Spiel mir das Lied vom Tod von andrea
Durchschnittliche Wertung: 2, basierend auf 1 BewertungenKapitel Spiel mir das Lied vom Tod
"Wirt, mehr Wein! Mehr Wein!"
"Porthos, das ist schon deine vierte Flasche, das genügt doch langsam, oder?"
"Es ist genug, wenn ich es sage. Mehr Wein!"
"Lass ihn d'Artagnan, er ist doch schon total betrunken."
"Genau das macht mir ja sorgen. Am Ende sind wir wieder diejenigen die ihn, bei seiner Größe, zu dritt aus dem Wirtshaus tragen dürfen, weil er der Kellnerin zu nahe gekommen ist, und das bei dem Regen draußen. Ich find das gar nicht lustig Athos."
Diese Äußerung brachte den Musketier nur noch mehr zum Lachen. Eigentlich eine komische Sache, denn Athos lachte ansonsten nie. Aber das störte unsere vier Freunde nicht. Eher im Gegenteil. Es war seit Langem der erste Abend den sie zusammen verbrachten und die Stimmung war ausgelassener denn je. Die Enten waren vorzüglich gewesen und nun kam auch endlich der Wirt mit der, so ersehnten, Flasche Wein. Er stellte die Flasche auf den Tisch und ging, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen und machte kehrt.
"Sie gehören aber nicht hier her ", sagte er ernst, "Ich kenne doch meine Kundschaft und Sie gehören nicht dazu."
Seine Worte waren an Aramis gerichtet, der sich jetzt ziemlich verdutzt umsah.
"Meinen Sie mich?"
"Ja, Sie."
"Das tut mir leid, Monsieur, Sie müssen mich mit jemandem verwechseln."
"Nein ich verwechsle Sie bestimmt nicht, Monsieur Aramis. Sie gehören hier nicht her. Gehen Sie bitte!"
"Ich weiß zwar nicht woher Sie meinen Namen kennen, Monsieur, aber ich finde Ihr Benehmen höchst empörend. Ich bin ein zahlender Gast und wollte nur mit meinen Freunden essen."
"Es tut mir leid ich muss Sie bitten zu gehen!" Die Stimme des Wirts klang jetzt schon etwas drohend.
"Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht.", meinte Aramis, der in seinem Kopf krampfhaft nach einem Anlass für das verhalten des Wirtes suchte. Er fand keinen.
"Freunde, was sagt ihr dazu, Athos, d'Artagnan?"
"Er hat leider recht, mein Freund", sagte Athos ernst, zur größten Verwunderung seines Kampfgefährten, "du musst jetzt gehen, aber wir sehen uns sicher bald wieder."
"Ja, er hat recht.", meinte D'Artagnan betroffen und seine Stimme hallte im Raum, "Geh jetzt und leb wohl mein Freund!"
"Aber ich will nicht gehen, was soll das Ganze?" fragte Aramis verzweifelt. Doch bevor seine Freunde noch etwas erwidern konnten, fühlte er sich von zwei kräftigen Armen gepackt und in Richtung der Tür getragen, die sich wie von Geisterhand öffnete und auf der anderen Seite einen entsetzlich tiefen Abgrund erkennen ließ.
"Ich will nicht gehen, lassen Sie mich los." Aramis wehrte sich verzweifelt aber er konnte sich nicht aus dem festen Griff befreien. Plötzlich merkte er wie der Boden unter seinen Füßen verschwand und er fiel, fiel in ein schwarzes Loch.
Der Aufprall kam so unerwartet, das er aufschrie und seine zusammengekniffenen Augen öffnete.
Er fand sich auf einem Dielenboden wieder. Langsam fand er in die Wirklichkeit zurück. Es war alles nur ein Traum gewesen. Seine Freunde waren tot, schon lange tot.
Als er sich aufrichte gewahrte er seinen Diener.
" Herr Bischof, was ist denn passiert? Sind Sie vom Stuhl gefallen?
"Ja, wahrscheinlich bin ich das, Carlos.", erwiderte Aramis und setzte sich wieder an den Tisch. "Ich bin wohl kurz eingenickt. Welchen Tag haben wir?"
"Den 09.12.1674, Herr Bischof. Ich bringe Ihnen gleich Ihr essen."
"Danke Carlos."
Aramis blieb wieder allein mit seinen Gedanken. Mehr als sieben Jahre war es nun schon her, dass er d'Artagnan das letzte mal gesehen hatte und doch erinnerte er sich an dessen Worte, als wäre es gestern gewesen. "Mein Freund, du wirst mich überleben, denn die Diplomatie bedarf deiner. Mich verdammt die Ehre zum Tod."
Die Vorhersage hatte sich erfüllt. D'Artagnan war im Kampf gefallen, er selbst lebte noch immer, selbst wenn die Diplomatie seiner nun nicht mehr bedurfte. Aramis hatte sich von der Politik weitestgehend zurück gezogen. Hier in Pyrenäen war die Luft besser als in Madrid.
Der Bischof sah vom Tisch auf, in den großen Wandspiegel gegenüber. Man musste wirklich genau hingucken um in dem blassen, faltigen Gesicht dieses Greises mit dem weißen Haar den jungen, schönen Musketier von früher wieder zu erkennen.
72 Jahre war er jetzt alt, ein stattliches Alter mit dem man zufrieden sein sollte.
Aber die Träume die er seit einiger Zeit hatte ließen ihn nicht los.
Sie kamen immer wenn er einschlief und seit einiger Zeit nickte er stets und ständig ein.
Aramis hasste das. Manchmal passierte es dann, das er so tief einschlief, das man vergebens versuchte ihn zu wecken und ihm den Puls fühlte um zu sehen ob er nicht schon gestorben war, aber er starb nicht.
Nicht mal bei dem erbärmlichen Essen das man hier in La Vola bekam.
Und das Essen kam jetzt.
"Was gibt es heute, Carlos?" fragte er, obwohl er genau wusste was es geben würde, nämlich Spinat und Kartoffeln, ungesalzen.
"Spinat und Kartoffeln, ungesalzen."
"Warum denn ungesalzen Carlos, könntest du den Spinat nicht wenigstens ein bisschen..."
"Aber es ist doch Fastenzeit, Herr Bischof."
"Wie lange denn noch?"
"Na, doch erst seit gestern, Herr Bischof. Gestern war doch "Mariä Empfängnis".
Von gestern also bis Weihnachten."
"Und was war vor gestern?"
"Na, Allerseelen."
"Und davor?"
"Allerheiligen."
"Davor?"
"Mariä Himmelfahrt, Fronleichnam, Dreifaltigkeitsfest, Pfingsten, Christi Himmelfahrt und Ostern,
Herr Bischof. Nicht zu vergessen die Tage des Heiligen Paulus, Franziskus, Bartholomäus, Markus, Pius, Gabriel und Joseph sowie St. Martin, St. August, St. Georg ...
"Verdammt noch mal," schrie Aramis jetzt mehr oder weniger verzweifelt, "gibt es eigentlich auch Tage im Jahr, die keine Fastentage sind?
Carlos war merklich zusammengezuckt. "Oh," flüsterte er beängstigt, "Sie haben das böse Wort gesagt. Das Wort mit den zwei M."
"Ich weiß, dass macht drei Rosenkränze und vierzig "Vaterunser". Ich gehe in die Kirche."
Damit zog sich Aramis auch schon seinen Mantel an und ließ den verduzten Diener allein im Zimmer zurück.
"Der glaubt auch das ihm gleich der Himmel auf den Kopf fällt, wenn ich einmal: "Verdammt" sage. Er erinnert mich immer ein wenig an Bazin. Ach," seufzte er kurz, " der gute Bazin, der ist auch schon so lange tot und wahrscheinlich im Himmel."
Der Himmel, ein schöner Ort, weg von dieser Welt die nichts anderes mehr für unseren Freund übrig hatte als Kartoffeln, Spinat und Tagträume. Doch irgendetwas hielt ihn hier und das war nicht bloß die Angst vor der größten Sünde von allen, dem Selbstmord, der einzigen die man nicht beichten und dafür Vergebung erbitten kann, es sei denn, vor dem obersten Richter, der ihn scheinbar davon abhielt. Und in Erinnerung an einige wunderliche Ereignisse der letzten Tage versunken, spazierte Aramis weiter zur Kirche.