Herz und Seele Frankreichs von RoostersCromedCDF

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Kapitel Kapitel 23

Wir sind am Ende unserer gemeinsamen Geschichte-Reise angelangt! Vielen Dank für das Interesse, ich hoffe, dass es euch allen gefallen hat!

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Paris, 23. August 1944, Hauptquartier der Gestapo

 

Wir hatten den Scharfschützen!

Thernes konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder zurück zu jenem Mann wanderten, der es gewagt hatte, sich ihm zu entziehen. Es war ihm nach wie vor ein Rätsel, wie es dieser kleinen Kanalratte gelungen war, aus dem am besten gesicherten Gebäude von ganz Paris zu entkommen. Thernes spürte, wie die Wut selbst nach all dieser Zeit glühend heiß nach seinen Eingeweiden griff und seine Atmung begann sich eine Spur zu beschleunigen.

Ich hätte die Wache vor dem Innenhof an Ort und Stelle töten sollen, bedauerte Thernes. Kleindienst hatte ihm dringend davon abgeraten und versichert, dass der Mann niemals mit einem französischen Parasiten kooperiert hätte.

Sie hatten nach dem Verschwinden des Scharfschützen alles genau durchsucht, jeden Winkel des alten Klosters durchstöbert und keinen Stein auf dem anderen gelassen. Er hatte höchstpersönlich ein Dutzend Mal den ehemaligen Klostergarten überprüft und schließlich bei einem der hinteren Fensterrahmen Blutspuren gefunden – auf der Hofseite. Doch das Fenster war fix im Kreuzbogen verankert gewesen.

Nichts, keine Öffnung, kein Mechanismus.

Und selbst wenn der Gefangene durch eben dieses Fenster gekommen wäre, dann erklärte es für ihn immer noch nicht die Tatsache, wie er hatte aus dem Gebäude selbst kommen können. Alle Hinter- und Nebentüren waren verschlossen, alle Außenfenster vergittert und selbst die Schächte der Heizkeller zugenagelt gewesen.

Das Verschwinden dieses kleinen Haufen Dreck ist doch tatsächlich zum größten ungelösten Rätsel meines Lebens geworden.

Selbst die Suche außerhalb des Gestapo-Hauptquartiers war völlig ergebnislos verlaufen, seine Leute hatten ihm versichert, dass sämtliche Seitengassen von Wehrmachtssoldaten gesichert worden waren und sie selbst hatten stundenlang die Umgebung ohne Erfolg durchkämmt. Thernes war nur froh gewesen, dass er den Vorfall Berlin gegenüber hatte vertuschen können und niemand außerhalb dieser Mauern jemals erfahren würde, wie ihn ein kleiner, unbedeutender, französischer Soldat so hatte vorführen können.

Thernes stand bewegungslos an seinem Lieblingsfenster in seinem Büro und starrte auf die Straße unter ihm. Da sind sieDie Pariser Bevölkerung war in den letzten Tagen wie Ungeziefer aus ihren Unterschlüpfen gekrochen gekommen und wimmelte nun durch die Straßen und Gassen.

Man solle sie alle zertreten und dann mit Flammenwerfern abfackeln.

Die Situation lief langsam aber sicher aus dem Ruder und wenn Berlin nicht bald etwas unternehmen würde, dann wäre Paris vermutlich verloren. Bereits seit Tagen herrschte in der Stadt Ausnahmezustand, nicht nur die Pariser U-Bahnen, auch sämtliche Polizisten und Postboten hatten zu streiken begonnen und immer wieder erdreisteten sich diese Widerstandskämpfer im großen Stil deutsche Wagenkolonnen, die auf den Champs-Élysées fuhren, anzugreifen. Diese Tölpel waren unorganisiert und unzureichend bewaffnet, dennoch war es ihnen gelungen, Polizeistationen, Ministerien, Zeitungsredaktionen und das Rathaus mit nichts als alten Jagdgewehren oder provisorischen Waffen wie Molotow-Cocktails zu besetzen.

Es ist zum Erbrechen.

Diese stumpfsinnige Masse dort unten begann, sich gegen die Erhabenheit der deutschen Rasse zu erheben, jetzt, da auch die alliierten Verbände weiter ins Inland vorrückten und Frankreich befreien wollten. Befreien! Man stelle sich das vor! Als wenn diese Kreaturen den Sinn und Zweck ihres Dasein verstünden und es kam ihm so vor, als würden Schafe dem Wolf zu erklären versuchen, er müsse sich vor ihnen in Acht nehmen.

„Herr Hauptkommissar! Eine wichtige Nachricht für Sie!“

Thernes zuckte genervt mit den Augenbrauen, die Stimme der neuen Sekretärin hatte für seine empfindlichen Ohren das durchdringende Quietschen eines Schweins bei der Schlachtung und nicht zum ersten Mal vermisste er das Fräulein Konstanze.

Es war höchst bedauerlich gewesen, dass die gute Frau ihre kranke Mutter im Elsass betreuen musste und trotz aller Versuche, sie zum Bleiben zu bewegen, hatte die Sekretärin gekündigt. Nun gut, der Platz einer Frau war im Schoß ihrer Familie, doch Thernes bedauerte an dieser Stelle auch ein klein wenig, dass er nicht mehr dazu gekommen war, ihren Schoß genauer zu erkunden.

„Geben Sie schon her! Und holen Sie Kleindienst, aber flott!“

Die Sekretärin quietschte eine Antwort und Thernes war froh, von ihrer Gegenwart befreit zu sein. Mit zusammengepressten Lippen überflog er die Nachricht aus Berlin.

„Melde mich wie befohlen, Herr Hauptkommissar!“ Kleindienst dürfte bereits draußen gewartet haben.

„Berlin hat soeben einen ausdrücklichen Führerbefehl übermittelt: Paris darf nicht oder nur als Trümmerfeld in die Hand des Feindes fallen und soll bis zum letzten Mann verteidigt werden! Benachrichtigen Sie die Wehrmachtskontingente, sie sollen sich auf die neue Situation einstellen!“

„Aber Herr Hauptkommissar! Choltitz hat…“

„General Choltitz, Kleindienst! Vergessen Sie sich nicht!“ Thernes hasst es, wenn Untergeben allzu jovial wurden.

„Selbstverständlich, Herr Hauptkommissar! Ich habe gerade erfahren, dass General Choltitz bereits kapituliert und Paris dem Anführer der Résistance-Verbände und dem französischen Generalmajor Leclerc übergeben hat. Davon abgesehen weht sei Mittag die Trikolore vom Eiffelturm. Wir müssen den Befehl ignorieren, wenn ich mir die Anmerkung erlauben darf!“

Kleindienst war beim Reden immer schneller geworden und der gehetzte Ausdruck in den Augen seines Rottenführers verursachte Thernes Kopfschmerzen. Dieser Mann war wahrlich nicht zu Größerem berufen, wenn er sich von solch Lächerlichkeiten wie eine wehende Fahne abschrecken ließe.

„Und was schlagen Sie vor, Herr Rottenführer?“ Thernes bemühte sich nicht einmal, seinen abfälligen Tonfall zu verbergen und er hoffte, dass Kleindienst die Drohung erkennen würde. Kleindienst zögerte tatsächlich, und Thernes schüttelte innerlich den Kopf darüber, wie leicht der Rottenführer im Moment zu irritieren war.

„Ich würde vorschlagen, wir evakuieren das Hauptquartier, Herr Kommissar! Die Ratten des Widerstandes sind bereits auf dem Weg hierher und ich denke nicht, dass wir noch viel Zeit haben. Dreiviertel der Stadt ist bereits in Ihren Händen, wir werden das Zentrum kaum halten können.“ Schimmerte etwa Angst in der Stimme des Rottenführers mit? Thernes‘ Gedanken verhärteten sich, der Führer wusste, was zu tun war und er war unter allen Umständen gewillt, dem ausdrücklichen Wunsch seines einzig wahren Gottes Folge zu leisten.

„Dann werden wir weitere Exempel statuieren! Hat diesen Narren nicht gereicht, dass wir vor fünf Tagen die Straßen der Stadt mit dem Blut ihrer Brut getränkt haben?“

Thernes konnte nicht verhindern, dass ihm ein wohliger Schauer über den Rücken lief, als er daran dachte, wie seine Männer 35 Jugendliche auf der kleinen Prachtstraße mitten im Bois de Boulogne, dem größten Park im Herzen von Paris, erschossen hatten.

Es war ein deliziöses Blutbad gewesen.

Sie hatten diese kleinen Möchtegern-Kämpfer zusammengetrieben und in Reih und Glied aufgestellt, ehe sie sie vor aller Augen mit Kugeln durchsiebt hatten. Thernes sah jedes Detail der jungen Menschen vor sich, wie sich ihre Fassungslosigkeit in blankes Entsetzen gewandelt hatte, als ihnen klar geworden war, dass sie nun sterben würden und wie die Kugeln ihre Leiber vor aller Augen zerfetzt hatten. Ihr Blut war über die Pflastersteine gespritzt und ihre Todesschreie klangen immer noch wie eine süße Arie in seiner Erinnerung nach. In dieser Nacht hatte er ganz Paris unweigerlich klar gemacht, was mit denjenigen passieren würde, die sich gegen das Reich stellen würden.

„Das wird nichts mehr bringen, Herr Hauptkommissar! Leclercs‘ Truppen sind bereits aus Richtung Südwesten in die Stadt vorgestoßen, mittlerweile mit einer ganzen Panzerdivision. Es sind einfach zu viele, sie haben Paris in einem Zangengriff eingekesselt und die Wehrmacht hat bereits mit ihrem Rückzug begonnen. Wir sollten uns ihnen so schnell wie möglich anschließen!“ Kleindienst starrte stramm geradeaus, lediglich der Schweiß auf seiner Stirn und das nervöse Zwinkern seiner Augen verriet den Stress, in dem er sich gerade befand.

„Warum weiß ich davon nichts?“ Thernes schnaubte frustriert, das alles hier lief ganz und gar nicht nach Wunsch, aber er konnte auch nicht wirklich über seinen Schatten springen und einen direkten Befehl des Führers missachten.

Andererseits war General Choltitz einer der treusten Anhänger der deutschen Idee und wenn selbst er bereits den Rückzug antrat, dann war es wohl eine echte Notwendigkeit.

Und alles nur wegen diesem verfluchten Scharfschützen.

Hätte er ihn gebrochen, dann hätten sie mit dem erbeuteten französischen Schätzen ein Vermögen in der Hand gehabt, das den Kriegsverlauf vermutlich deutlich zu ihren Gunsten verändert hätte. Thernes ballte wütend seine Fäuste, er war so kurz davor gestanden. Erneut sickerte die Wut durch ihn wie Lava, die aus einem Vulkan ausbrach und beinahe jeden rationalen Gedanken verzehrte.

„Herr Kommissar, ich brauche eine Entscheidung!“

Die drängende Stimme Kleindiensts riss ihn aus seinem inneren Zornesrausch und Thernes war beinahe dankbar dafür. Er blinzelte einmal irritiert. „Geben Sie den Befehl zur unverzüglichen Räumung! Vernichten Sie aber zuerst alle Akten und Unterlagen, nichts davon darf in die Hände des Feindes gelangen, verstehen Sie?“, schnauzte Thernes nun den Rottenführer an, der sich augenblicklich umdrehte.

Noch während er aus der Direktion lief, bellte er bereits laute Befehle an seine Männer.

„Fräulein!“, rief Thernes nun nach seiner Sekretärin im Vorraum und sprach, ohne ihr Erscheinen oder gar ihre Antwort abzuwarten, weiter. „Ordern Sie unverzüglich meinen Wagen, ich breche in wenigen Minuten auf!“

Thernes erwartete, dass die Dame seinem Befehl nachkommen würde und ging zu seinem Schreibtisch. Von draußen drangen laute Stimmen zu ihm hinauf, der Mob hatte wohl immer mehr Mut und Selbstvertrauen gefasst, zumindest klangen die Rufe ungestümer und aggressiver als noch wenige Minuten zuvor.

Kleindienst hatte tatsächlich Recht, dass er seinen Aufbruch nicht weiter würde hinauszögern können. Thernes griff nach der Akte in seiner obersten Schublade und öffnete sie kurz. Das Bild des Scharfschützen, aufgenommen von Rochefort in irgendeinem Kloster, lag obenauf.

Thernes schwor sich, dass er, wenn der Krieg vorbei sein würde, Rochefort erneut auf ihn ansetzen würde. Aber diesmal würde er sich nicht damit aufhalten, ihn gefangen zu nehmen.

Diesmal werde ich Rochefort den Befehl geben, den Bastard unverzüglich zu töten.

Das gute Gefühl der Rache und Vergeltung legte sich wie ein Eisregen auf die tosende Lava in seinem Inneren. Thernes wandte sich mit einem letzten Blick ohne viel Sentimentalität um und ging schnellen Schrittes über die Treppen hinunter und durch die Aula hinaus in die schwüle, heiße Sommerluft. Er verspürte keinerlei Bedauern oder irgendeine Form von Rührseligkeit, dass er den Ort, an dem er seit beinahe 3 Jahren lebte, nun würde verlassen müssen. Alles hier stank mittlerweile nach dem Pariser Geschmeiß und der Bitterkeit einer Niederlage und je schneller er von hier wegkam, umso besser.

Der obligatorische schwarze Mercedes wartete bereits mit geöffneter Wagentür auf ihn. Thernes hielt vor dem Einsteigen einen kurzen Moment inne.

Er wendete seinen Blick voller Abscheu ein letztes Mal zur Straße vor dem eisernen Tor, angewidert von der aufgebrachten Menschenmasse, die irgendwelche Parolen skandierten. Diese Narren hatten anscheinend vor, das Hauptgebäude zu stürmen und nur noch die auf sie gerichtete MG2-Geschütze hielt sie davon ab. Es juckte Thernes in den Fingern, seinen Männern den Schießbefehl zu erteilen.

Oh ja, kommt nur, kommt nur ihr kleinen, miesen Ratten, ich werde euch Abschaum zerquetschen und jedem einzelnen von euch das Herz aus dem Leib reißen und euch ausnehmen wie Schweine, wie ich euch alle has

***

Aramis musste nicht durch das Zielfernrohr schauen, um zu wissen, dass das kleine Loch auf Thernes‘ Stirn da war und sich sein Gehirn gerade über den kleinen Vorplatz des Klostereingangs verteilt hatte. Er schloss stattdessen kurz die Augen und atmete tief aus.

Er hatte sich diesen Moment seit jenem verhängnisvollen Märztag immer wieder ausgemalt und vorgestellt. Thernes hatte ihm ein Spiel aufgezwungen, dessen Regeln er nicht gekannt und dessen Zweck er erst im Angesicht seines vergossenen Blutes durchschaut hatte.

Schach matt, dachte Aramis, aber er empfand weder Genugtuung noch Freude.

Die letzten Tage waren ein einziges Chaos gewesen, die Stadt brodelte wie ein Hexenkessel, seit die Operation Overlord in der Bevölkerung bekannt geworden war.

Es war um nichts weniger als um den Kampf um Paris und wie es schien um nichts geringeres als um den Kampf um die Freiheit und Menschlichkeit gegen ein System des Hasses und der Barbarei gegangen. Der Generalstreik hatte bereits Mitte August begonnen und seit wenigen Tagen tobte ein erbitterter Straßenkampf zwischen der Wehrmacht und den französischen Widerstandskämpfern. Angefeuert wurde ihre Kampfkraft von den alliierten Verbänden, die sich von allen Seiten auf Paris zubewegten und mit schwerem Geschütz gegen die deutsche Besatzungsmacht vorgingen. Die Deutschen hatten die Pariser Bevölkerung in den letzten Wochen regelrecht ausgehungert, die Zahl der Hungernden war stetig gestiegen.

Meine Güte, sie haben uns diese verzweifelten Menschen regelrecht in die Arme getrieben.

Treville hatte die Musketiere mitten in die Gefechte hinein befohlen, da sie, im Unterschied zu den neu hinzugestoßenen Résistance-Kämpfern ausgebildete Soldaten waren. Athos, Porthos und d‘Artagnan hatten versucht, so gut sie konnten, den völlig unorganisierten und unzureichend bewaffneten Kämpfern dabei zu helfen Polizeistationen, Ministerien, Zeitungsredaktionen und das Rathaus zu besetzen. Die Männer und Frauen waren motiviert und entschlossen, aber mit ihren alten Jagdgewehren oder einfachen, provisorischen Waffen konnte nur ihre schiere Überzahl die Besatzer zurückdrängen und es waren trotz all ihrer Bemühungen viele Verluste zu beklagen gewesen.

„Und wieder haben sich mein Stellungsnetzwerk bewährt, murmelte Aramis zufrieden in sich hinein.

Längst war der Gefechtslärm von den Straßen einem immer lauter werdenden frenetischen Jubel der Masse gewichen. Aramis konnte auf seiner Position auf einem Balkon einer verlassenen Dachgeschosswohnung im fünften Stock mitten im Zentrum von Paris die Parolen nicht verstehen, aber er verstand die tiefen Emotionen, die da zu ihm hoch getragen wurden. Der Geschmack der Freiheit hatte sich über die Stadt gelegt und mit ihm der eiserne Wille, niemals wieder zu weichen.

Aramis hatte keine Eile damit, das Kar98k zu verstauen und sich in Sicherheit zu bringen. Paris war mehr oder weniger wieder in den Händen Frankreichs und die Deutschen hatten gewiss dringlichere Probleme als in den Kampfwirren nach einem einzelnen Scharfschützen zu suchen, auch wenn sie gerade ihren Gestapo Kommissar verloren hatten.

Wie gut, dass d‘Artagnan dich gefunden hat, meine Schöne, kam es Aramis in den Sinn, während er gedankenverloren über den Lauf der Waffe strich.

Das Gewehr war ein Wunderwerk deutscher Ingenieurskunst, überaus elegant, fein austariert und serienmäßig mit einem Zielfernrohr ausgestattet. Die Mauser war so leichtgängig, dass sie in keinster Weise verzog und aufgrund des stabilen Rückstoßes konnte Aramis es innerhalb kürzester Zeit einschießen. Die hohe effektive Reichweite von über 800m gepaart mit bestechender Präzision versetzte ihn immer wieder ins Staunen.

Ich frage mich, wie die Deutschen jemals den Krieg verlieren konnten. Die Überlegenheit der Waffen war nur allzu offensichtlich – aber das hatte keine Bedeutung, wenn der oberste Befehlshaber hinter diesen Waffen verblendet und wahnsinnig war.

Aramis nahm einen Schluck Wasser aus seiner mitgebrachten Feldflasche und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er rollte seine Schultern, um ein wenig die Spannung aus sich heraus zu nehmen und zuckte kurz zusammen.

„Ich frage mich wirklich, wie lange es noch dauern wird...“ seufzte er frustriert, auch wenn die Heilung vor allem Dank Lemays persönlichem Einsatz unerwartet gut verlaufen war. Der Arzt hatte ihn in der kritischsten Phase mit Morphium und Penicillin versorgt und Aramis so geholfen, das Schlimmste halbwegs ertragen zu können. Lemay hatte bereits nach zehn Tagen die Schnitte, die er in der kleinen Operation setzen musste, wieder vernähen können und von diesem Zeitpunkt an war die körperliche Genesung schnell voran geschritten.

Und was ist mit den Narben, die keiner sieht?

Thernes und vor allem das Gefühl der Hilflosigkeit hatten sich tief in Aramis‘ Gedächtnis gebrannt und es verging kaum eine Nacht, in der er nicht schweißgebadet hochschoss und für einen kurzen Moment nicht realisieren konnte, dass er sich tatsächlich in Sicherheit befand. Es ist vorbei, hatte Athos gesagt und Aramis ankerte sein Vertrauen ins Leben an diesem Satz.

Also wird auch das vorbei gehen. Aramis war sich dessen sicher, denn er war nicht alleine und umgeben von Menschen, die ihn liebten und zu ihm standen.

Aramis vergewisserte sich mit einem Blick über die Brüstung, dass seine Unterstützung als Scharfschütze nicht mehr nötig war. Seine Brüder hatte er in dem Tumult unter ihm bereits seit einiger Zeit aus den Augen verloren, aber er vertraute darauf, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen konnten.

Aramis schlug das Gewehr in Leinentücher ein, packte es zurück in eine alte, lederne Jagdhülle und setzte sich auf das dicke, steinerne Balkongeländer, die Füße in die Tiefe baumeln lassend. Die heiße Augustsonne hatte die Stadt aufgeheizt und alles um ihn flirrte in ihrem prallen Licht. Die Hitze störte ihn nicht weiter, solange der warme Sommerwind die brackige Schwüle durchbrach und ein Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er die bunte Menge unter sich sah, die voller Freude das pure Leben feierte.

„Aber es hat uns alle viel zu viel gekostet“, murmelte er, einen leichten Stich in seinem Herzen spürend.

Unweigerlich wanderten Aramis Gedanken auch zu jenen 35 Jugendlichen, die von den Nazis als reine Machtdemonstration brutal abgeschlachtet worden waren. Das völlig unnötige Massaker war für ihn zu einem bitteren Sinnbild für die Verrohung der Menschheit geworden und er war unendlich dankbar, dass er selbst nicht dabei gewesen war. Augenzeugen hatten berichtet, dass es Thernes persönlich gewesen war, der den Schießbefehl erteilt hatte.

Und nun hat dich deine gerechte Strafe ereilt, du elender Bastard.

Natürlich wusste Aramis, dass er damit im Widerspruch zum Gebot der christlichen Vergebung stand, aber er befand sich bereits seit Jahren in einem Dilemma bezüglich seines Soldatentums. Auf der einen Seite stand das Gelöbnis, den Geboten seines Glaubens zu folgen, auf der anderen Seite war jedoch klar, dass eine gewaltfreie Beendigung des Naziregimes niemals möglich gewesen wäre. Aber ethisches Handeln bedeutete für Aramis keineswegs, blind irgendwelchen moralischen Geboten oder Verboten zu folgen.

„We are not to simply bandage the wounds of victims beneath the wheels of injustice, we are to drive a spoke into the wheel itself“, wiederholte er leise die Gedanken eines deutschen Widerstandskämpfers.

Dennoch hatte er Angst, dass er Thernes nur aus Gründen der persönlichen Rache getötet hatte. Jeder Rache ging ein Verlust voraus und er hatte weiß Gott genug an dieses Monster verloren.

Kann es sein, dass es mir nur darum gegangen ist, mir Befriedigung zu verschaffen?

Er wäre dann nicht mehr gewesen als ein Opfer, das selbst zum Täter geworden war, um im Akt der Vergeltung Genugtuung zu erfahren. Er fürchtete sich ein wenig davor, dass er damit seine Seele vergiftet und er zu derselben Kreatur geworden war, welche er gerade getötet hatte.

Aramis seufzte und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. Sein Blick schweifte über die Stadt, die er so liebte und es erfüllte sein Herz mit Freude, dass endlich die Zeit gekommen war, wieder frei und im Licht der Gerechtigkeit zu leben.

Gerechtigkeit.

Hat mich Gerechtigkeit her geführt – oder doch nur Rache?

Gerechtigkeit für die Qualen, die Thernes ihm zugefügt hatte, Gerechtigkeit für das Leid, das der Kommissar so vielen Unschuldigen zugefügt hatte, Gerechtigkeit für all die Toten, die dieser Mann zu verantworten hatte?

Oder war es Rache für die Qualen, die Thernes im zugefügt hatte, Rache für das Leid, das der Kommissar so vielen Unschuldigen zugefügt hatte, Rache für all die Toten, die dieser Mann zu verantworten hatte?

Beides war möglich. Beides war denkbar.

„Nein. Einfach nein“, fiel er seinem Zweifel ins Wort und schüttelte den Kopf. „Dieser Drecksack hat nach allem, was er getan hat, sein Recht auf Leben verwirkt.“

Dennoch waren die Untaten Thernes durch nichts auszugleichen, er hatte den Tod so vieler Menschen auf dem Gewissen und konnte selbst nur einmal sterben. Oh nein, Aramis hatte Thernes nicht um seiner persönlichen Rache willen getötet, sondern weil der Mann widerwärtige Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hatte. Er hatte Thernes die Kugel durch den Kopf gejagt, weil es das Gebot der Gerechtigkeit von ihm gefordert hatte und nicht, weil er sich selbst Genugtuung verschaffen wollte.

Aramis hatte vielmehr das Andenken der Toten bewahrt, indem er getan hatte, was ihnen nicht mehr möglich war. Indem er den Abzug betätigt hatte, hatte er den vielen Opfern von Thernes eine Stimme im Hier und Jetzt gegeben.

Aramis war schmerzlich bewusst, dass er keinem Menschen, der durch Thernes gestorben war, das Leben wiedergeben konnte. Dennoch schob sich ein Lächeln auf seine Lippen. „Es ist vorbei, wir sind endlich wirklich frei“, flüsterte er den Menschen unter ihm und den Menschen vor seinem inneren Auge zu. Er wusste, dass er das himmelschreiende Unrecht berichtigt hatte und Aramis war in jeder Hinsicht mit sich im Reinen.

Aramis blieb noch eine ganze Weile hoch über den Dächern sitzen, bis das grelle Licht des Tages allmählich der angenehmen Helligkeit des Nachmittags gewichen war. Er trank die letzten Schluck Wasser und beschloss dann, zu seinen Brüdern in die Garnison zurück zu kehren.

Als er jedoch aus dem Haus auf die Straße trat, konnte er nicht umhin und ließ sich von der jubelnden Menge mitreißen. Wildfremde Menschen lagen einander in den Armen, aus unzähligen Fenstern wehte die Trikolore und wie aus dem Nichts waren tausende kleine Fähnchen erschienen, die von den feiernden Menschen mit Lachen in den Gesichtern voller Übermut und Ausgelassenheit geschwenkt wurden.

Immer wieder spürte er, wie Menschen ihm auf die Schulter klopften und dankbar anstrahlten, irgendjemand versuchte sogar, ihm ein Huhn in die Hand zu drücken – sie hatten wohl seine umgehängte Gewehrtasche bemerkt und erkannten in ihm einen der Kämpfer um Paris. Aramis freute sich mit ihnen und er hatte in dem Rausch der Gefühle um sich herum nicht wirklich bemerkt, dass er bereits bei den Springbrunnen vor dem Palais de Chaillot ganz in der Nähe des Eiffelturms gelandet war.

Auf einmal sah er Athos, Porthos und d‘Artagnan unter einem der mächtigen Säulenbögen im rechten Seitenflügel stehen. Sie hatten ebenso wie er ihre Gewehre geschultert, irgendjemand hatte ihnen kleine Fähnchen in den Läufe gesteckt und ihre Wangen waren vor Freude, Aufregung, Hitze, Anstrengung oder allem zusammen gerötet.

Meine Brüder...

Aramis‘ Herz ging bei ihrem Anblick auf und er war unendlich dankbar, sie in diesem kostbaren Moment der neu gewonnenen Freiheit und des Friedens völlig überraschend gefunden zu haben. Wie Magnete waren sie zueinander an diesen Ort gezogen worden und auch seine Brüder schienen seine Anwesenheit zu spüren, denn sie drehten sich beinahe gleichzeitig zu ihm um.

Das Strahlen seiner eigenen Freude und Begeisterung zeigte sich jetzt ebenfalls in ihren Gesichtern und jedes Wort war überflüssig geworden, als sie einander umarmten. Sie alle hatten das Grauen dieses furchtbaren Krieges überlebt und gemeinsam würden sie nun in eine Zukunft gehen, die für jeden von ihnen alles bereit halten würde!