatte sich chef de la cuisine zu nennen hatte das Fass jedenfalls zum Überlaufen gebracht! Die ausgemergelte Weihnachtsgans, die er seinem hungrigen Hausherrn vorgesetzt hatte, war zäh gewesen wie eine Schuhsohle und das Gemüse hätte dieser nicht einmal einem Verhungernden zumuten wollen! Es war daher gekommen, was kommen musste: Nach der zweiten Mahlzeit dieser Art hatte Monsieur du Vallon den neuen Koch davongejagt. Tatsächlich war er ihm schimpfend und fluchend soweit in den Wald gefolgt, der hinter seinem Gut begann, bis er sicher war, dass sich dieser Unfähige in seinem Leben nicht mehr zurück wagen würde. Um dem darauf folgenden hysterischen Anfall seiner Frau zu entgehen, die jammerte, dass sie einen solch anspruchslosen und billigen Koch kein zweites Mal finden würde (was ihr Mann von ganzem Herzen hoffte), flüchtete sich dieser in den Stall zu seinen Pferden. Als er annehmen konnte, der größte Zorn der Hausherrin sei verflogen, kehrte er zurück, fand jedoch sämtliche Eingänge zu seinem Haus verschlossen. Alles Toben, Drohen, Bitten, Fluchen und Gegen-die-Tür-hämmern war vergebens. Madame du Vallon blieb stur. Diesmal hatte ihr Gatte es zu weit getrieben. Dem armen verstoßenen Hausherrn blieb daher nichts weiter übrig, als sich auf eines seiner Rosse zu schwingen und sich auf den Weg nach Paris zu machen, wo er Freunde hatte, bei denen er Unterschlupf zu finden hoffte. Sein Hochmut ließ ihn fest daran glauben, dass die Widerspenstige nach spätestens einer Woche ohne den geliebten Gatten gezähmt sein würde, diesem hinterher gereist käme, und ihn auf Knien anflehen würde wieder zu ihr zurück zu kehren.
Doch was zum Teufel sollte er d’Artagnan und Athos erzählen, wenn sie ihn fragten, weshalb er ihnen um zehn Uhr abends und noch dazu ohne Reisegepäck, ohne Kutsche -ja noch nicht einmal seinen Diener hatte er bei sich - einen Besuch abstattete?
Vor die Tür gesetzt!
Es war demütigend! Entehrend! Peinigend! Oh, sie durften es nie erfahren! Sie würden...
Ein donnerndes Poltern ließ den Reiter aufhorchen, während sein Pferd erschrocken einen Schritt zurück tat. Das Geräusch kam aus einer Baracke am Ende der Gasse. Der Reisende stieg vom Pferd und näherte sich der Hausruine. Noch einmal polterte es und die Holztür erzitterte unter der Wucht der Erschütterung, hielt jedoch stand. Undeutlich war ein Fluch zu hören. Offensichtlich versuchte jemand die Tür von innen mit einem schweren Gegenstand zum Bersten zu bringen. Neugierig lief der Reiter um das Gebäude herum, ein Fenster suchend, durch das er einen Blick ins Innere zu erhaschen hoffte. Doch dort, wo einst das Fenster des Hauses gewesen sein musste, war die Wand eingestürzt, sodass nun ein gewaltiger Steinwall die Rückseite des Hauses darstellte.
Der Reisende lief zurück zur Vorderseite.
„Ist dort drinnen jemand?“ fragte er, da ihm keine sinnvollere Frage einfiel.
„Nein, die Steine fliegen völlig von selbst gegen die Tür!“ kam auch prompt die Antwort. „Helft mir! Man hat mich in dieser Baracke eingesperrt!“
Mon Dieu! Kannte er diese Stimme nicht? Aber wieso...? Monsieur du Vallon war kein Freund von langen Überlegungen. Kurzerhand nahm er Anlauf und rannte die Tür ein. Mit einem langgezogenen Stöhnen gab sie bereits beim ersten Versuch nach. Begleitet von berstenden Holzsplittern stolperte du Vallon ins Innere der Baracke. Seine Augen brauchten einen Augenblick um sich an die Dunkelheit in dem fensterlosen Raum zu gewöhnen und einige weitere um in dieser seltsamen staubbedeckten Kreatur, die einen Trümmer mit einem Durchmesser von zwei Fuß über dem Kopf hielt, als wolle sie damit auf ihn losgehen, seinen alten Freund zu erkennen.
„D’Artagnan!“
„Porthos?!?“ D’Artagnan war nicht minder erstaunt in dieser gottverlassenen Gegend ausgerechnet von seinem einstigen Kameraden aus einer alten Steinbaracke befreit zu werden, den er seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Beinahe hätte er sich den Trümmer auf die Füße fallen lassen.
„Was, zum Teufel, macht Ihr denn...“
Die Wucht, mit der Porthos ihn umarmte, erstickte d’Artagnans Frage. Geduldig ließ er die stürmische Begrüßung über sich ergehen. Dann schüttelte er zerknirscht den Kopf.
„Es ist erniedrigend Euch so zu sehen!“
„Was!?“ Das war nun nicht gerade das, was Porthos sich als Reaktion auf ihr Wiedersehen erhofft hatte.
„Ich meine, es ist erniedrigend, Euch so zu sehen, wie Ihr mir nichts dir nichts durch diese gottverdammte Tür gestürmt kommt, während ich einen Tag erfolglos damit zugebracht habe einen Weg zu finden sie zu zertrümmern!“
„Pah!“ Porthos machte eine wegwerfende Handbewegung. „Kleinigkeit!“ Neugierig musterte er d’Artagnan von oben bis unten. „Was ist Euch denn passiert? Und wer hat Euch hier eingesperrt?“
„Der Küster von Saint-Eustache, glaube ich.“
„Aha.“ machte Porthos verständnislos.
D’Artagnan seufzte. „Eine komplizierte Geschichte. Ich will Euch alles erzählen, doch zuerst muss ich mich waschen und umziehen. Mon Dieu, ich muss ein entsetzlicher Anblick sein! Und danach lasst uns ein Gasthaus aufsuchen. Ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen.“
Porthos davon zu überzeugen, dass es sich mit vollem Magen besser erzählen ließ, bedurfte es weiß Gott nicht mehr und so saßen die beiden Freunde eineinhalb Stunden später bereits wie zu alten Tagen in ihrem Lieblingsgasthaus „Zum Fichtenzapfen“.
„Es ergibt keinen Sinn.“ D’Artagnan nahm einen tiefen Schluck Wein. „Die beiden Opfer, meine ich. Ich bin sicher, dass sie nicht willkürlich ausgesucht wurden. Es besteht ein Zusammenhang zwischen den beiden. Doch weshalb gerade der Marquis und die Duchesse?“
„Die Sache wäre einfacher“ stimmte Porthos schmatzend zu, „wenn entweder du Lû nicht Gardeleutnant seiner Eminenz oder die Duchesse nicht ehemaliges Ehrenfräulein von Maria von Medici gewesen wäre. Im ersten Fall könnten wir davon ausgehen, dass der Kardinal dahinter steckt, im zweiten dass er eben nicht dahinter steckt.“
„Porthos, Ihr vergesst, dass nicht immer der Kardinal der Bösewicht sein muss!“ erwiderte d’Artagnan schmunzelnd. „Ich glaube, in diesem Stück spielt er nur eine Nebenrolle.“
„Und wenn es diesem Lucifer nun garnicht um die Opfer an sich ging, sondern zum Beispiel um...“ Porthos legte die Stirn in Falten und vergaß durch die Anstrengung des Nachdenkens sogar, dass er den Bissen Hammelfleisch noch nicht hinuntergeschluckt hatte. „...um ihre Namen!“
„Um ihre Namen?“
„Besser gesagt: um ihre Initialen! Und die könnten wiederum für irgendein Losungswort stehen. „
„Das klingt interessant!“ Aufmerksam beugte d’Artagnan sich vor. Sollte Porthos vielleicht gerade von einem seiner seltenen Geistesblitze heimgesucht worden sein?
„Nehmen wir zum Beispiel den Marquis: François du Lû. F. L. Das könnte stehen für ... für fiat lux!“ Stolz blickte Porthos seinen Freund an, doch das erhoffte Lob blieb aus.
„Fiat lux? Es werde Licht?“ Enttäuscht schüttelte d’Artagnan den Kopf. „ein eigenartiges Losungswort für jemanden, der unter dem Pseudonym Lucifer zwei Morde begeht, findet Ihr nicht?“ Seufzend riss d’Artagnan an seinem Schnurrbart, der nun schon zum wiederholten Male unter diesem Rätsel zu leiden hatte. Dann kam ihm plötzlich ein Gedanke und er hielt in der Bewegung inne. „Porthos, Ihr seid ein Genie!“
„Nun ja, ich...“ Mit diesem Kompliment – zumal er nicht allzu häufig als Genie bezeichnet wurde - hatte der Freund nicht gerechnet.
„Ihre Namen!“ Vor Aufregung sprang d’Artagnan auf. „Es ist viel einfacher. Nehmen wir die ganzen Namen. Du Lû und du Val de Cy. Lû-Cy: der Anfang des Wortes Lu-ci-fer. Diese Mordserie ist noch nicht beendet, Porthos! Drei Kerzen, drei Tote! Heute Nacht wird es ein weiteres Opfer in Saint-Eustache geben und sein Name ist...“
Porthos lief rot an, als er sich an seinem Hammelfleisch verschluckte, während d’Artagnan kreidebleich wurde.
„...de la Fère!“
Von seinem Fenster aus beobachtete Athos, wie eine Kutsche in die Rue Férou einbog und vor seiner Wohnung anhielt. Auf dem Türschlag erkannte er das Wappen der Marquise de Rambouillet. Ein Mann in einer Kutte stieg aus und schien zu zögern, bevor er das Haus betrat.
Traurig wandte Athos den Blick ab und sah mit einem Seufzen auf den Degen, der griffbereit neben ihm lag.
„Grimaud, führe den Herrn, der gleich hier erscheinen wird, bitte in dieses Zimmer, und dann lass uns allein – egal, was du hörst, komme nicht eher herein, als ich nach dir rufe.“
Der Diener, der es gewohnt war, zu gehorchen ohne Fragen zu stellen, nickte nur kurz zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Als kurz darauf ein Mann in einer schwarzen Kutte eintrat, verschwand er im Nebenzimmer.
„Ich habe auf Euch gewartet“ sagte Athos ohne sich zu dem Fremden umzudrehen. „Es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben, mein Freund.“