"Die Gräfin de Winter" von Rochefort
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 30 BewertungenKapitel "Die Gräfin de Winter"
Paris 1625.
Es war Mai und König Ludwig XIII. gab eines seiner rauschenden Feste in den Tuilerien. Richelieu hatte seinen Stallmeister, Comte Armand de Rochefort, dorthin gesandt um eine chiffrierte Botschaft an einen Kontaktmann weiter zu leiten. Seit der Kardinal 1624 zum Ersten Minister des französischen Königs ernannt worden war, hatten sich Rocheforts Tätigkeiten für den Geheimdienst Seiner Eminenz, zu dessen Leiter er nun im Laufe der Jahre aufgestiegen war, noch einmal gehörig ausgeweitet. Den Grafen störte dies keineswegs – er liebte diese Art von Herausforderungen und setzte seinen ganzen Ehrgeiz daran, jeden Auftrag bestmöglich zu erfüllen.
Der heutige Abend hatte ihn vor keine allzu großen Schwierigkeiten gestellt. Im Gegenteil, schon bald nach seinem Eintreffen hatte sich eine günstige Gelegenheit zum unauffälligen Austausch der Nachricht ergeben, sodass Richelieus Agent nun entspannt den weiteren Verlauf des Festes verfolgen konnte. Zahlreiche hohe und höchste Adelige sowie auch ausländische Gäste waren anwesend. Es lohnte sich also allemal, Augen und Ohren offen zu halten...
Armand war soeben auf die Terrasse am oberen Ende der großen Freitreppe an der Vorderfront des Schlosses getreten um etwas frische Luft zu schöpfen. Noch immer trafen Gäste ein. Viele kamen mit
Absicht etwas später um ihrem Erscheinen mehr Gewicht zu verleihen und die Aufmerksamkeit der bereits Anwesenden auf sich zu ziehen. Der König selbst wurde nicht vor Mitternacht erwartet. Gerade fuhr wieder eine prächtige, wappen-geschmückte und mit vier weißen Pferden bespannte Karosse vor. Die Dame, die ihr entstieg, zog sofort Rocheforts Blicke auf sich. Sie war jung – nicht viel mehr als
zwanzig Jahre alt – und ihm völlig fremd. Eine Zofe und ein Diener begleiteten sie. Wundervolles blondes Haar, zu einer kunstvollen Frisur drapiert, umrahmte ein engelhaft schönes Gesicht mit makellosem Teint und sinnlich geschwungenen Lippen. Ihre Bewegungen waren anmutig und von einer selbstverständlichen Eleganz und die Art und Weise, wie sie dem Kutscher und ihrer Zofe Befehle
erteilte, bewiesen, dass diese junge Schönheit auch Temperament besaß. Sie trug ein prachtvolles meergrünes, reich mit Borten verziertes und mit Perlen besticktes Kleid, dazu erlesenen aber keineswegs aufdringlichen Schmuck. Nun stieg, nein, schwebte sie die Treppe empor. Da die Zofe währenddessen eine Frage an ihre Herrin richtete, war diese abgelenkt und sah nicht in Armands
Richtung, sodass dieser die Unbekannte weiterhin ungestört betrachten konnte.
Der Stallmeister Seiner Eminenz entsann sich nicht, jemals einer so bezaubernden Frau begegnet zu sein... Sie verschwand im Inneren des Schlosses. Es vergingen einige Sekunden, bevor ihm bewusst wurde, dass er ihr wie ein Idiot mit offenem Mund hinterher starrte – genauso, wie übrigens einige andere Herren auch, die sich mit ihm auf der Terrasse befanden. Von seiner eigenen Reaktion irritiert, schüttelte er leicht den Kopf. Wenn er etwas gelernt hatte, dann sich bei der Ausführung seiner Aufträge niemals von weiblichen Reizen ablenken zu lassen! Doch diese Frau hatte etwas an sich, das er kaum in Worte zu fassen vermochte, eine Art von ... Faszination ... ging von ihr aus, die ihm bisher unbekannt gewesen war...
Sein detektivischer Spürsinn war in jedem Fall geweckt. Er begab sich zurück ins Schloss mit dem Vorsatz, die Schöne möglichst unauffällig im Auge zu behalten und heraus zu finden, wer sie war. Was er in den nächsten Stunden beobachten konnte, bestärkte ihn in seiner Meinung, dass diese Frau mehr als nur außergewöhnlich war – vor allem auch, was ihre Wirkung auf Männer betraf: Ein Augenaufschlag, ein Lächeln, ein paar Worte genügten und selbst Herren, die nicht unbedingt den Ruf genossen, jedem Weiberrock hinterher zu jagen, lasen ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Man
forderte sie zum Tanz auf, man bot ihr die besten Bissen des reichhaltigen Buffets an und riss sich darum, mit ihr zu plaudern. Und dabei erweckte sie nicht einmal den Eindruck besondere Aufmerksamkeit erregen zu wollen. Wohl schien sie bestrebt, die eine oder andere Bekanntschaft zu knüpfen, doch drängte sie sich dabei niemals in den Vordergrund und mied sogar sehr bewusst
die unmittelbare Nähe zum König und dessen Gefolge, als dieser eingetroffen war. Sie verhielt sich wie jemand, der zuerst das Terrain sondieren möchte, bevor er sich zu einem Vorstoß in die eine oder andere Richtung entscheidet. Auch schien sie ein sehr feines Gespür dafür zu haben, wenn jemandes Blick auf ihr ruhte. Denn obwohl Rochefort sich größte Mühe gab, sie diskret und vorsichtig zu beschatten, hatte er doch ab und zu den Eindruck, dass sie verstohlen in seine Richtung blinzelte und seine Absicht sehr wohl durchschaute.
Als das Fest sich dem Ende zuneigte, hatte Armand heraus gefunden, dass es sich bei der bemerkenswerten Schönheit um die Gräfin Charlotte de Winter handelte, die nach dem Unfalltod
ihres englischen Gatten trotz ihrer Jugend bereits Witwe war. Sie selbst schien französischer Abkunft zu sein und hatte über einen französischen Verwandten ihres verstorbenen Gemahls eine Einladung zu diesem Fest erhalten. Über einen Diener, der für den Stallmeister seiner Eminenz als Informant arbeitete, fiel es diesem auch nicht schwer in Erfahrung zu bringen, wo in Paris die Gräfin logierte. Rochefort war zufrieden und beschloss, dem Kardinal bei nächster Gelegenheit von dieser Frau zu berichten. Vielleicht konnten seine Beobachtungen ja in irgendeiner Weise von Nutzen sein...