Wem die Stunde schlägt von LadyAramis
Durchschnittliche Wertung: 5, basierend auf 10 BewertungenKapitel Auf Leben und Tod
Kapitel 32
Auf Leben und Tod
Die drei Musketiere ritten nicht, stattdessen flogen sie förmlich über das Land. An der Spitze war d’Artagnan, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die sonst so fröhlichen Augen angsterfüllt. Athos und Porthos folgten dicht hinter ihm, ebenso stumm.
Porthos‘ Herz schlug so heftig in seiner Brust, das es sich so anfühlte, als würden seine Rippen jeden Moment brechen. Doch noch schlimmer waren die Gefühle, die wie ein wilder Sturm an seiner Seele zerrten. Am liebsten hätte er seine Verwirrung und seinen Schmerz in die Welt hinausgeschrien, doch was hätte das gebracht? Und so blieb er stumm, während er sich tiefer über den Hals seines Pferdes beugte und es unbarmherzig vorwärtstrieb.
Die Scham, die er bei dem Gedanken verspürte, wie leicht er Adelinas gewinnenden Charme erlegen war und wie leichtsinnig er ihr alles anvertraut hatte, war wie eine brennende Wunde in seinem Innern. Jetzt, wo das dunkle Geheimnis seiner Geliebten aufgedeckt war, schien es ihm, als hätte er es immer wissen müssen. Da war diese flüsternde Stimme in seinem Kopf, die ihn immer wieder fragte: Wieso hast du es nicht bemerkt? Wieso bist du so dumm und fällst immer auf die falschen Menschen rein?
Zugleich war da diese Furcht, die ihm den Hals abschnürte. Die Furcht um den guten, schusseligen Mathias, der nur hatte helfen wollen und nun keine Ahnung hatte, dass eine Mörderin auf dem Weg zu ihm war. Die Furcht um die warmherzige, liebevolle Constance, die durch ihre Freundschaft mit ihnen nun schon wieder in tödliche Gefahr geraten war. Und die furchtbare nagende Furcht um Aramis, um den witzigen, schlagfertigen und lebensfrohen Aramis, der eben eine schlimme Krankheit überstanden hatte und nun geschwächt einer weiteren Bedrohung gegenüberstand. Die Porthos selbst ihm auf den Hals geschickt hatte.
Lass uns rechtzeitig da sein, betete er stumm, lass uns rechtzeitig da sein! Ich kann ihn nicht verlieren! Wieso lässt du ihn die Lungenentzündung überleben, nur um ihn dann doch sterben zu lassen? Das kann nicht deine himmlische Gerechtigkeit sein! Bestraf ihn nicht für meine Dummheit!
Athos hatte sich etwas zurückfallen lassen, so dass er nun neben ihm ritt. Porthos bemerkte es allerdings erst, als Athos das Wort an ihn richtete. „Porthos“, sagte er mit Nachdruck, „du trägst keine Schuld an der ganzen Sache! Hörst du? Was auch immer heute geschieht, du hast keine Schuld.“ Porthos nickte, konnte Athos jedoch nicht in die Augen sehen. Es war freundlich von ihm, dass er die Last, die sich Porthos selbst aufgebürdet hatte, erleichtern wollte.
Doch auch Athos‘ Worte konnten die düsteren Schatten nicht vertreiben, die seine Seele verdunkelten. Im Gegenteil, die Angst, die aus Athos‘ angespannter Körperhaltung und der Art wie er die Zügel umklammerte, verstärkte die Furcht in seinem Herzen. Wenn selbst der beherrschte Athos offensichtlich aufgebracht war, war die Situation mehr als brenzlig.
Porthos heftete den Blick wieder auf den Himmel.
Lass uns nicht zu spät kommen!
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Im Haus war es still. Bruder Matthias hatte beschlossen einen Spaziergang zu machen und bei dieser Gelegenheit gleich noch ein paar Heilkräuter zu sammeln. Constance dagegen fegte fröhlich summend die Küche ordentlich aus. Das gehörte zwar sonst nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen, aber die Tatsache, dass Aramis auf den Weg zur Besserung war, hatte ihr einen Stimmungsaufschwung verschafft. Es war ein gutes Gefühl, dem Tod ein Schnippchen geschlagen zu haben. Ausserdem war es schön, mal wieder etwas anderes zu tun, als Tee zuzubereiten und feuchte Umschläge auszuwechseln. Und das Haus hatte es wirklich wieder dringend nötig, geputzt zu werden. Es war Constance schon immer ein Rätsel gewesen, in welch kurzer Zeit Männer alles verdrecken konnten.
Ein Klopfen an der Türe riss Constance aus ihrer emsigen Tätigkeit. Sie hielt überrascht inne. Wer konnte das sein? Kurz dachte sie mit jähen Schrecken an eine verfrühte Rückkehr ihres Mannes, verwarf diesen Gedanken allerdings schnell wieder. Jacques wäre wohl eher in ihrem Stadthaus aufgetaucht, nicht hier. Es werden doch wohl nicht die Männer des Kardinals sein, schoss es ihr durch den Kopf und es war diese Befürchtung, die sie dazu veranlasste, den Besen fest zu umklammern, als sie die Tür aufriss.
Vor ihr stand eine feenhaft schöne Frau mit roten Haaren. Eine Adelige, das sah Constance sofort an ihrer stolzen Haltung und ihrer Kleidung, die zwar vom schlichten Schnitt waren, war jedoch aus kostbaren Stoff, wie ihr geübtes Schneiderinnenauge sofort erkannte. Dennoch wirkte die fremde Dame ramponiert. Das raffiniert geschnittene Reitkleid war beschmutzt, der elegante Umhang an einigen Stellen zerrissen und einige der roten Locken hatten sich aus ihrer Frisur gelöst und hingen ihr wirr ins Gesicht. Auch das Lächeln, das sie Constance jetzt schenkte, wirkte zittrig.
„Verzeiht, mein plötzliches Auftauchen muss Euch erschrecken. Und ich will Euch bestimmt nicht stören! Nur, ich brauche dringend Eure Hilfe!“ Die Frau stolperte vor Aufregung über ihre Worte. Sie schien kurz davor zu sein, in Tränen auszubrechen.
Constance legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. „Beruhigt Euch, Madame! Was ist denn passiert?“, fragte sie freundlich. Wahrscheinlich wäre eine förmlichere Anrede passender gewesen, aber da sie den Rang der Frau nicht kannte und die Situation dringend erschien, verzichtete sie auf die gehobenen Umgangsformen.
Die Frau schluckte schwer. „Ich bin ausgeritten…mit meinem Bruder. Er ist Priester und wir sehen uns nicht oft. Vielleicht waren wir deshalb zu übermütig. Das heisst“, sie stiess ein tränenersticktes Lachen aus, „ich war viel zu übermütig. Mein Pferd ist mit mir durchgegangen und hat mich abgeworfen. Ich habe nur ein paar Blessuren davongetragen, aber mein Bruder wollte das Pferd wieder einfangen. Doch es war ausser sich. Es ist gestiegen und dabei hat es ihn mit dem Huf an der Stirn erwischt. Jetzt liegt er da und er bewegt sich nicht und alles ist voller Blut…“ Sie brach ab.
Constances Herz quoll über vor Mitleid. Das klang wirklich schlimm. Sie hatte oft genug Reitunfälle mitangesehen um zu wissen, dass diese nicht selten tödlich endeten. Gerade wenn es um Kopfverletzungen ging, die schlimme Komplikationen mit sich ziehen konnten. Allerdings sagte dieselbe Erfahrung Constance auch, dass Kopfwunden generell viel bluteten, selbst wenn sie nicht tief gingen.
„Zeigt mir die Stelle wo er jetzt liegt, Madame. Vielleicht sieht es schlimmer aus, als es ist.“
Die Frau sah sie mit tränenfeuchten Augen. „Meint Ihr? Seid Ihr denn in der Heilkunst bewandert?“
Das war eine heikle Frage. Constance wollte die jäh aufgeflammte Hoffnung der Frau nicht wieder zerstören, allerdings sie auch nicht im Glauben lassen, dass sie eine Wunderheilerin sei. „Ich werde sehen, was ich tun kann“, sagte sie ausweichend. Dann straffte sie entschlossen die Schultern. „Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Reden. Zeigt mir wo Eurer Bruder liegt!“
Die Fremde nickte entschlossen. Doch als sie sich umdrehte, stiess sie plötzlich einen schmerzerfüllten Schrei aus und sank zu Boden, wobei sie ihren Knöchel umklammerte. Sofort kniete sich Constance neben sie. „Was ist mit Euch? Habt Ihr Euch verletzt?“
Tränenverschleierte grüne Augen blickten Constance an. „Mein Fuss... ich habe ihn beim Sturz verdreht. Er hat vorher schon wehgetan aber ich dachte es geht…“ Sie brach ab, das Gesicht schmerzverzerrt, trotz ihrer Schönheit ein Häufchen Elend. Constance biss sich auf die Lippen. Offenbar hatte sich die Dame bei ihrem Sturz vom Pferd den Knöchel verstaucht und mit diesem würde sie nicht weit kommen. Der verunfallte Mann brauchte aber jetzt Hilfe.
Kurzentschlossen nahm Constance die Verletzte am Arm und zog sie hoch. „Kommt. Beschriebt mir ganz genau wo Euer Bruder liegt. Ihr könnt Euch im Haus ausruhen, während ich nach ihm sehen werde.“ Und nachschaue, ob man überhaupt noch etwas für den armen Mann tun kann, fügte sie in Gedanken hinzu.
Behutsam half sie der stark hinkenden Frau über die Schwelle und setzte sie dann in der Küche auf einen Stuhl. „Wartet hier! Ich werde so schnell wie möglich zurückkehren. Und erschreckt nicht, wenn Ihr Husten hört. Oben liegt ein Freund von mir, der sich gerade von einer Lungenentzündung erholt.“ Kurz fragte sie sich, ob sie Aramis über den Besuch informieren sollte, verwarf den Gedanken aber so gleich wieder. Als sie kurz vorher nach ihm gesehen hatte, hatte er im tiefen Schlaf gelegen und Schlaf war das, was er noch immer am dringendsten benötigte um vollständig zu genesen. Und Constance bezweifelte, dass der noch immer geschwächte Aramis mal eben so in die Küche spazieren würde.
Die Frau griff impulsiv nach ihrer Hand. „Ihr seid eine gute Frau, Madame…“
„Bonacieux“, stellte sich Constance vor und weil es ihr richtig vorkam, sank sie in einen kurzen Knicks.
Die Selbstverständlichkeit mit der die Rothaarige diese Geste zur Kenntnis nahm, zeugte davon, dass Constance mit ihrer Vermutung richtig lag. In ihrer Küche sass jemand von hoher Geburt. Dennoch neigte ihr Gast nun zu einer kleinen Ehrbezeugung den Kopf. „Ich bin Gräfin Adelina. Wenn Ihr meinen Bruder rettet, stehe ich tief in Eurer Schuld, Madame Bonacieux.“
„Macht Euch keine Gedanken. Ich helfe nicht um Schuldscheine zu sammeln“, erwiderte Constance. Dann liess sie sich von Adelina den Weg zu der Unfallstelle genau beschreiben, bevor sie sich ihren Umhang überzog und nach einem letzten aufmunternden Lächeln den Weg in den Wald antrat.
Offenbar hatte sich der Unfall nicht weit von ihrem Haus weg ereignet. Constance war erst wenige Schritte in den Wald gegangen als sie es sah. Ein schwarzes Bündel, das auf dem Boden lag und von weitem wirkte wie ein unförmiger schwarzer Tintenfleck. Das musste der gestürzte Priester sein. Mit gerafften Röcken rannte sie zu ihm und liess sich neben ihn auf die Knie fallen. Seine Augen waren geschlossen, doch Blut konnte Constance keines erkennen und sein Atem ging in tiefen regelmässigen Zügen. Er sah eigentlich gar nicht so schlimm verletzt aus. Hatte Adelina in ihrer Panik Gespenster gesehen?
Constance legte ihre Hand auf die Brust des Bewusstlosen um seinen Herzschlag zu spüren. Es schlug, soweit Constance es beurteilen konnte, genau wie es sollte. Und eine Kopfwunde konnte sie beim besten Willen nicht sehen. Vielleicht war sie verborgen?
Vorsichtig schob sie ihre Finger unter seinen Hinterkopf um ihn anzuheben, da riss der Priester die Augen auf. Constance blieb keine Zeit zu schreien. Mit einem bösen verzerrten Grinsen im Gesicht packte er sie am Hals und seine Finger legten sich wie eiserne Klammern um ihre Kehle.
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Das war ja fast zu einfach, dachte Adelina. Die dusselige Kuh war ihr ohne Widerstand in die Falle gegangen. Wie gut, dass Porthos ihr von der liebenswerten Madame Bonacieux berichtet hatte. Wer sich so aufopferungsvoll um kranke Freunde kümmerte, der liess keine verwundeten Menschen im Wald liegen. Mitgefühl war der Schlüssel gewesen, der ihr die Türen dieses Hauses geöffnet hatte.
Adelina war schon zu lange Spionin und hatte ihre Hände schon zu oft in Blut getaucht als das sie das Schicksal der warmherzigen Bonacieux sonderlich beschäftigt hätte. Ein Bauernopfer, bedauerlich aber unausweichlich. Bei Aramis lagen die Dinge anders. Er war ein gefährlicher Zeuge und noch dazu ein Versäumnis. Jacques hätte ihn gleich mit Francis töten sollen, das hätte ihnen den ganzen Zirkus hier gespart.
Dennoch schade war es schon um den Musketier. Die Königin hielt so grosse Stücke auf ihn und erzählte stets mit glühenden Wangen von ihrem ganz persönlichen Ritter, dass Adelina, gesegnet mit dem untrüglichen Instinkt aller Spione, ahnte, dass die beiden weit mehr verband als das übliche Verhältnis zwischen Königin und Musketier. Dass Porthos ihr die Geschichte von der Königin, die sich vor Sorge um Aramis kaum trösten könnte, so ohne weiteres geglaubt hatte, bestätigte ihr Vermutung. Es wäre für England äusserst interessant gewesen, den Ausgang dieser französischen Affäre zu erfahren.
Doch, ob jetzt Geliebter der Königin oder einfacher Musketier, Aramis würde heute sterben.
Mit dem Dolch in der Hand stieg Adelina die Treppe hoch. Es müsste natürlich eine Erklärung geben, für das gewaltsame Ableben des Musketiers und der armen Bonacieux. Sie und John hatten entschieden, das Ganze als Überfall von Räubern zu tarnen. Das kam schliesslich oft genug vor. Sie würde zurück in den Louvre eilen; mit blauen Flecken und in zerrissenen Kleidern würde sie dann mit tränenerstickter Stimme davon berichten, dass sie selbst mitten in den Überfall geplatzt war. Mit knapper Not habe sie entfliehen können, für Aramis und Madame Bonacieux sei jede Hilfe zu spät gekommen. Sie würden ihr glauben, davon war Adelina überzeugt. Überfälle von Gesetzlosen kamen so weit ausserhalb von Paris schliesslich oft genug vor und ihr schauspielerisches Talent würde dem Ganzen noch mehr Glaubwürdigkeit verleihen. Was Porthos betraf: Ihn würde sie schon zu trösten wissen.
Sie war ganz ruhig als sie in das Zimmer trat und behutsam die Tür hinter sich schloss. Es roch nach Kräutern und Schweiss, der untrügliche Geruch von Krankheit. Nun, sie würde ihn ja bald von seinem Leiden erlösen. Leise wie ein Schatten huschte sie zum Bett. Darin lag, tief schlummernd, der Musketier, der ihr Verhängnis hätte werden können.
Es war wirklich ein gutaussehender Mann und die Krankheit hatte dieser Schönheit noch etwas Zerbrechliches und Überirdischen verliehen. Die fein gemeisselte Gesichtszüge, hohe Wangenknochen und lange Wimpern, die wie ein zarter Vorhang auf der blassen Haut ruhten, das alles liess einem fast glauben, man sehe einen schlafenden Elfenprinz. Das lange dunkle Haar lag ausgebreitet auf dem weissen Kissen, fast hätte man es für einen Heiligenschein halten können. Nur, dass Aramis alles andere als ein Heiliger war, wenn sie Porthos lebhaften Schilderungen Glauben schenken konnte.
Das friedliche Bild wurde dadurch gestört, dass Aramis‘ Atemzüge rasselnd und keuchend waren, fast wie bei einem alten Mann. Eindeutig lungenkrank. Einer plötzlichen Eingebung folgend, steckte Adelina das Messer weg. Wieso kompliziert, wenn man es auch einfach haben konnte? Wieso die langwierige Geschichte eines Raubüberfalls erzählen, wenn man doch alles so bequem auf einen natürlichen Tod schieben konnte? Erstickt im Schlaf. Nicht ungewöhnlich bei Lungenkrankheiten.
Adelina packte eines der Kissen. Und dann drückte sie es langsam auf Aramis‘ Gesicht.
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Aramis‘ Träume waren dunkel. Er träumte von Francis, einem gesunden lachenden Francis, der mit ihm scherzte und ihn umarmte. Doch als Aramis ihn an sich drückte, spürte er plötzlich etwas Feuchtes und als er hinuntersah, sah er, dass Francis Hemd blutdurchtränkt war. „Vergib mir Bruder, ich habe dich verraten. Dich und die Musketiere“, keuchte er und noch mehr Blut quoll aus seinem Mund. Aramis versuchte verzweifelt die Blutung zu stoppen und presste beide Hände auf Francis‘ Bauch. Doch das Blut floss unaufhaltsam durch seine Fingen, ein steter roter Strom der auf den Boden tropfte und zu Rosen erblühten. Wunderschön, aber tückisch und gefährlich. Und aus den Rosen wurde eine Frau, eine rothaarige Frau mit grünen Katzenaugen. Sie lächelte ihn an. Doch es war ein schreckliches Lächeln, ein Lächeln, das Schmerz bedeutete und Tod verhiess.
Dann wurde aus dem Schatten Porthos geboren, dunkel und gutaussehend, wild und stark. Die Frau sank in seine Arme, er hob sie hoch und wirbelte sie durch die Luft. Es war ein schönes Paar; leuchtendes Rot und tiefes Schwarz. Porthos‘ Augen war voller Glück, ihre voller warmer Zuneigung. Nein, da blitzte etwas anderes auf in den Tiefen dieses schimmernden Grünes. Es waren nicht die Augen einer liebenden Frau, es waren die lauernden Augen eines Raubtiers und die Hand, die nun auf Porthos‘ Schulter lag, war keine zarte Frauenhand, sondern eine Klaue. Aramis wollte schreien, wollte seinen Freund warnen, doch kein Laut entkam seinen Lippen, nicht einmal ein Flüstern. Er war dazu verdammt, stumm mitanzusehen, wie sein bester Freund in der Umarmung dieses furchtbaren Wesens ertrank und nicht einmal bemerkte, wie sich ihre Krallen in seinen Rücken bohrten. Porthos warf den Kopf in den Nacken, das Gesicht eine schmerzverzerrte Grimasse, die Lippen zu einem schrillen Schrei geformt. Und wie roter Regen tropfte das Blut auf den Boden.
Die Bilder verflossen. Wieder stand Francis vor ihm, umklammerte mit den Händen seine Oberarme. „Du musst ihn warnen!“, rief Francis und seine Stimme überschlug sich vor Aufregung, „du musst Porthos vor ihr warnen! Sie mag ihm Liebe vorheucheln und ihm das Paradies versprechen, aber sie ist ein Teufel! Ein Teufel in Menschengestalt. Sie wird ihn vernichten, so wie sie mich und Isaac vernichtet hat. Sie ist die Feindin Frankreichs! Er darf ihr nicht vertrauen, hörst du? Sag ihm das bevor es zu spät ist! Die Gräfin Adelina ist eine Spionin für England!“
Francis. Porthos. Adelina. Spionin. Mord. Blut. Verrat. Liebe.
Eine Frau in Rot. Ein toter Musketier. Ein unliebsamer Zeuge.
Das war kein Traum. Das war eine Erinnerung.
Aramis riss die Augen auf. Und sah die rote Frau, die mit kalten Lächeln an seinem Bett stand. Er öffnete den Mund, doch sein Schrei wurde vom Kissen erstickt, das unbarmherzig auf sein Gesicht gedrückt wurde.
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Constance kämpfte um ihr Leben. Verzweifelt griff sie nach der Hand, die ihr die Kehle zudrückte, doch alles Zerren an den Fingern war vergeblich. Es war, als hätte sich eine Bärenklaue um ihren Hals gelegt. Und der Mann selbst, der dunkle Priester, erschien ihr auch wahrlich wie ein Monster. In den Tiefen dieser Augen konnte Constance weder Reue noch Mitgefühl lesen, im Gegenteil. Es schien ihm geradezu Vergnügen zu bereiten, zu sehen, wie Constance um jeden Atemzug ringen musste und wie das Leben auf quälend langsame Weise aus ihr wich.
Vor ihren Augen flimmerte es, das Grün der Bäume verwandelte sich in Schwarz. In ihren Ohren rauschte das Blut, ihre Körper wurde taub und starr, ihre Hände, die eben noch versucht hatten sich irgendwie aus dem erbarmungslosen Griff zu retten, fielen nutzlos herab. Sie verlor sich. Nein, begriff sie mit jähen Schrecken, sie starb. Sie starb einsam und verlassen auf einer Waldlichtung wegen ihrer verdammten Hilfsbereitschaft.
Vielleicht war es dieser Gedanke, der sie noch einmal mit jäher Kraft erfüllte. Vielleicht auch die Wut darüber, so hereingelegt worden zu sein. Vielleicht auch der Gedanke an d’Artagnan, den Mann, den sie liebte. Aber egal wieso, auf jeden Fall hob sie ihr Knie und rammte es so fest sie konnte in die Weichteile ihres Angreifers.
Sie hatte offenbar gut getroffen. Der Priester stiess einen Schrei aus und liess ihren Hals los. Constance stürzte benommen zu Boden. Ihr war furchtbar schwindlig, das Aufstehen misslang ihr, weshalb sie vorwärts kroch. Weg, einfach nur weg, dachte sie, doch ihr Köper war geschwächt vom Luftmangel und sie war zu langsam und zu schwerfällig. Und auf einmal stand der Priester wieder über ihr, das Gesicht eine verzerrte Fratze aus Wut und Rache. Er packte sie grob an den Haaren. „Du kleines Biest“, zischte er ihr ins Ohr als er sie hochzog, „du kleines widerliches Biest!“ Er schüttelte sie wie eine Katze.
Wieder spürte sie Wut in sich aufflammen. Mit einer schnellen Kopfbewegung befreite sie ihre Haare. „Fasst mich nicht an!“, fauchte sie, während sie zurückstolperte. Erneut fiel sie hin, was ihre Drohung umso lächerlicher machte: Sie war nicht nur eine zierliche Frau, die ihrem Gegner körperlich unterlegen war, sie konnte auch kaum richtig Luft holen, weil ihr Hals von der Würgeattacke immer noch schmerzte. Sie war diesem Mann völlig ausgeliefert.
Die Wut verschwand aus seinem Gesicht und machte einer hinterlistigen Amüsiertheit Platz. „Wer hätte gedacht, dass sich hinter diesem braven Hausmütterchen – Gesicht eine solche Wildkatze verbirgt?“ Bevor sie noch wusste wie ihr geschah, stiess er sie erneut zu Boden. Und dann war er wieder über ihr, ihr Gesicht so nah an ihrem, dass sie seinen heissen Atem spüren konnte, der über die empfindliche Haut an ihrem Hals strich. „Eigentlich wollte ich dich schnell töten. Aber ich denke, ich habe mir ein bisschen Spass mit dir verdient.“
Sie wollte schreien, aber ihrer geschundenen Kehle entkam nur ein leises Wimmern. Sie wollte sich wehren, ihn kratzen, ihn schlagen, ihm wehtun, aber sie konnte es nicht. Er hielt ihre Handgelenke fest, presste sie auf den moosigen Waldboden und obwohl sie sich wand wie eine Schlange presste er seine Lippen auf die ihren. Sein Kuss bereitete ihm jedoch nur kurzes Vergnügen. Mit grimmigen Vergnügen biss sie ihn.
Zwar fuhr er kurz zurück, dennoch schaffte sie es nicht, ihm zu entkommen. Inzwischen kniete er auf ihr und machte sie so bewegungsunfähig. „Wehr dich ruhig, Kleines. Ich mag das“, raunte er ihr ins Ohr. Sie zappelte wild, trat um sich und spuckte ihn sogar an. Ihn schien das alles nicht zu berühren, im Gegenteil. Sein schrilles spöttisches Lachen hallte höhnisch durch den Wald. Für ihn war es ein Spiel.
Ein Spiel, das sie verlor. Sie war zu erschöpft um sich weiter zu sträuben. Mit tränenblinden Augen sah sie hinauf in den Himmel, der sie mit seiner satten blauen Farbe zu verspotten schien. Ein schöner Tag zum Sterben, dachte sie mit einem Anflug von Ironie, während sie es stumm über sich ergehen liess, dass er ihre Röcke zurückschob.
Das Wiehern von Pferden, das Donnern von Hufen, laute Rufe, das Geklirr von Degen, ihr Name, der geschrien wurde, voller Angst und Zorn, Constance konnte die Geräusche nicht verarbeiten, sie begriff nicht, was um sie herum geschah. Ihre Seele war so betäubt von Schmerz und Angst, dass sie nicht einmal wirklich wahrnahm, wie ihr Peiniger jäh von ihr abliess und mit einem lauten Fluch zwischen den Bäumen verschwand. Erst als warme Hände sie aufrichteten und eine vertraute Stimme tröstende Worte in ihr Ohr hauchte, wurde ihr klar, dass sie gerettet worden war. D’Artagnan. D’Artagnan war gekommen.
Mit einem lauten Aufschluchzen vergrub sie das Gesicht in seiner Uniform. Er roch wie üblich nach Schweiss und Heu, nach Abenteuer und Geborgenheit. Gerade jetzt war dieser Duft das Einzige was zwischen ihr und dem Abgrund stand. Sie klammerte sich an ihn, als wäre er ein Felsen inmitten eines stürmischen aufgepeitschten Meeres und er wiegte sie, als sei sie ein kleines Mädchen, strich ihr über das Haare und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Es war genau das, was sie jetzt brauchte. Ihn. Sie brauchte ihn und es war eine furchtbare Ungerechtigkeit des Lebens, dass sie ihn nicht haben konnte, weil sie sich vor Gott diesem Idioten von Bonacieux versprochen hatte.
Es dauerte eine Weile bis sie sich wieder einigermassen gefasst hatte. „Verzeih“, murmelte sie und rückte etwas von d’Artagnan ab. Sie wusste nicht einmal, wofür sie sich eigentlich entschuldigte. Dafür, dass sie so blindlings in die Falle gegangen war? Dafür, dass sie ihm die Uniform nassgeweint hat? Dafür, dass sie ihn immer wieder von sich stossen musste?
D’Artagnan fragte nicht weiter nach. Stattdessen zog er sie wieder an sich. „Du zitterst ja“, murmelte er und rieb ihr mit der Hand über den nackten Arm. Zittern war noch untertrieben. Constance schlotterte, als hätte sie gerade ein Bad in Eiswasser genommen. Und sie konnte nichts dagegen tun. Ihr Körper schüttelte sich, ob vor Schock oder vor Ekel über das, was ihr beinahe passiert wäre, konnte sie nicht sagen.
„Ich dachte, er bräuchte Hilfe…er lag am Boden. Und…plötzlich…plötzlich war seine Hand…“ Sie berührte ihren Hals, der sich geschwollen anfühlte. „Ich…konnte mich befreien, aber dann war er über mir und ich habe mich gewehrt und dann wollte er…er wollte...“ Sie stolperte hilflos über die Worte, unfähig das Grauen, das sie erlebt hatte, zu schildern.
„Der Mann ist ein Mörder, Constance. Er hat Francis umgebracht.“
Obwohl sie keine Ahnung hatte, wer der Priester war oder wieso er das getan haben sollte, glaubte Constance d’Artagnan sofort. Sie hatte die Augen gesehen, diese Augen, in denen die Lust am Töten aufgeblitzt war, diese Augen, die sich an ihrem Leid ergötzt hatten. Wenn d’Artagnan nicht gekommen wäre und ihn verjagt hätte… „Wo ist er?“, fragte sie erschauernd und sah sich mit wilden Blick um. Halb erwartete sie, dass der Priester sich hinter einem Baum verbarg um ihr erneut aufzulauern.
d’Artagnan presste die Lippen zusammen. „Er ist abgehauen, der Feigling. Aber Athos ist ihm nach. Und wenn er ihn erwischt, dann Gnade ihm Gott!“
Das konnte sich Constance lebhaft vorstellen und sie fühlte eine grimmige Erleichterung bei dem Gedanken, dass Athos sich diesen Mann vorknöpfte. Mit einem erleichterten Seufzen liess sie den Kopf auf d’Artagnans Schulter fallen, nur um ihn so gleich wieder hochzureissen. Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie völlig vergessen hatte, wer sie überhaupt in diese Situation gebracht hatte.
„O mein Gott, d’Artagnan! Diese Frau, sie ist bei Aramis. Ich habe sie mit ihm allein gelassen!“
„Welche Frau?“
„Adelina. Sie nannte sich Lady Adelina“
D’Artagnans entsetzter Gesichtsausdruck sagte ihr alles. Und mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend wurde ihr klar, dass sie nicht die Einzige war, die gerade um ihr Leben gekämpft hatte. Die Frage war nur, ob Aramis ebenfalls siegreich gewesen war.
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Es war fast schon lächerlich leicht. Aramis war zwar tatsächlich aufgewacht, allerdings hatte er ihr nichts entgegenzusetzen. Sein Körper war zu geschwächt von der Krankheit, als dass er noch genug Kraft gehabt hätte, sich zu wehren. Er zappelte und trat um sich, doch es waren vergebliche Bemühungen seinem Tod zu entkommen, sie drückte unbeirrt weiter das Kissen auf sein Gesicht. Das Töten machte ihr so sogar noch mehr Spass. Zu spüren wie das Leben langsam aus dem Körper wich, zu sehen wie die Glieder langsam erschlafften und den immer langsamer werdenden Herzschlag zu fühlen.
Ein heftiger Stoss in den Rücken riss Adelina aus ihren Gedanken. Instinktiv liess sie das Kissen fallen und drehte sich um. Da bekam sie einen harten Schlag ins Gesicht. Es war mehr die Überraschung als der Schmerz, der sie zu Boden gehen liess. Nie hätte sie damit gerechnet, dass ihr jetzt noch jemand in Quere kommen könnte. Aber da stand er, der mysteriöse Angreifer, in der Hand noch den Weidenkorb, den er ihr offenbar vorher um die Ohren geschlagen hatte.
Allerdings wirkte der Störenfried alles andere als bedrohlich. Immerhin trug er eine Mönchskutte und Adelina konnte selbst durch die weiten Falten des Gewandes sehen, dass seine Knie schlotterten. Ausserdem hing in seinen Haaren allerlei Kräuter, zweifellos der ehemalige Inhalt des Korbes. Der Rest lag auf dem Boden um sie herum verstreut. Trotz seiner offensichtlichen Angst umklammerte er immer noch den Korb, offenbar bereit, ihn erneut als Waffe zu verwenden.
„Weg von ihm, Dämonin!“ Seine Stimme zitterte etwas, dennoch las Adelina in seinen Augen den eisernen Entschluss, Aramis zu verteidigen.
Unter anderen Umständen hätte Adelina gelacht. Nur, fand sie es gar nicht komisch, dass ihr dieses Mönchlein jetzt dazwischenfunkte. Zu ihrem äussersten Missmut musste sie nämlich feststellen, dass er offenbar noch zur rechten Zeit – beziehungsweise aus ihrer Sicht – genau zu falschen Zeit - gekommen war. Es war ihr nicht gelungen, Aramis zu ersticken. Dieser hustete sich nämlich gerade die Seele aus dem Leib und auch wenn er verzweifelt nach Luft rang, war er nach Adelinas Geschmack immer noch viel zu lebendig.
Sie setzte ein honigsüsses Lächeln auf. „Aber Pater! Ich bin doch keine Dämonin! Schämt Ihr Euch nicht, eine schwache Frau von hinten anzugreifen und sie dann noch zu beschimpfen?“ Ihre Stimme war sanft wie Samt. Es war diese Stimme, die ihren Liebhabern so süsse Lügen ins Ohr geträufelt hatte, dass diese ihr blind ihr Vertrauen geschenkt hatten. Und nun zeigte diese liebliche Stimme in Kombination mit ihren weit aufgerissenen unschuldig blickenden Augen erneut Wirkung. Sie konnte sehen wie der Mönch zögerte. Und vor allem konnte sie sehen, wie sein Körper sich entspannte.
Ihre Chance. Ihr Bein schoss noch vorne und fegte ihm die Füsse weg. Er gab einen überraschten Laut von sich als er stürzte. Blitzschnell wie eine Katze war sie aufgesprungen, zu dem Liegenden geeilt und hatte mit einer einzigen Bewegung seinen Kopf einmal kurz auf den Boden geknallt. Er war sofort bewusstlos. Später würde sie ihn seinem Schützling hinterherschicken. Jetzt aber wollte sie endlich das Blut von Aramis sehen. Und jetzt würde sie es schnell machen.
Er hustete noch immer, als sie langsam zu ihm hinüberging, wobei sie in einer fliessenden Bewegung ihr Messer zog. Die Hustenkrämpfe schüttelten ihn so sehr, dass an eine Flucht nicht zu denken war. Ganz der sture Musketier versuchte er es dennoch. Mit letzter Kraft wollte er vor ihr wegkriechen, erreichte aber damit nur, dass er aus dem Bett fiel und benommen liegenblieb. Auch gut. Ohne Umschweife setzte sie sich auf seinen Rücken. Sein Stöhnen hätte mancher Frau und manchen Mann das Herz zerrissen, ihr entlockte es nur ein Lächeln. Er war ihr ausgeliefert.
„Ich tu das nicht gerne, mein Schöner“, hauchte sie ihm ins Ohr. Beinahe zärtlich strich sie ihm die verschwitzten Locken aus der Stirn. „Schon wegen Porthos, bedaure ich es. Aber was tut man nicht alles für sein Land. Das müsstest du am besten wissen.“
Und mit einem Ruck an seinen Haaren zog sie seinen Kopf hoch um das kalte Messer an den schlanken Hals zu drücken.
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Der falsche Priester war schnell. Wie ein Reh auf der Flucht preschte er durch den Wald, ein schwarzes Irrlicht zwischen den Bäumen. Doch Athos war auch schnell. Er hatte nicht lange, kräftige Beine, sondern er besass auch Ausdauer. Schliesslich war er ein Musketier und es gab kaum einen Tag, den er nicht in der Garnison verbrachte, um seinen Körper zu stählen. Naja, wenn er ehrlich war, genoss er es manchmal auch einfach, sich mit jemanden zu raufen, besonders wenn die dunklen Stunden der Erinnerungen ihn niederrangen und er die angestaute Energie irgendwie loswerden musste. Wenn die Rastlosigkeit ihn in ihren Klauen hatte, gab es nur zwei Auswege: Alkohol oder körperliche Ertüchtigung.
Jetzt, während er Pater Jacques nachhetzte, war Athos mehr als froh sich in den letzten Tagen eher auf Letzteres verlassen zu haben. Seine Beute mochte schnell sein, wurde aber merklich langsamer. Vermutlich ging ihm die Puste aus, weil er lange Strecken nicht gewohnt war. Zudem behinderte ihn wahrscheinlich die lange Priesterrobe. Athos dagegen steigerte sein Tempo noch. Der Zorn in ihm trieb ihn an. Das hier war der Mörder von Francis. Das hier war der Mann, der vor kurzem versucht hatte, Constance zu vergewaltigen. Das hier war ein gefährlicher Spion. Er war es seinen Freunden und seinem König schuldig ihn zu stellen.
Diese dunklen Rachegedanken vernebelten seinen sonst so scharfen Sinn. Zu spät bemerkte er, dass die schemenhafte Gestalt von Jacques plötzlich verschwunden war. Gerade als sich in seinem Kopf langsam die Frage formte, wie sein Gegner so schnell hatte verschwinden können, bekam er auch schon den Fuss in die Kniekehle. Mit einem überraschten Laut stürzte er zu Boden.
Er fing sich schnell genug, dass er sich noch umdrehen konnte und das war sein Glück. Jacques stürzte sich auf ihn, den Degen in der Hand, in den Augen ein irres Feuer. Instinktiv rollte sich Athos zur Seite, so dass Jacques‘ Degenhieb ins Leere ging. In einer einzigen anmutigen Bewegung war Athos auf die Füsse gekommen und hatte seinen Degen gezogen.
Sie umschlichen sich wie zwei Raubkatzen, lauernd, vorsichtig und zugleich strotzend vor Kampflust. Jacques hatte die Maske des Priesters endgültig fallen gelassen. Er hatte seinen Priesterrock hochgebunden, so dass er seine volle Bewegungsfreiheit hatte, seine Haltung war aufrecht und sein Blick war voll grausamer Schärfe. Nun strahlte er genau das aus, was Athos schon bei ihrem ersten Zusammentreffen gespürt hatte. Die tödliche Präzision eines ausgebildeten Kämpfers.
Ein böses Lächeln formte sich um Jacques‘ schmale Lippen. „Irgendwie wusste ich, dass es am Ende wir zwei sein werden, die uns gegenüberstehen, Musketier.“
„Und ich wusste von unserer ersten Begegnung an, dass Ihr nicht das seid, was Ihr vorgebt zu sein.“
„So? Was bin ich denn?“ Jacques änderte seine Stellung und glitt nach links. Athos dagegen blieb stehen, den Degen erhoben, den Blick fest auf seinen Kontrahenten gerichtet. Sein Atem ging in ruhigen, gleichmässigen Zügen und er stand so locker wie möglich da. Diese lässige Haltung täuschte seine Gegner immer wieder. Athos war nicht so feurig wie Porthos oder d’Artagnan, deren grösste Stärke ihre Schnelligkeit und ihr heftiges Temperament war, das ihnen Bärenkräfte verlieh. Athos dagegen war wie Eis. Er lockte seine Gegner an, und enthüllte seine gefährliche Kräfte erst dann, wenn es kein Zurück mehr gab.
„Ein Spion“, Athos sprach ruhig, während seine Augen jeder von Jacques Bewegungen folgte, „ein englischer Spion. Ein Mörder. Der Mörder von Francis, der ein Musketier war. Und der Mörder von Robert Dupont, der unschuldig in alles verwickelt wurde.“
Jacques zog eine enttäuschte Grimasse. „Wisst Ihr, wenn Ihr das alles so aufzählt, klingt das alles so negativ. Dabei habe ich nur meinem Land gedient. So wie Ihr dem Euren dient.“
„Ich bin ein Musketier und kein Spion“, erwiderte Athos und war selbst überrascht über die Schärfe in seiner Stimme. Schliesslich hatte er keine so romantisch verklärte Vision des Musketier-Daseins, wie d’Artagnan und hatte auch nicht gerade die höchste Meinung von sich selbst. Aber Jacques widerte ihn an. Der Gedanke, diesem Mann in irgendwelchen Punkten ähnlich zu sein, berührte einen wunden Punkt in ihm. Lass dich nicht reizen, beschwor er sich selbst, das ist das, war er will.
Jacques legte den Kopf schräg und selbst diese Geste sah bei ihm nicht neckisch oder verspielt, sondern bedrohlich. „Nein, Ihr seid das, was dein König von Euch verlangt. Musketier oder Spion, wo ist denn da der Unterschied? Tragt nicht auch Ihr einen falschen Namen, Athos?“
„Vielleicht sollten wir uns dann die Ehre erweisen und uns demaskieren bevor wir zur Tat schreiten?“, Athos hob den Degen, „ich bin Athos, aber früher nannte man mich den Comte de la Fère.“
„Oh, französischer Adel. Ich kann leider nicht mit einem so klangvollen Namen dienen. Wenn Ihr in der Hölle gefragt werdet, wer Euch getötet hat, dann lautet die Antwort: John.“ Und mit diesem Satz griff er an. Athos, der damit gerechnet hatte, sprang mit Leichtigkeit beiseite. Die Klinge glitt ins Leere, John machte einen Ausfallschritt, was Athos die Gelegenheit bot, hinter ihn zu kommen. Doch John war schneller als gedacht. Blitzschnell hatte er sich umgedreht und parierte Athos‘ Degen mit einer solchen Wucht, dass Athos es bis ins Handgelenk spürte. Mit einer geschickten Drehung befreite Athos seine Klinge und griff von neuem an.
John war ein ausgezeichneter Fechter. Wendig, schnell, dennoch kraftvoll. Die Eleganz und Anmut seines Gegners errang sich Athos‘ widerwillige Bewunderung. Auch wenn es natürlich leichter für ihn gewesen wäre, wenn John weniger gut gewesen wäre, so erfüllte ihn der Kampf doch mit einer eigenartigen Befriedigung. Es fühlte sich geradezu befreiend an, nach all diesen Tagen voller dunkler Rätsel, nun endlich etwas tun zu können. Die meist sorgfältig verborgene finstere Seite in Athos brach auf, als er nun die Kräfte mit jenen seines Gegenspielers mass und mit jedem Schlag glaubte er zu spüren, wie der Blutrausch in ihm grösser wurde, eine rote Flut, die nur darauf wartete, losgelassen zu werden.
Er durfte sich dem nicht hingeben. Erstens war er kein Barbar und zweitens konnte er John nur dann überwinden, wenn er einen kühlen Kopf behielt. Also zähmte Athos die Dunkelheit, die sich wie ein störrischer Hengst in ihm aufbäumte. Stattdessen focht er ruhig weiter, sorgfältig darauf bedacht seine Kraft nicht zu verschwenden.
Die Zeit war sein Verbündeter. Je länger es Athos gelang, die Attacken seines Gegners zu parieren und ihm auszuweichen, desto langsamer wurde John. Athos kreuzte oft genug mit d’Artagnan die Klingen um zu wissen, wie man feurige Kämpfer erlahmte und sie zu Unvorsichtigkeiten verleitete. Wie ein Wiesel wich er ihm aus, dehnte jeden Moment so lange wie möglich und verteidigte mehr als dass er frontal angriff. Er spürte, dass sein defensives Verhalten John ärgerte.
Es war dieser Ärger, der ihn unvorsichtig werden liess. Als Athos erneut zurückwich, verzerrte sich Johns Gesicht vor Zorn und er machte einen schnellen Ausfallschritt, um ihn noch zu erwischen. Athos sah den Fehler in der Deckung seines Gegners sofort, tauchte ab, hob seinen eigenen Degen und erwischte das Handgelenk seines Kontrahenten. Blut spritzte und mit einem dumpfen Klirren fiel die Waffe auf den Boden.
Athos stiess sie mit dem Fuss beiseite, bevor John wieder nach ihr greifen konnte. In einer aufreizend langsamen Bewegung legte er die Degenspitze auf Johns Brust. „Musketier schlägt Spion würde ich sagen.“ Der Triumph färbte seine Stimme spöttisch.
In Johns Gesicht konnte er weder Enttäuschung noch Entsetzen lesen. Nur eine schneidende Kälte als wären seine Züge in Eis erstarrt. „Spione verlieren nicht. Sie gewinnen…oder sie sterben.“ Athos wusste, was John tun würde, noch bevor sich dessen Finger um den Griff des Degens legte. Er sah einfach zu, wie der falsche Priester, der englische Spion, der Mörder von Francis, sich selbst die Klinge in das Herz stiess.
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Im ersten Moment dachte Porthos, Aramis sei tot. Als er ins Zimmer stürzte sah er Adelina wie sie auf dem leblosen Körper seines Freundes kniete. Sie hatte seinen Kopf gerissen, das Messer an seinem Hals und obwohl kein Blut floss, liessen seine geschlossenen Augen und seine bleiche Haut für einen schrecklichen Moment lang glauben, er sei zu spät gekommen. Doch dann flatterten Aramis‘ Lider und ein Stöhnen glitt von seinen blau schimmernden Lippen.
Er lebte. Aramis lebte.
Alleine diese Erkenntnis verlieh ihm Bärenkräfte. Mit einem Brüllen warf er sich auf Adelina, hob sie mühelos hoch und warf sie zur Seite. Sie war zu überrascht um sich zu wehren. Mit einem überraschten Schrei fiel sie zu Boden, prallte mit dem Kopf gegen die Bettkante und blieb reglos liegen. Porthos kümmerte sich nicht um sie. Er hatte nur Augen für Aramis, der benommen und hustend versuchte sich aufzurichten.
„Aramis!“ Porthos liess sich neben seinem Freund auf die Knie fallen und wollte ihn in seine Arme ziehen, als eine Stimme rief: „Vorsicht, hinter Euch!“
Porthos fuhr herum. Adelina hatte ihre Ohnmacht offenbar nur vorgetäuscht. Sie war aufgestanden, den Dolch noch immer in der Hand, drohend, gefährlich und bereit zu töten. Und hinter ihr stand, mit schlotternden Knien und weit aufgerissenen Augen der gute Bruder Mathias, dessen Warnung ihm vermutlich gerade das Leben gerettet hatte. Zeit zum Danken blieb ihm allerdings nicht. Adelina ging auf ihn los.
Sie war so schnell, dass er den Degen nicht rechtzeitig ziehen konnte. Mit voller Wucht prallte sie gegen ihn und riss ihn zu Boden. Der Sturz presste ihn die Luft aus den Lungen, Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen. Erst im letzten Moment bekam er ihr Handgelenk zu fassen, gerade noch bevor sich das Messer in sein Fleisch bohren konnte.
Es war eine fürchterliche Ironie, dass sie nun in einer Position verharrten, die sie so oft im Liebesspiel eingenommen hatten. Er, der unter ihr lag und ihr ausgeliefert, sie, die auf ihn thronte und die Macht genoss, die sie innehatte. Aber es war kein Spiel. Adelinas schöne Züge waren vom Hass verzerrt und ihre grünen Augen waren die einer Schlange, die bereit war zuzubeissen. Nichts war mehr geblieben von der witzigen, fröhlichen Frau mit der Porthos so oft das Bett geteilt hatte und in die er bis über beide Ohren verliebt gewesen war. Ein Teil von ihm – ein grosser Teil – wehrte sich dagegen, ihr wehzutun. Sein Verstand sagte ihm, dass sie eine Spionin, eine Verräterin und Mörderin war, doch sein Herz schrie danach, sie weiterhin lieben zu dürfen. Sie war die Frau, die neben ihm gelegen hatte, die ihm Liebesdinge ins Ohr geflüstert hatte, deren Atem über seine Haut gestreift war und deren Hände sich mit den seinen verschlungen hatten.
Aber sie war auch die Frau, die den Tod zweier Musketiere verursacht hatte. Und wenn er sie nicht aufhielt, würde sie Aramis ebenfalls töten. Aramis, sein Freund, der gute, schlaue Aramis, der auch über seine schlechtesten Witze lachte, der ihm vertraute, der ihn oft genug in Schwierigkeiten brachte aber mindestens ebenso oft rettete. Aramis, der so voller Lebensfreude war, der ihn den Arm um die Schultern legte und ihm leise Spötteleien und scharfzüngige Bemerkungen ins Ohr raunte, um ihn zu amüsieren.
Er musste ihn retten.
Mit einem Schrei zog er sie so heftig am Handgelenk, dass sie vorüber fiel. Gleichzeitig rollte er sich zur Seite, so dass ihr Messer statt ihn den Boden durchbohrte. Noch bevor sie reagieren konnte, war er schon wieder auf den Füssen, packte sie an den Armen und wollte sie nach oben ziehen. Doch so leicht machte sie es ihm nicht. Mit einer schnellen Drehung entkam sie seiner Umklammerung, hob den Fuss und wollte ihm mit diesem vor die Brust treten. Er bekam ihn zu fassen, drehte ihn zur Seite, so dass sie ihren Stand verlor und auf seitwärts auf das Bett fiel. Bevor sie sich wieder aufrappeln konnte, hatte er seinen Degen gezogen und hielt ihn unter ihr Kinn. „Ihr seid besiegt, Madame!“
Der Ausdruck ihrer grünen Augen wandelte sich innerhalb eines Lidschlags. Die kalte Boshaftigkeit schwand, stattdessen kehrten das verspielte Funkeln und die kecke Verspieltheit zurück. Mit einem betörenden Lächeln schob sie mit ihrem langen Finger die Klinge beiseite. „Ach, Porthos. Sind wir denn Feinde? Nur weil unsere Länder sich nicht einig sind, bedeutet das doch nicht, dass unsere Herzen ebenfalls im Streit sein müssen.“ Sie legte die Hand auf ihre Brust, noch immer lächelnd, ein Bild verführerischer Unschuld.
Porthos spürte, wie er ins Wanken geriet. Ihre Schönheit, ihre Stimme, ihre Bewegungen…sie wickelte ihn um den Finger. Sie kannte den Weg zu seinem Herz. „Sag mir, Adelina…war alles zwischen uns gelogen?“
Ihr Blick wurde noch weicher. „Nicht alles“, hauchte sie, glitt vom Bett und erhob sich, ohne dass er sie aufzuhalten versuchte. Er fühlte sich wie gelähmt, all seine Entschlossenheit wankte beim Anblick ihrer vollen schönen Lippen, die den seinen wieder so gefährlich nah war.
Es war Aramis‘ Husten, der ihn aus seiner Trance riss. Dieser furchtbare Husten, der kein Ende nehmen wollte. Als Porthos einen kurzen Blick über die Schulter warf sah er Aramis, der heftig zitternd und vornübergebeugt auf einem Stuhl sass, verzweifelt nach Atem ringend. Bruder Mathias strich ihm über den Rücken und redete beruhigend auf ihn ein. Doch Aramis schien sich nicht beruhigen zu können. Obwohl ihm das verschwitzte nasse Haar ins Gesicht fiel, konnte Porthos sehen, dass die dunklen Augen auf ihn gerichtet waren. Und sie waren voller Angst. Aber es war nicht die Angst um sich selbst, erkannte Porthos, es war die Angst, dass ihm, Porthos, etwas geschah.
Beim Anblick des entsetzten und kranken Aramis, traf er seine Entscheidung.
Adelinas Lächeln war zur Maske des Triumphs geworden. „Du kannst mir nichts tun, Porthos. Dafür liebst du mich zu sehr.“
Er sah ihr in die Augen. Hob die Hand, strich ihr mit den Finger über die Wange, eine letzte zärtliche Geste. „Nein. Ich glaubte dich zu lieben. Aber ich liebte nur eine Illusion.“ Mit diesen Worten hieb er den Degenknauf gegen ihre Schläfe. Mit einem leisen, überraschten Laut brach sie zusammen und dieses Mal, da war sich Porthos sicher, war ihre Ohnmacht nicht nur gespielt.
Ohne sich noch länger mit ihr aufzuhalten, eilte Porthos zu Aramis und nahm Mathias‘ Platz ein. Behutsam nahm er ihn in die Arme und presste seinen Kopf gegen seine Brust. „Atme mit mir, Aramis. Ein – und aus. Ganz ruhig“, beschwor er ihn. Sein Freund fühlte sich wieder viel zu warm an, was allerdings auch von der Aufregung rühren konnte und nicht zwangsläufig vom Fieber kommen musste.
Der Husten ebbte ab. Aramis‘ Atemzüge wurden ruhiger und gleichmässiger. Dennoch hielt Porthos ihn immer noch fest, strich ihm über das Haar und küsste ihn auf die Stirn. Er musste ihn spüren, musste den Herzschlag selbst fühlen um zu wissen, dass er lebte und bei ihm war „Alles ist gut, alles ist gut“, murmelte er, während er ihn festhielt, „alles ist gut.“
Er brauchte eine Weile um zu bemerken, dass das Schluchzen, das den Raum erfüllte, nicht von Aramis kam, sondern von ihm selbst. Und dass Aramis ihn ebenso fest umschlungen hielt, wie er ihn.
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Anmerkung: Das war es, das grosse Finale! Ich hoffe, ich konnte die Spannung aufrechterhalten und ihr hattet ebenso viel Spass beim Lesen wie ich beim Schreiben. Die Kampfszenen fielen mir nicht gerade leicht, aber ich glaube, sie sind nicht sooo schlecht herausgekommen. Jetzt kommt noch ein Abschlusskapitel. Und dann sind wir endgültig am Ende…