Der Pakt des Lucifer von sarah 

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Kapitel Gewitternacht

Graue Gewitterwolken, reizbar und bereit jeden Moment ihren Zorn über die Welt herein brechen zu lassen, verdeckten die Sicht auf die Sterne und den Mond. Es herrschte totale Windstille. Die Ruhe vor dem großen Sturm. In der Finsternis, mehr noch als am Tag, wirkte die kleine Gasse am Rande der Stadt, wo Porthos d’Artagnan aus jener Steinbaracke befreit hatte, wie eine Geisterstadt. Es gab nur wenige Pariser, die dieses düstere Viertel im Nordosten der Stadt kannten. Die wenigen, denen die Barackengasse bekannt war, hatten ihr den Namen „Rue des Maisons Mortes“ gegeben. Tatsächlich war das einzige intakte Gebäude jene kleine schäbige Holzhütte, in der sich Aramis und sein Diener Bazin verschanzt hatten.
Sie scheinen nur aus schwarzen Kutten zu bestehen. Dort, wo ihre Gesichter sein sollten, ist nichts weiter als ein dunkles Loch. Er steht in ihrer Mitte. Düster. Erhaben. Sein Blick aus leeren Augenhöhlen durchdringt ihre Kutten, ihr Fleisch, dringt bis in ihre Seele und lässt sie erstarren. Sie werden zu Marionetten, zu willenlosen Figuren, die ihm folgen. Ein düsterer Zug, den er anführt. Plötzlich bleibt er stehen und dreht sich zu ihnen um. Er erhebt die Hand. Ein langer knochiger Finger. Er deutet auf einen der Gesichtslosen. Er deutet auf ihn und spricht ein Wort. Er klagt ihn an. Mit düsterer Stimme. Ein einziges Wort. Der Gesichtslose schwankt. Dann ein bodenloser Abgrund, der sich vor seinen Füßen auftut. Er stößt einen Schrei aus.
Er stieß einen Schrei aus, als er aus dem Schlaf hochfuhr, und fasste sich flüchtig an die heiße Stirn. Wieder dieser Traum! Wieder diese Kopfschmerzen! Mit einem Seufzen erhob er sich aus dem Sessel, auf dem er eingeschlafen war. Wieviel Uhr war es? Er warf einen Blick auf die alte Standuhr mit dem zersprungenen Zifferblatt. Halb zwölf. Sie mussten los!
„Bazin, wach auf!“ Hastig zog er sich seine Kutte über und war gerade im Begriff die Tür zu öffnen, als diese von außen mit einem Ruck aufgestoßen wurde. Bazin stieß einen Schrei aus und sprang von seinem Stuhl auf, während sein Herr verblüfft einen Schritt vor den Eindringlingen zurückwich. Sein Blick irrte zwischen den drei Männern hin und her, die die Hütte betreten hatten. D’Artagnan hatte die Hand auf den Griff seines Degens gelegt. Porthos‘ Miene zeigte Bestürzung und Verwirrung und um den Mund des Chevaliers de Rochefort lag ein verächtlicher Zug.
„Aramis. Ihr erzählt uns nichts davon, dass Ihr in Paris seid?“ Noch niemals hatte der Abbé d’Artagnan mit solch einer kalten Stimme zu ihm oder irgendwem sonst sprechen hören. „Habt Ihr womöglich Eure alten Freunde vergessen... oder wollt Ihr Ihnen gar aus dem Weg gehen, dass Ihr Euch in dieser Hütte verkriecht?“ Schritt für Schritt drängte der Musketier Aramis an die gegenüberliegende Wand zurück.
„Nun ja, ich...“ Nervös versuchte der junge Abbé d’Artagnans scharfen Blicken auszuweichen, „Ich hatte wichtige Geschäftige in der Stadt zu verrichten und wählte mir diesen abgelegenen Ort zum Quartier, um bei der Gebetsandacht ungestört zu sein und...“
Ein Faustschlag ins Gesicht ließ Aramis verstummen. D’Artagnan war der Geduldsfaden gerissen. „Zum Teufel mit Eurer Scheinheiligkeit! Aramis, wir werden uns duellieren, wenn Ihr es nicht fertig bringen solltet, mir eine ehrliche Antwort zu geben: Was habt Ihr mit Athos getan?“
„Mit Athos?!“
In diesem Moment zog Rochefort seinen Degen und setzte ihn dem Abbé auf die Brust.
„René d’Herblay,“ sagte er kalt, „Wir bezichtigen Euch des Mordes am Grafen de la Fère, der Duchesse du Val de Cy und dem Marquis du Lû. Verteidigt Euch, wenn Ihr könnt!“
„D’Artagnan! Porthos!“ Entgeistert sah sich Aramis nach seinen Freunden um.
„Antwortet, mon pauvre amant!“ verlangte d’Artagnan grimmig. Bei diesen Worten zuckte Aramis zusammen. Er glaubt es tatsächlich! Der Abbé erwiderte d’Artagnans Blick mit der gleichen Kälte in den Augen und während sie einen stummen Kampf austrugen, fühlten sie beide, wie das Band zwischen ihnen zerriss, das sie einst wie Brüder miteinander verbunden hatte.
Endlich senkte Aramis den Kopf. „Athos lebt.“ sagte er leise. „Ebenso wie die anderen beiden.“ Totenstille trat ein. In d’Artagnans Blick schienen sich wiedergewonnene Hoffnung und Ungläubigkeit einen Kampf zu liefern. In Porthos Augen glitzerten Tränen der Erleichterung. Rochefort jedoch zögerte seinen Degen zurückzuziehen.
„Wollt ihr uns vielleicht weismachen, dass es ein anderer ist, den wir tot in Saint-Eustache gefunden haben?“ fragte er argwöhnisch.
Aramis hob den Kopf. Das war genug! „Athos lebt!“ schrie er den Chevalier zornig an. Porthos, der es nicht mehr mitansehen konnte, schob kurzerhand den Stallmeister seiner Eminenz beiseite „Nehmt endlich Euer Ding da weg!“ fuhr er ihn an. Dann nahm er Aramis in die Arme, wobei er den zierlichen Abbé beinahe erdrückte und unter Tränen der Rührung hervor brachte „Wir waren Narren, Aramis. Doch Ihr hättet zu uns kommen sollen mit Eurem Geheimnis, denn was immer es auch sein mag, es erdrückt Euch! Einer für alle, alle für einen, wisst Ihr nicht mehr? Nun setzt Euch hin und erzählt, was Ihr zu erzählen habt.“
„Ach, Porthos,“ sagte Aramis erschöpft und ließ sich widerstandslos in den einzigen Sessel im Raum drücken, „Dieses Geheimnis ist wahrhaft tödlich. Bisher hat keiner von denen überlebt, die von ihm wussten und ihr Gewissen erleichtern wollten....Seid Ihr sicher, dass Ihr diese Geschichte hören wollt?“ Er blickte von einem zum anderen und begann dann mit einem Seufzer zu erzählen:
„Im Februar vor drei Jahren trat ich in den Franziskanerorden in Nancy, ein, in das Couvent des Cordeliers. Es muss etwa um dieses Datum herum gewesen sein, dass der Pakt des Lucifer gegründet wurde...“
„Der Pakt des Lucifer?“ fragte Porthos. „Bei meiner Treu! Diese Klöster scheinen auch nicht mehr zu sein, was sie mal waren!“
„Gründer des Paktes war der Subcustos des Klosters, ein Italiener. Ein Mann, ebenso abstoßend wie anbetungswürdig. Eine Kreatur, ebenso besessen wie weise. Manche sagen, er sei ein Magier, und was immer das bedeuten mag, in seinen Augenhöhlen, ja, ich sage Augenhöhlen, denn die Augen hat man ihm aus ihnen herausgerissen, scheint tatsächlich Magie zu wohnen. Nennt es Einbildung, doch seinem Willen wird sich jeder beugen, der sich einmal in der Finsternis dieser Augenlöcher verloren hat. Er gründete jenen geheimen Pakt, jenen Teufelskreis, im Glauben, dass Gott den Menschen in einem Gefängnis der Unwissenheit gefangen halte. Der einzige, der uns seiner Meinung nach, aus diesem Gefängnis befreien kann, ist der Teufel. Famulus Diaboli nannte er sich, Diener des Teufels, und er fasste den aberwitzigen Plan die ganze Welt zu ‚bekehren‘. Sein Kreis bestand zunächst nur aus wenigen dem Teufel Verfallenen, doch er vergrößerte sich von Tag zu Tag. Mönche, die gestern die überzeugtesten Christen waren, konnten morgen zu heimlichen Teufelsanbetern werden. Famulus beabsichtigte das gesamte Kloster unter seine Kontrolle zu bringen und den Pakt auf alle Brüder auszudehnen. Das Couvent des Cordeliers sollte sozusagen zur Wiege der neuen Weltanschauung werden. Um selbst Vorsteher des Klosters zu werden, musste Famulus den alten Custos beseitigen lassen. Man fand seine Leiche in der Kirche des Klosters, eingewickelt in ein schwarzes Grabtuch und von drei Kerzen umgeben. Als seien all diese Kennzeichen nicht genug, um auch den letzten Zweifler von der Macht des Satans zu überzeugen, stand quer über das Grabtuch in blutroten Buchstaben das Losungswort des Paktes, LUCIFER, geschrieben. Das war vor etwa einem halben Jahr. Dreizehn Tage nach dem Mord erhängte sich der vermeintliche Täter, Jérémie de Vivonne. In seinem Abschiedsbrief hatte er sich selbst als ‚Lucifer‘ zu erkennen gegeben. Jedoch gab es viele Zweifler im Kloster, die Jérémie für unschuldig hielten, da er allgemein als herzensgut und ehrlich bekannt gewesen war.“
„de Vivonne?“ Der Name ließ Rochefort aufhorchen.
„Ja, der Neffe der Catherine de Vivonne, der Marquise de Rambouillet. Kurz vor seinem Selbstmord hatte er seiner Tante einen Brief gesandt, in dem er ihr ausführlich von den düsteren Vorkommnissen im Kloster berichtete und ihr gestand selbst Mitverschwörer des Famulus Diaboli zu sein. Er prophezeite in jenem Brief unter anderem seinen eigenen Tod, denn er wusste, dass Famulus über kurz oder lang erfahren würde, dass er den Pakt verraten hatte. In Wirklichkeit, so vermutet die Marquise, muss der Gründer des Paktes, der sich selbst aus der Affäre ziehen wollte, den Verräter dazu gezwungen haben, jenen Abschiedsbrief zu schreiben und den Selbstmord zu begehen. Wer der oder die tatsächlichen Mörder des Custos sind, wird wohl niemals festgestellt werden, denn die Verschwörer des Lucifer-Paktes tragen Kutten, so wie auch ich eine trage, die ihre Gesichter verdecken. Selbst untereinander kennen sie sich nicht. Wer kann also sagen, welcher der Gesichtslosen letztendlich dem Custos den Todesstoß verpasst hat?“
„Wahrscheinlich war es dieser Verrückte selbst!“ knurrte Porthos.
„Famulus?“ Aramis bedachte den Freund mit einem bitteren Lächeln, „ Das glaube ich nicht. Er rühmt sich damit, noch niemals einen Menschen mit eigener Hand umgebracht zu haben.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er mit seiner Erzählung fort: „Für Famulus stand fest: Die Marquise musste sterben. Es reichte nicht, dass das einzige Beweismittel, das sie gegen ihn in der Hand hatte, jener gefährliche Brief, in seine Hände gelangte, nein, mit diesem Brief musste auch die Frau verschwinden. Denn sie kannte alle Namen der Verschwörer, sie kannte alle Geheimnisse, alle heimlichen Riten des Paktes – der Gedanke daran war Famulus unerträglich. Die Macht des Paktes lag in der Geheimhaltung! Doch das schlimmste war: Die Marquise kannte sein Gesicht! Schließlich war sie schon des öfteren nach Nancy gekommen, um ihren Neffen zu besuchen. Eine Frau wie Catherine de Rambouillet umzubringen, die sich solch einer Berühmtheit in der Pariser Öffentlichkeit rühmte, war jedoch nicht so einfach. Famulus ersann daher eine List, wie er sie als Hexe diffamieren und im Anschluss in einem Inquisitionsprozess, den er selbst leiten würde, zum Tode verurteilen konnte. Dabei kam ihm die Angst des Kardinals vor einer Adelsverschwörung zu Gute. Zudem stellten die Lucifer-Morde das Gegenstück zu dem Mord am Custos von Nancy dar, den ja angeblich Catherines Neffe begangen hatte. Wer würde noch daran zweifeln, dass er tatsächlich der Schuldige war, wenn seine Tante bewiesenermaßen mit dem Teufel im Bunde stand?“
„Intrigen, Teufelskreise, Morde...Nun gut...“ D’Artagnan, der bis hierhin still zugehört hatte, trat näher an Aramis heran. „Doch was ist Eure Rolle in diesem Spiel, Aramis?“
„Diese Frage würde mich auch interessieren.“ Bemerkte der Chevalier de Rochefort forsch, „Woher wisst Ihr von all diesen Dingen, die so streng geheim gehalten wurden?“
„Nun...“ begann Aramis verlegen und seine Wangen färbten sich rot. „Die Marquise brachte bei ihren Besuchen auch hin und wieder ihre Tochter Julie mit ins Kloster. Ich nahm mich dem Mädchen ein wenig an, nahm ihr die Beichte ab und...“
„Ach?“ platzte Porthos heraus, „Bei Tag in der Kirche oder bei Nacht im Klostergarten?“
D’Artagnan und Rochefort warfen Porthos halb belustigte, halb tadelnde Blicke zu, während Aramis die Bemerkung großzügig überhörte.
„Durch sie stand ich jedenfalls mit den Rambouillets in näherem Kontakt und so geriet ich also in die ganze Geschichte hinein. Ich schloss mich zum Schein dem Pakt des Lucifer an und wurde zu Famulus‘ engstem Vertrauten, dem er befahl die Mission in Paris auszuführen. Er wusste, dass ich Beziehungen zur Marquise habe, glaubte jedoch, dass ich diese nur aufgebaut hätte, um seine finsteren Machenschaften unterstützen zu können. Davon, dass ich mit der Marquise zusammenarbeitete, um eben diese finsteren Machenschaften zu vereiteln, hatte er glücklicherweise keinen blassen Schimmer. Anstatt die Opfer, die Famulus mir genannt hatte, zu vergiften, verabreichte ich ihnen ein Mittel, das sie für genau 24 Stunden scheintot machte... Ein Unterfangen, das sich als schwerer herausstellte, als ich es mir vorgestellt hatte. Den Marquis du Lû musste ich nicht nur vor Famulus‘ Gift, sondern auch noch vor Rocheforts Degen schützen. Dieser Mann muss einen wahren Schutzengel gehabt haben! Und was die Duchesse betrifft, so habe ich eine halbe Stunde damit zubringen müssen, ihr glaubhaft zu versichern, dass sie eine der attraktivsten Frauen von Paris sei und dass sie doch bitte ihre Dienerschaft möglichst weit fort schicken solle, damit wir ungestört ein Glas Wein miteinander trinken könnten. Das eigentliche Problem bestand jedoch darin diesen Koloss aus ihrem Palais in die Kutsche der Marquise zu schleifen, die vor dem Eingangstor wartete.“
An dieser Stelle hätte d’Artagnan wohl eine Bemerkung anbringen können, was seine eigenen Erfahrungen mit übergewichtigen Scheintoten anging, doch er hielt es für besser, Aramis seine ungemütliche Kutschenfahrt zu verschweigen.
„Wie habt Ihr Athos überlistet?“ fragte er stattdessen.
Aramis sah ihn mit einem Blick an, den d’Artagnan nicht zu deuten wusste. „Athos erwartete mich bereits. Ich weiß nicht wie, doch er schien einiges von meinem Vorhaben erraten zu haben. Und wie es seine Art ist, fragte er mich gerade heraus, ob ich die beiden ersten Opfer von Saint-Eustache vergiftet hätte. Ich muss gestehen, dass ich so überrumpelt war, dass mir keine bessere Ausrede einfiel als die Wahrheit. Ich erzählte ihm also in groben Zügen von Famulus‘ Intrige und meinem Vereitelungsversuch und während ich mir den Kopf zerbrach, wie ich nun, da ich Famulus das dritte Opfer nicht präsentieren konnte, vorgehen könnte und bereits der Verzweiflung nahe war, mischte Athos sich in aller Seelenruhe mein Gift in seinen Wein, prostete mir à notre amitié zu und nahm einen großen Schluck.“
„Der gute Athos!“ Porthos klatschte vergnügt in die Hände, als er sich die Szene vorstellte.
„Mit Julies Hilfe transportierte ich ihn in die Kirche von Saint-Eustache, wo wir ihn wie auch die anderen beiden ‚Opfer‘ zuvor so herrichteten, wie Famulus es befohlen hatte. Dafür, dass wir in der Kirche nicht unangenehm überrascht wurden, sorgte Bazin.“
„Ja,“ bemerkte d’Artagnan zähneknirschend mit einem Seitenblick auf den Diener, „Mit dieser Aufgabe hat er es meiner Meinung nach etwas übergenau genommen. Wäre Porthos nicht zufällig in diese gottverlassene Gegend gekommen, so säße ich wohl immer noch in dieser stinkenden Baracke ein paar Straßen von hier entfernt, wohin er mich verfrachtet hatte!“
Verständnislos sah Aramis erst d’Artagnan, dann Porthos und schließlich seinen Diener Bazin an, der verlegen seinem Blick auszuweichen versuchte.
„Du hast was getan, Bazin?“
Bazin hatte den Gascogner noch nie leiden können, seit jenem Tag in der Schenke von Crèvecoeur jedoch, als dieser seinen Herrn, der sich schon entschieden hatte der profanen Welt zu entsagen und in ein Kloster einzutreten, überredet hatte den Beruf als Musketier doch noch nicht an den Nagel zu hängen, was Bazin wiederum ein weiteres qualvolles Jahr in den Diensten eines „Vagabunden und Abenteurers“ beschert hatte, hasste er ihn wie die Pest. Es hatte ihm daher nicht mit allzu großem Bedauern erfüllt, die Bibel einmal zu einem ganz nüchternen profanen Zweck zu gebrauchen, indem er sie diesem elenden Schnüffler über sein gascognisches Gesicht gezogen hatte, und selbst den langen qualvollen Ritt quer durch Paris mit einem Ohnmächtigen, der ihm jeden Moment aus dem Sattel zu fallen drohte, hatte er nahezu mit Freuden auf sich genommen. So murmelte der Küster nun auch nur irgendeine halbherzige Entschuldigung und machte sich nicht einmal die Mühe, sie ehrlich klingen zu lassen.
„Was ist eigentlich mit dem Marquis und der Duchesse geschehen, nachdem sie wieder erwacht sind? Laufen die Totgeglaubten jetzt etwa irgendwo in Paris herum?“ lenkte Porthos das Gespräch wieder auf das eigentliche Thema zurück.
„Nein!“ Aramis schüttelte lächelnd den Kopf, „Das würde einen schönen Aufruhr geben! Julie und ich haben du Lû und du Val de Cy noch schlafend ins Hôtel de Rambouillet verfrachtet. Was sie sich gedacht haben mögen, als sie im Gästezimmer der Marquise erwacht sind, kann ich nicht sagen. Sie werden wohl getobt haben, als sie festgestellt haben, dass man sie eingesperrt hat – besonders Monsieur du Lû . Doch nur so konnten wir ihnen das Leben retten.“
„Eines ist mir noch immer unklar.“ meinte Rochefort, der Aramis, anders als Porthos und d’Artagnan noch immer mit einem gewissen Argwohn betrachtete „Weshalb legte die Marquise so viel Wert darauf festgenommen zu werden? Wozu all die Indizien?“
„Wir wollten Famulus in Sicherheit wiegen, er sollte glauben, dass seine Rechnung aufgeht. Morgen früh findet der Hexenprozess statt. Was wirklich geschehen ist, wird sich dann aufklären.“ Seinen Freunden entging nicht die Aufregung, die Aramis beim Gedanken an den nächsten Tag ergriffen hatte, „Famulus selbst wird den Vorsitz der Inquisition führen. Doch noch ein anderer Inquisitor, ein Dominikanermönch, wird der Verhandlung beiwohnen, wie es Brauch ist, und ihm wird Catherine diese Geschichte in allen Einzelheiten berichten und sie wird den unwiderlegbaren Beweis erbringen, dass es Famulus war, der die Morde von Saint-Eustache inszeniert hat, dass er es ist, der den Custos des Couvent des Cordeliers hat ermorden lassen und dass auch er es ist, der ihren Neffen, Jérémie de Vivonne, auf dem Gewissen hat.“
„Ein gefährliches Spiel, auf das sie sich da eingelassen hat!“ murmelte d’Artagnan, „Was nun, wenn es ihr nicht gelingen sollte ihre Unschuld zu beweisen?“
„Man wird sie keines Mordes mehr bezichtigen können, wenn die vermeintlichen Opfer selbst bei der Verhandlung erscheinen, oder etwa doch? Und zumindest Athos, der in das Geheimnis eingeweiht ist, wird ihre Berichterstattung stützen. Im übrigen ist die Marquise noch immer im Besitz jenes Briefes, den Famulus glaubt längst vernichtet zu haben: Der Wisch, den ich ihm besorgte, war eine Fälschung!“
Eine Weile herrschte Stille. Nur der feine Regen, der begann gegen die Fensterscheibe zu prasseln, war zu hören.
„Aramis.“ Mit einem ernsten Ausdruck in den Augen blickte d’Artagnan den Freund an. Dann hielt er ihm verlegen seine Hand hin. „Ich... bitte vergebt mir, dass ich Euch des Verbrechens verdächtigt habe, Athos...“ Er stockte, „ Vergebt mir.“
Aramis erhob sich und sah d’Artagnan in die Augen. Er zögerte.
Es war seine Trauer, sein Schmerz. Er hat nicht wirklich ...
Doch dann erinnerte er sich an die Kaltblütigkeit, mit der d’Artagnan ihm ins Gesicht geschlagen hatte.
Aramis, wir werden uns duellieren, wenn Ihr es nicht fertig bringen solltet, mir eine ehrliche Antwort zu geben...
Abrupt wandte er sich ab ohne d’Artagnans Hand zu ergreifen. Dieser fühlte, wie etwas seinem Herzen einen Stich versetzte, doch gleichzeitig begriff er, dass die Ohrfeige, die er Aramis versetzt hatte, einen Balken zwischen sie getrieben hatte, der durch ein einziges Wort nicht wieder fortgeschwämmt werden konnte.
„Wir müssen los.“ sagte Aramis hastig, um seine Gefühle vor d’Artagnan zu verbergen. „Wir müssen in Saint-Eustache sein, bevor Athos erwacht.“
Er wandte sich zur Tür... und erstarrte in der Bewegung. Der erste Blitz zuckte vom Himmel und ließ für einen Augenblick eine hochgewachsene Gestalt mit einem Totengesicht in bläulichem Licht erscheinen, die schon seit einer Weile reglos in der geöffneten Tür gestanden haben musste, ohne dass einer der fünf Männer sie bemerkt hatte. Mit Famulus‘ Erscheinen brach das Gewitter los. Wolkenbrüche, Stürme und Donnerwirbel, die die Hütte erbeben ließen, setzten ein und dicht aufeinander folgende Blitze erhellten die erschrockenen Gesichter der fünf Belauschten und ließen sie noch bleicher erscheinen, als sie es in Wirklichkeit waren. Famulus wies mit dem Finger auf Aramis und sagte nur ein einziges Wort: „Verräter.“
Er erhebt die Hand. Ein langer knochiger Finger. Er deutet auf einen der Gesichtslosen. Er deutet auf ihn und spricht ein Wort. Er klagt ihn an.
Aramis spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als er Famulus‘ leere Augenlöcher auf sich ruhen spürte. Rochefort, Porthos und d’Artagnan zogen ihre Degen und machten Anstalten auf den Custos loszugehen. Dieser jedoch ließ nur ein leises verächtliches Lachen hören, als er das klirrende Geräusch der Waffen hörte. Er machte mit der Hand ein Zeichen, worauf hinter ihm eine Kuttengestalt in die Hütte trat. In der Hand hielt sie eine selbst fabrizierte Handgranate, ein mit Schießpulver gefülltes Tongefäß, das sie auf eine weitere Handbewegung des Custos erhob.
„Ein Schritt weiter, Messieurs, und ich lasse diese Hütte in die Luft sprengen.“
Zögernd ließen die drei Männer ihre Waffen sinken. Famulus trat einen Schritt näher an Aramis heran. „D’Herblay, ich muss Euch meine Bewunderung aussprechen.“ sagte er mit einer samtweichen Stimme, die nicht recht zu dem bösen Lächeln passen wollte, das von seinen Lippen Besitz ergriffen hatte, „Ihr seid ehrgeizig, eine recht brauchbare Tugend! Was hat Euch der Bischof von Nancy, der lieber seinen Bruder als mich als Vorsteher des Klosters sehen würde, für Euren Verrat geboten? Das Amt seines Erzdiakons womöglich?“
„Dachte ich es mir doch, dass dieser falsche Mönch aus reiner Nächstenliebe handelt!“ murmelte Rochefort triumphierend.
„Euer Plan wäre geglückt.“ fuhr Famulus derweil an Aramis gewandt fort, „ Ich bin sicher, dass er bei jedem anderen geglückt wäre. Doch Famulus Diaboli hat noch kein Mann je überlistet. Ich habe Euer Schauspiel genossen.“
„Ihr habt es gewusst.“ flüsterte Aramis. Alles begann sich um ihn zu drehen und er ließ sich kraftlos in den Sessel zurücksinken, „Von Anfang an habt Ihr es gewusst.“
„Ich hatte meine Informanten..., nicht wahr, Bazin?“ Der Blinde wandte den Kopf in Richtung des Dieners, der sich still in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen hatte, und nun wie vom Blitz getroffen zusammenfuhr und vor Verlegenheit nicht wusste, wohin er blicken sollte.
„Bazin? Du hast mich verraten?“ Aramis sprang auf. In seinem Blick spiegelten sich gleichzeitig Ungläubigkeit, Zorn und noch etwas anderes, das den Abbé in späteren Jahren lehren würde, Freund wie Feind zu misstrauen. Dieses Misstrauen war Bazins Vermächtnis an seinen Herrn.
„Ihr werdet nicht ungestraft davon kommen!“ mischte sich nun d’Artagnan leidenschaftlich in das Gespräch mit ein.
„Leere Worte!“ erwiderte Famulus ohne sich auch nur zu dem Musketier umzuwenden und zog ein Briefcouvert unter seiner Mönchskutte hervor, das er bedächtig in die Flammen des flackernden Kamins hielt. (Entweder er hatte vergessen, dass er dem Feuer misstraute oder aber er hatte bereits zu Abend gespeist!) Die Flammen verschlangen wie hungrige Wölfe das Dokument. Aramis sog scharf die Luft ein.
„Jérémies Brief! Woher...?“
„Als Inquisitor ist es mir erlaubt Hausdurchsuchungen bei den Verdächtigen zu machen. Das hattet Ihr wohl nicht bedacht, mio amico?“ Er überließ den letzten Fetzen Papier, der noch von dem einzigen Beweismittel übrig war, das die Marquise gegen ihren Ankläger in der Hand hatte, der unstillbaren Gier des Feuers. „Ich habe im Hôtel Rambouillet noch andere ganz erstaunliche Funde gemacht. “
Aramis schrie entsetzt auf. „Die Duchesse und der Marquis! Was habt Ihr mit ihnen gemacht?“
Mit einem seltsam verklärten Lächeln zuckte Famulus mit den Schultern. „Was bedeuten sie Euch? Wollt Ihr nicht lieber erfahren, was ich mit Eurem Freund vorhabe... jenem jungen Mann, der noch immer in Saint-Eustache den Schlaf der Gerächten schläft...?
„Athos!“
Scusi, signore, doch Ihr ließt mir, da Ihr ihm das Geheimnis verrietet, keine andere Wahl.“ Und mit einem zynischen Lächeln und einer Grabesstimme, die den Anwesenden einen Schauer über den Rücken jagte, fügte er hinzu, „Wer wird mich schon des Mordes an einer Leiche bezichtigen?“
„Ihr seid wahnsinnig!“ schrie d’Artagnan und wollte auf den Custos losgehen. Dieser jedoch wandte ihm ruckartig das Gesicht zu und sein dämonisches Antlitz ließ den Musketier in der Bewegung innehalten. Mit einem verächtlichen Zug um den Mund wandte Famulus sich zu dem Kuttenmann um, „Sprengt sie in die Luft. Ich erwarte Euch vor Saint-Eustache.“
Ein Schrei ertönte aus dem hinteren Teil der Hütte. Bevor Famulus aus der Tür treten konnte, warf sich ein totenbleicher, erbärmlich wimmernder Bazin ihm vor die Füße, „Das... Das könnt Ihr nicht machen! Für Euch habe ich meinen Herrn verraten! Und nun wollt ihr auch mich in die Luft sprengen?“
„Warum sollte ich gerade einen Verräter verschonen?“ Mit einem Fusstritt stieß Famulus die erbärmliche Kreatur zu seinen Füßen beiseite, „Noch dazu einem doppelten Verräter? ...Arrivederci, adieu, Messieurs.“ Er trat in das Unwetter hinaus und kurz darauf hörte man ein Pferd durch den Schlamm galoppieren.
„Ich habe Euch gewarnt.“ flüsterte Aramis „Ich wollte Euch nicht mit hinein ziehen in diese Geschichte.“ Porthos legte ihm stumm seine starke Hand auf die Schulter. Der Regen trommelte auf das Dach der Holzhütte und der Donner übertönte das Klopfen der Herzen jener fünf Männer, die mit gesenkten Köpfen auf das Geräusch der Explosion warteten. Doch diese blieb aus. Stattdessen war auf einmal ein leises Lachen zu hören und d’Artagnan, Aramis, Porthos, Rochefort und Bazin hoben verblüfft die Köpfe. Der Kuttenmann hatte sich die Kapuze der Kutte vom Kopf gezogen, unter der sich –zur allgemeinen Verblüffung – ein dunkelbrauner hübscher Lockenkopf mit verschmitztem Gesicht versteckte.
„Wie waren die Worte des Custos? ‚Famulus hat noch kein Mann überlistet‘? Nun, da gebe ich ihm recht. Ein Mann bin ich wahrhaftig nicht!“
„Julie!“
Das Mädchen drückte kurzerhand Porthos, der ihr am nächsten stand, die Granate in die Hand und fiel dem entgeisterten Aramis um den Hals.
„Was starrt Ihr mich an? Als dieser Famulus mit seinem Diener kam, um den Palais meiner Mutter zu durchsuchen, dachte ich mir, dass er unseren Plan durchschaut haben musste und Euch in Schwierigkeiten bringen würde. So beschloss ich, mir die Kutte seines Gefährten ‚auszuleihen‘, denn an deren Geruch schien er seinen Lakaien zu erkennen, und ihm zu folgen...“
Aramis schüttelte bewundernd lächelnd den Kopf, „Wahrscheinlich habt Ihr es fertig gebracht den armen Mann, dem diese Kutte gehört, mit einem Küchenmesser zu bedrohen, dass er vor Angst meilenweit davon gelaufen ist!“
„Aber René!“ Gespielt empört schüttelte Julie den Kopf, „Ich bin eine Frau! Ich kenne andere Mittel als Waffen, um einen Mann dazu zu bringen seine Kleider für mich auszuziehen, das solltet Ihr wissen!“
D’Artagnan räusperte sich, „Verzeiht die Unterbrechung, doch unser Freund Athos ist in größter Gefahr. Wir sollten aufbrechen und so schnell wie möglich nach Saint-Eustache reiten. Ich kann nicht wieder ruhig schlafen, bevor ich nicht weiß, dass der Kopf dieses Italieners nicht mehr auf seinen Schultern sitzt!“
„Nein!“ sagte Julie entschieden, während sie sich zu d’Artagnan umdrehte. „Wenn Ihr ihn tötet, so wird niemand je wissen, dass er es war, der die Morde von Saint-Eustache inszenierte, denn er hat alle Beweise vernichtet. Auch wohin er du Lû und du Val de Cy gebracht hat, weiß ich nicht. Wenn sie bei der Verhandlung morgen früh nicht auftauchen, ist meine Mutter verloren! Famulus muss auf frischer Tat ertappt werden!“
„Und wie stellt Ihr Euch das vor?“
„Hier, zieht das über!“ Julie entledigte sich der schwarzen Kutte und reichte sie d’Artagnan, „Reitet nach Saint-Eustache, wie Famulus es seinem Diener befohlen hat, doch schreitet nur ein, wenn es unbedingt nötig ist und versucht sein Spiel solange mitzuspielen, bis wir kommen. René, Rochefort, Euer Freund und ich, wir werden zum Kardinalspalais reiten.“
„Zum Kardinalspalais?“ Aramis wechselte einen verständnislosen Blick mit Porthos. Die Augen des Chevaliers de Rochefort dagegen blitzten verstehend auf und er warf der Tochter der Marquise einen anerkennenden Blick zu.
„Was für eine Frau!“ raunte er d’Artagnan zu, der neben ihm stand und nur stumm nicken konnte, die Augen verträumt auf Julies Gesicht gerichtet. Schließlich jedoch gab er sich einen Ruck und wandte den Blick von ihr. „Lasst uns keine Zeit verlieren!“ Er trat auf die Tür zu.
Als die anderen bereits ihre Pferde bestiegen hatten, fragte Porthos, der noch immer mit der Granate in der Hand dastand, etwas ratlos: „Freunde, was soll ich mit diesem Zeug machen?“
„Gebt her! Ich sprenge sie in die Luft.“ erwiderte Aramis.
„Wen?“
„Die Hütte! Ich will sie nie wieder sehen! Ein entsetzlicher Ort!“
Aramis war gerade im Begriff das Tongefäß in Richtung der Holzhütte zu schleudern, als plötzlich Bazin in der Türöffnung erschien. Seit Julies Erscheinen hatte keiner mehr auf ihn geachtet. Zorn flackerte in den Augen des Abbés auf und er erhob die Flasche zum Wurf.
„Herr!“ Bazin stand starr vor Schreck.
Es war weniger Mitleid als eine abgrundtiefe Verachtung für diesen Wurm, für den selbst der Tod noch zu schade war, die Aramis innehalten ließ.
„Lauf!“ befahl er kalt, „ Mach, dass du mir nie wieder unter die Augen kommst!“
Das ließ Bazin sich nicht zweimal sagen. Schneller, als man es seinen kurzen Beinen zugetraut hätte, rannte er auf sein Pferd zu, sprang in den Sattel und galoppierte los.
Aramis warf und der Knall der Explosion ließ zusammen mit dem Donnerwirbel, der noch immer am Himmel tobte, die Erde erzittern.