Die Eiserne Maske von andrea
Durchschnittliche Wertung: 4, basierend auf 1 BewertungenKapitel Ein Leben in Gefangenschaft?
Noch am selben Tag ritt d'Artagnan neben einer Kutsche und in Begleitung von sechs Musketieren über die Stadtgrenze von Paris in Richtung Marseille. Der König selbst hatte den Auftrag gegeben, schnellstmöglich abzureisen.
Philippe hatte sich bereitwillig in sein Schicksal ergeben und die eiserne Maske, die für ihn angefertigt worden war, ohne einen Einwand angelegt.
D'Artagnan hatte Befehl gegeben, in einer Gastwirtschaft die Nacht zu verbringen, doch der Prinz, dem dieser Plan mitgeteilt wurde, bat, mit dem Musketieroffizier zu reden.
D'Artagnan ließ sich zurückfallen und ritt nah an die Kutsche Philippes heran. "Sie wollten mich sprechen, Monseigneur?"
Philippe steckte den Kopf aus dem Wagen. Für einen Moment dachte d'Artagnan, sein Pferd wolle sich bei dem Anblick dieses stählernen Gesichtes bäumen, aber es blieb ruhig.
"Ja, mein Herr, ich wollte mit Ihnen sprechen." Die Stimme des jungen Mannes klang merkwürdig blechern hinter dieser Maske.
"Herr d'Artagnan, ich bin mir sicher, daß es nicht empfehlenswert wäre, in einer Gastwirtschaft einzukehren. Denn wäre es nicht möglich, daß ich versuche zu fliehen?"
"Sie sind ein ehrlicher Mensch, Monseigneur, und ich würde meinen Kopf darauf verwetten, daß Sie keinen Fluchtversuch unternehmen würden, aber Sie haben recht. Es würde sicherlich komisch anmuten, wenn ein Mann mit einer eisernen Maske in einer Schenke einkehrt. Sebastian, reite nach Nemours voraus und kaufe in der Wirtschaft Brot und Wein!"
Der angesprochene Musketier gab seinem Pferd die Sporen und verschwand in der Dunkelheit.
"Monseigneur, glauben Sie, daß Sie vier Nächte in Ihrer Kutsche übernachten können?"
"Natürlich", antwortete der Prinz. "Aber wo werden Sie schlafen?"
"Nun, das ist nicht das Problem. Meine Männer können auch ein paar Nächte auf dem Waldboden neben ihren Pferden übernachten, das Wetter ist ja gut."
Wie d'Artagnan vermutete, erreichte man am Abend des vierten Tages Marseille.
Hier sollte, so der Befehl des Königs, ohne Umschweife ein Schiff bestiegen werden, um nach Sainte Marguerite zu fahren. Die sechs Musketiere sollten nach Paris zurückreiten und d'Artagnan sollte den Gefangenen begleiten und bewachen.
Bereits im Morgengrauen stach der Kahn, den d'Artagnan gemietet hatte, in See. Dem Kapitän wurde der Befehl des Königs mitgeteilt, einen Gefangenen auf die Insel Sainte Marguerite zu bringen.
Um die Mittagszeit begab sich d'Artagnan in Philippes Koje. Der junge Mann saß auf seinem Bett und ließ den Kopf - auch beim Eintritt d'Artagnans - hängen. Er sah nicht mehr so stolz und majestätisch aus wie bei der Abfahrt aus Paris. Die Schwere der Maske drückte seinen Kopf unweigerlich nach unten und verlieh ihm eine gebückte Haltung.
D'Artagnan blieb beim Eintritt in die Koje einen Moment lang stehen, betrachtete den Prinzen und dachte nach. Sein Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, daß dieser Mann, der doch kaum 23 Jahre alt war, sein Leben lang diese eiserne Maske tragen müßte. Nie hätte er darüber nachgedacht, daß der König von Frankreich in dem Alter wäre, sein Sohn zu sein, doch als er Philippe vor sich sah, regten sich fast väterliche Gefühle in ihm. Die beiden Brüder waren sich vielleicht äußerlich gleich, aber im Inneren doch völlig verschieden. Seine Gedanken schweiften ab, und er sah Athos und Raoul, Vater und Sohn.
"Was ist?" - Die Worte Philippes rissen d'Artagnan aus seinen Gedanken. Immer noch klangen sie hohl, aber schon irgendwie vertrauter.
"Monseigneur, Sie sollten etwas essen! Sie verweigern es schon seit zwei Tagen."
"Haben Sie sich einmal gefragt, wieso ein Gefangener in seinem Gefängnis fast wahnsinnig wird aber trotzdem weiterleben will?"
"Wieso?" fragte d'Artagnan.
"Weil er die Hoffnung hat, wieder heraus zu kommen, weil er hofft, daß das Verbrechen, daß er begangen hat, irgendwann hinfällig wird. Wissen Sie jetzt, warum ich nichts mehr esse?"
"Nein, Monseigneur", antwortete d'Artagnan, der ganz genau wußte, was Philippe sagen würde, und er bemerke ein leichtes Zittern in seiner Stimme: "Nein, das weiß ich nicht."
"Weil ich mein Verbrechen nicht wieder gutmachen kann. Weil dieses Verbrechen mir von Gott vorbestimmt wurde, schon als ich auf die Welt kam. Weil mein Verbrechen einzig und allein darin besteht, dem König ähnlich zu sehen." Aber der junge Mann sprach diese Worte nicht mit Traurigkeit oder Wehmut, sondern nur mit der Stimme eines Mannes, der sich in sein Schicksal ergeben hat.
Nach einer Viertelstunde verließ d'Artagnan die Koje des Prinzen, sein Entschluß war gefaßt. Er ging zum Steuermann. "Monsieur, auf welcher Höhe befinden wir uns?"
"Wir werden in Kürze die Insel Elba umschiffen", antwortete der Steuermann.
"Das ist gut, drehen Sie jetzt bei und fahren Sie nach dem Hafen Port-Saint-Louis-de Rhône!"
"Monseigneur, wenn Sie mir bitte die Anweisung vom Kapitän vorzeigen könnten?"
"Wieso Anweisung, ich denke doch, daß ich hier, als diensttuender Offizier, Anweisungen zu geben habe, oder nicht? Ich sage also, Sie werden jetzt den Hafen ansteuern!"
"Entschuldigen Sie vielmals, Monseigneur, aber der Kapitän hat ausdrücklich den Befehl gegeben, die Insel Sainte Marguerite anzusteuern und den Kurs nur dann zu ändern, wenn er eine schriftliche Anweisung gibt. Er hat nämlich einen Befehl vom König."
D'Artagnan, der sehr wohl merkte, daß er hier nichts erreichen konnte, zog es vor, seine Wut herunterzuschlucken und erst einmal den Kapitän aufzusuchen.
Er fand diesen auch, an seinem Schreibtisch sitzend. D'Artagnan bemerkte auf den ersten Blick, daß es sich hier um einen alten Offizier noch aus der Zeit Heinrich IV handelte, königstreu wie eh und je, und sicher nicht so leicht von seinem Standpunkt abzubringen. Das ging d'Artagnan durch den Kopf, als er eintrat.
"Kapitän, ich muß mit Ihnen reden."
"Was gibt es, aber rasch, ich hab zu tun!"
"Ich war gerade bei Ihrem Steuermann, um eine Kursänderung zu veranlassen. Und wissen Sie, was er mir sagte?"
"Er wird den Kurs nicht geändert haben, denn ich habe den Befehl gegeben, ohne Umschweife nach Sainte Marguerite zu fahren. Denn so lautet der Befehl des Königs, dem ich natürlich nachkommen werde", antwortete der alte Offizier.
D'Artagnan war auf solch eine Antwort gefaßt gewesen, deswegen antwortete er auch ohne Umschweife: "Ja, so lautet der Befehl des Königs. Aber auch ein König ändert manchmal seine Meinung, und ich überbringe Ihnen den Befehl, den Kurs zu ändern."
"Gut, aber er ist doch hoffentlich schriftlich, oder?"
"Nein er ist mündlich, aber ich hoffe, Sie werden ihn trotzdem ausführen."
"Wieso sollte ich das tun?"
"Weil der Befehl mündlich vom König kommt."
"König Ludwig XIV. ist hier?"
"Ja", antwortete d'Artagnan, erfreut über den Eindruck, den seine Worte auf den Kapitän machten, "ja, er ist hier."
"Führen Sie mich zu ihm!"
Beide begaben sich in den unteren Teil des Schiffes, zu Philippes Koje.
"Entschuldigen Sie mich einen Moment, ich werde Sie dem König melden."
D'Artagnan öffnete die Tür und zog sie rasch wieder hinter sich zu. Philippe saß immer noch auf seinem Bett. Diesmal hob er den Kopf ein wenig, er war wohl nicht darauf gefaßt, zweimal am Tag Besuch zu bekommen. Bevor er noch etwas sagen konnte, ergriff d'Artagnan das Wort.
"Monseigneur, hier ist der Schlüssel zu Ihrer Maske, Sie werden sie abnehmen, sich rasieren und sich dann wieder setzen!"
"Aber warum dies?"
"Das werden Sie gleich sehen."
Philippe nahm den Schlüssel und öffnete die Maske.
Fünf Minuten später öffnete d'Artagnan dem Kapitän, der geduldig gewartet hatte, die Tür. Dieser verbeugte sich tief vor Philippe. "Nun, Majestät, Sie haben einen Befehl für mich?"
"Ja, das hat er. - Also, Majestät, teilen Sie dem Kapitän Ihre befehligte Kursänderung mit!"
Ohne es zu merken, hatte d'Artagnan sich soeben zum Vormund des Prinzen gemacht. Aber was Philippe sagte, hatte er nicht erwartet: "Es tut mir leid, Herr Kapitän, aber diesen Befehl kann Ihnen nur der König von Frankreich geben. Und der bin ich nicht."
"Sind Sie nicht?"
"Nein, ich bin nur sein Doppelgänger, und Ludwig XIV hat den Befehl gegeben, mich in einer stählernen Maske auf die Insel Sainte Marguerite zu bringen. Monsieur d'Artagnan, geben Sie mir die Maske zurück, denn ich soll sie bis zu meinem Tode tragen."
Bei diesen Worten zerriß es dem Musketiermarschall fast das Herz. Dieser Mann war der einzig wahre Herrscher Frankreichs, wenn er es auch nie regieren würde.
"Nein, Monseigneur", erwiderte er dann, "ich werde Ihnen die Maske nicht zurückgeben. Wenn Sie schon die Wahrheit sagen wollen, so müssen Sie auch die ganze Wahrheit sagen, denn ich bin mir sicher, daß Ihnen das Geheimnis Ihrer Abstammung bekannt ist." Dann wendete er sich an den Kapitän, der immer noch steif und fest vor dem angeblichen König stand.
"Monsieur, ich appelliere an Ihre Vernunft. Dieser Mann ist der Bruder - der Zwillingsbruder - des Königs Ludwig XIV. Er ist ein rechtmäßiger Anwärter auf Frankreichs Thron und aus Angst vor den Folgen für das Königreich hat Ludwig XIII damals, nach der Geburt der Zwillinge, den Befehl gegeben, ihn auf immer versteckt zu halten. Mein Plan ist es nicht, wie Sie vielleicht glauben, diesen Mann auf den Thron von Frankreich zu setzen, sondern ich will ihm das menschenverachtende Leben, das Ludwig XIV ihm aufbürdet, ersparen. Ich will diesem Prinzen von Frankreich ein abgeschiedenes und stilles Leben auf einem Flecken Erde Frankreichs ermöglichen, wo er es ruhig und glücklich verbringen kann. Nun Kapitän, was sagen Sie dazu?"
"Monsieur, ich bin derselben Meinung wie Sie." Er verbeugte sich vor Philippe und sprach dann: "Mein Prinz, ich bin ein königstreuer Offizier, aber ich bin auch ein gottesfürchtiger Katholik. Ich glaube, daß ich keinen Eidesbruch am Königtum begehe, sondern eher ein Verbrechen vor Gott und den Menschen verantworten würde, wenn ich keine Kursänderung veranlassen würde."
Dann verbeugte er sich erneut vor dem Prinzen und verließ die Koje, um den Befehl zu geben, den nächsten Hafen anzusteuern.
Als d'Artagnan sich ebenfalls zum gehen wenden wollte, hielt Philippe ihn zurück. "D'Artagnan, ich danke Ihnen, Sie haben ein wirklich edles Herz. Nie hätte ich Sie ersucht, meine Strafe zu lindern, da ich um Ihre Königstreue weiß. Nun danke ich Ihnen, mein Freund, und nehme Ihr Anerbieten an." Mit diesen Worten umarmte er den Musketier. D'Artagnan mußte an sich halten um nicht vor Rührung in Tränen auszubrechen.
Wenige Stunden später ging das Schiff im Hafen von Port-Saint-Louis-de-Rhône vor Anker.