Bloody Hay von RoostersCromedCDF

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Kapitel Chaos

Kapitel 2

 

Das erste, das Athos zu Gesicht bekam, als er müde und hungrig gemeinsam mit Porthos durch das Tor in die Garnison ritt, war ein flatterndes Huhn. Nein, korrigierte er sich, das ist definitiv mehr als ein Huhn.

Beim Anblick des wilden Durcheinanders stockte Porthos der Atem. „Was zur Hölle ist hier los?“

Aufgeregtes Federvieh und nicht minder aufgeregte Musketiere liefen, rannten und flogen wild durcheinander. Lautes Gekreische und Geschrei, durchzogen von Gelächter und Hundegebell, scheppernde Kübel, umstürzende Sessel, ausgestreckte Arme, stampfende Füße und dazwischen Federn, Flügel und Hühnerkrallen, doch über allem lag auch ein gewisser Hauch von Komik.

Porthos schlug seine Handfläche ungläubig gegen die Stirn. „Ich möchte nicht wissen, welches arme Schwein das zu verantworten hat! Treville wird ihn niedermachen, nein vernichten oder noch besser: ausnehmen wie ein totes Huhn!“

Selbst Athos musste lachen. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so ein überwältigendes Durcheinander in der Garnison gesehen zu haben und auch er bedauerte den armen Mann, der mit Sicherheit mehr als sein Fett abbekommen würde.

Von seinem Pferd absteigend richtete Athos seinen fragenden Blick auf den Stallburschen, der ihnen gerade die Pferde abnehmen wollte. „Was ist hier passiert?“

„D‘Artagnan hätte für Serge Eier aus der Voliere holen sollen, aber er war wohl etwas abgelenkt.“

„Das ist nicht dein Ernst! D‘Artagnan hat das alles zu verantworten?“ Porthos, der mittlerweile ebenfalls abgestiegen war, schüttelte seinen Kopf. „Mein Gott, der arme Welpe! Nun, du wirst in den nächsten Wochen jede Menge Unterstützung im Stall haben.“

Der Bursche kratzte sich am Kopf. „Ja, Monsieur! Das scheint im Moment wohl die Regel zu werden. Aramis hat bereits am Nachmittag alle Boxen ausgemistet.“

Athos‘ Lächeln wich einer hochgezogenen Augenbraue. „Aramis? Was hat er nun schon wieder angestellt? Kann man hier nicht einmal einen Tag weg sein, ohne dass alle dem Wahnsinn verfallen?“

Posthos pfiff durch seine Zähne. „Athos, es ist ein gefährliches Unterfangen aus deiner Tür hinauszugehen.“

Athos zweite Augenbraue ging in die Höhe. „Und was, lieber Porthos, willst du mir damit sagen?“

Porthos jedoch grinste lediglich mit einem schelmischen Glitzern in den Augen und drehte sich zum Stallburschen um. „Also Bursche, was war nun mit Aramis?“

„Keine Ahnung, irgendetwas mit einem Roten Gardisten. Aramis hat sich sehr bedeckt gehalten.“

„Und wo ist er jetzt? Sag nicht, einem Huhn hinterher?“ Porthos schien sich wegen Aramis‘ Strafdienst keine großen Gedanken zu machen. Athos hatte vielmehr den Eindruck, dass Porthos es sogar allen Ernstes bedauerte, die königliche Depesche ausgeliefert und dabei das Spektakel hier versäumt zu haben.

Der Stallbursche zuckte mit den Schultern. „Nein, er richtet Severo her, ich glaube, er will in die Reitarena.“

Athos fuhr sich mit seinem Handschuh über das Gesicht, und zu spät fiel ihm ein, dass der Staub sich vermutlich mit seinem Schweiß vermischte und dunkle Schlieren hinterlassen hatte. Zum Stallburschen gewandt deutete er auf ein vorbeilaufendes Huhn. „Lass nur, wir machen das selbst, ich möchte sowieso gerne mit Aramis sprechen. Sieh zu, dass du d‘Artagnan hilfst, wenn die Mistviecher nicht bald wieder dort sind, wo sie hingehören, dann bekommt Treville wirklich einen Herzanfall.“

„Ja, Monsieur, mache ich!“, antwortete der Bursche und verschwand im Getümmel derer, die noch immer versuchten, das Chaos im Hof einzudämmen.

Porthos verzog missbilligend den Mund. „Wirklich, Athos? Nach sieben Stunden im Stall sollen wir die Pferde selbst versorgen? Ich habe mir meinen Feierabend sicher anders vorgestellt…“

„Ja, wir machen es selbst, hör auf zu jammern.“ Athos’ Gedanken waren bereits wieder bei Aramis. Er war neugierig geworden, denn er wusste, dass Treville einen triftigen Grund gehabt haben musste, wenn er Aramis zu einer Auszeit in den Ställen verdonnert hatte.

„Hey!“

Severo donnerte auf einmal aus der Stallgasse heraus und der Schreck fuhr Athos in alle Glieder. Es war nur der blitzschnellen Reaktion des Hengstes zu verdanken, dass er nicht zwischen zwei Pferdeleiber zermalmt wurde, denn das Tier stoppte abrupt und stieg kerzengerade in die Höhe. Sein eigenes Pferd jedoch riss heftig erschrocken an den Zügeln und machte einen Satz zur Seite, wobei es Athos mitriss. Dies war jedoch sein Glück, denn das Pferd von Porthos hatte seinerseits vor Schreck einen Satz nach vorne gemacht und landete genau auf der Stelle, an der Athos noch eine Sekunde zuvor gestanden hatte.

„Ruhig, Junge, ruhig!“ Athos ließ die Zügel nicht los und einen Moment später stand sein Wallach mit erhobenen Kopf und zitternden Nüstern wie eine Statue neben ihm, dem davon galoppierenden Severo nachblickend. Der Stallbursche rief Severo noch laut nach, aber dieser hörte naturgemäß nichts, sondern preschte den Weg zu den Paddocks entlang, um sich bei seinen Kameraden einzubremsen. Neben ihm hatte mittlerweile auch Porthos sein Reittier wieder unter Kontrolle gebracht.

„Was war das jetzt?“ Der fröhliche Gesichtsausdruck aus Porthos‘ Gesicht war wie weggewischt. „Wo ist Aramis? Er hätte sein Pferd nicht so einfach rennen lassen, oder?"

Athos warf Porthos die Zügel zu und ging sofort um die Ecke in die Stallgasse hinein. „Hier ist er nicht!“

D‘Artagnan tauchte plötzlich wie aus dem Nichts mit hochrotem Kopf neben ihnen auf. „Vielleicht hat Severo sich wegen dem Tumult losgerissen und Aramis ist hinten hinaus, um ihn abzufangen?“

Porthos schlug dem jungen Mann auf die Schulter. „Du bist gut! Wem haben wir das Chaos hier wohl zu verdanken, hm? Glaub’ bloß nicht, dass du hier ungeschoren davon kommst, Welpe.“ Porthos milderte jedoch seine harschen Worte mit einem Augenzwinkern ab.

D’Artagnan fuhr sich über den Nacken und seine Augen wanderten zwischen ihm, Porthos und dem Krawall im Hintergrund hin und her. „Aber wo ist Aramis wirklich?“

Der Junge hatte Recht. Aramis hätte schon längst aus der hinteren Tür bei den Paddocks sein sollen. Athos wusste, dass sein Freund die Arbeit mit dem Pferd sehr ernst nahm und selbst wenn Severo sich unbeabsichtigt losgerissen hätte, dann wäre Aramis bestimmt längst draußen um ihn wieder einzufangen.

Ungeduld stieg in Athos auf. „Ich weiß es nicht! Komm jetzt, Porthos, wir versorgen die Pferde und dann suchen wir ihn, irgendwo muss er ja sein. Und d‘Artagnan bitte, fang endlich die verdammten Hühner ein!“

Das Klappern der Hufe hallte durch den leeren Stall und Athos machte sich nicht die Mühe, seinen Wallach bis zum Putzplatz zu führen. Er wollte so schnell wie möglich fertig sein, also verzichtete er darauf, den Wallach zu striegeln. Schnell hängte er den Sattel auf die kleine Halterung, die dafür vorgesehen war, und nahm ihm das Zaumzeug ab.

„Hast du Heu in der Box?“, rief Porthos zu ihm herüber.

„Nein! Warte, ich hole die Schubkarre und bringe dir auch gleich eines mit.“ Athos schloss die Boxentür hinter sich und ging zum Heuverschlag.

Merde! Verdammt, Porthos, schnell!“

Athos fühlte, wie alles Blut aus seinem Gesicht wich und einen Wimpernschlag lang sein Herz stockte. Sein Verstand weigerte sich zu glauben, was seine Augen sahen. Seine Kehle zog sich zusammen. Seine Lunge hatte Schwierigkeiten, Luft einzuatmen. Aramis lag völlig still im Heu vor ihm. Viel zu still. Athos konnte nicht sehen, ob er noch atmete, aber es würde ihn wundern, wenn es so wäre, denn da war viel zu viel Blut.

Porthos stürmte an ihm vorbei stürmte und fiel neben Aramis auf die Knie. Er suchte fieberhaft an Aramis‘ Hals nach einem Puls. Es kam Athos wie eine Ewigkeit vor, bis die Worte von Porthos zu ihm durchdrangen. „Er lebt! Verdammt, Athos, beweg dich. Er lebt!“ Die Stimme seines Freundes zitterte beinahe mehr als dessen Hände, die Aramis rechte Seite abtasteten und ihn zu sich her zu drehten.

Blitzschnell erwachte Athos aus seiner Schockstarre und legte seine Hand auf Porthos Schulter. „Stopp! Rühr ihn nicht an! Beweg’ weder ihn noch unter keinen Umständen die Heugabel!“

Porthos fuhr erschrocken zurück und sah mit vor Schreck weit geöffneten Augen hoch. „ Aber wir müssen das Ding aus ihm heraus ziehen, er verblutet sonst noch!“

Athos konnte sich nicht vorstellen, wie ein Mensch einen so großen Blutverlust überhaupt überleben konnte, hatte doch die klebrige Flüssigkeit bereits eine Lache unter Aramis gebildet, ganz zu schweigen von dem Blut, das bereits vom Heu aufgesogen worden war. „Nein… doch… später! Wir wissen nicht, welche inneren Schäden die Zinken angerichtet haben. Wenn wir die Gabel entfernen ohne Bandagen für einen festen Verband hier zu haben, dann könnte er augenblicklich verbluten. Im Moment stoppen die Zinken die Blutung.“

"Nein", murmelte Portho und schüttelte den Kopf während seine Hände wieder zurück zur Heugabel wanderten. "Wir müssen sie herausziehen…"

„Stopp, das ist ein Befehl!“

Athos versuchte sich verzweifelt daran zu erinnern, was er über Pfählungswunden wusste, aber sie konnten nicht viel anders zu behandeln sein als Messer- oder Schwertwunden. Und hier lautete das oberste Gebot: Drinnen lassen, bis ein Arzt kommt. Das war das Stichwort. „Porthos, hol auf der Stelle Dr. Boucher und schick d‘Artagnan oder wen auch immer du da draußen erwischt in die Krankenstation. Wir brauchen Bandagen, viele Bandagen, Nadeln und Faden, heißes Wasser, Alkohol!“

Seine ungewohnt laute Stimme alarmierte Porthos, denn er stand sofort auf und tat, wie ihm geheißen.

Mit Aramis alleine zurück bleibend sank Athos sank neben seinem Freund auf die Knie. Als er sanft seine Wange berührte, bemerkte er, wie kalt sie sich anfühlte. Vorsichtig tastete Athos weitere Stellen ab, aber auch sie waren trotz der Tageshitze eiskalt und schweißbedeckt.

Decken! Ich muss dich warm halten!

Er stand schnell auf, zu schnell, denn er taumelte gegen die halbhohe Seitenwand des Heuverschlages und Athos musste schwer schluckend einen kurzen Moment inne halten. Schließlich stieß er sich von der Wand ab, um in die Sattelkammer zu eilen. Dort raffte er drei Pferdedecken und eine Schabracke zusammen und kehrte zu Aramis zurück.

„Hier, mein Freund, gleich wird dir wärmer werden.“ Sanft breitete Athos die Decken über Aramis aus, sorgfältig darauf achtend, dass er die zwei Heugabelzinken, die in Aramis’ Seite steckten, aussparte. Behutsam bettete er den Kopf seines Freundes auf die Schabracke.

„Aramis, komm! Komm, wach auf!“

Immer wieder klopfte Athos leicht an die Wange seines Freundes und rüttelte ihn so sanft er konnte. Tatsächlich begann Aramis sich zu regen, sein Gesicht schmerzerfüllt verzogen und ein leises Stöhnen auf seinen Lippen.

Wo bleiben verdammt noch einmal Porthos und d‘Artagnan?

Athos zog Aramis die Pferdedecke bis zu seinem Kinn und wischte sanft mit der Ecke der Decke kalten Schweiß von der Stirn seines Bruders. Endlich rührte Aramis sich und Athos fühlte die Erleichterung, die ihn durchströmte bis in jede Faser seines Seins.

„Ja, so ist gut, hier bin ich.“ Leise und eindringlich sprach Athos weiter auf Aramis ein und er hoffte von ganzem Herzen, dass seine Stimme Aramis den Weg ins Bewusstsein zurück weisen würde.

Aramis bewegte sich leicht und seine Augenlider flatterten. Einen Moment später sah Athos in schmerzerfüllte, dunkle Augen.

„Da bist du ja!“ Athos zwang sich in der Hoffnung, Aramis einen Anker zu geben, zu einem Lächeln. Die Furcht um seinen Freund ließ einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen und als er erneut sanft über Aramis Wange strich, zitterte seine Hand wie an einem Morgen nach zu viel Alkohol.

„’thos...was?“ Aramis Stimme war rau und leise, kaum mehr als ein Flüstern. „Verdammt, es tut so weh!“

„Alles gut, Aramis, ich bin da. Versuche, dich nicht zu bewegen, Hilfe ist unterwegs.“ Athos schaute über seine Schulter zur Stalltür. Merde, wo sind sie nur? Es dauert schon zu lange!

Als er wieder zu Aramis sah, bemerkte er voller Entsetzen, dass Blut über die Lippen seines Freundes rannen. Umständlich holte er sein Taschentuch hervor und begann, die blutigen Mundwinkel abzutupfen. „Du hast dir wohl auf Zunge gebissen, keine Sorge, das haben wir gleich.“

Eine Mischung aus Verwirrung und Schmerz schimmerte in Aramis’ Augen und er schien etwas sagen zu wollen. Athos beugte sich zu ihm hinab und hielt das Ohr an seinen Mund. „Du bist hier?“

Athos strich ihm eine Strähne seines verschwitzten Haars aus der Stirn. „Natürlich sind wir hier!“

Aramis verzog ein klein wenig den Mund, ganz so, als wollte er lächeln, doch stattdessen begann er zu husten. Mehr Blut quoll aus seinem Mund hervor, diesmal dunkler und dickflüssiger. Verdammt, das ist nicht gut!

Das Husten ging in ein tiefes Stöhnen über und Aramis wurde blasser als er ohnehin schon war. Athos legte ohne den Blick von ihm abzuwenden beide Hände auf die Schultern seines Freundes und drückte ihn zu Boden, um dessen zitternden Körper zu stabilisieren. Aramis' Bewegungen wurden ruhiger, aber sein Atem stockte und es schien ihm immer schwerer zu fallen, den Augenkontakt mit Athos zu halten. Schließlich driftete der Kopf seines Freundes zur Seite, seine Augen schlossen sich, und die eisige Angst in Athos wich einer brennenden Panik. Athos’ Magen verwandelte sich in einen Eisklumpen und die Welt stand einen Augenblick lang still.

In Athos erwachte das klamme Gefühl, dass er die letzte Barriere zwischen Leben und Tod seines Freundes war. „Nein, nein, nein, Aramis, bleib bei mir! Komm schon, wage es ja nicht… Verdammt!“