Herz und Seele Frankreichs von RoostersCromedCDF
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 1 BewertungenKapitel Kapitel 5
Kapitel 5
Hauptkommissar Thernes nahm sich genügend Zeit, Aramis eingehender zu betrachten, ehe er sich ihm gegenüber auf dem weißen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches setzte. Kleindienst hatte ihn bereits vor mehr als zwei Stunden darüber informiert, dass der Scharfschütze für das Verhör „bereit“ war, doch Thernes hatte es nicht eilig gehabt. Aus Erfahrung wusste der Kommissar, dass, je länger einfach gar nichts passierte, desto zermürbender wurde die Zeit des Wartens für die Gefangenen und umso einfacher war es, ihren persönlichen Schutzwall zu durchbrechen und sich zu nehmen, was immer man wollte.
Thernes war zufrieden mit dem, was er sah, entsprach es doch ganz dem Bild, das er von diesem Mann hatte. Kleindienst hatte es womöglich ein wenig übertrieben, aber auch das wunderte ihn nicht. Kleindienst reagierte immer besonders heftig auf Menschen, die ihm überlegen waren, das war der Schwachpunkt des ansonsten kaltblütigen Rottenführers. Und dass dieser Scharfschütze Kleindienst an innerer Stärke und geistiger Gewandtheit überlegen war, war für Thernes offensichtlich. Gewiss, es kam nicht allzu oft vor, denn in der Regel neigten die Menschen, die die Gestapo verhaftete, dazu, eher verängstigt und hilflos zu reagieren und sich der natürlichen Ordnung, wonach die Stärkeren die Schwächeren dominieren, zu unterwerfen. Dieser hier aber wohl eher nicht, dachte Thernes und genau das gefiel ihm. Ihm war das Paradox der soldatischen Aufrichtung und des kindlichen Trotzes des Gefangenen, der sich bereits beim Öffnen der Tür versucht hatte aufzurichten, natürlich nicht entgangen. Gewagt, angesichts seines Aussehen, halb nackt, blutig und mit Prellungen übersät. Oh ja, er hatte schon lange keine Herausforderung mehr gehabt und dieser Gefangene war äußerst vielversprechend!
Während Thernes den mitgebrachten Akt penibel und sorgsam vor sich auf den Tisch legte, ließ er seine Blicke weiter über den Gefangenen schweifen. Der Mann vor ihm wirkte um einiges jünger als er in Wirklichkeit war und durch das Blut und die Prellungen beinahe zerbrechlich, doch hinter seinem weichen Aussehen erkannte Thernes den kompromisslosen Jäger. Vor ihm saß einer der begnadetsten Scharfschützen, den er jemals gesehen hatte und dies wäre ohne ein gewissen Maß an Kaltschnäuzigkeit und Killerinstinkt niemals möglich gewesen. Und Thernes war sich bewusst, dass sein Gegenüber ebenfalls genau wusste, wer er wirklich war, trotz der Maske der Beliebigkeit, die er anfangs gerne zur Schau stellte. Aber es überraschte ihn doch, wie Aramis auf dieses Erkennen reagiert hatte. Anstatt Angst in den Augen des Gefangenen aufblitzen zu sehen hatte es fast den Anschein, als habe sich sein Gegenüber merklich entspannt, fast so, als hätte er einen Beschluss gefasst, der jedoch für ihn, Thernes, nicht erkennbar war. Für einen kurzen Moment ärgerte sich Thernes über die Dreistigkeit seines Gefangenen, doch im Grunde spornte es ihn für das Kommende nur weiter an. Die nächsten Stunden würden sicherlich interessant werden.
Er und sein Stab hatten wochenlang an der Falle, die sie den Musketieren stellen wollten, gearbeitet. Immer wieder hatten sie alle Pläne auf und ab diskutiert und alle möglichen Varianten durchdacht. Einen Scharfschützen aufzumischen war ein schwieriges Unterfangen, ein Scharfschütze vom Kaliber dieses Franzosen umso schwieriger und Thernes musste sicher sein, dass sich die Musketiere und nicht eine andere Résistance-Gruppe einfinden würden. Die Enigma bzw. ihren Schlüssel samt hochrangigen Offizieren als Köder einzusetzen erschien ihnen schlussendlich als die beste Option. Thernes selbst war auf die Idee gekommen, die Informationen so spät wie möglich an seinen Maulwurf in der Garnison weiterzugeben, damit sie authentisch erschienen. Die Platzierung der deutschen Scharfschützen so weit außerhalb der üblichen Scharfschützendistanz war ein gewisses Risiko gewesen, aber auch hier hatte sich wieder die Präzision des deutschen Erfindergeistes gepaart mit überragendem soldatischem Können gezeigt. Echte deutsche, hochrangige Offiziere einzusetzen war Thernes dann aber doch zu weit gegangen und so hatte er sich entschieden, unbedeutende Wehrmachtssoldaten in deren Uniform zu stecken und „auf Mission“ zu schicken. Das Wachpersonal, deren Aufgabe ursprünglich darin bestand, die Führungselite zu schützen, war nun zu Bewachern geworden, die dafür zu sorgen hatten, dass die Köder nicht aus ihrer Rolle fielen. Dies war wohl der einzig echte Schwachpunkt in dem ansonsten perfekten Plan gewesen und es war der Schilderung Kleindienst‘ nach klar, dass ein Mann wie dieser Scharfschütze die Scharade durchschaut hatte.
Auch Aramis mustere Thernes verstohlen und ließ sich nicht von dessem aufgesetzten Alltagsgesicht täuschen, denn trotz der einfachen Schlichtheit seiner Gesichtszüge besaß Thernes einen raubtierhaften Ausdruck, der gefährlich in den Augen hinter seinen Brillengläsern glitzerte. Aramis, als Scharfschütze selbst ein Mann mit tödlichem Killerinstinkt, der in der Regel tief verborgen blieb bis er den inneren Dämon im Gefecht freien Lauf ließ, erkannte sein Gegenüber als das, was er war: Ein Raubtier! Übelkeit stieg in ihm auf, als ihm klar wurde, dass er hier wohl mit dem gefährlichsten Menschen Frankreichs an einem Tisch saß, in der denkbar schlechtesten Ausgangslage, blutig und in Ketten gelegt. Es würde kein fairer Kampf im Feld sein, er würde keine Gelegenheit bekommen, diesem Mann nach seinem Vermögen entgegen zu treten. Aramis dämmerte, dass er hier die Beute war, einzig und allein noch am Leben, weil dieser Mann vor ihm es noch nicht anders gewollte hatte.
Aramis seufzte leise und versuchte, sich zu entspannen, wobei es ihm nicht wirklich gelang, seinen bis ins Ohr pochenden Herzschlag zu beruhigen. Nichts, was er tun oder sagen würde, könnte die Situation hier auf irgendeine Weise beeinflussen. Er hatte seine Stellung Preis gegeben und würde nun die Konsequenzen dafür zu tragen haben. Die Tatsache, dass er damit seinen Brüdern das Leben gerettet hatte, gab ihm Trost und er hoffte, dass er darin genug Kraft für das Kommende finden würde. Er stellte sich seine Würde und Selbstachtung als zwei prächtige Pferde vor, so wie sie einst wohl von echten Musketieren geritten worden waren und in seiner Vorstellung ließ er sie frei. Er würde sie hier nicht benötigen, denn wenn ihm eines gewiss war, dann, dass dieser Mann vor ihm alles daran setzen würde, sie ihm zu nehmen. Aramis kam dem zuvor, denn was er nicht mehr besaß, konnte ihm auch nicht mehr genommen werden. Er war bereit, diesen Kampf nicht mehr nach seinen Spielregeln zu führen, sondern sich den ihren zu ergeben. Er war bereit anzuerkennen, dass sie ihm alles antun konnten, was sie wollten, und bei Gott, das würden sie sicherlich, aber sie hatten es nicht in der Hand, wie er, Aramis, darauf reagieren würde! Das würde sein innerer Sieg sein, von den Schergen vor ihm unbemerkt, aber für ihn war es alles, was blieb. Aramis zögerte, ob er auch das letzte innere Musketierpferd frei lassen sollte, seinen Lebenswillen, aber das erschien ihm zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht. Noch nicht, beschloss er, noch nicht!
„Ich bin Hauptkommissar Thernes, wie Sie vielleicht wissen!“, eröffnete Thernes das Spiel.
Aramis, ein klein wenig überrascht, wie fließend und akzentfrei der Hauptkommissar Französisch sprach, nickte lediglich knapp und lehnte sich zurück, soweit es die Fesseln zuließen. Er wollte abwarten, wie sich das Gespräch entwickeln würde und sich auf Thernes einstellen. Er war in keinster Weise bereit für dieses Spiel, die Regeln entzogen sich seiner Erfahrung, doch er würde es Thernes nicht leicht machen. Aramis machte sich keine Illusionen darüber, dass er früher oder später vermutlich alles preisgeben würde, was er wusste, doch dies würde Thernes ihm erst abtrotzen müssen.
Es herrschte klamme Stille im Raum, lediglich der eine oder andere mühsame Atemzug von Aramis war zu hören. Allmählich wurde ihm vom Steinboden her kalt, aber noch vielmehr machte ihm die innere Kälte, die er verspürte, zu schaffen. Seit der desaströsen Savoy-Mission zu Beginn des Krieges lebte Aramis mit dieser inneren Kälte und in Momenten des Stresses und der Angst war sie allgegenwärtig. Er konnte nicht verhindern, dass ein Zittern durch seinen Körper lief, aber er ließ es zu, auch wenn Thernes es sehen würde. Er hatte seine Würde und Selbstachtung frei gelassen, er konnte nun agieren, ohne dass es etwas zu bedeuten hatte. Er würde der Mann bleiben, der er war, sein Innerstes war frei von diesem Ort, sicher vor jedem Zugriff.
Thernes seufzte ein wenig, ehe er seine nächste Frage stellte: „Woher wussten Sie, dass die Offiziere falsch waren?“
Die Offiziere? Aramis hob überrascht die Augenbraue. Oh! Die Offiziere! Ein amüsiertes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Ihnen fehlte die typische, deutsche Arroganz!“, bemerkte er leichthin. Er rechnete mit sofortigen Konsequenzen und bereitete sich auf einen Schlag vor, doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen lächelte nun auch Thernes.
„Ja, ich habe mir fast gedacht, dass Sie diese Scharade durchschauen würden! Ein Mann wird nur so gut, wie Sie es sind, wenn er einen untrüglichen Instinkt in Bezug auf seine Ziele aufweist. Nun, trotzdem sitzen wir hier, die Finte war also schlussendlich doch erfolgreich…“, antwortete Thernes beinahe dozierend, ohne dabei die ruhige Stimmlage zu verändern.
Aramis zuckte lediglich leicht mit den Schultern, ihm war es einerlei, was Thernes sich ausgedacht hatte, um ihn zu fassen. Thernes hatte es auf ihn abgesehen, obwohl Aramis sich keinen Reim darauf machen konnte, warum dies der Fall war. Athos, als Kommandant der Gruppe, wäre sicher vielversprechender gewesen und der Gedanke, dass Athos jetzt in Sicherheit war, wärmte ihn ein kleines bisschen.
Wieder herrschte Stille, dieses Mal unterbrochen vom Rascheln der Blätter, als Thernes den Akt öffnete. Aramis musste nicht hinsehen, um zu wissen, dass darin Fotos seiner Abschüsse waren und vermutlich die eine oder andere Abschrift offizieller Papiere.
„Wir wissen einiges über Sie, Monsieur Rene d'Herblay, Deckname Aramis, Scharfschütze der Résistancegruppe „Die Musketiere“ rund um einen gewissen König Ludwig. Sie haben 43 deutsche Männer getötet, darunter 18 Offiziere. Ich könnte Sie auf der Stelle dafür erschießen lassen, das wissen Sie!“, konfrontierte Thernes Aramis mit dem Offensichtlichen.
67, um genau zu sein, korrigierte Aramis im Stillen für sich selbst, reagierte aber nicht weiter darauf, sondern hielt lediglich den Blickkontakt mit Thernes und wartete ab, worauf dies alles hinauslief.
Thernes war ein wenig enttäuscht, dass seine Todesdrohung nichts weiter als einen offenen, fragenden Blick bei Aramis ausgelöst hatte und er machte sich eine innere Notiz, dass der Mann vor ihm auch in dieser Hinsicht anders zu sein schien. Es war gut möglich, dass Aramis nicht das erste Mal mit seinem Tod konfrontiert worden war und es juckte Thernes förmlich in den Fingern, seine Pistole zu ziehen und sie Aramis an den Kopf zu halten – nur um zu sehen, wie er darauf reagieren würde. Aber das würde wohl noch ein wenig warten müssen, denn er wusste, dass er noch ein gewaltiges Stück von den Informationen entfernt war, die er sich so sehnlichst wünschte! Und wieder stieg seine Vorfreude auf das, was die nächsten Stunden bringen würden. Und Stunden würde es dauern, der Scharfschütze vor ihm würde sich nicht unter Wert verkaufen, dessen war Thernes sich gewiss. Er fühlte sich mit einem Schlag so lebendig wie schon lange nicht mehr, das Spiel begann, ihm wirklich zu gefallen.
„Nun…“, sagte Thernes mit sonorer Stimme während er sich über den Tisch näher zu Aramis beugte, „ich denke wir können uns das Augenscheinliche sparen und gleich zum Punkt kommen. Das erspart mir Zeit und Ihnen…“ Thernes lehnte sich zurück, zog die Augenbrauen hoch und schwieg bedeutsam.
Doch Aramis senkte auch jetzt nicht seinen Blick und lächelte ihn unverbindlich an. „Wenn Sie die Güte hätten mir zu sagen, was genau mich in dieses…“, Aramis sah sich kurz in der kleinen Kapelle um, „…Institut geführt hat, dann würde ich mir wohl ein wenig leichter tun. Das da“, Aramis nickte kurz zur Akte, „war ich nicht!“
Thernes lachte ob dieser Dreistigkeit laut auf, das war wirklich ein starkes Stück! „Und am Dach waren Sie mit einem Scharfschützengewehr, weil...?“, erwiderte er amüsiert.
„Ich habe Schießübungen gemacht und Tauben gejagt. Es ist in diesen Zeiten nicht ganz einfach an Fleisch heran zu kommen, wie sie sicher wissen!“, antwortete Aramis frech, während er sich innerlich für den Schlag, der nun ganz sicher jeden Moment kommen würde, wappnete. Aber wiederum geschah nichts dergleichen.
Thernes stand auf und lachte trocken, als er den Tisch umrundete, ungläubig den Kopf schüttelnd. Von allen möglichen Wegen, die dieses Gespräch nehmen würde, war das der Unerwartetste gewesen. Wie aufregend! „Tja, nichtsdestotrotz sprechen die Toten auf dem Platz eine andere Sprache und ich rate Ihnen, den Ernst Ihrer Lage anzuerkennen!“, beendete Thernes mit plötzlicher Kälte in seiner Stimme das Geplänkel und schlug abrupt die flache Hand vor Aramis auf den Tisch. Sein Gegenüber spannte unwillkürlich den Kiefer an, ob vor Zorn oder dem Gefühl der Bedrohung konnte Thernes jedoch nicht ausmachen. Immerhin hatte er eine erste Reaktion von Aramis provoziert und daran konnte er anknüpfen. „Wo sind Ihre Stellungen? In welchem Hinterhof versteckt sich eine feige Ratte wie Sie?“, drängte der Kommissar.
Aramis atmete scharf ein, jetzt war der Mann endlich auf den Punkt gekommen und er wusste, dass das Vorspiel beendet war. Als Scharfschütze musste er seine dauerhaften Positionen absolut geheim halten, um nicht entdeckt und liquidiert zu werden. Da die Musketiere aber immer wieder verschiedene Missionen an unterschiedlichen Orten durchführten, hatte Aramis ein Netz von Verstecken über ganz Paris angelegt, welches ihm ermöglichte, verschiedene Straßenzüge unter Beschuss zu nehmen – je nachdem, wo sie gerade operieren mussten. Dieses Vorgehen hatte dem Dritten Reich schon viele gute Männer gekostet und aus dieser Perspektive war er vermutlich tatsächlich der bessere Fang als Athos! Aramis lehnte sich wieder zurück, er hatte nicht bemerkt, dass er sich unwillkürlich zu Thernes hin gebeugt hatte. „Ich weiß nicht, was Sie meinen, Monsieur!“, antwortete er mit aller Ernsthaftigkeit, während er den Kopf zu Thernes drehte und ihn mit jener Unschuldsmiene ansah, die er in der Regel nur Serge zeigte, wenn er wieder einmal die Vorratskammer der Garnison nach versteckten Leckereien abgesucht hatte und mit vollen Taschen erwischt worden war. „Ich kenne keine Scharfschützen, ich habe am Dach lediglich...“
„…Tauben gejagt, ich weiß!“, vollendete Thernes den Satz, nun wieder mit leicht amüsierter Stimme.
Obwohl Aramis es hatte kommen sehen, zuckte er doch zusammen, als Thernes entgegen seiner belustigten Miene die Hand erneut heftig vor ihm auf den Tisch schlug. Aramis war einen kurzen Moment lang erleichtert, dass es wiederum nur den Tisch und nicht sein Gesicht getroffen hatte.
„Und wo ist König Ludwig?“, fragte Thernes, das Thema blitzartig wechselnd, mit drohender Stimme. Die plötzliche Kälte in den Augen des Kommissars liegen keinen Zweifel daran, dass er sich besser hüten sollte, das Spiel auf diese Art weiterzuspielen. Aramis aber konnte nicht anders, er war, wer er war. Hatte Porthos ihm nicht immer wieder prophezeit, dass sein loses Mundwerk ihn eines Tages Kopf und Kragen kosten würde? Dieser kurze Gedanke an seinen Freund, seinen Bruder, gab Aramis einen unvermittelten Stich ins Herz und plötzlich fühlte er sich einen Wimpernschlag lang unendlich einsam und verletzlich.
„Wer?“, fragte er dennoch, seinem Naturell folgend, demonstrativ naiv zurück und wappnete sich erneut für die unvermeidliche Konsequenz seiner Frechheit, die jetzt einfach kommen musste, dessen war sich Aramis sicher.
Thernes richtete sich abrupt auf und betrachtete den Scharfschützen mitleidig mit einem Hauch von Enttäuschung, wie ein Lehrer, der mit der falschen Antwort eines Schülers leben musste. Er trat von Aramis weg und allein durch die räumliche Distanz schien sämtliche Bedrohung mit einem Schlag wie weggewischt. Thernes legte den Kopf ein wenig schief, so als müsste er über die Konsequenzen, die Aramis' Impertinenz unweigerlich nach sich ziehen musste, erst nachdenken. Seufzend setzte er sich wieder an den Tisch und öffnete einen weiteren Akt. Er breitete bedächtig ein Foto nach dem anderen vor Aramis aus.
Aramis war nun doch ein wenig neugierig geworden, was Thernes hervorzaubern würde, wusste er doch, dass es außer seiner Staatsbürgerschaft und seiner Militärinskription keine offiziellen Papiere über ihn gab. Diese waren in weiser Voraussicht von König Ludwig aus allen Staatsarchiven entfernt worden – wie im Übrigen für alle in der Résistance tätigen Mitglieder, um genau für diesen Fall gewappnet zu sein. Aramis war sich also gewiss, dass Thernes nichts Belastendes gegen ihn haben würde, doch der teuflische Ausdruck, der kurz auf dem Gesicht seines Gegenübers aufblitzte, verunsicherte Aramis dann doch.
Es waren grobe Aufnahmen, zum Teil vergrößert, und als Aramis das Motiv erkennen konnte, atmete er scharf ein. Einem tiefen inneren Impuls folgend riss er kurz an seinen Ketten und versuchte, frei zu kommen oder zumindest die Fotos an sich zu nehmen, so als könnte diese Geste die Menschen und Momente darauf beschützen. Da dies naturgemäß nicht gelang, lehnte er sich resigniert wieder zurück. Ihm schien, als wäre die Sessellehne die einzige Stütze, die ihm in diesem Augenblick noch Halt geben konnte und zum zweiten Mal, seit er im Hauptquartier der Gestapo angekommen war, fühlte Aramis sich hilflos und ausgeliefert. Er hatte mit vielem gerechnet, sich einiges ausgemalt, aber die Drohung, die Thernes mit diesen Bildern aussprach, ohne ein einziges Wort sagen zu müssen, brachte ihn unvermittelt an den Rand der Kapitulation. Aramis senkte den Kopf, kniff die Augen zusammen und zog sich in sich selbst zurück, um dem Kommissar keine weitere Angriffsfläche zu bieten.
„Oh-ha! So also bringt man den tapferen Musketier aus seiner Fassung!“, stichelte Thernes nach, der die Szene beinahe genüsslich mitverfolgt hatte. Er hatte jede Regung, jede Bewegung, jedes Mienenspiel von Aramis in sich aufgesogen und wusste, dass er ihn dort hatte, wo er ihn haben wollte. Schade eigentlich, stellte er bedauernd fest, kaum dass das Spiel begonnen hatte, war es auch schon wieder vorbei. Thernes hätte nicht gedacht, dass Aramis so schnell beizukommen war, er hatte zwar die Härte und Bereitschaft zur Selbstopferung dieses Mannes richtig kalkuliert, aber dass sich hinter dem kompromisslosen Scharfschützen ein geradezu weiches Gemüt befinden würde, damit hatte er nicht gerechnet. Und wieder einmal hatte sich für ihn bestätigt, dass Emotionen Menschen schwach und berechenbar machten. Nun blieb Thernes nicht viel mehr, als sich ebenfalls auf den Sessel zurück zu lehnen, die Arme zu verschränken und die Befriedigung des Sieges, die sich wohlig in ihm ausbreitete, zu genießen!