Herz und Seele Frankreichs von RoostersCromedCDF
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 1 BewertungenKapitel Kapitel 6
Ich wünsche allen hier "Frohe Ostern!" in diesen seltsamen Zeiten. Ich hoffe, es geht allen gut und wir können diese Krise bald hinter uns lassen!
Ich möchte noch einmal auf die Kapitelwarnung hinweisen - wer solche Szenen an den Feiertagen nicht lesen möchte, der sollte sich diesem Kapitel erst nach Ostern widmen. Allen anderen wünsche ich spannende Momente: Steht Aramis bei!
Guter Gott, wie ist Thernes an diese Bilder gekommen?
Der Schock war blanker Panik gewichen und Aramis reagierte, ohne zu überlegen. Er wollte sie beschützen, er konnte nicht zulassen, dass Thernes sie gegen ihn ausspielte, denn so bereit er war sein Leben auf Spiel zu setzen umso weniger war er bereit, ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Aramis wusste genau, an welchem Tag diese Bilder aufgenommen worden waren und obwohl die Fotos schwarz-weiß waren, sah er das Gelb ihres Kleides und das Strahlen ihrer blauen Augen. Anna und er waren äußerst vorsichtig gewesen, als sie vor knapp 5 Monaten eine Affäre begonnen hatten. Auch wenn Anna ihm immer wieder versichert hatte, dass die Ehe mit dem König zu Ende war und sie auf jeden Fall nach dem Krieg, sollte dieser denn jemals enden, die Scheidung einreichen würde, so wusste Aramis, dass Ludwig bei aller Hingabe und allem Einsatz für seine Nation in seinen persönlichen Angelegenheiten ein zutiefst besitzergreifender und eifersüchtiger Mensch war, der seinen „Eigentum“ nur ungern aus der Hand geben würde. Aber Aramis war Anna vom ersten Augenblick an verfallen.
Die Musketiere waren gerade erst im Rahmen der Résistance gegründet worden und sie hatten sich alle auf Geheiß des Königs zur ersten Strategiebesprechung getroffen, als Anna und Ludwig die Garnison betreten und mit einer wahrhaft königlichen Eleganz und Anmut, Seite an Seite den Vorsitz übernommen hatten. Anna war jung, aber Aramis hatte sofort ihre innere Stärke, gepaart mit Intelligenz und Leidenschaft, erkannt und sich zu ihr hingezogen gefühlt. Verliebt hatte er sich in sie, als sie wenig später in einen deutschen Hinterhalt geraten waren und Aramis sie vor den umherfliegenden Kugeln beschützt hatte, indem er sie zu Boden gerissen und mit seinem eigenen Körper abgeschirmt hatte. Die wenigen Sekunden, die sie aufeinander gelegen hatten, hatten gereicht, um ihre Liebe auf den Weg zu bringen. Erst knapp zwei Jahre später waren sie sich schließlich näher gekommen, in einem Konvent außerhalb von Paris und wiederum inmitten eines deutschen Luftangriffs. Sie hatten sich hinreißen lassen und ihren Gefühlen leidenschaftlich nachgegeben, auch wenn Athos, der dabei gewesen war, unmissverständlich zu verstehen gegeben hatte, wie sehr er gegen diese Affäre war. Dennoch wahrte er ihr Geheimnis und deckte sie, wenn auch äußerst widerwillig, wann immer es nötig gewesen war.
Der Tag, an dem Anna das gelbe Kleid getragen hatte, war wunderschön gewesen, ein ungewöhnlich warmer Novembernachmittag. Die strahlende Herbstsonne hatte die letzten Blätter auf den Bäumen in eine Symphonie aus Gelb und Rot getaucht und Anna und er waren in einem Pariser Vorort durch einen kleinen Klosterpark spaziert, Hand in Hand, sich fortwährend küssend, übermütig kichernd und vor den strengen, missbilligenden Augen der Klosterschwestern davonlaufend. Es war ihnen passend erschienen, dass es sie immer wieder in heilige Mauern verschlug, genau so wie in ihrer ersten gemeinsamen Nacht.
Welch Ironie, nun wieder in einem Kloster zu sein!, dachte Aramis bitter.
Sie waren an jenem Tag akribisch vorsichtig gewesen, waren auf verschiedenen Wegen und zu unterschiedlichen Zeiten angekommen. Umso unfassbarer waren diese Aufnahmen, die in diesem Augenblick vor ihm lagen und ein offensichtliches Zeugnis ihrer Liebe ablegten. Er konnte sich in keinster Weise einen Reim darauf machen, wer diese Fotos gemacht hatte und wie überhaupt jemand von ihrer Beziehung hatte wissen können. Es stand für ihn völlig außer Frage, dass Athos etwas damit zu tun hatte. Irgendwo in seinem Hinterkopf regte sich ein leiser Verdacht, aber Aramis konnte ihn nicht wirklich benennen und es tat im Moment auch nichts zur Sache.
Aramis wusste im Moment nur, dass er um jeden Preis aus diesem Gefängnis entkommen und Anna beschützen musste. Dios mios, ich gebe mein Leben für sie! Zu wissen, dass Thernes über sie beide Bescheid wusste, Anna nun kannte und wusste, was sie ihm bedeutete, raubte ihm beinahe den Verstand. Es war, als würde die Bosheit des Kommissars die Reinheit ihrer Gefühle besudeln, als würde die Lebendigkeit ihrer Liebe in das Brackwasser eine Kloake getaucht, um dort im Dreck erstickt zu werden.
„Und ich kann nichts für sie tun! Nichts!“, erkannte Aramis voller Bitterkeit und tiefer Traurigkeit. Anna war ebenso wie er selbst, auf sich alleine gestellt. Dieser Gedanke zerriss ihm beinahe das Herz und er ließ sich resigniert in den Sessel zurückfallen.
„Oh-ha! So also bringt man den tapferen Musketier aus seiner Fassung!“ Thernes Stimme triefte vor Spott und Selbstzufriedenheit, was Aramis nicht entging, aber er war gewillt, sich trotz seiner Mutlosigkeit nicht anmerken zu lassen, wie sehr es ihn getroffen hatte, dass Thernes diese Bilder besaß. Trotzig richtete er sich auf und erwiderte Thernes Blick. Er wusste natürlich, dass die Bilder eine mehr als deutliche Drohung waren, Anna etwas anzutun, möglicherweise sie zu töten, um ihn dazu zu bringen, alle Informationen, die er hatte, preiszugeben. Und bei Gott, er spielte einen Moment mit dem Gedanken aus lauter Angst und Sorge um Anna Thernes das zu geben, was dieser wollte!
Aramis schüttelte seinen Kopf, um diesen Gedanken so schnell wie möglich loszuwerden.
„Ich sollte Ihnen jetzt wohl drohen, dass ich Sie töten werde, wenn Sie ihr auch nur ein einziges Haar krümmen!“, flüsterte er grollend und sah Thernes dabei direkt in die Augen. Seine Stimme klang genau so eiskalt wie er sich fühlte. „Aber wir beide wissen, dass ich nicht in der Position bin, um irgendetwas zu tun! Also lasse ich es einfach sein! Sie kann gut auf sich selbst aufpassen, machen Sie mit den Fotos, was immer Sie wollen!“
Die Faust Thernes traf Aramis so überraschend und blitzartig, dass er beinahe vom Stuhl gefallen wäre, hätten die Ketten ihn nicht am Tisch gehalten. Sterne explodierten in seinem Kopf und sein Blick verdunkelte sich einen Moment lang. Augenblicklich schmeckte er erneut den metallischen Geschmack seines Blutes im Mund. Benommen schüttelte er den Kopf. Als er wieder aufblickte, stand Thernes seelenruhig neben ihm, aber Aramis konnte dennoch die unbändige Wut in seinen Augen brodeln sehen.
„Also gut!“, erwiderte Thernes bemüht gefasst, obwohl seine Stimme durchaus ein wenig gequält klang. „Ich sehe, dass wir im Augenblick nicht wirklich weiterkommen. Holt Kleindienst, wir starten mit dem erweiterten Verhör!“
Und Aramis wusste, dass die zweite Runde des Spiels begonnen hatte!
Er wehrte sich nicht, als die beiden an der Tür stehenden Sturmmänner seine Handschellen, mit denen er immer noch an den Tisch gekettet war, öffneten und ihn hochrissen. Mittlerweile schmerzte jeder Muskel seines Oberkörpers. Er versuchte sich so gut es ging zu entspannen und ließ es zu, dass sie seine beiden Arme rechts und links nach hinten und seinen Kopf nach unten vorne drückten. Derartig gebückt schleppten sie Aramis in einen weiteren Raum nebenan, der vermutlich einst zur Klosterkapelle gehört hatte, nun aber abgeteilt worden war. Das gotische Deckengewölbe und auch die dicken Steinsäulen zogen sich hier ebenso wie die hohen, spitzen und bunten Glasfenster, die immer noch keine Sicht auf die Straße freigaben, weiter. Dieser zweite Raum hatte eine deutlich andere Atmosphäre, es fehlte der akkurate weiße Anstrich, die Steinmauern sahen alt und ehrwürdig aus und dort und da waren verblasste Fresken zu erkennen, deren Farben nur mehr zu erahnen waren. Sämtliche kirchliche Attribute waren von den Gestapoleuten achtlos in eine Ecke geworfen worden; Betbänke, Heiligenfiguren, Altarkerzen und ein großes Kreuz mit einer Jesusfigur, die Aramis mit offenen, traurigen Augen mitten ins Herz zu blicken schien. Der leidende Christus, der genau wie Aramis seiner Qual ausgeliefert worden war, dem Martyrium preisgegeben, ohnmächtig im Angesicht des Bösen. Für einen kurzen Moment fühlte Aramis, wie ihn auf einmal tiefer Trost erfüllte, der wie eine warme Welle jede Faser seines Körpers und seiner Seele umfasste.
Doch der Augenblick währte nur allzu kurz, die harte Wirklichkeit schob sich wieder in sein Bewusstsein.
In der Mitte des Raumes stand hier anstelle des Tisches ein großer, weißer Stuhl mit Fußlehnen, der aussah, als hätte die Gestapo ihn aus einem Krankenhaus entwendet. Mehrere Haken und Karabiner hingen von der hohen Decke, manche davon an dicken Seilen, manche an Eisenketten. Aramis konnte den Schauer, der ihn beim Anblick der Haken und Karabiner erfasste, nicht unterdrücken. Er wagte sich nicht auszumalen, wofür diese Verwendung finden könnten. Einige der Steinsäulen wurden von eisernen, zentimeterdicken Ringen umfasst, an denen ebensolche Schellen angebracht waren. Auch die Säulen waren abgewetzt und waren an den breiteren Fundamenten von einem rostroten Schleier überzogen.
Das kann nicht sein, Stein kann nicht rosten, schoss es Aramis verwundert durch den Kopf.
Bevor er jedoch genauer darüber nachdenken konnte, wurde er grob auf den Stuhl gepresst. Die Sturmmänner zogen sofort dicke Lederriemen um seine Füße, die es ihm unmöglich machten, sich mehr als ein paar Zentimeter hin und her zu bewegen. Sie zerrten seine Arme hinter den Stuhl und Aramis spürte, wie sie in eine feste Vorrichtung gezwängt wurden, die sich von seiner Handfläche bis über die Handgelenke schlossen. Aramis blieb nichts anderes übrig, als den Kopf zurück zu lehnen, alles andere war zu unbequem und schmerzhaft. Es war demütigend, so offen und blank vor den Sturmmännern zu sitzen, blutig geschlagen und absolut wehrlos. Aramis spürte, wie klamme Angst in ihm hoch kroch und er schluckte mehrmals. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er eigentlich sehr durstig war, er hatte seit dem Verlassen der Garnison nichts mehr getrunken, aber das war im Moment wohl eines seiner geringeren Probleme.
„Na, du Waschweib! Du hast schon besser ausgesehen, mein Schatz!“, ätzte Kleindienst, der mittlerweile ebenfalls in die Kapelle gekommen war.
Der Pitbull war bis auf wenige Zentimeter an Aramis herangetreten und wiederum konnte Aramis seinen Schweiß riechen und beinahe jede fettglänzende Pore seiner gespannten Haut zählen. Der verhasste Anblick half ihm jedoch dabei, seine Angst zurückzudrängen, zu groß war die Verachtung für diesen Mann. Aramis musste sehr an sich halten, dieses Mal nicht sein Herz auf seinen Lippen zu tragen, denn ihm war durchaus klar, dass seine Situation sich ein weiteres Mal drastisch verschlechtert hatte und auch das Ausmaß der bisher erlittenen Schmerzen nun wohl nochmal um ein Vielfaches größer werde würde. So begnügte er sich fürs Erste mit dem Ansatz eines überheblichen Lächelns und schaute einfach durch Kleindienst hindurch. Kleindienst schnaubte wie ein Stier, sichtlich verärgert darüber, dass seine Provokation ins Leere gelaufen war, und baute sich bedrohlich hinter Aramis auf, so dass dieser ihn nur noch aus den Augenwinkeln erahnen konnte.
Auch Thernes war unmittelbar hinter Aramis in den Raum gekommen und hatte einen kleinen runden Drehstuhl hinter einem dicken, schweren Wollvorhang, der einen kleinen Alkoven verbarg, vorgezogen. Er nahm demonstrativ darauf Platz und rollte beinahe gemächlich neben Aramis, wie ein Arzt, der sich voll und ganz seinem Patienten widmen würde. Nun, das wird er mit Sicherheit, daran hatte Aramis keinen Zweifel.
Thernes lächelte freundlich. Die Wut, die sich noch vor wenigen Minuten so offensichtlich von seinem Gesicht hatte ablesen lassen, war wie weggeblasen und an deren Stelle war erneut eine Miene beinahe freundlicher Unverbindlichkeit getreten. „Also…“, begann er in einem ergebenen Ton, so, als spräche er mit einem Kind. „Noch einmal von vorne. Wo sind Ihre Stellungen? Und wo versteckt sich Ludwig?“
Aramis schüttelte stur den Kopf und hätte mit den Schultern gezuckt, wenn er es denn gekonnt hätte. Glaubt dieser Gestapo-Mistkerl tatsächlich, dass ich mich so billig verkaufe?
„Tststs…bitte, Schweigen bringt doch nichts, mein Herr! Wir sollten eigentlich schon eine offenere Gesprächsbasis haben, finden Sie nicht? Aber gut…“, sagteThernes leichthin und nickte Kleindienst zu.
Aramis konnte nicht sehen, was der Rottenführer tat, aber er spürte, wie dieser sich an der Vorrichtung, in der Aramis' Handgelenke eingespannt waren, zu schaffen machte und offensichtlich eine Schraube oder etwas Ähnliches betätigte. Die Vorrichtung jedenfalls verengte sich unangenehm und Aramis hatte das Gefühl, mit seinen Händen in einem Schraubstock eingeklemmt zu sein.
„Wo sind Ihre Stellungen? Und wo ist dieser König?“, wiederholte Thernes ruhig. Aramis verweigerte ihm abermals die Antwort und drehte statt dessen seinen Kopf demonstrativ weg. Er hatte dem Gestapo-Befehlshaber nichts zu sagen. Augenblicklich wurde der Schraubstock weiter zugezogen und Aramis' Handgelenke begannen unangenehm zu schmerzen. Er spürte das Pochen des Blutes in seinem aussichtslosen Versuch, sich seinen Weg in die Finger zu bahnen.
„Noch einmal und ganz langsam: Wo sind Ihre Stellungen? Wo versteckt sich Ludwig?“, fragte Thernes ein drittes Mal.
Aramis wunderte sich nur kurz über die sanfte und geduldige Art, mit der Thernes ihm immer wieder die gleiche Frage stellte. Als er ihm erneut eine Antwort schuldig blieb und Thernes statt dessen jetzt trotzig anblickte, konnte Aramis für einen kurzen Moment etwas in dessen Augen aufblitzen sehen, etwas das Aramis nicht einordnen konnte. War es Vorfreude? Hass? Noch ehe er sich weiter damit beschäftigen konnte, sah er Thernes erneut nicken und plötzlich schoss ein stechender Schmerz von Aramis Handgelenken ausgehend seine Arme hinauf bis in die gedehnten Schultern hinein. Aramis konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken und versuchte so gut es ging nach Luft zu schnappen. Heftig atmend und mit zusammengepressten Augen und Lippen drängte er die Schmerzspitze zurück, dennoch bebte sein ganzer Körper.
Die übergroßen Handschellen hatten bei der letzten Drehung dünne, aber äußerst spitze Dornen frei gegeben, die sich nun im Abstand weniger Zentimeter in seine Handflächen, Handrücken, Handgelenke und einen Teil seines Unterarms gebohrt hatten. Aramis wusste weder wie tief die Dornen in seine Hände und Haut eingedrungen waren noch wie viel Schaden sie an seinen Blutgefäßen angerichtet hatten, aber er fühlte deutlich die warme Flüssigkeit über seine Fingerspitzen fließen. Aramis versuchte den Schmerz, der nun durch seinen ganzen Körper waberte, in den Griff zu bekommen und konzentrierte sich auf seinen Atem. Kalter Schweiß bedeckte seinen Oberkörper und ließ in frösteln.
„Wo sind Ihre Stellungen?“
Anscheinend hatte er nicht mitbekommen, dass ihm erneut eine Frage gestellt worden war, zu sehr rauschte das Blut in seinen Ohren, denn plötzlich spürte er einen heftigen Schmerz auf seiner Brust. Aramis riss keuchend die Augen auf und stöhnte unterdrückt auf. Vor ihm stand Kleindienst mit einem höhnisches Grinsen im Gesicht, von seiner rechten Hand baumelte eine dünne Metallkette.
Schlimmer als der Schmerz des Schlages war jedoch der Schmerz von seinen Händen her, denn als ihn die Wucht des Schlages getroffen hatte, hatte er sich unwillkürlich bewegt. Die spitzen Dornen rissen sich weiter in sein Fleisch und Aramis hatte das Gefühl, als kratzten sie bereits an seinen Handknochen. Mit größter Mühe zwang Aramis sich dazu, still zu sitzen und seine angespannten Muskeln so weit zu entspannen, dass er nicht Gefahr lief, sich durch eine unbedachte Bewegung selbst die Pulsadern aufzureißen.
Als er sich ein wenig gesammelt hatte und seine Sinne sich wieder der Außenwelt zuwandten, bemerkte Aramis, dass es völlig still geworden war. Er hörte lediglich ein konstantes Ploppen, ein Geräusch ähnlich dem, das ein Tropfen macht, der auf eine Oberfläche schlägt und sich mit der immer mehr werdenden Flüssigkeit vermengt. Aramis dämmerte, dass es sein eigenes Blut war, das er hörte und das mit jedem, mittlerweile hektischer werdenden Herzschlag aus ihm heraus pulsierte. Erneut stieg leichte Panik in ihm auf. Da er sich nicht umdrehen konnte um das Ausmaß seiner Verletzung sehen, wusste er nicht, wie stark die Blutungen waren und ob eine Schlagader betroffen war.
Es ist egal, es spielt sowieso keine Rolle mehr! Ob dieser Erkenntnis ließ sich Aramis tiefer in seine Fesselungen fallen und gab komplett nach. Es hatte keinen Sinn, sich gegen das Unvermeidbare weiter zu wehren.
Sein Blick fiel nach oben, zu dem spinnennetzartigen Kreuzrippengewölbe, das sich im stetig gleichen Muster durch den Raum spannte. Im Unterschied zu anderen sakralen Architekturen sollten die geschlossenen Wände und Bögen der Gotik ursprünglich einen Schutzwall gegen das Böse von außen bilden. Welch Ironie, dass sich nun eben dieses Böse ausgerechnet im Inneren der heiligen Hallen breit gemacht hatte und alles verhöhnte, was ursprünglich den Geist der Liebe und des Trostes hätte widerspiegeln sollen. Dennoch gaben die Bögen Aramis unvermittelt das Gefühl der Geborgenheit. Er schloss die Augen und wartete auf das Unabwendbare, zumal ihn auf einmal eine tiefe Müdigkeit erfasste, sein Kopf zu schmerzen begann, seine Lieder schwer wurden und er nichts mehr wollte, als zu schlafen. Aramis fühlte eine Leichtigkeit in sich aufsteigen, wie nach einem schweren Glas Wein und war zuvor die Hitze des Schmerzes durch seinen Körper gejagt, so fühlte er nun eine angenehme Kühle, wie eine sanfte Brise am Ende eines heißen Sommertages. Ein stetes Zittern durchlief ihn nun und die Kopfschmerzen nahmen rasch zu.
„Es geht zu schnell, Herr Kommissar!“, durchschnitt die grobe Stimme von Kleindienst die friedliche Stille. Aramis, der sich nicht durchringen konnte, die Augen wieder zu öffnen, hörte wie von fern, dass Thernes mit dem Sessel erneut hinter ihn rollte und missbilligend grunzte.
„Scheint so!“, sagte Thernes mit einem leichten Bedauern in der Stimme. „Holt Dr. Rausch, er soll ihn sich ansehen!“, wies er die Sturmmänner an, die immer noch Wache gestanden hatten. Nach einem zackigen „Jawohl, Herr Kommissar!“ verschwanden sie durch die Tür.
Nur wenige Augenblicken später erschienen sie wieder mit einem kleinen, hageren Mann, der sich durch seinen weißen Kittel und der dicken braunen Ledertasche unverkennbar als Arzt auswies. Dr. Rausch musste bereits auf seinen Auftritt gewartet und auch schon Erfahrung mit der Prozedur haben, denn er löste in Windeseile mit wenigen Handgriffen die Schellen um Aramis' Handgelenke.
Aramis war frei. Betäubt durch die unnatürliche Überstreckung nach hinten und den Blutverlust baumelten seine Arme rechts und links neben dem Sessel. Der Schmerz ließ Aramis blinzeln und er sah, wie der Arzt ihm deutete sich aufzusetzen, aber Aramis fühlte sich wie eine Marionette, die weder Herr über ihren Körper noch über ihren Geist war. Leider gelang es ihm nicht, sich ohne die Hilfe des Arztes komplett aufzurichten, da er sich nicht mit den Händen abstützen konnte. Es war Aramis unangenehm, aber er ließ zu, dass der Arzt ihm dabei half, seine beiden Beine, die Kleindienst mittlerweile auch von den Fesseln befreit hatte, auf eine Seite zu bringen. Irritiert sah Aramis die Blutspur, die er quer über den Sessel und Boden gezogen hatte. Als er endlich aufrecht saß, war Aramis erschöpft und immer wieder rann ein Zittern durch seinen Körper. Er stöhnte leise bei jeder Bewegung, was von Kleindienst mit einem hämischen Grinsen quittiert wurde.
Aramis Blick fiel nun auf seine Hände, doch er konnte immer noch nicht ausmachen, wie schwer die Verletzungen wirklich waren, denn sie waren blutüberströmt. Der Doktor drückte augenblicklich Kompressen auf seine Hände und Handgelenke. Nach wenigen Augenblicken war klar, dass der Arzt einen festen Druckverband etwas oberhalb der Wunden legen musste, um einen weiteren, massiveren Blutverlust abzuwenden. Kurze Zeit später nähte er lieblos die Wunde und faschte schließlich beide Hände und Handgelenke mit langen, blütenweißen Leinenbandagen fest ein. Trotz der Wundauflagen verfärbten sie sich jedoch langsam wieder mit roten, kleinen Punkten in regelmäßigen Abständen und akkuraten Linien. Aramis konnte nun auch erkennen, dass unter der Vorrichtung, in der seine Hände eingespannt gewesen waren, eine Glaskanne aufgestellt worden war, in der sich sein Blut gesammelt hatte. Die Menge dürfte wohl in kurzer Zeit eine bestimmte Marke erreicht haben, was Kleindienst dazu veranlasst hatte, der Prozedur Einhalt zu gebieten. Aramis spürte Übelkeit in sich aufsteigen, als ihm klar wurde, dass diese Männer bis ins kleinste Detail genau wussten, was sie taten und kein einziger Schritt dem Zufall überlassen wurde.
„Die Blutung ist soweit gestillt, Herr Kommissar, aber ich würde vorschlagen, es die nächsten Stunden etwas behutsamer angehen zu lassen!“, wandte sich Dr. Rausch an Thernes.
Die Stimme des Arztes verriet Aramis, dass er sich keinen Deut um das Wohlbefinden des Gefangenen kümmerte, sondern er lediglich die Grenzen des Möglichen für Thernes absteckte. Rein mechanisch arbeitete er sich an Aramis' Wunden ab und er hätte genauso gut ein Schlachtvieh auf einem Fleischmarkt sein können. Natürlich wusste er von den Grausamkeiten der Nazis, er hatte selbst die mit Menschen vollgestopften Zugwaggons gesehen und unfassbare Gerüchte über Lager gehört, in denen Tausende getötet wurden. Er hatte Soldaten gesehen, die Kinder auf offener Straße kaltblütig erschossen hatten, einfach weil sie es konnten und Lust dazu hatten. Aber Aramis erkannte schockiert, dass es eine Sache war, etwas zu wissen, aber eine ganz andere, es am eigenen Leib zu erfahren. Ihm wurde blitzartig übel von diesem Gedanken und er entleerte wenig elegant seinen ohnehin nicht vorhandenen Mageninhalt. Es könnte natürlich auch an den Folgen des Blutverlustes liegen, so genau konnte er es in diesem Moment nicht einschätzen und es war ihm auch egal. Der Doktor jedenfalls schien auch das vorhergesehen zu haben, denn wie von Geisterhand hatte er eine Pfanne unter dem Stuhl hervorgezaubert. Leider schickte das Würgen neue Schmerzwellen durch Aramis‘ Körper, da seine angeschlagenen Rippen deutlich ob der krampfartigen Bewegung protestierten. Als er nur mehr Galle spuckte, ließ Aramis sich erschöpft zur Seite in die Sessellehne fallen und schloss die Augen. Ihm war unerträglich schwindlig und es schien ihm, als wäre jedes bisschen Energie aus ihm gesaugt worden. Aramis hatte das Gefühl in einem schwankenden Boot zu sitzen und er bemühte sich, seinen um sich wirbelnden Geist irgendwo zu ankern. Er hatte keine Ahnung, wie lange Thernes und der Arzt ihn in Ruhe gelassen hatten, aber der Doktor saß immer noch bei ihm und weder Thernes noch Kleindienst hatten ihre Positionen verlassen. Er musste wohl jegliches Zeitgefühl verloren haben, vielleicht sogar das Bewusstsein, aber er hatte keine Kraft, länger darüber nachzudenken. Irgendwann bemerkte er, dass die Aktivitäten der Außenwelt wieder zu ihm durchdrangen und er öffnete träge die Augen.
„Er ist dehydriert. Sie müssen sich auch darum kümmern!“, redete Dr. Rausch von ihm weg hin zu Thernes.
Aramis spürte ein freudloses Lachen in sich keimen. Die gesamte Situation war einfach zu absurd, um sie nicht ein klein wenig komisch zu finden. Da lassen sie mich ausbluten wie ein Schwein am Schlachthof und gleichzeitig machen sie sich Gedanken, ob ich genug Wasser bekommen würde!
Thernes sah ihn unvermittelt an. „Dann also Wasser!“, sagte er mit einem seltsamen, belehrenden Unterton, der Aramis trotz seines etwas träge arbeitenden Verstandes alarmierte. „Ich gebe Ihnen die Gelegenheit, die Sache zu…“ Thernes machte eine vielsagende Pause. „...sagen wir ein wenig zu überdenken und ich rate Ihnen ernsthaft, es bei unserem nächsten Zusammentreffen besser zu machen!“
Aramis sah verwirrt zu, wie Thernes mit einem boshaften Ausdruck in seinem Gesicht Kleindienst und den Wachen zunickte und er hatte das mulmige Gefühl, dass soeben der dritte Teil des Spieles eingeleitet worden war!