Sébastian de Bélier von andrea

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Kapitel Vater und Sohn

Erst am späten Nachmittag kam Sébastian nach Hause, wo ihn sein Vater schon ungeduldig erwartete. "Nun mein Sohn, du kommst spät. Hast du den Schuft, der deine Schwester so schwer beleidigt hat, zu Boden gestreckt?"
"Es hat kein Duell stattgefunden, Vater", erwiderte Sébastian und ließ sich nachlässig in einen großen Lehnstuhl sinken.
"Er hat also freiwillig aufgegeben und sich entschuldigt, der Feigling."
"Nein."
"Er ist erst gar nicht gekommen?"
"Auch nicht."
"Was ist denn geschehen, rede doch!"
"Ich habe meinen Degen zurückgezogen."
"Wie? Ich glaube, ich habe nicht recht verstanden."
"Ihr habt schon richtig gehört. Ich habe meinen Degen zurückgezogen, weil ich ein Duell nicht für nötig hielt."
"Ob ein Duell nötig ist oder nicht, entscheide immer noch ich, junger Mann."
"Da liegt, glaube ich, ein kleines Mißverständnis vor, Vater. Denn ich führe kein Duell ohne Grund", sagte Sébastian gelassen. "Wenn Ihr anderer Meinung seid, hättet Ihr Euch vielleicht einem Kampf stellen sollen."
Der Graf de Bélier, der diese Frechheiten seines Sohnes nicht länger auf sich sitzen lassen wollte, sprang hochrot vor Wut auf und begann zu zetern. "Ich weiß nicht, wo deine Manieren geblieben sind, junger Mann. Früher hast du deinem Vater besser gehorcht, besonders wenn es um die Ehre deiner Schwester ging."
"Meine Manieren habe ich wahrscheinlich in Paris vergessen, Vater", erwiderte Sebastian über die Wut seines Vaters belustigt.
"Du bist das Ebenbild deiner Mutter, Gott sei ihrer Seele gnädig", schimpfte der alte Graf. "Die hatte auch manchmal die Meinung, daß sie mir widersprechen müßte."
Sébastian wurde mit einemal ernst, fast drohend. "Laßt meine Mutter aus dem Spiel."
Doch der Graf war in seiner Wut nicht mehr zu bremsen. "Weißt du, wie ich sie gezüchtigt habe, Sebastian? Sie hat ihren eigenen Willen sehr schnell wieder vergessen."
"Holt nur Eure Rute", sagte der junge Mann kalt. "Mir könnt Ihr meine Meinung nicht ausprügeln."
"Wir werden sehen", erwiderte der Alte, nahm einen Stock von seinem Schreibtisch und wollte damit auf seinen Sohn losgehen. Doch dieser fing den ersten pfeifenden Hieb mit seiner Hand ab und riß seinem Vater den Stock aus der Hand. "Ihr müßt doch wirklich glauben, daß ich mich wie eine wehrlose Frau verprügeln lasse", meinte Sébastian zähneknirschend. "Die bin ich aber nicht. Wollt Ihr wissen, wie Mutter sich immer gefühlt hat, wollt Ihr das?" Sébastian holte aus, um die Rute auf seinen Vater niedersausen zu lassen, besann sich aber. "Doch nein, ich wäre keinen Deut besser als Ihr oder als Euer Vater oder als dessen Vater und ich wünsche dem geringsten Tier nicht so zu sein wie Ihr." Mit diesen Worten zerbrach Sébastian den Rohrstock über seinem Knie und ließ den alten Mann allein im Zimmer zurück.