Herz und Seele Frankreichs von RoostersCromedCDF
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 1 BewertungenKapitel Kapitel 3
Kapitel 3
Eine gute Stunde zuvor
Aramis lag bereits seit geraumer Zeit in Stellung auf dem flachen Dach eines alten Mietshauses, verschanzt hinter einem gipsernen Ziergeländer, seine MAS-36 penibel vorbereitet und auf die potentielle Zielkoordinate ausgerichtet. Der Konvois sollte laut der geheimen Informationen, die der französische Widerstand abgefangen hatte, in wenigen Minuten ankommen und mit ihm die womöglich alles entscheidende Schlüsselmaschine für die Enigma. Sollte diese der Résistance und damit den Alliierten in die Hände fallen, so könnte das massive Auswirkungen auf den weiteren Kriegsverlauf haben und es bestünde endlich die Möglichkeit, das Dritte Reich zurück zu drängen, womöglich sogar ein für alle Mal zu schlagen.
Nur aus diesem Grund hatte Aramis auf die üblichen Vorbereitungsmaßnahmen verzichtet und war das Risiko einer zu kurzen Aufklärung eingegangen. Benötigte er normalerweise eine gute Woche Zeit zum Auskundschaften der Lokalitäten, so hatte er sich dieses Mal mit einem Tag begnügt. Die der Resistance zugespielten Pläne beinhalteten nicht nur die Route des SS-Konvois, sondern auch die Zeitfenster. Die Nazis hatten, um die Transaktion der Schlüsselmaschine so geheim wie möglich zu halten, paradoxerweise auf eine aufwendige Sicherung des Konvois verzichtet. Sie hatten wohl gehofft, durch die Verharmlosung der Sicherheitsvorkehrungen die Résistance über die Wichtigkeit der Operation täuschen zu können und tarnten die Aktion als den Besuch einer deutschen Handelsdelegation. So kam es, dass kaum Gestapo und SS-Männer unterwegs waren und Aramis völlig unbemerkt die Umgebung ausspähen konnte. Er hatte den perfekten Platz gefunden, 325m weit weg auf dem Dach eines alten Mietshauses. Er hatte zwar nur eine schmale Einsicht auf den Platz, auf dem der Konvoi halten würde, aber er war sich sicher, dass ihn niemand in dieser Distanz vermuten würde. Es war hinlänglich bekannt, dass die französische Regierung seit dem Ersten Weltkrieg andere Prioritäten gehabt hatte, als in moderne Waffen für seine Infanterie zu investieren und das MAS-36 war noch das Beste, was Aramis hatte bekommen können.
Es war ein schwerfälliges Gewehr und auch wenn man Patronen mit dem Kaliber 7,5mm, die ursprünglich für das Maschinengewehr Chatellerault M24 entwickelt worden waren, verwenden konnte, so erwies sich das Nachladen trotzdem als beschwerlich. Darüber hinaus verfügte das MAS-36 über keinerlei Sicherungsmechanismen und im Kampfeinsatz waren die Soldaten angewiesen worden, die Waffe nur unmittelbar vor dem Gefecht zu laden. Von vergleichsweise einfacher Konstruktion war die Waffe jedoch sehr robust und aufgrund ihres kurzen Laufs recht führig. Beides hatte sich für Aramis als Vorteil erwiesen und er war froh gewesen, ein gut gepflegtes Exemplar aus dem Truppendienst mitgehen lassen zu können, das er für seine Zwecke in mühevoller Kleinstarbeit optimiert hatte. Er hatte es auf diese Weise geschafft, die Reichweite des Gewehres noch einmal um 50m zu verlängern und er konnte unter guten Bedingungen aus beinahe 350m schießen. Kein Deutscher würde das dem französischen Relikt zutrauen und dieser Tatsache und seinem außergewöhnlichen Talent war es zu verdanken, dass jede Operation bisher ohne größere Verluste erfolgreich gewesen war.
Immer wieder suchten Aramis Augen aufmerksam die Umgebung ab, er hatte seine Brüder in das schmale Haus direkt neben dem kleinen Handelsbüro, in dem die Übergabe stattfinden sollte, gehen sehen und er verließ sich auf den Plan, der in groben Zügen immer nach dem gleichen Muster ablief. Er würde geduldig warten, bis der Konvoi anhalten und die Deutschen aussteigen würden. Sein Part war es, die Wachen abzulenken, indem er in kurzer Zeit so viele Nazis wie möglich eliminierte und durch das Blutbad, das er anrichten würde, heillose Verwirrung stiftete. Er kannte keinen Schützen, der schneller als er durchladen konnte und meistens lagen innerhalb von wenigen Sekunden mehrere Männer am Boden. In diesen Momenten sollten nun Athos und Porthos mit D‘Artagnan von hinten nachrücken, die restlichen Männer ausschalten und sich das Material aneignen. Sollten irgendwelche Deutschen wie durch ein Wunder die erste und zweite Angriffswelle überlebt haben, so gab Aramis seinen Freunden so lange Feuerschutz, bis sie sich sicher zurückgezogen hatten. War dies erledigt, konnte sich Aramis ebenso auf seinem Fluchtweg in Sicherheit bringen. Auf verschiedenen Wegen würden sie in die Garnison zurückkehren und im günstigsten Fall einen der wertvollsten Schätze des Deutschen Reichs in Händen halten.
Alles schien friedlich und ruhig und Aramis unterdrückte einen leichten Schauer, den die kalte Luft verursachte. Auch wenn die Märzsonne durchaus wärmen konnte, so war die Luft noch winterschwanger und kalt. Aramis hatte deswegen sein warmes, grünes Wollhemd angezogen und sich in seine dicke Lammfelljacke gehüllt. Er hatte sich auch für die aufgeraute Wildschweinlederhose entschieden und war froh darüber, denn der steinerne Boden des Dachs kühlte ihn trotz der Decke, auf der er lag, mehr aus als erwartet. Aramis konnte nichts erkennen, das ihren Plan gefährdete und sein Blick fiel immer wieder auf das Kirchlein am Ende der Straße, rund 800m weit von ihm entfernt. Sie war deutlich kleiner als die umliegenden Gebäude, ihr Glockenturm schaffte es mit Müh‘ und Not ein kleines bisschen die angrenzenden Mietshäuser zu überragen und so war das Kreuz für Aramis deutlich im klaren Nachmittagshimmel des kalten Märztages zu erkennen. Die hellen Sonnenstrahlen ließen es golden aufleuchten und Aramis gestatte sich einen kurzen Moment des Gebets für die Sicherheit seiner Freunde und der Seelen jener Männer, die er bald töten würde. Auch wenn es böse Menschen waren, Menschen, die grauenvolle Taten zu verantworten hatten, Angst und Schrecken verbreiteten und sich einen feuchten Dreck um das Leben anderer, in ihren Augen minderwertigen Kreaturen, kümmerten, so waren auch sie Menschen, die atmeten und dachten und vermutlich auch liebten. Und bald würden sie tot sein, gerichtet durch seine Hand und seinen Willen.
Aramis hatte jedoch keine weitere Gelegenheit mehr darüber nachzusinnen, denn der Wagenkonvoi bog um die Ecke und hielt auf dem Vorplatz des kleinen Bürogebäudes. Aramis atmete tief ein und aus und versank augenblicklich in seiner Aufgabe. Nun gab es nichts mehr, das ihn abzulenken vermochte, er visierte seine Ziele an und wartete. Dicht flankiert von deutlich angespannten Wachen stieg ein Offizier nach dem anderen aus den drei Automobilen aus. Er konnte auf diese Entfernung den exakten Dienstgrad nicht erkennen, aber die Insignien ihrer Uniformen wiesen sie als hohe Offiziere aus. Langsam gingen sie auf die Treppe des Hauseingangs zu. Dies war der Moment, in dem Aramis hätte schießen sollen, doch irgendetwas irritierte ihn an dem vor ihm ablaufenden Szenario. Er konnte sein Gefühl nicht benennen, aber es passte einfach nicht zusammen. Plötzlich erschien ihm der Platz der Übergabe als zu offensichtlich, die Umgebung als zu friedlich und unaufgeregt, die Präsentation der Offiziere als zu deutlich und die Anspannung der Wehrmachtssoldaten als zu verdächtig. Sie schienen weniger das Paket, das sie abliefern sollten, zu beschützen, als vielmehr erwartungsvoll auf ein Geschehen zu warten, das noch nicht passiert war. Darüber hinaus hatte er das Gefühl, dass die Offiziere selbst nicht als etwas Beschützenswertes angesehen wurden, sondern vielmehr als etwas, das am Handeln gehindert werden sollte. Sie agierten auf unerklärliche Weise gehemmt und zurückhaltend. Deutsche Offiziere waren in der Regel stolz und selbstsicher, ihrer Überlegenheit gewiss und strahlten allzu oft eine unverkennbare Arroganz der Macht aus. Diese Aspekte fehlten hier völlig und die Offiziere vor ihm wirkten deplatziert und marionettenhaft. Plötzlich passte einfach nichts mehr zusammen und aus einem spontanen Impuls heraus beschloss Aramis die Soldaten zuerst auszuschalten. Er schoss drei Mal hintereinander und drei Männer fielen.
Die erwartete Hektik brach nun doch aus und die den Konvoi begleitenden Sturmmänner der Gestapo gerieten ebenso in Bewegung. Aramis sah aus dem Augenwinkel, dass Athos, Porthos und D’Artagnan von der Nebenstraße her anrückten, doch er konzentrierte sich auf den nächsten Schuss. Er hatte gerade den Abzug gedrückt, als plötzlich etwas Unerwartetes passierte. Irgendjemand hatte in seine Richtung eine Nebelgranate gezündet, die gesamte Szenerie wurde in ein dunkles Grauschwarz gehüllt und versperrte augenblicklich das Sichtfeld. Aramis konnte von einer Sekunde auf die andere nichts mehr erkennen, trotzdem gab er noch zwei weitere Schüsse ab, von denen er sicher war, dass sie ihr Ziel finden würden, als vor ihm plötzlich ein großer Teil der Gipsbrüstung weggesprengt wurde. Scharfe Gipsteile flogen ihm von vorne ins Gesicht und zerkratzten seine Stirn und Wangen. Aramis hatte keine Zeit mehr, sich auch nur ansatzweise wegzudrehen, als wenige Zentimeter neben ihm eine weitere Kugel einschlug und den Steinboden des Dachs zersplitterte. Er hatte es lediglich der Decke zu verdanken, dass sich keine größeren Teile in seinen Körper bohren konnten und er suchte rasch Deckung, indem er das Gewehr fallen ließ, seinen Kopf unter seine schützenden Arme barg und sich so flach wie möglich machte. Er spürte eine weitere Kugel knapp über sich hinweg fliegen und war gezwungen, sich nach links hinter einen dickeren Geländerpfosten wegzurollen. Er war fassungslos und konnte nicht erkennen, von wo aus er ins Visier genommen wurde, es gab einfach keinen Punkt innerhalb seiner Reichweite, der ihn in eine wie auch immer geartete Schusslinie brachte.
Vom Vorplatz des Handelsbüros drangen nun Schreie bis zu ihm her und er wusste, dass er augenblicklich eine Entscheidung treffen musste. Ein Scharfschütze durfte niemals, unter keinen Umständen, seine Stellung aufgeben! Doch dieses eiserne Gesetz war ihm gleich, denn seine Brüder schwebten in Lebensgefahr, nun, da er ihnen keine Rückendeckung geben konnte. Er rappelte sich hoch, griff sein Gewehr und lief nach rechts in Richtung seines Fluchtweges. Kugeln flogen ihn um den Kopf, aber wie durch ein Wunder wurde er nicht getroffen. Aramis schlitterte hinter einen dicken Balkonpfosten, diesmal nicht aus Gips, sondern aus Stein, der ihm etwas Deckung versprach. Fieberhaft überlegte er, wo der oder die Schützen Stellung bezogen hatten, er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Die einzige Position, die für ihn in Frage kam, war der Turm der kleinen Kirche, aber niemand konnte so weit schießen! Dumpf erinnerte er sich, dass er Gerüchte gehört hatte, dass deutsche Physiker gemeinsam mit Ingenieuren an Waffen mit enormer Reichweite arbeiten würden, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie diese bereits entwickelt, geschweige denn einsatzbereit hatten. Er wurde eines Besseren belehrt, als die nächste Kugel neben ihm am Boden einschlug und er gezwungen war in Deckung zu bleiben. Aramis war sich aufgrund der Kugelsalven mittlerweile sicher, dass mindestens zwei Scharfschützen auf ihn angelegt hatten und er erkannte, dass ihm langsam, aber sicher die Optionen ausgingen, wobei ihm sein eigenes Leben gleichgültig war. Er musste unter allen Umständen das Leben seiner Freunde, seiner Brüder retten, koste es, was es wolle. Dazu musste er jedoch seine Position wechseln, um ein besseres Sichtfeld zu finden und in die den Rauchschwaden entgegengesetzte Richtung kommen. Sein Fluchtweg wäre vom Ansatz her passend, er atmete noch einmal tief ein und rannte im Zickzack los. Die deutschen Scharfschützen begleiteten ihn mit weiteren Kugeln und eine undeutliche Ahnung sagte ihm, dass sie nicht wirklich vorhatten, ihn zu treffen. Hätten sie dies gewollt, so wäre er bereits tot, stattdessen trieben sie ihn vor sich her und zwangen ihn in Bewegung zu bleiben.
Als er an der Kante des Dachs angekommen war und den Weg über die kleine eiserne Feuertreppe hinunter wählen wollte, verstärkten sich jedoch die Kugelsalven und ihm blieb nichts weiter übrig als auf das angrenzende Dach zu springen, das lediglich 2m entfernt war. Aramis rollte sich ab und befand sich aufgrund der Mauer eines größeren Hauses, das nun das Schussfeld der Scharfschützen unterbrach, in Deckung. Er bezog augenblicklich auf seinen Knien Stellung, das Gewehr auf eine kleine Brüstungsmauer gelegt, und eröffnete nun seinerseits wieder das Feuer auf das Getümmel unter ihm. Der Rauch zog in die andere Richtung ab und er hatte wieder freieres Sichtfeld auf das Geschehen. Es waren nur wenige Augenblicke vergangen, seit er seine ursprüngliche Position verlassen hatte, dennoch hatten seine Kameraden in der Zwischenzeit die Gefahr erkannt und begannen mit dem Rückzug. Aramis schoss ununterbrochen auf alle, die seinen Freunden zu nahe kamen oder den Fluchtweg abschneiden wollten, ungeachtet der Gefahr für sich selbst, nun, da er seine Position so offen preis gab. Dies war es ihm wert, denn ein weiterer Soldat fiel und seine Brüder hatten die Möglichkeit, sich weitgehend unbeschadet zurück zu ziehen.
Porthos drehte sich im Laufen noch einmal zu ihm um und suchte nach ihm. Auch wenn sich aufgrund der großen Distanz ihre Blicke nicht wirklich trafen, so spürte Aramis förmlich den Moment, als Porthos ihn auf dem Dach ausgemacht haben musste und er war unendlich erleichtert, dass seine Freunde es schaffen würden zu entkommen. Irgendetwas war katastrophal schiefgelaufen, aber er hatte zumindest den Fluchtweg der anderen sichern können, und nur das allein zählte.
Aramis konnte spüren, dass sie da waren, aber er blieb mit seinem Finger am Abzug und schoss noch zwei weitere Male, ehe er den Lauf einer Pistole an seiner rechten Schläfe wahrnahm. Er schloss die Augen, nahm den Finger vom Abzug und richtete sich etwas auf. Es waren keine Wehrmachtssoldaten, sondern Sturmmänner der Gestapo, die ihn blitzartig eingekreist hatten und nun auf ihn einschrien. Aramis legte langsam das Gewehr ab, schob seine Hände von der Waffe weg und sank nach hinten. Immer noch kniend hob er die Arme hinter seinen Kopf und warte auf den unvermeidlichen Schlag, der jedoch nicht kam. Stattdessen begnügten sich die Männer ihn weiter zweisprachig mit Befehlen anzubellen, die er jedoch nur bruchstückhaft verstand, zu schlecht war ihr Französisch, zu hart die deutsche Sprache.